Das Gen der Gier - Thomas Friedrich-Hoster - E-Book

Das Gen der Gier E-Book

Thomas Friedrich-Hoster

0,0

Beschreibung

Die Story spielt 30 Jahre in der Zukunft. Der Klimawandel hat die Erde längst erfasst. Manon, eine junge Geologin, kann sich in letzter Sekunde vor einem verheerenden Vulkanausbruch der Phlegräischen Felder retten. Aber sie wird von der Druckwelle erfasst. Ein Parasit, der viele tausend Jahre in einer Wasserblase überlebt hat, wird frei und dringt in ihren Körper ein. Terry Connor ist ein amerikanischer Tourist. Auch er wird zusammen mit einer Reisegruppe von dem Ausbruch überrascht. Die genetischen Veränderungen, die der Parasit bewirkt, machen ihn zu einem Monster. Gier, Unbesiegbarkeit und zunehmender Größenwahn bestimmen sein Leben. Wird er seine Pläne mit der Hilfe seines kleinen Unterstützers umsetzen können? Während der Vulkan die südliche Hälfte Italiens verbrannt hat, wird Totti, ein Polizist aus Florenz mit seltsamen Todesfällen konfrontiert. In der Mitte Italiens tauchen plötzlich Gruppen mordender Menschen auf. Viele von ihnen sterben auf die gleiche Weise. Was hat es mit den ominösen Gelbmündern auf sich? Allerdings scheint sich niemand für seine Untersuchungsergebnisse zu interessieren. Die Genetikerin Kerstin Mertens, Manons Mutter, führt einen beinahe aussichtslosen Kampf gegen den Parasiten. Vor vielen Jahren hat sie bei der Bekämpfung der Cosima-Pandemie wesentliche Beiträge zur Rettung der Menschheit leisten können. Doch ein Parasit ist ein anderes Kaliber als ein Virus. Kann sie seine Schwachstelle finden und ihre Tochter retten? Während die Welt in einem eisigen Vulkanwinter versinkt, gewinnt der Parasit immer mehr Macht über die Menschen. Die Errungenschaften der menschlichen Kultur zerfallen angesichts der wachsenden Gier, die er ausgelöst hat. Die Protagonisten müssen unangenehme Entscheidungen treffen, die nicht nur ihr eigenes Überleben betreffen. Das Gen der Gier ist ein Roman, welcher den Beginn unserer menschlichen Zivilisation fiktional mit der Zukunft verbindet. Er greift wichtige Themen unserer Zeit auf. Das Gen der Gier ist die Fortsetzung des Romans Das Neandertal-Gen. Spannend, wissenschaftlich, politisch, kritisch, crazy.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 486

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Was ist das, was da in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen.

Georg Büchner – Dantons Tod 2. Akt, 5. Szene

Inhalt

Prolog - August 2010

Erster Teil: Vulkanausbruch

1 – Manon

2 – Kerstin

3 – Base Surge

4 – Die Katastrophe

5 – Terry

6 – Der gelbe Pilz

7 – Der Mord

8 – Melinda

9 – Die Stewardess

10 – Melindas Botschaft

11 – Totti

11 – Zombies

12 – Tatsachen

13 – Zuhause

14 – Das Gen der Gier

15 – Machtübernahme

16 – Krog

17 – Die Warnung

18 – Die Pathologin

19 – Bonamassa

20 – Horst

Zweiter Teil: Regenzeit

21 – Bedrohung

22 – Sperma

23 – Laacher See

24 – Der Parasit

25 – Das Killerkommando

26 – Masha

27 – Gier

28 – Der Plan

29 – Bernhard

30 – Louises Tod

31 – Die Beste

32 – Scham

33 - Eine Spur

34 – Puzzle

35 – Kooperation

36 – Parna

37 – Verzweiflung

38 – Konkurrenzkampf

39 – Das Dekret

40 – New York

41 - Das Wiedersehen

3. Teil – Vulkanwinter

42 – Marissa

43 – Jessica

44 – Die Frage

45 – Kamla

47 – Gletscher

48 – Die Schwachstelle

49 – Eiszeit

50 – Kontrollverlust

51 – Brian

52 – Angriff

53 – Ens

54 – Die Genschere

55 – Terry – Oh happy Day

56 – Tottis Mission

57 – Kollapsberechnung

58 – Unruhe

59 – Kampfmodus

60 – Der Kampf

61 – Das Treffen

62 – Alexandra

63 – Nacht

64 – Showdown

Epilog

USA

Italien

Azoren

BRD

ENDE

Prolog - August 2010

Thomas Prager traute seinen Augen nicht. Er hatte die Proben zum zweiten Mal durch den Analysator laufen lassen, und es erschien das gleiche unmögliche Ergebnis. Schon wieder dieser verdammte Fehler. Denn dass es ein Fehler war, daran gab es für ihn keinen Zweifel.

Prager erinnerte sich gut an den Tag, als es passiert war. Sie hatten gebohrt. Er war die Hitze in der Region um Neapel gewohnt, aber an diesem Tag war sie sogar für ihn beinahe unerträglich gewesen. Zusammen mit der Softwarespezialistin Eva Ragnhildsdottir aus Island, und dem Norweger Tore Magnusson war er unterwegs zum Camp. Tore leitete als Ingenieur der Forschungsgruppe die Bohrung. Diesmal wollten sie die Magmakammer des Supervulkans erreichen. Bereits seit drei Tagen lief das Bohrgestänge ununterbrochen. Nach zweistündiger Wanderung über schwieriges Gelände erreichten sie erschöpft und durstig das Camp. Thomas Kollege Bertram Gensheimer hatte die Bohrung überwacht und freute sich über seine Ablösung.

„Na, ist euch warm geworden?“, scherzte er. „Ich hätte verschiedene kalte Getränke im Angebot.“ Sie setzten sich in den kleinen Unterstand, der gleichzeitig Schlafmöglichkeit und Labor der Arbeitsgruppe war. Thomas holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und schaute sich um.

Das Team verfügte über das modernste Equipment, das man sich vorstellen konnte. Die mit Solarenergie aufladbaren Batterien, die Analysegeräte und die beiden Hochleistungscomputer hatten sie vor mehreren Tagen heraufgeschleppt und Eva hatte alles installiert. Das Bohrgestänge und der Motor, den sie den „Schlagbohrer“ nannten, war von einem Helikopter schon einige Tage vorher abgesetzt worden. Jetzt musste nur noch die Magmablase, die sie in etwa 2000 Metern Tiefe vermuteten, erreicht werden. Es konnte nicht mehr lange dauern.

1987 Meter zeigte das Display des einen Rechners. Während sie ihren Durst stillten und sich unterhielten, blickten alle gespannt auf die sich langsam ändernden Zahlen. 1988, 1989, 1990 ... da passierte es.

Die Musik der Bohrmaschine änderte schlagartig die Frequenz und den Rhythmus. Das dumpfe Gerumpel, welches das Gestänge im Gestein erzeugte, wenn es sich drehte, wich einem hohen singenden Ton.

„Sie dreht leer,“ rief Tore. „Schnell abschalten.“ Mit diesen Worten stürzte er zu dem Antriebsmotor und drückte auf den roten Notschalter. Sofort hörte das hohe Singen auf, die Bohrwelle verlangsamte ihre Drehungen und blieb schließlich stehen. Sie blickten sich erwartungsvoll an.

„Wir sind unten. Ich glaube, wir haben die Magmablase erreicht. Bin gespannt, ob wir eine direkte Messung hinkriegen, bevor die Lava den Kanal verschließt,“ meinte Bertram und begann zusammen mit Tore und Eva das Bohrgestänge rasch zurückzuziehen.

Es musste schnell gehen. Die Messsonde zur direkten Erforschung der Magmakammer sollte eingebracht werden, bevor die Lava das Bohrloch wieder verschloss. Bald hatten sie es geschafft und das Bohrgestänge war geborgen. Gerade wollte Thomas die speziell für dieses Unternehmen entwickelte Sonde in das Bohrloch einbringen, als ein merkwürdiges Geräusch aus der Tiefe kam. Thomas schoss der irrationale Gedanke an einen durch Manipulation erzeugten Vulkanausbruch durch den Kopf. Gleichzeitig wusste er, dass dies nicht sein konnte. Die Lava war dickflüssig wie ein Pudding und würde niemals durch ein Bohrloch aus beinahe 2000 Metern Tiefe aufsteigen können.

Die Urangst des Geologen, dachte er.

„Du hast bestimmt Öl gefunden. Wir werden reich,“ scherzte Eva mit Tore, der ratlos auf das Bohrloch starrte. Das Geräusch wurde lauter. Unwillkürlich traten alle mehrere Schritte zurück. Dann schoss plötzlich ein heißer Wasserstrahl in die Höhe. Er hatte eine gelbliche Farbe.

Schwefelwasser, dachte Thomas enttäuscht. Sie würden keine Lavamessung durchführen können. Er blickte in die Gesichter der anderen. Enttäuschung machte sich auf ihnen breit. Sie hatten eine Wasserblase angebohrt und die Magmakammer nicht erreicht.

„So ein Mist,“ machte Bertram als Erster seinem Ärger Luft. „Treffen eine winzige Wasserblase. Doofenglück. Dabei kann es nicht mehr weit gewesen sein.“

„Können wir weiterbohren?“ fragte Eva. Sie wollte anscheinend nicht aufgeben. Thomas guckte Tore fragend an, der skeptisch den Kopf schüttelte.

„Ich weiß es nicht. Das kommt darauf an, wie groß die Wasserblase ist. Und wie weit die Magmablase davon entfernt ist. Aber eins ist sicher. Im Augenblick können wir das Bohrgestänge nicht in dieses Bohrloch einbringen. Der Wasserdruck ist viel zu groß. Vielleicht können wir es in einigen Tagen noch einmal versuchen.“

Sie blickten resigniert auf die Wasserfontäne, die aus dem Loch im Boden spritzte. Das Wasser tropfte auf das Dach des Unterstandes und von dort auf den Boden. Dabei änderte es seine Farbe und wurde grau. Thomas griff nach einem kleinen Eimer und fing das heruntertropfende Wasser auf.

„Wenn wir schon sonst nichts tun können ...“ murmelte er resigniert. Dann befüllte er ein Untersuchungsröhrchen und schob die Probe in das Analysegerät. Wenig später erschienen die Daten auf dem Bildschirm eines der Computer.

Auf den ersten Blick alles normal, dachte er. Aber plötzlich stutzte er. Die letzte Zeile des Protokolls zog seinen Blick magisch an. Protein. Das untrügliche Zeichen für Leben. Er schüttelte den Kopf. Eine Verunreinigung. Wortlos deutete er auf das Ergebnis. Die anderen runzelten die Stirn.

„Da hat die Brühe wohl auf dem Zeltdach einige Raupen gekocht,“ meinte Eva lachend. „Gute Science-Fiction. Leben im Vulkan. Nicht schlecht. Immer gut geheizt.“ Thomas lachte und die Stimmung hob sich wieder. Er nahm weitere Proben, um sie später genauer zu analysieren. Diesmal direkt aus dem spritzenden Wasser.

Und jetzt saß er einen Tag nach dem Ereignis vor dem Bildschirm und traute seinen Augen nicht. Das gleiche Ergebnis. Proteine. Leben. Und das in einer Wasserblase nahe der Magmakammer der Phlegräischen Felder. Das konnte nicht sein. Anscheinend hatte er auch bei der zweiten Probe nicht aufgepasst. Wütend vernichtete er die Proben.

Drei Tage später besuchten sie wieder die Bohrstelle. Das Wasser schoss unverändert aus dem Bohrloch. Enttäuscht entschieden sie sich, einige hundert Meter entfernt eine neue Bohrung durchzuführen, und bauten ihr Labor ab. Die zweite Bohrung war erfolgreich. In 2035 Metern erreichten sie die Magmablase.

Die erste Bohrung geriet in Vergessenheit. Das Wasser spritzte genau 289 Tage aus dem Loch heraus, bevor es versiegte.

Erster Teil: Vulkanausbruch

Das Böse ist immer nur extrem aber niemals radikal und tief. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade, weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiter wuchert. Aber tief und radikal ist nur das Gute.

Hannah Arendt

„Sperrt man Ratten in einen Käfig, beginnen sie, sich gegenseitig zu töten, bis am Ende nur eine einzige Ratte übrig ist.“

Silva in „James Bond – Skyfall“

1 – Manon

Der Schweiß lief in einem dünnen Rinnsal an ihrem nackten Körper hinunter, fand den Weg zwischen ihren Brüsten hindurch und blieb in ihrem Bauchnabel hängen. Dort bildete er einen kleinen See, bevor er seinen Weg fortsetzte, sich der Schwerkraft folgend auf den Weg nach unten machte und zwischen ihren Beinen verschwand. Manon merkte davon nichts. Es war unerträglich heiß, obwohl es Anfang September und mitten in der Nacht war. Die Folgen des Klimawandels, die im Jahr 2055 niemand mehr ignorierte.

Manon hatte Angst.

Ein Alptraum hatte sie geweckt. Jetzt zitterte sie am ganzen Körper und konnte sich nicht erklären, warum sie auf einmal eine solche Angst hatte. Ihr Blick war auf den mittleren Bildschirm ihres Arbeitsplatzes in der geologischen Messstation nahe Pozzuoli geheftet. Was sie da sah, hätte zu ihrer Beruhigung beitragen sollen, aber das tat es nicht. Die Kurven, welche die Messdaten vieler hundert Sonden in der Umgebung Neapels wiedergaben, waren unauffällig. Sie waren nicht flach, nein, nicht bei den Phlegräischen Feldern. In dieser Region waren die seismischen Kurven niemals flach, aber sie waren unverändert und somit nicht besorgniserregend. Manon atmete tief ein und aus. Dieser entsetzliche Alptraum, der sie geweckt hatte.

Sie fuhr sich mit der rechten Hand durch die kurzen, von der brennenden Sonne Italiens weißblond gebleichten Stoppelhaare. Einige Schweißtropfen trafen den Monitor. Erschrocken nahm sie ihr panisches Gesicht wahr, welches sich in dem Bildschirm spiegelte.

Ich war live dabei. Das war mehr, als nur ein Traum, dachte sie. Während sie weiter die unauffälligen Kurven ihres Monitors betrachtete und darauf wartete, dass die Angst verschwand, tropfte langsam eine Erkenntnis in ihr Bewusstsein.

Es war so weit. Ein tiefer Traum der Ens hatte sie geweckt und ihre genetische Ausstattung hatte begonnen zu arbeiten. Jahrelang hatte sie darauf gewartet und jetzt war es offenbar passiert.

Bald müsste es anfangen, zu brummen, wenn ich wirklich eine Ens bin, dachte sie. Manon kannte den Ablauf genau. Ihr Vater hatte es ihr und ihrem Bruder Leon oft genug erklärt, als sie beide noch klein waren. Ein Traum, der üblicherweise durch eine drohende Gefahr ausgelöst wurde, startete den so genannten Sinn ihrer Spezies, die sich von Homo Sapiens deutlich unterschied. Aber dazu gehörte das Brummen. Und noch immer war kein Brummen in ihrem Kopf. Und keine Klarheit. Vielleicht hatte sie ja Glück und einfach nur schlecht geträumt. Sie brauchte Sicherheit. Denn wenn der Sinn der Ens eingeschaltet wurde ... Manon wusste, was das bedeutete.

Manon stand auf und suchte hektisch nach ihrem Handy. Sie fand es in der Hosentasche ihrer Shorts.

4:41, dachte sie. Keine gute Zeit für ein Telefonat. Schnell tippte sie die Nummer ein und wartete. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich die Stimme meldete.

„Mama, sorry, dass ich dich jetzt wecke, aber …“ Manon schluckte und konnte plötzlich nicht weitersprechen.

„Was ist passiert?“ Die Stimme ihrer Mutter wirkte angespannt.

„Ich glaube, es ist so weit.“ Manons Kehle war ausgetrocknet und schmerzte beim Sprechen. „Ich hatte einen Traum, wie ich noch nie einen hatte, und jetzt habe ich eine panische Angst, die nicht weggeht. Meinst du … ich bin jetzt eine Ens? Äh ... ich meine ... es hat nicht gebrummt. Ich bin unsicher.“ Am anderen Ende der Verbindung blieb es eine Weile stumm.

„Ich weiß es nicht, Manon. Bei deiner genetischen Konstellation ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich der Sinn deiner Spezies meldet,“ antwortete Kerstin schließlich. „Dein Vater ist ein Ens. Eines deiner beiden Geschlechtschromosomen kommt von ihm und macht dich zu einer Ens.“ Kerstin zögerte einen kurzen Augenblick. „Einmal angenommen es ist ein tiefer Traum gewesen und die Konversion ist eingetreten ... Warum gerade jetzt?“

Manon erzählte ihrer Mutter von dem Traum, ihrer Angst und den Messdaten ihres Laptops. Als Kerstin antwortete, bemerkte Manon erneut die Anspannung in der Stimme ihrer Mutter.

„Wenn der Sinn der Ens eingeschaltet wird durch einen tiefen Traum, dann droht eine Gefahr. Das ist ja die Aufgabe des Sinns. Gefahren bemerken. Es könnte also sein, dass ... ein Ausbruch der Phlegräischen Felder unmittelbar bevorsteht, deine Daten dies aber nicht anzeigen. Bitte rufe sofort Carola an. Sie wird dir helfen.“

„Nein, bitte nicht Carola. Diese blöde Kuh …“ Kerstin unterbrach ihre Tochter energisch.

„Das ist sie nicht, Manon. Du solltest das wissen. Sie denkt anders als du und ich und das stört dich, weil du es nicht verstehst. Im Gegensatz zu dir, hat sie beide Geschlechtschromosomen der Ens. Deine Fähigkeiten sind begrenzt auf ein bisschen Telepathie und frühes Spüren von Gefahren. Aber Carola ist aufgrund der Konstellation ihrer Geschlechtschromosomen eine „starke Ens“. Ihr Sinn ist unendlich viel stärker als deiner. Sie weiß mehr, als du und ich jemals wissen werden, und sie kann Dinge sehen und fühlen, die wir nicht begreifen können. Carola wird dir helfen.“

„Sie hat damals in meinem Kopf rumgestöbert und rausgekriegt, dass ich sie nicht mag. Hast du das vergessen? Deswegen hat sie den Kontakt zu uns allen abgebrochen.“

„Das stimmt nicht, und du weißt, dass es andere Gründe gab. Nimm dich nicht so wichtig. Sie wird dir helfen. Ruf sie an! Jetzt!“ Kerstins Worte klangen bestimmt, beinahe wütend. Manon wollte noch etwas sagen, aber das Handy war plötzlich stumm. Was sollte sie nur tun? Die Angst in ihrem Bauch meldete sich erneut.

Carola anzurufen war eine Zumutung. Sie konnte ihre Tante nicht leiden. Diese dumme, ständig eingebildet wirkende Schwester ihres Vaters, war ein rotes Tuch für sie. Als Manon noch ein kleines Kind war, hatte Carola dauernd ihre Nähe oder die ihres älteren Bruders Leon gesucht. Weder ihr Vater noch ihre Mutter fanden ihre ständige Anwesenheit gut. Aber aus irgendwelchen Gründen hatten sie nichts gegen Carolas Übergriffe getan. Bis zu dem großen Streit. Da hatte Manon gehört, wie ihr Vater mit Carola laut gestritten hatte.

„Niemals, niemals wirst du noch einmal in den Kopf meiner Kinder eindringen. Das ist die Regel. Hast du das verstanden?“ Branko hatte damals gebrüllt, wie er es sonst nie tat. Carola hatte dagesessen und überheblich in die Luft gestarrt, so als ginge sie das alles nichts an.

Wenig später hatte Carola ihre Familie verlassen. Manon hatte danach keinen Kontakt mit ihr gehabt. Das war viele Jahre her, aber Manon erinnerte sich auf einmal genau an die Situation. Widerwillig nahm sie ihr Handy und suchte die Nummer ihrer Tante.

Hoffentlich ist sie nicht da, meldete sich ihre irrationale Ambivalenz ein letztes Mal, als sie auf den Wahlknopf drückte.

„Hallo Manon,“ meldete sich Carolas Stimme sofort. Hatte sie den Anruf erwartet?

„Äh … hallo Carola … ich habe ein Problem.“

„Wo bist du? Was ist passiert?“ Carola war ungewöhnlich kurz und präzise. Ganz anders als in Manons Erinnerung.

„Pozzuoli, oberhalb des Lago d‘ Averno. Ich bin in einer geologischen Messstation der Uni Neapel. Mein letzter Nachtdienst. Ich ...“

„Hast du geträumt? Hast du Ahnen kennengelernt in dem Traum?“

„Ja, ... ein Traum ... es war ...“, begann sie stockend zu berichten. „Es gab da eine Frau, die auf einem Berg saß, nein ... da waren viele Frauen. Die schwebten in seltsamen grünen Blasen durch die Nacht. Sie redeten miteinander und ich konnte zuhören. Es ging um einen explodierenden Berg. Alle hatten Angst.“ Sie schwieg einen Augenblick. Der Traum wurde vor ihrem inneren Auge wieder lebendig.

„Wie ging es weiter?“ Carolas Frage holte Manon in die Realität zurück.

„Irgendwann bemerkte Alva, so hieß die Frau auf dem Berg, meine Anwesenheit. Sie ... sie hat mich angesprochen.“ Die Traumbilder wurden intensiver. Manon hatte das Gefühl, in eine zweite Realität hineingezogen zu werden. „Sie hat gesagt ... dass sie eine Vorfahrin von mir ist und glücklich darüber, dass ich sie gefunden habe. Und dass sie weiß, dass ihr Stamm überleben wird, weil es mich gibt. Was hat sie damit gemeint?“ Eine Weile war es still zwischen Manon und ihrer Tante. Nur Atmung war zu hören.

„Es ist ein Ens-Traum,“ sagte Carola leise. „Das waren die Ahnen von deinem Vater, von Leon, von dir. Ich bin mir sicher. Aber was war die Gefahr? Was ist danach passiert?“

„Auf einmal bewegten sich diese grünen Blasen immer schneller und dann wurde es am Horizont plötzlich hell. Wie ein Blitz. Ich weiß nicht, ob die Frauen schrien oder ob ich geschrien habe. Jedenfalls kam ein brutaler Windstoß und fegte alle Blasen davon. Auch Alva wurde weggerissen. Ich habe sie nicht mehr gesehen. Als ich aufwachte, tat mir der Körper so weh, als sei ich einen Abhang hinunter gefallen. Ich habe am ganzen Körper ...“

„Verschwinde aus Italien, so schnell du kannst.“ Manons Hand mit dem Handy zuckte, so laut waren Carolas Worte in ihrem Kopf explodiert. Wie ein Hammer trafen sie Manons tiefste Befürchtung. Hinter ihren Augen begann sich ein Karussell zu drehen. Auf einmal hatte sie den Eindruck, als stehe sie in einer Nebelwolke direkt neben sich und beobachte, was da passierte.

„Aber die Messdaten ... und ich habe kein Brummen ...“ Manon wollte noch mehr sagen, doch Carola ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Dieser Supervulkan, den du und deine Leute untersuchen, wird ausbrechen. Vermutlich innerhalb der nächsten Stunden. Seit Tagen habe ich selbst eine diffuse Gefahren-Aura. Konnte deswegen nicht schlafen. Aber jetzt hat sich alles in meinem Kopf geordnet. Manchmal braucht es so einen Schubs. Und ich würde den Alarmknopf drücken, wenn ihr so etwas habt in eurem Laden. Bestimmt habt ihr sowas. Mach das, obwohl die Messdaten gegen einen Ausbruch sprechen. Drück auf den Knopf und verschwinde, so schnell du kannst. Vielleicht rettest du damit ja ein paar tausend Menschen das Leben.“

„Was … wie … kannst du das erklären?“

„Das kann ich nicht. Ich verstehe von deiner Wissenschaft gar nichts. Aber ich weiß, welche Gefahr droht. Punkt. Es wird passieren. Und das Brummen ... vergiss es. Der Sinn der Ens ... mein Sinn ... irrt sich nicht, das weißt du. Manon, bring dich in Sicherheit. Schnell.“ Es wurde still. Nur eine Fliege summte durch die Luft. Starr blickte Manon auf den Monitor. Was sollte sie tun?

Da, eine winzige Welle, die nicht in das Muster des Seismogrammes passte. So schnell, wie sie aufgetaucht war, war sie auch wieder verschwunden. Manon zuckte zusammen. Ihre Hand schwebte über dem dicken Alarmknopf, der sich auf ihrem Schreibtisch befand. Sie zögerte. Scheideweg ... Wahlmöglichkeit ... Sicherheit ... schnelle Gedanken rasten in ihrem Kopf herum und hinterließen die typische Ambivalenz des Zweifels.

Im nächsten Augenblick übernahm der Sinn der Ens die Führung. Es klickte in ihrem Kopf und das tiefe Brummen eines gerade angeschalteten Basslautsprechers, welches sie erwartet hatte, begann. Gleichzeitig reduzierten sich ihre Gedanken auf wenige, die in absoluter Klarheit in ihrem Kopf standen. Aus ihren Zweifeln wurde schlagartig Wissen. Auf einmal wusste sie, dass Carola recht hatte und dass der Vulkan in wenigen Stunden ausbrechen würde. Sie wusste auch, dass es ein großer Ausbruch werden würde. Und trotz der entsetzlichen Vorstellung, die sich in ihr verbreitete, verspürte sie ein wohltuendes Gefühl der Erleichterung. Sie hatte Gewissheit. Endlich. So wie noch nie in ihrem Leben. Rasch schlug sie auf den Knopf. Dann sprang sie auf und schnappte sich ihren Motorradanzug, der auf einem Stuhl lag.

Draußen begann eine Sirene zu heulen. Andere folgten. Auf dem Monitor hatten sich die Kurven wieder beruhigt. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Gleichzeitig summte ihr Handy. Sie stellte das Telefon auf laut, während sie versuchte, auf dem rechten Bein balancierend in das linke Bein der Lederkombi zu schlüpfen.

„Was soll das Frau Mertens? Sind sie verrückt? Ich erwarte eine Erklärung,“ blaffte es böse aus dem Apparat. Enzo Materazzo, ihr Vorgesetzter vom Osservatorio Vesuvian in Neapel.

„Der Vulkan, die Felder, sie werden ausbrechen in wenigen Stunden,“ schrie sie.

„Haben sie sich das ausgedacht? Die Kurven sind friedlich. Letzte Woche war es viel schlimmer.“

„Ich weiß es einfach. Ich bin eine Ens. Wir haben einen Instinkt, der sich niemals irrt. Ich habe es geträumt. Sie müssen mir vertrauen. Tun sie bitte …“

„Was? Eine Ens? Darüber habe ich mal etwas gelesen vor Jahren. Eine zweite menschliche Spezies neben Homo Sapiens. Unwissenschaftlicher Bullshit, daran glaube ich nicht. Und geträumt haben Sie! Was für ein Quatsch. Sie sind eine Wissenschaftlerin, die an diesen Instinktkram glaubt. Glauben ist nicht Wissen. Bisher habe ich viel von Ihnen gehalten Frau Mertens. Aber jetzt … ich bin entsetzt ... sie werden morgen früh abgelöst. Ihre Arbeit bei uns ist hiermit beendet. Und ihre geplante Doktorarbeit ebenfalls. Ich werde jetzt versuchen …“

„Bitte nicht … schauen sie sich die letzten zwei Minuten an. Es gibt eine Anomalie in den Kurven. Denken sie …“

„Schluss jetzt. Legen sie sich ins Bett und schlafen sie. Solange die Programme keinen Alarm geben, wird nichts unternommen. Vielen Dank dafür, dass sie meine Nachtruhe gestört haben mit ihrem Schwachsinn. Weil Sie einen Traum hatten. Eine Ens. Ich fasse es nicht. Jetzt muss ich versuchen, den Alarm irgendwie rückgängig zu machen, aber das wird nicht so einfach werden. Das wird Sie Ihre Karriere kosten. Ich …“ Manon schossen Tränen in die Augen. Das Handy fiel aus ihrer zitternden Hand. Materazzo schimpfte weiter, bis sie das Handy aufhob und das Gespräch unterbrach. Es hatte keinen Sinn, noch mehr zu reden. Die Zeit drängte.

Sie schnappte sich den Schlüssel für ihre Geländemaschine, die vor dem Haus stand und den gelben Helm mit dem abgerubbelten Tiger-Aufkleber. Manon rannte die Treppe hinunter und verließ das Haus. Gerade begann die Dämmerung, und der Horizont über dem Meer färbte sich blutrot. Lärm war in der Luft. Sie blickte in den Himmel. Millionen Vögel waren zu sehen, die nach Norden flogen.

Sie wissen es ebenfalls und fliehen, dachte sie. Seltsamerweise beruhigte sie der Gedanke. Im Laufen setzte sie den Helm auf. Ein Kieselstein bohrte sich schmerzhaft in ihren linken Fuß.

Verdammt, die Stiefel ... vergessen, schoss ihr durch den Kopf. Es musste ohne sie gehen. Sie startete die Enduro, schwang sich auf das Motorrad und sauste den steilen Feldweg hinunter. Inzwischen heulten die Sirenen in dem Takt, der vor einem bevorstehenden Vulkanausbruch warnte. Überall traten Menschen aus ihren Häusern. Manon sah viele, die ihre Autos starteten und den Eindruck machten, als wollten sie sich in Sicherheit bringen. Mit hohem Tempo lenkte sie ihr Motorrad durch die sich langsam mit Fahrzeugen füllenden Straßen. In diesem Augenblick hörte sie die Stimme:

„Dies ist ein Fehlalarm. Dies ist ein Fehlalarm. Kehren sie zurück in ihre Häuser. Dies ist ein Fehlalarm.“ Beinahe gleichzeitig verstummten die Sirenen. Es wurde still. Aber was war das für eine Stille? In der Luft kreischten die Vögel, welche die Gegend verließen. Manon nahm eine Bewegung wahr. Vor ihr auf der Straße bewegte sich ein Schatten. Sie schaute genau hin. Es waren viele Schatten und es wurden immer mehr. Ratten. Zu hunderten rannten sie die Straße entlang. Zu ihnen gesellten sich Hunde, Katzen, andere Tiere. Manon musste aufpassen, um nicht mit einem der Tiere zu kollidieren, aber die Instinkte der Ens hatten die Kontrolle übernommen und genauso, wie die Tiere instinktiv aufpassten, nicht zusammenzustoßen, tat es Manon. Immer weiter führte die rasende Fahrt. Sie hatte sich entschlossen, die Küstenstraße zu nehmen, anstatt direkt auf die Autobahn zu fahren. Bald lag das Stadtgebiet hinter ihr und sie raste auf der leeren Straße entlang der Küste. Das Meer lag friedlich links neben ihr und der Fahrtwind rüttelte an ihrem Körper. Langsam beruhigte sich ihr Herz und sie begann über die Ereignisse nachzudenken.

War alles richtig gewesen, was sie getan hatte? Definitiv hatte sie gerade ihren Job verloren. Und vermutlich konnte sie ihre Karriere als promovierte Geologin ebenfalls vergessen. Jedenfalls wenn sie Professor Materazzos Worten Glauben schenkte. Sein Vorwurf hatte sie hart getroffen und der Schmerz, den sie während des Telefonates gespürt hatte, kehrte zurück. Er hatte recht. Sie hatte gehandelt wie eine Ens. Nicht wie eine Wissenschaftlerin. Je weiter sie nach Norden kam, desto mehr übernahm ihr Intellekt wieder die Führung und drängte das instinktbestimmte Handeln ihres Ens-Systems zurück. Zweifel tauchten in ihrem Kopf auf und die Klarheit ihrer Gedanken verschwand in einem Nebel der Unsicherheit. Sie fuhr auf einen kleinen Parkplatz bei Mondragone. Dort hielt sie ihr Motorrad an, um eine Pause zu machen. Ihr Körper fühlte sich klebrig und verschwitzt an, aber sie konnte die Motorradmontur nicht ausziehen, da sie darunter splitternackt war. Sie war so schnell gefahren, dass ihre nackten Füße trotz der zunehmenden Hitze des frühen Morgens eine blaue Farbe angenommen hatten. Manon stieg von ihrem Motorrad und massierte sie, bis sie wieder einigermaßen rosig aussahen. Die aufgehende Sonne tauchte die Umgebung in ein wunderbares Licht. Manon genoss die Stille, bis sie bemerkte, dass die Stille unheimlich war, da keine Vögel zwitscherten. Anscheinend waren alle weggeflogen. Sie konzentrierte sich. Sekunden tropften wie Honig. Dann erkannte sie es. Sämtliche Geräusche, die sie wahrnehmen konnte, waren menschlichen Ursprungs. Autos, Geklapper von Geschirr oder Geräten … und ... Kindergeschrei.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte Manons Körper Ihr Ens-Sinn meldete sich unmissverständlich und teilte ihr mit, dass niemand in dieser Region überleben würde. Tränen stiegen in ihre Augen.

Nicht weinen, dachte sie, dazu ist keine Zeit. Wie in Trance startete sie ihr Motorrad und setzte ihre rasante Fahrt fort, bis sie in der Nähe des Montecassino die Autobahn erreichte. Bei Frosinone verließ sie, einem Impuls folgend, die Autobahn und fuhr in die Berge. Auf einer Passhöhe bei Alatri hielt sie auf einem kleinen Parkplatz an. Als sie den Helm von ihrem Kopf nahm, bemerkte sie einen bunten Vogel, der auf einem Baum saß und zwitscherte.

Anscheinend bin ihr hier in Sicherheit, dachte sie erleichtert. Sie schaute nach Süden, wo sie in der Ferne Neapel vermutete. Wenn sie nach rechts blickte, konnte sie in der Ebene, die sich weit unter ihr erstreckte, Rom erkennen. Ein wunderbarer Blick. Manon atmete tief ein und aus. Nichts deutete auf die nahende Katastrophe hin. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt. Aber inzwischen wusste sie es besser. Ihr wissenschaftliches Gehirn musste sich dem unerbittlichen Sinn der Ens beugen. Es war ein völlig neues Gefühl für sie und sie konnte nicht sagen, dass es ihr gefiel. Bisher hatte allein ihr ausgezeichneter Verstand ihr Handeln bestimmt. Aber seit letzter Nacht war dieses archaische Empfinden der Gefahr aufgetaucht, welches eine Klarheit und Gewissheit in ihren Gedanken auslöste, an dem sie nicht mehr vorbeikam.

Manon versuchte zu akzeptieren, was sie seit ihrer Kindheit wusste. Sie war eine Ens. Auf ihrem X-Chromosom, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, waren die Gene gespeichert, die ihr einige besondere Fähigkeiten und ein tiefes Wissen über die uralte Historie der Menschheit verliehen. Das kollektive Gedächtnis der Ens war genetisch codiert und seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte über tausende Generationen vererbt worden. Als ihre Vorfahren, die Neandertaler ausstarben, war es ihnen gelungen, Teile ihres Genoms bei Homo Sapiens auf den Geschlechtschromosomen zu verankern. Dieses uralte Wissen kehrte in Träumen regelmäßig zu den Ens zurück. Ihre Gedanken wurden brutal unterbrochen.

Es ist so weit, explodierte etwas in ihrem Kopf und der Ens-Sinn fegte alle anderen Überlegungen weg. Ihr Blick zuckte nach Süden. Wenige Sekunden später bemerkte sie eine weiße Wolke am Horizont, die rasch an Größe zunahm. Ihre Uhr zeigte 6:47.

Manon brauchte nur wenige Sekunden, um nach einem Blick auf den Tachometer ihrer Maschine auszurechnen, dass die Druckwelle etwa in 6 bis 7 Minuten bei ihr sein musste. Gleichzeitig wusste sie, dass es sich um eine Phreatische Eruption des Super-Vulkans der Phlegräischen Felder handelte. Bisher konnte sie nur Wasserdampf feststellen, als sie die sich rasch vergrößernde Wolke betrachtete, die sich im Süden gebildet hatte.

Er ist im Meer ausgebrochen, dachte sie. Vermutlich haben die Instrumente deswegen nichts angezeigt.

Im nächsten Moment wurde ihr klar, was das bedeutete.

2 – Kerstin

Kerstin saß nach dem Telefonat mit ihrer Tochter lange an dem alten Tisch aus Eichenholz in der Küche. Sie hatte den Kopf in ihre beiden Hände gestützt und nichts getan. Die Sorge um Manon, die Sorge um die Menschheit ließen sie nicht los. Ihre Gedanken kehrten zurück in die Vergangenheit. Zurück in die Zeit vor Manons Geburt, als sie zusammen mit Branko auf den alten Bauernhof im Dreiländereck bei Passau, der ihrer Familie gehörte, geflohen war.

Geflohen vor den Medien, die sie als ein Phantom jagten, zuerst als Retterin der Menschheit vor dem Virus und später als Dämon und Verantwortliche für alles Unheil. Immer mehr Bilder tauchten auf und verdichteten sich rasch zu einem Film, der vor ihrem inneren Auge ablief.

Nach der tödlichen Pandemie mit Cosima29, dem Umsturzversuch in der BRD 2029 und Problemen in vielen Ländern, hatte Kerstin lange geglaubt, die Menschen hätten etwas begriffen. Die Demokratien der Welt waren aus den Unruhen nach der Pandemie gestärkt hervorgegangen und die Akzeptanz der Wissenschaft war deutlich gewachsen. Aber nach einiger Zeit gab es Risse im Gebäude der Vernunft. Es hatte damit begonnen, dass skrupellose Geschäftemacher die Technologie der Genschere für eigene Zwecke missbrauchten. Und sie hatten Unheil angerichtet.

„Versuche gescheitert! Gentechnologie – das Grab der Menschheit!“ So wurde es von den Medien dargestellt. Als hätte es jemals wissenschaftliche Versuche gegeben. Der nächste Schritt war, dass das Vertrauen der Menschen in wissenschaftliche Denkweisen und wahrheitsgetreue mediale Berichterstattung zerstört wurde.

Falsche Mitteilungen und Lügen wurden unter dem Deckmantel der „Meinungsfreiheit“ genauso behandelt wie die Wahrheit. Die Beliebigkeit von Meinungen und Tatsachen, von Nachrichten und Phantasien führte langfristig zum Erstarken populistischer Kräfte und zur Destabilisierung gesellschaftlicher Strukturen auf der ganzen Welt. Die Vernunft verabschiedete sich aus den Köpfen der Menschen und wurde durch den irrationalen Glauben an starke Männer mit einfachen Lösungen ersetzt. Diese Entwicklung war in den meisten Ländern der Erde in ähnlicher Weise verlaufen und hatte es geschafft, nahezu überall autokratische Regierungen an die Macht zu bringen. Die wenigen Demokratien, die bisher überlebt hatten, waren einer ständigen inneren und äußeren Bedrohung durch die Nachbarstaaten ausgesetzt.

Kerstin, die mit der Entwicklung einer geeigneten Genschere dazu beigetragen hatte, das Cosima29-Virus zu besiegen, war in den Medien glücklicherweise nie namentlich erwähnt worden. Nur wenige Menschen kannten ihren Beitrag und die hatten geschwiegen.

In dieser Zeit hatte Kerstin sich mit Carola endgültig zerstritten. Brankos Schwester hatte immer ein Kind gewollt. Sie war eine „starke“ Ens, weil sie über zwei von den Ens stammende X-Chromosomen verfügte. In der Zeit der Pandemie hatte Kerstin herausgefunden, dass diese Tatsache den starken Ens-Frauen zu extremen telepathischen Fähigkeiten verhalf, sie aber bereits seit vielen tausend Jahren unfruchtbar gemacht hatte. Obwohl Carola Kerstin um Hilfe gebeten hatte bei ihrem Kinderwunsch, hatte Kerstin sich geweigert, ihr zu helfen.

Tränen entstanden in ihren Augen und liefen nach einigen Sekunden langsam ihre Wangen herunter. Auch mit Branko hatte es Streit gegeben. Einerseits hatte er nicht verstanden, warum Kerstin seiner Schwester nicht half, andererseits hatte er Carolas zwanghaften Wunsch nach einem Kind nicht akzeptiert.

„Unsere Spezies hat schon in der Urzeit die Fähigkeit verloren, sich alleine fortzupflanzen. Und du willst jetzt wieder damit anfangen? Wenn wir an die Kraft und Sinnhaftigkeit der Natur glauben, dann musst du es akzeptieren. Du bist nicht die einzige Ens-Frau, die unter der Unfruchtbarkeit leidet. Bestimmt gibt es einen tiefen Sinn darin, dass es so ist und nicht anders.“

Kerstins Argumente unterschieden sich von Brankos. Ihre Bedenken gegen eine Deblockierung der, an der Infertilität beteiligten Gene waren wissenschaftlicher und ethischer Natur. Sie wusste genau, dass eine einzige Verletzung der Grundprinzipien der wissenschaftlichen Ethik, eine Welle von katastrophalen Ideen hervorbringen konnte. Und so war es dann ja auch gekommen.

Nach langen Minuten des einsamen Weinens erhob sich Kerstin mühsam und ging die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, wo Branko lag und tief schlief. Als sie leise zu ihm ins Bett kroch, hörte sie plötzlich seine Stimme.

„Es geht um Manon, stimmts?“ Kerstin nickte, da sie wusste, er würde ihr Nicken auch im Dunkeln spüren können.

„Sie weiß es jetzt. Sie hatte einen der Träume.“

„Was ist es? Ich meine ... was ist die Gefahr?“

„Es ist der Vulkan. Die Phlegräischen Felder.“ Sie machte eine Pause. „Ich habe Angst.“

Die Stille, die zwischen ihnen entstand, dehnte sich zu einer Leere.

3 – Base Surge

Manons Blick wendete sich in die Ebene, wo sie weit entfernt im Dunst des frühen Morgens die Küste des Mittelmeeres sehen konnte. Während sie sich nach einem geeigneten Schutz vor der drohenden Druckwelle umschaute, ging ihr nur ein einziger Begriff im Kopf herum.

Tsunami.

Sie legte die leichte Geländemaschine auf den Boden und brachte sich hinter einigen Felsen in Sicherheit. Die Druckwelle würde ihr nicht viel anhaben, wenn sie nur dem direkten Aufprall entgehen konnte.

Sie sollte sich irren.

Noch 2 Minuten.

Ihr Herz raste.

Noch 1 Minute.

Ihre Neugier zwang sie, den Kopf zu heben und nach Süden zu schauen. Auf einmal sah sie es. Eine gigantische Welle aus Dreck und Wasser raste über die Landschaft auf sie zu und wurde zu einer immer höheren Wand, je näher sie kam.

Der Base-Surge kommt, dachte sie. Sie warf sich mit dem Bauch auf den Boden, öffnete ihren Mund, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu.

Im nächsten Augenblick hatte die Druckwelle sie erreicht. Eine heftige Windbö mit einem gewaltigen, warmen Regenschauer rauschte über sie hinweg. Etwas schmeckte salzig. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass das sie umflirrende Wasser eine tiefgelbe Farbe hatte. Aber bereits in dem Augenblick, als es an ihrem Motorradanzug herunterlief, verschwand die gelbe Farbe. So rasch, dass sich Manon später fragte, ob sie alles geträumt hatte.

Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei. Sie richtete sich auf. Immer noch schmeckte sie den salzigen Geschmack der Wasserwand auf ihren Lippen. Beinahe hatte sie das Gefühl, als sei er intensiver geworden. Sie steckte einen Finger in den Mund. Als sie ihn herauszog, war er gelb.

Also nicht getäuscht, dachte sie und beobachtete, wie die Farbe schnell verblasste. Sie spuckte aus und konnte das gleiche Schauspiel bei ihrer Spucke beobachten.

Hoffentlich habe ich da kein Gift abgekriegt, dachte sie erschrocken. Der Gedanke war nicht angenehm. Manon beugte sich zu dem Spiegel des Motorrades und streckte ihre Zunge heraus. Sie leuchtete gelb.

Verdammt. Hektisch wühlte sie in einer Satteltasche und holte eine Flasche Wasser heraus. Glücklicherweise war sie einigermaßen kalt. Sie spülte ihren Mund mehrmals damit aus. Das Gelb auf ihrer Zunge wurde rasch weniger, und verschwand schließlich ganz. Immerhin etwas.

Auf einmal wurde ihre Aufmerksamkeit von einem anderen Ereignis in Anspruch genommen. Der Tsunami näherte sich. Er war wesentlich langsamer als die Druckwelle, aber in seiner Gewalt ungleich schlimmer. Der gesamte Küstenabschnitt bis zu den Bergen, auf denen sie sich befand, verschwand wie in Zeitlupe unter Wasser. Wenn sie auf das Meer hinausblickte, war der erste Wellenberg als eine sanft ansteigende Erhebung zu erkennen. In Küstennähe baute sich der Berg zu einer riesigen, brechenden Monsterwelle von über 30 Metern Höhe auf. Selbst von ihrer sicheren Position auf dem Parkplatz auf dem Berg wirkte das Schauspiel bedrohlich.

Rom wird untergehen. In einer Minute passiert es und es wird nicht einmal eine Minute dauern, dachte sie. Tränen schossen ihr in die Augen und ein furchtbarer Schmerz durchzuckte ihren Körper, als sie an die Millionen Menschen dachte, die in den nächsten Minuten sterben würden. Alles zog sich in ihrer Mitte zusammen. Ein Schrei tiefster Verzweiflung brach aus ihr heraus.

Als die Welle den Stadtrand Roms erreichte, kniff sie ihre Augen so fest zusammen, wie sie konnte. Ihre Beine wurden weich und sie musste sich setzen. So saß sie wie versteinert mehrere Minuten auf dem kleinen Parkplatz und zitterte am ganzen Körper. Erst als alles vorüber war, nahm sie ihr Handy und rief ihre Mutter an.

4 – Die Katastrophe

Kerstin konnte nicht mehr schlafen, nachdem sie mit Manon telefoniert hatte. Sie war wieder aufgestanden und hatte eine Weile gedankenlos in der Küche herumgeräumt. Dann gab sie sich einen Ruck und ging auf den Dachboden, wo sich ihr Arbeitszimmer befand.

Ich muss etwas tun, dachte sie beunruhigt. Kerstin setzte sich in den einzigen Sessel im Zimmer. Wie oft hatte sie in diesem Sessel gesessen und nachgedacht. Immer, wenn sie nicht weiter kam in ihren Überlegungen, hatte sie ihn aufgesucht.

„Meine Denkzelle,“ so nannte sie ihn liebevoll. Er war ihr Refugium und ihre Inspiration gleichzeitig. Aber die erhoffte Ruhe kam nicht über sie. Sie musste sich ablenken.

Kerstin setzte ihre Brille auf und drückte auf den Power-Knopf des alten Fernsehapparates, der auf einem kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers stand. Es war 5.12 Uhr. Sie suchte sich eine Weile durch die Programme, aber die Vergangenheit kehrte in ihre Gedanken zurück, und so starrte sie auf den Bildschirm, ohne wahrzunehmen, was sich darauf abspielte.

Manon. Sie war wenige Jahre nach dem Ende der großen Pandemie mit Cosima 29 auf die Welt gekommen. Kerstin erinnerte sich gerne daran, wie sie als kleines Kind zusammen mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Leon gespielt hatte. Leon war dabei immer der ruhige Macher gewesen, wogegen Manon mit ihrem schnellen Verstand den Ton angab. Ständig bestimmte sie, wer was zu tun hatte. Auch in der Schule änderte sich das nicht. Manon war die beste Schülerin ihrer Klasse und redete dauernd, während Leon durch seine Ruhe und spürbare körperliche Präsenz beeindruckte. Er musste nicht viel sagen, um Aufmerksamkeit zu erregen, obwohl er sich immer im Hintergrund bewegte. Manon hatte viele Freunde und Freundinnen, mit denen sie sich gut verstand. Erst mit dem Eintritt in die Pubertät zeigte sich für Kerstin ihre gewisse Andersartigkeit. Obgleich Manon relativ klein und mit ihrer schlanken Figur Kerstin sehr ähnlich war, entwickelte sie eine ausgeprägte Muskulatur. Die auffälligsten Zeichen ihrer Weiblichkeit waren ein kleiner Busen, ihre schmale Taille und ihr hübsches Gesicht. Ansonsten bestand sie buchstäblich aus unsichtbaren, zähen Muskeln. Die Beziehungen zu ihren Freundinnen versandeten und eines Tages kam sie nach Hause und erzählte stolz, dass sie einen Fallschirmsprung gemacht hatte. Dies war der Anfang ihrer extremen Zeit. Gleitschirm, Base-Jump, Klettern ... die Liste der gefährlichen Sportarten, die sie ausübte, war lang. Ihre Eigenständigkeit und Sturheit waren schwer zu ertragen.

Die Ens-Gene ihres Vaters, dachte Kerstin. Sie sind schon so lange sichtbar gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal Angst um ihre Tochter bekommen hatte.

Manon hatte erklärt, dass sie das Wochenende bei einer Freundin verbringen wollte. Dummerweise hatte Kerstin die Mutter der Freundin beim Einkaufen getroffen und dabei erfahren, dass Manon gar nicht bei der Freundin aufgetaucht war. Alle Versuche, sie über ihr Handy zu erreichen scheiterten. Erst drei Tage später tauchte Manon wieder auf und Kerstin erfuhr, dass sie mit einigen Freunden in die Alpen gefahren und durch eine Felswand geklettert war. Damals waren Brankos Ruhe und Sicherheit, die er ständig ausstrahlte Kerstins Rettung gewesen. Er hatte seiner Tochter fest vertraut.

„Sie wird alles richtig machen. Manon ist eine Ens. Obwohl sie das selbst noch nicht weiß. Mach dir keine Sorgen.“, hatte er immer gesagt.

Und dann hatte Manon eines Tages erklärt, sie wolle Geologie studieren. Kerstin war glücklich, dass die Gedanken an eine Karriere als professionelle Extremsportlerin oder Kletterin endlich im Papierkorb der weggeworfenen Luftschlösser gelandet waren. Aber jetzt war genau dieser sichere Plan für Manon zu einem Problem geworden.

Der Fernsehapparat weckte ihre Aufmerksamkeit und durchbrach ihre Gedanken. Der Bildschirm war auf einmal schwarz geworden. Wenige Sekunden später erschien die Alarmkonfiguration des bundesweiten Warnsystems. Gleichzeitig begann der Apparat durchdringend zu piepsen. Eine Schrift erschien umgeben von blinkenden roten und gelben Zeichen.

Vulkanausbruch Süditalien.

Tsunamialarm im gesamten Mittelmeerraum.

Einschränkung des Flugverkehrs.

Kerstin atmete tief ein und aus. Ihre Befürchtung war zur Realität geworden. Jetzt hieß es warten. Hoffentlich hatte Manon sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht.

Ein lautes Geräusch. Das Handy. Ihr Herz machte einen Sprung. Fieberhaft suchte sie das Gerät und fand es in der Tasche ihrer Strickjacke. Auf dem Display das Bild Manons.

„Mama ...“ Kerstins Hand verkrampfte sich um das Telefon. Gleichzeitig spürte sie, wie eine Welle der Erleichterung durch ihren Körper flutete. Ihre Tochter hatte überlebt.

„Was ist ...“, wollte sie fragen, aber Manon unterbrach sie verzweifelt schluchzend.

„Es ist furchtbar. Ein Katastrophenausbruch ... oberste Kategorie ... und der Tsunami ... Rom ... die Menschen ... sie sind alle tot. Eine riesige Welle ...“ Ein Schluchzer unterbrach Manons Redefluss und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte und fortfahren konnte. „Der Ausbruch ... sowas kommt nur alle 50 000 Jahre vor. Bestimmt ist Süditalien total verbrannt ... aber ...“

Kerstin spürte das winzige Zögern in Manons Stimme. Etwas an der Schilderung des Grauens stimmte nicht. Kerstin schien es, als sei das Schlimmste noch nicht gesagt worden.

„Geht es dir gut?“, fragte sie in die kurze Gesprächspause hinein.

„Ja ... ich bin so weit ok ...“ Wieder dieses Zögern.

„Manon!“ Am anderen Ende der Telefonverbindung brach jemand zusammen.

„Mama ... da war ... ich habe was abgekriegt. Weiß nicht, was es ist. Da war dieser gelbe Regenschauer. Eine Druckwelle, die Dreck, Staub, Wasser vor sich hertreibt. Hier war es zum Glück nur noch warmes Wasser. Aber es war gelb. Ganz gelb. Und ... ich habe es in den Mund gekriegt.“ Kerstin wurde schwindelig. Sie spürte, wie eine heftige Angst in ihren Magen schoss und ihr Denken zu blockieren drohte. Manon redete jetzt ununterbrochen weiter. „Ich habe es gleich ausgespült. Nix runtergeschluckt. Danach war das Gelbe weg. Verträgt anscheinend das kalte Wasser nicht. Ich ... ich hoffe ...“ Ihre Stimme versagte und Kerstin spürte die Panik ihrer Tochter förmlich durch das Telefon. Endlich fand sie die Kraft, etwas zu sagen.

„Meinst du, es ist etwas Giftiges?“ Kerstin war erstaunt, wie kräftig und ruhig ihre Stimme klang, angesichts ihrer eigenen Verzweiflung.

„Ich ... es ist nicht giftig ... meinst du, es kann mich trotzdem töten?“ Jetzt war es heraus. Da war sie endlich, die unausgesprochene Frage. Ein Karussell in Kerstins Kopf begann sich zu drehen. Sie musste sich setzen.

Der Blutdruck sackt ab, dachte sie. Wie immer, wenn es ernst wird. Wie sollte sie die Panik ihrer Tochter bekämpfen, wenn sie selbst panisch reagierte? Sie zwang sich dazu, langsam zu atmen und fixierte dabei das Fensterkreuz des einzigen Fensters im Zimmer.

„Mama ... kann es mich töten?“ Manons Frage drang wie durch Watte gedämpft an ihr Ohr und brachte ihr Denken zurück. Der Schwindel verschwand und sie landete in der Realität.

„Reiß dich zusammen,“ sagte sie etwas zu laut und meinte damit Manon und sich selbst in gleicher Weise. „Diese Frage müsste ich dir stellen. Du bist eine Ens, verdammt. Benutze deinen Sinn. Die Ens wissen immer, was mit ihnen passiert. Ihr könnt das spüren.“ Kerstin lauschte in ihr Handy. Manons Atemzüge wurden ruhiger.

„Nein ... ich spüre keine unmittelbare Bedrohung,“ sagte Manon endlich. „Aber was ist das gelbe Zeug?“ Kerstin fiel eine Last von den Schultern. Manon würde nicht sterben. Mühsam schluckte sie Tränen der Erleichterung herunter.

„Ich weiß es nicht. Du musst sofort zu mir kommen. Ich muss dich untersuchen. Und zwar schnell.“ Wenig später war das Gespräch zu Ende. Es gab nichts mehr zu sagen, was die Tragik des Geschehenen in irgendeiner Weise hätte mildern können, und so endete das Gespräch in Sprachlosigkeit.

Erst als die Nacht längst zu Ende gegangen war, verließ sie ihr Arbeitszimmer, ging hinunter und setzte sich vor das alte Bauernhaus in die Sonne. Branko, der im Stall die Kühe versorgt hatte, setzte sich neben sie. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie sanft an sich. Gemeinsam schwiegen sie eine Weile.

„Es werden vermutlich die letzten Sonnentage sein,“ durchbrach Kerstin das Schweigen. „Vielleicht für einige Jahre. Lass sie uns genießen.“

„Der Vulkan?“ Sie nickte. „Was ist mit Manon?“

„Sie wird bald kommen.“

„Und ...?“

„Nicht gut ... sie hat etwas abgekriegt. Geschluckt. Gelbes Zeug.“

„Ist es lebendig?“ Kerstin zuckte zusammen. Er hatte ihren geheimsten Gedanken ausgesprochen.

„Ich habe alles vorbereitet. Die Geräte funktionieren. Auch das alte Laptop. Aber ich weiß nicht, ob ich ...“

„Aber ich weiß es. Du wirst es schaffen.“

5 – Terry

Terry räkelte sich auf seinem Schlafsack. Die Nacht war sehr warm gewesen und er hatte seinen Schlafsack verlassen und sich auf ihn gelegt. Der Campingplatz bei Frosinone war voll gewesen. Deswegen waren sie weiter in die Berge gefahren und hatten auf einer Wiese neben der Straße nach Avezzano übernachtet.

Die Vögel zwitscherten und er beschloss, das Zelt zu verlassen. Seine Frau neben ihm schlief tief und fest. Ein schöner Tag empfing ihn. Auch in den Zelten, in denen sich die anderen Mitglieder seiner Reisegruppe befanden, regte sich etwas.

Gerade öffnete sich ein blaues Zelt und Jessica krabbelte heraus. Sie war etwa in Terrys Alter, Anfang vierzig und alleine unterwegs. Ihr T-Shirt war verschwitzt und darunter zeichneten sich die Brustwarzen ihrer großen, etwas hängenden Brüste ab. Terrys Blick blieb an Jessicas Brüsten hängen, was diese anscheinend bemerkte, denn sie beugte ihren Oberkörper nach hinten, hob die Arme und fuhr mit ihren Händen durch ihre langen braunen Haare.

„Ist das nicht ein phantastischer Anblick?“, meinte sie zweideutig und deutete in die Ferne, wo sich der Himmel rötete.

Terry spürte ihre Geilheit und dachte über eine passende Antwort nach. Da öffneten sich weitere Zelte und die Spannung verschwand. Jessica krabbelte zurück in ihr Zelt und kam etwas später angezogen wieder heraus. Inzwischen war auch Terrys Frau erwacht und kroch aus dem Zelt. Nach einigen Minuten stand die ganze Reisegruppe auf der kleinen Wiese, wo sie übernachtet hatten.

Terry schaute in die Gesichter der anderen. Henry hatte gerade seiner Frau Melinda geholfen, das Zelt zu verlassen. Sie waren Rentner, kamen aus Philadelphia und hatten sich dazu entschieden, eine Weltreise zu unternehmen.

„Spaß muss ein, man weiß nie, wann es zu Ende ist,“ pflegte Henry gerne zu sagen, wenn seine Frau sich über etwas beschweren wollte. Er war einer der typischen älteren Männer, die ständig versuchten, den Verlust ihrer Leistungsfähigkeit und Wichtigkeit mit grenzenloser Witzigkeit zu kaschieren. Dabei bemerkten sie meistens nicht, dass sie rasch peinlich wirkten. Terry mochte Henry. Vielleicht lag es daran, dass er sich ebenfalls manchmal machtlos fühlte und die Depression Henrys hinter der Fassade erkannte. Melinda war ganz anders als ihr Ehemann. Im Gegensatz zu Henry war sie mürrisch und sprach selten. Obwohl sie so unterschiedlich waren, strahlten sie eine unbegreifbare Harmonie aus. Jetzt standen sie nebeneinander vor dem Zelt und Henry schaute Melinda liebevoll an.

Terry wandte sich dem nächsten Pärchen zu. Brian stand breitbeinig vor seinem Zelt. Er war 33 Jahre alt und arbeitete im Management einer Autofirma in New York. Seine nach der neuesten Mode schief geschnittenen Haare waren künstlich blondiert und passten farblich zu seinem schmalen Kinnbart.

Ein Schönling, dachte Terry. Alexandra, er wusste nicht, ob die beiden verheiratet waren oder nicht, hing mit verliebtem Blick an seinem Hals und Brian blickte stolz in die Gegend. Gerade biss er in einen Apfel und fletschte dabei sein makelloses Gebiss. Terry konnte nicht entscheiden, ob Brian gefiel, dass Alexandra versuchte, ihn zu küssen oder ob es ihm schlichtweg egal war. Als einzige spürbare Emotion dieses Mannes erkannte Terry seine Selbstverliebtheit.

Vermutlich hat er sie gerade bestiegen, dachte er amüsiert. Seine Augen fingen plötzlich den herausfordernden Blick Alexandras auf. Was Selbstverliebtheit anging, stand Brians etwas einfältige Freundin ihrem Lover sicherlich nicht nach. Sie war mit 27 Jahren die jüngste Teilnehmerin der Rundreise und unbestreitbar die schönste. Ihre blonden Locken waren immer perfekt frisiert, ihre Lippen jederzeit geschminkt und ihr Teint makellos. Gerade schmiegte sie ihren schlanken, durchtrainierten Körper an Brian, während sie ihre kleinen, festen Brüste herausstreckte und Terry einen schmachtenden Blick zuwarf.

Geliftet, dumm und geil, dachte er. Was war heute Morgen nur los? Terry blickte hinüber zu Jessica, die zwar inzwischen bekleidet war aber, wie so häufig, vergessen hatte, einen BH anzuziehen. Ihre Brüste waren eindeutig nicht geliftet. Sie war auf dem Weg zu Andrew, dem großen ehemaligen Footballprofi aus New Jersey.

Der passt auch besser zu ihr, tröstete sich Terry. Mit den Tattoos auf seinen Muskeln und dem schmalen Hirn im rasierten Schädel. Er schaute an seinem Körper herunter. Für seine 48 Jahre fand er sich recht attraktiv. Schlank, groß, intelligentes Gesicht. Was konnte jemand mehr wollen? Trotzdem spürte er den kleinen Stich in seinem Ego, als er sich seines Alters und der Tatsache bewusst wurde, dass er verheiratet und mit seiner Ehefrau unterwegs war.

Er drehte sich zu Louisa um. Seine Frau schaute ihn böse mit ihrem typischen, vorwurfsvoll gespannten Lächeln an. Die Falte zwischen ihren Augen, die sie bereits gehabt hatte, als sie sich kennenlernten, war im Laufe der Jahre immer tiefer geworden. Inzwischen hatten sich auch Falten auf ihrer Oberlippe gebildet und ihre Mundwinkel hingen jedes Jahr etwas tiefer.

„Na, guckst du mal wieder nach dem Flittchen mit dem breiten Hintern,“ wollte sie von ihm wissen. „Sie zeigt heute sehr schön, was sie hat, und du springst wie immer sofort darauf an.“

Terry wandte sich wortlos ab. Er hatte keine Lust, mit ihr zu streiten. Wenn der Tag schon so begann. Eigentlich hatte er den Urlaub in Italien geplant, um zusammen mit seiner Frau ihre angeschlagene Beziehung wieder lebendiger zu machen. Allerdings war das, was an Lebendigkeit entstand, eher unter der Kategorie „Streit und Vorwurf“ zu subsumieren anstatt unter „Freude und Gemeinsamkeit“. Nur einmal, in der ersten Nacht nach der Ankunft in Mailand vor zwei Wochen, hatten sie miteinander geschlafen. Da hatte Terry gemerkt, dass es nicht gelingen würde, zurückzufinden auf ihre gemeinsame Wellenlänge, so wie er sich das gewünscht hätte. Selbst dabei machte sie ihm Vorhaltungen. Terry war klar geworden, dass seit Jahren eine Entscheidung über seine Ehe anstand, und dass er sich nicht traute, sie zu treffen.

Er ging zu der kleinen Feuerstelle und prüfte die Asche. Sie war noch warm. Schnell legte er einige Holzstücke auf die Glut und blies mehrmals kräftig in den Haufen aus verbranntem Holz und Asche. Nach kurzer Zeit flackerte ein kleines Feuerchen.

„Hast du das Beil gesehen?“, hörte er Andrew rufen. „Ich würde mal mit Jessica in den Wald gehen und ein bisschen Holz holen. Wo ist eigentlich Luigi?“ Terry schaute sich um. Das Zelt ihres Reisebegleiters und Busfahrers war leer. Vermutlich war er ins nächste Dorf gelaufen, um einen „kleinen Cappucco“ zu trinken, wie er es regelmäßig morgens tat.

Eine nette Angewohnheit, dachte Terry. Sie zeugt von Lebensfreude und einer Kultur, wie wir Amis sie nicht haben. Andrew hatte anscheinend sein Beil gefunden und war mit Jessica unterwegs in den Wald. Terry hörte ihr Lachen. Kurz vor Erreichen des Waldrandes drehte sich Jessica noch einmal um und streckte Terry die Zunge heraus.

Doch nicht verloren. Mal sehen, was da noch geht, dachte er. Er drehte sich zu seiner Frau um.

„Hast du gut geschlafen, mein Schatz?“, fragte er sie freundlich.

„Du hast geschnarcht und gestrampelt. Und wieder nach der Schlampe geguckt. Ich habs gesehen.“

„Das tut mir leid.“

„Was?“

Er wollte gerade zu ihr sagen „Alles“ da kippte die Welt.

Ein plötzlicher Windstoß traf ihn wie ein Schlag und ein heftiger Regenschauer ergoss sich sekundenlang über die Gruppe wie eine Flutwelle. Die Menschen strauchelten und Alexandra und Luisa schrien erschrocken auf. Als Terry noch überlegte, wo in diesem Augenblick ein von Süden kommender, waagrecht fliegender Regenschauer herkommen konnte, bemerkte er, dass der Regen gelb war und das Wasser merkwürdig salzig schmeckte. Gleichzeitig wusste er aus einem ihm nicht nachvollziehbaren Grund, dass diese Erkenntnis nicht gut war.

„Was war denn das?“, hörte er Brians Stimme. Alle standen irritiert herum und blickten sich erstaunt an. Als Alexandra ihren Mund öffnete, um etwas zu sagen, sah Terry ihre gelbe Zunge. Er spuckte kräftig aus. Seine Spucke war tief gelb. Ungläubig beobachtete er, wie sie auf dem Boden landete und sich rasch entfärbte. Was war gerade passiert?

Andrew und Jessica kamen aus dem Wald gelaufen. Auch sie hatten gelbe Zungen. Aber das interessierte ihn im Augenblick nicht. Terry rannte zu einer kleinen Felsgruppe, die sich neben der Wiese befand und kletterte hinauf. Dort hatte er einen guten Überblick über die gesamte Küstenregion im Westen.

Das Schauspiel, das sich ihm bot, ließ sein Blut gefrieren. In weiter Ferne sah er eine riesige, ständig zunehmende Wolke aus Wasserdampf und Vulkanasche in den Himmel steigen.

Verdammt, dachte er. Er fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Sein Blick wanderte auf das Meer und er entdeckte den Tsunami, der sich gemächlich an der Küstenlinie entlang bewegte. Gebannt beobachtete er, wie sich die Welle auftürmte und weite Landstriche verschluckte.

Ein Glück, dass wir nicht in der Ebene geblieben sind, dachte er. Welch ein seltsamer Zufall. Er erinnerte sich kurz daran, wie genervt er von Melinda gewesen war, die darauf gedrungen hatte, immer weiter zu fahren und die Ebene zu verlassen. Als habe sie etwas geahnt. Er kletterte von den Felsen herunter und lief zu den anderen.

„Wir müssen sofort hier weg,“ rief er. „Der Vesuv oder irgendein anderer Vulkan ist ausgebrochen. Ein Tsunami rast die Küste entlang. Dieser gelbe Regen, das war bestimmt die Druckwelle der Explosion. Und da war irgendetwas drin. Spült euren Mund aus, so gut ihr könnt und dann nichts wie weg hier.“ Er schaute Louise an, die regungslos neben dem Zelt stand. Genau wie die anderen schien sie nicht zu begreifen, was er gerade gesagt hatte.

„Los,“ brüllte er. „Worauf wartet ihr denn?“ Diesmal hatte er Erfolg. Es wurde hektisch. So schnell sie konnten, suchten sie ihre Sachen zusammen und bauten die Zelte ab. Alles flog in hohem Bogen in den kleinen Reisebus. Nach wenigen Minuten war die Gruppe startbereit.

Wo war dieser verdammte Luigi? Er sollte längst zurückgekommen sein, von seinem Cappuccino. Terry guckte Andrew an. Er schien weniger aufgeregt als die anderen.

„Kannst du fahren?“, fragte er ihn. Andrew nickte wortlos und setzte sich hinter das Steuer. Dann startete er den Bus. Luigi hatte glücklicherweise die Schlüssel stecken lassen.

„Wir fahren durch die Berge Richtung Norden,“ sagte Andrew. „Keine Lust, in Richtung Rom zu kommen, was denkt ihr?“ Die anderen reagierten gar nicht oder nickten stumm. Andrew setzte den Bus in Bewegung.

Terry verspürte eine leichte Müdigkeit, obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte. Den anderen schien es ähnlich zu gehen, denn sie saßen mit hängenden Köpfen schweigend im Bus. Anscheinend versuchten sie, das Erlebte zu verarbeiten. Terrys Gedanken wanderten. So hatte er sich den Urlaub nicht vorgestellt. Jetzt mussten sie sogar vor einem Vulkanausbruch fliehen.

Ihm kam in den Sinn, was Louise aus dem Ereignis machen würde, wenn sie es ihren gemeinsamen Freunden erzählte. Er schloss seine Augen und atmete tief ein und aus, um dem Anflug von Kopfschmerzen zu begegnen.

Louise. Sie hatten sich im Studium kennengelernt und sehr schnell waren ihre beiden Kinder auf die Welt gekommen. Terry hatte niemals eine gute Beziehung zu ihnen aufgebaut. Es war Louises Schuld. Sie hatte ständig seine Autorität unterminiert und Terry fragte sich, und dies nicht zum ersten Mal, warum er sie kurz vor der Geburt ihres Sohnes geheiratet hatte. Aber die Frage war nicht ernst gemeint. Er wusste schließlich die Antwort. Louise war eine gute Partie. Und seine Mutter ...

Die Kopfschmerzen machten sich erneut bemerkbar, als er an seine Mutter dachte. Louise war die erste Frau, die vor den Augen seiner Mutter Gnade gefunden hatte. Bevor sie in sein Leben getreten war, hatte seine Mutter regelmäßig jede Freundin vergrault.

Vermutlich war ich einfach froh, dass ich endlich Ruhe hatte, dachte er resigniert. Louise bot ihm damals die Möglichkeit, aus Bangor nach New York zu ziehen und sein Elternhaus endgültig zu verlassen. Die Stadt der Demütigungen.

Terry versuchte, die unangenehmen Gedanken zu kontrollieren, aber es gelang ihm nicht. So war es immer, wenn er einmal damit angefangen hatte, über seine Vergangenheit nachzudenken. Jetzt musste er durch. Seine Augen begannen zu brennen und die Kopfschmerzen nahmen zu. Einen Augenblick dachte er daran, Louise nach einer Tablette zu fragen. Aber Louise schlief und eine schlafende Louise war ihm lieber als eine wache.

Seine Schulzeit kam ihm in Erinnerung. High School in Bangor. Er hatte gelitten. Angst vor den anderen Schülern war die prägende Erfahrung seiner Kinder- und Jugendzeit gewesen. Gehänselt hatten sie ihn, weil er im Sportunterricht aufgrund seiner Behinderung nicht schnell genug rennen konnte. Es war nur eine geringfügige Deformität seines linken Fußes aber der orthopädische Schuh, den er auf Drängen seiner Mutter tragen musste, hatte ihn dauerhaft stigmatisiert. Die anderen Kinder hatten sich sofort auf ihn eingeschossen. Und eines Tages hatten sie ihm seine Hose gestohlen und ihn gezwungen in Unterhose nach Hause laufen.

Terry lehnte sich zurück und rieb hilflos seine brennenden Augen. Der Kopfschmerz klopfte jetzt unbeirrbar im Rhythmus seines Herzschlags direkt hinter seiner Stirn.

Inzwischen hatte er die Behinderung durch eine kleine Operation beseitigen lassen und kaum jemand wusste davon. Aber in seiner Seele hatte sie eine tiefe Narbe hinterlassen, die ihn ständig schmerzte. Terry ergab sich dem Horror-Film seiner Erinnerungen.

Die Szene des entscheidenden Nachmittags lief ein weiteres Mal ab. Er saß weinend in seinem Zimmer und hasste die ganze Welt. Seine Mutter hatte ihn nur verachtend angeschaut und das Haus wortlos verlassen, um eine Freundin zu besuchen. Nach vielen Stunden der tiefsten Einsamkeit war endlich die Lösung seiner Probleme aufgetaucht. Vermutlich hatte sie ihm damals das Leben gerettet. Es war so einfach. Anstatt sich selbst zu töten, würde er andere töten. Nach diesem rettenden Gedanken war er ganz ruhig geworden. Dann hatte er begonnen einen Plan auszuhecken. Der Hund seines schlimmsten Peinigers Adam Torino war sein erstes Opfer. Nachdem er ihn mit Rattengift getötet hatte, ging es ihm das erste Mal in seinem Leben gut. Natürlich wusste er, dass er nicht richtig gehandelt hatte, aber es war ihm egal. Auf Adams Hund folgten weitere Tiere seiner Peiniger. Er genoss den Schmerz seiner Gegner still. An einsamen Nachmittagen malte er sich genüsslich deren Verzweiflung aus. Niemals kam jemand hinter sein tödliches Geheimnis. Das erste Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl von Macht.

Terry wachte durch einen kleinen Ruck auf. Er musste eingeschlafen sein. Seine Kopfschmerzen waren verschwunden. Ein Stadtschild flog an ihm vorbei. Orte. Anscheinend hatte der Tsunami die kleine Stadt nicht getroffen.

„Wo sind wir?“, fragte er Andrew.

„Gleich auf der A1.“

Wenig später erreichten sie die Autobahn. Terry konnte die Auswirkungen der Welle sehen, wo sie die Autobahn getroffen hatte. Es herrschte ein unglaubliches Chaos. Der Bus kam nur langsam voran, da Andrew ständig umgestürzten Autos, Bäumen und anderem Müll ausweichen musste. Nach drei Stunden brach Jessica plötzlich das Schweigen. Sie hantierte mit einem Taschenspiegel.

„Meine Zunge ist wieder normal,“ sagte sie stolz. „Es scheint doch nicht so schlimm zu sein, wie befürchtet. Was meint ihr?“ Nacheinander streckten die anderen ihre Zungen heraus. Die gelbe Farbe hatte sich verflüchtigt. Nur bei Henry hatte sich nichts geändert. Er war der Einzige, der sich schlecht fühlte.