Das Glück des Gehens - Shane O'Mara - E-Book

Das Glück des Gehens E-Book

Shane O'Mara

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Beschreibung

Die erste populärwissenschaftliche Abhandlung über das Gehen – eine der alltäglichsten und zugleich zufriedenstellendsten Tätigkeiten, von der unsere Gesundheit, unsere Resilienz, unsere Kreativität und unsere Stimmung erheblich profitieren. Kaum etwas bringt uns so schnell auf andere Gedanken und befördert das eigene Wohlbefinden so problemlos wie ein Spaziergang. Der renommierte Neurowissenschaftler Shane O'Mara ist selbst leidenschaftlicher Spaziergänger und zeigt anschaulich und unterhaltsam, warum der aufrechte Gang entscheidend für unsere Evolution war, was sich, während wir laufen oder wandern, in unserem Gehirn und Nervensystem abspielt und wie wichtig Gehen für den sozialen Zusammenhalt ist.

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Shane O’Mara

Das Glück des Gehens

Was die Wissenschaft darüber weiß und warum es uns so guttut

Aus dem Englischen von Hainer Kober

Über dieses Buch

Kaum etwas bringt uns so schnell auf andere Gedanken und befördert das eigene Wohlbefinden so problemlos wie ein Spaziergang. Das Gehen ist eine der simpelsten, alltäglichsten und zugleich zufriedenstellendsten Tätigkeiten, von der unsere Gesundheit, unsere Resilienz, unsere Kreativität und unsere Stimmung erheblich profitieren. Shane O’Mara ist selbst leidenschaftlicher Spaziergänger und liefert mit diesem Buch die erste populärwissenschaftliche Abhandlung über das Gehen. Der renommierte Neurowissenschaftler feiert das menschliche Gehen auf all seinen Ebenen: von seinen Wurzeln über den mechanischen Ablauf und seinen Einfluss auf unsere Gesundheit bis hin zu seinen sozialen Aspekten, dem gemeinsamen Gehen mit anderen, sei es beim Spaziergang oder auf einer Demonstration. Anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, verbunden mit persönlichen Anekdoten, zeigt er anschaulich und unterhaltsam, was sich, während wir laufen, in unserem Gehirn und Nervensystem abspielt, warum es helfen kann, Depression zu bekämpfen, was die Fußgängerfreundlichkeit einer Stadt für die Lebensqualität ihrer Bewohner bedeutet und warum etwa Pilgern, selbst wenn es allein unternommen wird, ein bemerkenswertes Beispiel geselligen Gehens ist.

Vita

Shane O’Mara ist Professor für Experimentelle Neurowissenschaft am Trinity College der Universität Dublin. Er ist leitender Forscher und war Direktor am Institut für Neurowissenschaften des Trinity College, eines der führenden neurowissenschaftlichen Forschungszentren Europas. Wo und wann immer möglich, unternimmt er ausgedehnte Spaziergänge, besonders gerne in fußgängerfreundlichen Städten.

Einleitung

Was macht uns zu Menschen? Welche Eigenschaft unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen? Gewöhnlich steht die Sprache ganz oben auf der Liste – und sie ist zweifellos eine Eigenschaft, über die nur der Mensch verfügt.[1] Auch andere Arten kommunizieren miteinander, oft auch auf fehlerlose und komplexe Art, beispielsweise mit Rufen für Nahrung und Gefahr. Aber keine Spezies besitzt etwas wie die menschliche Sprache mit ihren unendlichen Möglichkeiten, Bedeutung, Inhalt und Kultur zu transportieren.

Außerdem verwenden wir raffinierte Werkzeuge und zeigen anderen, wie man sie gebraucht. Diese Instrumente entwickeln wir darüber hinaus mit der Zeit weiter. Allerdings verwenden auch andere Lebewesen Werkzeuge, wenn auch nicht so vielfältig und kreativ wie wir. In diesem Zusammenhang wird oft auch unsere einmalige Neigung, Nahrung zu kochen, genannt. Durch Kochen erhalten wir Nährstoffe und Energie aus Quellen, die für uns sonst nicht nutzbar wären. Doch daraus ergibt sich die Frage, wie sammeln und befördern wir die Nahrung zum Kochen? Ein weiterer häufig genannter Punkt auf der Liste ist das außergewöhnlich hohe Maß an Zeit und Mühe, das wir in unsere Nachkommen investieren, und die Tatsache, dass wir sie über einen längeren Zeitraum aufziehen und versorgen – diese Verpflichtung gegenüber der nachfolgenden Generation ist weit umfassender als bei jeder anderen Art.

Allerdings wird ein Eintrag auf dieser Liste häufig vergessen – ein Punkt, der unsere wichtigste und eine einzigartige Adaptation darstellt. Diese Anpassung durch eine Veränderung unserer Biologie dient unserem Überleben, wird aber in der allgemeinen Vorstellung meist übersehen. Sie ist an all den eben erwähnten und an vielen anderen Adaptationen beteiligt. Ich spreche von unserer Fähigkeit zu gehen, vor allem, aufrecht auf beiden Beinen zu gehen, eine Adaptation, die wir als «Bipedie» oder Zweifüßigkeit bezeichnen und durch die wir unsere Hände für andere Aufgaben frei haben.[2] Fast alle Landtiere sind Quadrupeden – sie gehen auf vier Gliedmaßen. Gehen ist eine scheinbar einfache und doch ganz wunderbare Leistung, die Menschen und andere Tiere mit einer Mühelosigkeit und Flüssigkeit vollbringen, von der Roboter noch weit entfernt sind.[3]

Der heute fast vergessene Neurologe und Phänomenologe Erwin Straus brachte 1952 zum Ausdruck, wie sehr das Gehen mit unserer Identität und Erfahrung verknüpft ist: «Unsere aufrechte Haltung ist eine unentbehrliche Bedingung menschlicher Selbsterhaltung. Wir sind aufrecht, und wir erfahren uns selbst in dieser besonderen Beziehung zur Welt.»[4] Unsere aufrechte Haltung verändert unsere Beziehung zur Welt, auch, wie wir sehen werden, zur sozialen Welt. Gehen vermittelt unserem Denken eine Beweglichkeit, die anderen Tieren verwehrt ist.

Unsere engen Verwandten, die Schimpansen, praktizieren eine Vorform der Bipedie, an der sowohl Hände wie Füße beteiligt sind. Diese Adaptation wird als «Knöchelgang» bezeichnet und ist keine besonders effiziente Art der Fortbewegung.[5] Einige Vögel gehen auf dem Boden ebenfalls auf zwei Beinen – dabei ist aber ihr Rückgrat nicht aufrecht.[6] Weder ist ihre Wirbelsäule senkrecht zum Boden aufgerichtet, noch können sie den Kopf drehen. Für den Menschen bedeutete die Bipedie tiefgreifende Veränderungen und Adaptationen, die die ganze Länge des Körpers einbezogen, vom Kopf bis zu den Zehen.

Inwiefern verschafft uns das Gehen auf zwei Beinen Möglichkeiten, die uns derartig von anderen Tieren unterscheiden? Evolutionär betrachtet, ermöglichte uns die Bipedie, uns von Afrika aus über die ganze Welt auszubreiten – von den fernen Gletschern Alaskas bis zu den weiten Wüsten Australiens. Das Gehen ist eine einzigartige Fähigkeit, die untrennbar mit der menschlichen Geschichte verbunden ist.

Außerdem hat uns der aufrechte Gang alle möglichen anderen physischen Vorteile verschafft. Zweibeiniges Gehen sorgte dafür, dass wir die Hände frei hatten, das heißt, wir wurden in die Lage versetzt, Nahrung, Waffen und Kinder zu tragen. Mit der Verlagerung der Fortbewegung auf unsere Füße und der Stabilisierung unseres Gleichgewichts entlang des Rückgrats und der Hüften gewannen wir die Fähigkeit, Steine und Speere zu schleudern, zu schleichen und zu kriechen. Es gelang uns, andere mit primitiven Steinäxten anzugreifen, die Beute einzusammeln, die wir durch Überfall und Kampf gewannen, um dann lautlos in der Nacht zu verschwinden. Wir waren in der Lage, unsere Jungen zu tragen – häufig über große Entfernungen –, indem wir einfach einen Fuß vor den anderen setzten. Aufrecht gehen machte unser Denken beweglich, und unser bewegliches Denken drang bis zu den fernen Horizonten unseres Planeten vor.

Doch die Vorzüge des Gehens sind nicht allein auf unsere evolutionäre Geschichte beschränkt – Gehen ist außerordentlich vorteilhaft für unseren Geist, unseren Körper und unser Zusammenleben. Gehen ist ganzheitlich: Jeder Aspekt des Gehens fördert jeden Aspekt des Seins. Es hilft uns, mit allen Sinnen die Welt in all ihren Erscheinungsweisen – Formen, Geräuschen, Tasterlebnissen – zu erfahren, da es unser Gehirn auf vielfältige Weise beansprucht. Gemeinsam zu gehen kann zu den schönsten Erfahrungen des Gehens gehören. Soziales Gehen – mit gleichem Schritt und Ziel in der Gruppe zu marschieren – kann ein wichtiger Ansporn zu realen gesellschaftlichen Veränderungen sein. Gehen ist so entscheidend und wichtig für uns – individuell und kollektiv –, dass es in der Art und Weise, wie wir unser Leben und unsere Gesellschaft organisieren, zum Ausdruck kommen sollte. Unsere politischen Entscheidungsträger müssen begreifen, warum Gehen einen so entscheidenden Anteil an unserem Menschsein hat, und es bei der Stadtplanung entsprechend berücksichtigen. Ich hoffe auf den Tag, an dem die Ärzte weltweit ihren Patienten Gehen verschreiben, um die Gesundheit – auf individueller und gesellschaftlicher Ebene – zu verbessern. Auf den Shetlands verordnen Allgemeinmediziner seit einiger Zeit Strandspaziergänge als vorbeugende Maßnahmen gegen Erkrankungen von Körper und Seele.[7]

In diesem Buch werde ich ein Loblied auf die ganze faszinierende Bandbreite des menschlichen Gehens singen, von seinen Ursprüngen vor langer Zeit über das Wunder, das Gehirn und Nervensystem vollbringen, um das mechanische Zauberwerk des Gehens zu inszenieren, über die Erkenntnis, wie das Gehen unsere Gedanken befreien kann, bis hin zu den zutiefst sozialen Aspekten dieser Tätigkeit. Das kann ein Fourball im Golf, eine Gruppenwanderung oder ein Marsch sein, der die Veränderung der Gesellschaft zum Ziel hat. Unterwegs werden wir sehen, welche sehr unterschiedlichen Lehren daraus zu ziehen sind, und ich werde zeigen, welche Vorteile sich für den einzelnen und die Gesellschaft daraus ergeben.

Ich werde darstellen, wie das Gehen uns zu sozialen Wesen macht, indem es unsere Hände für Werkzeuge und Gesten frei hält – Bewegungen, die uns ermöglichen, anderen Bedeutungen zu vermitteln. Gehen versetzt uns in die Lage, uns an den Händen zu halten und einem geliebten Menschen Signale privatester Natur zu übermitteln. Durch Gehen können wir einander physische Hilfe leisten. Marschieren, um Protest auszudrücken, ist ein Merkmal freier politischer Willensäußerung, daher ist das Verbot von Versammlungen und Märschen eine der ersten Maßnahmen, die von Autokraten getroffen werden. Gehen ist gut für Körper, Gehirn und die Gesellschaft als Ganzes.

Aber das Gegenteil ist auch wahr. Wir zahlen einen Preis für unseren Bewegungsmangel, gleich, worin er begründet ist – ob in der Umgebung, in der wir leben, der Gestaltung unserer Büros oder einfach in unserer Trägheit und Bequemlichkeit. Ich möchte in diesem Buch zeigen, wie wichtig es ist, wieder mit dem Gehen anzufangen. Das wird nicht nur unseren Gehirnen und Körpern guttun, sondern auch unseren Stimmungen, unserem Denken und unserer Kreativität. Auch der Verbundenheit mit unserer sozialen, städtischen und natürlichen Umwelt – verschiedensten Aspekten unseres Lebens – wird es zugutekommen. Es ist ein einfacher, praktikabler, persönlicher Neuanfang, den wir alle brauchen können.

Die aktuelle Forschung liefert ein klares Bild: Individuen und ganze Gesellschaften profitieren enorm vom Gehen. Dieses Buch singt ein Loblied sowohl auf die wissenschaftlichen Aspekte des Gehens wie auf die pure Freude an einer schönen Wanderung. Ich möchte zeigen, dass eine scheinbar einfache Verhaltensveränderung von zentraler Bedeutung für einen positiven Wandel zu körperlichem und seelischem Wohlbefinden sein kann. Wir haben es mit einer körperlichen Betätigung zu tun, zu der fast jeder in der Lage ist und die zu unseren natürlichsten Fähigkeiten gehört. Unsere Gehirne und Körper sind angelegt für Bewegung im Alltag, für Bewegung in natürlicher und künstlicher Umwelt: Regelmäßige Bewegung steigert die Leistungsfähigkeit unseres denkenden, fühlenden und kreativen Selbst, und sie verbessert unsere Gesundheit.

Es ist Zeit, aufzustehen und den Weg in ein besseres Leben zu gehen – lassen Sie uns losgehen, um die Welt zu sehen, wie sie ist, so, wie nur wir Menschen sie sehen können.

1Warum Gehen gut für uns ist

Sehr zu unserem Nachteil übersehen wir, welche Vorteile uns das Gehen für Gesundheit, Stimmung und für die Klarheit unseres Denkens bringt. Heute leben viele von uns in einer unnatürlichen Umwelt, in der wir lange Zeitabschnitte des Tages sitzend verbringen, die Augen aus einer Entfernung von etwa einem halben Meter auf einen Bildschirm gerichtet. Wenn wir aufstehen und umhergehen, verändert sich unsere Haltung: Rumpf und Wirbelsäule bilden von Kopf bis Rücken eine senkrechte Achse und sind über die Beine und mit den Füßen mit dem Boden in Kontakt. Wenn wir dagegen sitzen, lastet das Gewicht unseres Rumpfes weitgehend auf dem unteren Rücken und insbesondere auf dem Steißbein, dieser kleinen Knochengruppe, die die Rudimente des menschlichen Schwanzes enthält.[1] Das Steißbein ist in einem bemerkenswerten Geflecht von Sehnen und Muskeln verankert, das sich über die Wirbelsäule bis zu den Oberschenkeln und vor allem dem Gluteus maximus, dem Großen Sitzmuskel, erstreckt – Muskelgruppen, die von entscheidender Bedeutung für das Gehen sind. Kein Wunder, dass Schmerzen im unteren Rücken zu den häufigsten Beschwerden in den Industrienationen gehören.

Wie dumm, dass das Heilmittel – regelmäßig aufzustehen und umherzugehen – so wenig bekannt ist oder genutzt wird. Lange Zeiträume ohne Bewegung rufen auch Veränderungen in unseren Muskeln hervor: In den Beinmuskeln bilden sich Fettablagerungen, und wenn wir altern, verlieren wir infolge unserer Unbeweglichkeit Muskelmasse («Sarkopenie»). Es gibt noch weitere Veränderungen: Der Blutdruck wandelt sich, genauso die Stoffwechselrate (das Tempo der Energieverbrennung). Doch wenn wir aufstehen, geht plötzlich ein Ruck durch Gehirn und Körper: Wir werden «kognitiv mobil», das Denken kommt in Bewegung, der Kopf dreht sich hin und her, unsere Augen wandern. Unsere Hirnaktivität wechselt in einen ganz anderen Modus, die eben noch ruhigen, unauffälligen Hirnfrequenzen werden angeregt und aktiver. Wir werden wacher, unsere Atmung beschleunigt sich, Hirn und Körper bereiten sich darauf vor zu handeln. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau schrieb: «[…] ich kann […] nur im Gehen denken; sobald ich Halt mache, ist es mit dem Denken vorbei, und mein Kopf hält nur mit meinen Füßen Schritt.»[2]

Eine meiner eigenen Erinnerungen ans Gehen: Während der düsteren und scheinbar endlosen 1980er-Jahre bin ich als Student auf einer Konferenz in Belfast. Ich mache einen langen Spaziergang die Malone Road hinauf, an der Queen’s University vorbei ins Stadtzentrum hinein. Dabei komme ich an mehreren Absperrungen vorbei. Junge Soldaten mit furchteinflößenden Waffen patrouillieren durch die Stadt. Sie kontrollieren Einkaufstaschen auf Waffen und Bomben und sprechen mit englischem Akzent nervös miteinander. Eine enorme Spannung liegt in der Luft. Die Stimmung im Land ist geprägt von dem umstrittenen Politiker Ian Paisley, der gegen das Anglo-Irische-Abkommen agitiert, und von den schrecklichen Grausamkeiten, den vielen Bombenattentaten und Morden im Nordirlandkonflikt. Trotzdem ist die Stadt lebendig. Eine Stadt kann man nur schwer töten.

Wenn ich an diesen Spaziergang während meines ersten Besuchs in Belfast zurückdenke, erinnere ich mich daran, dass ich an dem von Bombenattentaten heimgesuchten Europa Hotel vorbeikam. Von dort wandte ich mich nach Osten durch die Botanic Avenue und ging dann in einer langen Schleife durch die umliegenden Straßen zur Hinterseite des Europa Hotels zurück. Warum diese Route? Einfach weil ich sie gehen konnte. Das ist der Vorteil, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Es ist früher Samstagnachmittag, und Regen liegt in der Luft. Während ich so herumwandere, stelle ich plötzlich fest, dass ich mich zufällig in der Sandy Row befinde, Belfasts loyalistischem Epizentrum. Die Wandmalereien sind beeindruckend und ein wenig angsteinflößend für jemanden aus dem beschaulichen und friedlichen Süden. Ich gehe rasch weiter und stoße schließlich auf die Lisburn Road. Von dort gelange ich wieder in die Malone Road, in der wir Studenten alle untergebracht sind. Hier in Belfast ist ein Spaziergang ein Spaziergang in eine Vergangenheit, die immer noch Gegenwart ist. Oder, wie es so treffend heißt: «Die Vergangenheit ist noch nicht einmal vergangen.»

In dieser kleinen privaten Reiseerinnerung sind viele Elemente der verborgenen Geschichten des Gehens enthalten: eine mentale Zeitreise, um sich an Einzelheiten zu erinnern, Reminiszenzen an einen Spaziergang, erfolgreiche Orientierung in einer fremden städtischen Umgebung, der kleine Angstschauer, der mich noch immer überkommt, wenn ich an die Absperrungen und die Wandmalereien zurückdenke. Wir wissen, dass die Hirnsysteme, die für alle diese Funktionen zuständig sind, in ständiger Verbindung miteinander stehen und sich gegenseitig unterstützen. Entscheidend dabei ist, dass diese Systeme nicht vollkommen sind. Mein Gedächtnis hat mich ein bisschen ausgetrickst. Es hat die Route etwas vereinfacht und wichtige Einzelheiten ausgelassen. In meiner Erinnerung liegt die Botanic Avenue dem Europa Hotel fast gegenüber. Das ist nicht der Fall, wie mir ein Blick auf die Karte zeigt. Die Botanic Avenue bildet einen spitzen Winkel mit der Great Victoria Street, und in der liegt das Europa Hotel in Wirklichkeit. Seltsamerweise habe ich auch den größten Teil der Einzelheiten über die relative Lage der Sandy Row und des Europa Hotels ausgeblendet. Nach meiner Erinnerung befindet sich die Sandy Row fast direkt hinter dem Europa. Ganz und gar nicht: Die Sandy Row liegt viel weiter südlich. Mein Gedächtnis speichert die wichtigsten Punkte von Orten, Plätzen, Dingen nur höchst unzuverlässig; leider habe ich in meinem Gehirn keine zuverlässige Videoaufzeichnung von der Route, die ich vor all den Jahren gegangen bin.

Das ist der entscheidende Aspekt des episodischen und des Ereignis-Gedächtnisses: Sie sind unvollkommen, sind auf das Wesentliche beschränkt, sie konzentrieren sich auf die Bedeutung, auf besonders auffällige Punkte und ignorieren andere.[3] In unserer Umgebung gibt es viele Informationen, die unser mobiler Geist aufnehmen kann – viel mehr, als wir wissen müssen. Wie wir uns bewegen, was wir anschauen, mit wem wir sprechen, was wir fühlen, während wir uns bewegen: Das sind zentrale Komponenten unserer Erfahrung. All das wird als Erinnerung aufgenommen und mit entsprechenden Gedächtnisspuren in unserem Gehirn abgespeichert. Wir sind keine körperlosen Gehirne, die durch Zeit und Raum reisen: Wir spüren den Boden unter den Füßen, den Regen im Gesicht; vielleicht starren wir ins Unbekannte, aber dabei erweitern wir den Horizont unserer Erfahrungen in dieser komplizierten Welt. Still und unermüdlich speichern wir die Erinnerungen an die Orte, an denen wir gewesen sind, und legen Karten von der Welt an, die wir kennengelernt haben.

Man kann nachweisen, dass sich bei Menschen, die aufstehen und umhergehen, das Gehirn verändert. Mit einem einfachen Experiment – dem sogenannten Stroop-Test, der von dem amerikanischen Psychologen John Ridley Stroop entwickelt wurde[4] – wird die «kognitive Kontrolle gemessen», mit anderen Worten, die Fähigkeit, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Denken zu steuern. Der Stroop-Test besteht darin, unter erschwerten Bedingungen Farben und Wörter zu identifizieren. Den Teilnehmern wird eine Liste mit Farbnamen dargeboten (Rot, Grün, Blau, Schwarz etc.). Sie werden entweder in der gleichen Farbe gedruckt (beispielsweise das Wort «Rot» in Rot) oder in einer anderen Farbe (das Wort «Rot» in Grün). Die Probanden werden aufgefordert, die Farbe des gedruckten Worts so schnell wie möglich zu benennen. Wenn das gedruckte Wort und die Farbe, die es benennt, übereinstimmen, sind die Reaktionszeiten in der Regel gering und die Angaben sind genau. Wenn dagegen gedrucktes Wort und Farbname nicht zusammenpassen, sind die Reaktionszeiten viel höher.

Häufig ist die Leistung im Stroop-Test bei Dual-Tasking-Bedingungen – Doppelaufgaben – beeinträchtigt. Dabei wird ein Teilnehmer beispielsweise aufgefordert, Farben zu benennen, während er gleichzeitig angewiesen wird zu überprüfen, ob Sätze, die ihm über Kopfhörer zugespielt werden, bestimmte Wörter oder Sätze enthalten, und das gegebenenfalls durch einen Knopfdruck zu signalisieren. Der Stroop-Effekt tritt sehr zuverlässig ein und lässt sich leicht nachweisen. Häufig erklärt man ihn damit, dass er die Teilnehmer dazu bringt, bestimmten Aspekten des visuellen Reizes selektive Aufmerksamkeit zu schenken. Gleichzeitig müssen sie die Tendenz unterdrücken, auf andere (automatische, aufmerksamkeitsheischende, dominante) Aspekte des visuellen Reizes zu achten, eine entsprechende Auswahl treffen und die angemessene Reaktion zeigen.

Aber was geschieht, wenn Sie zu diesem Mix noch Bewegung hinzugeben? Der Experimentalpsychologe David Rosenbaum und seine Kollegen von der Universität Tel Aviv fragten sich, ob bloßes Aufstehen sich in irgendeiner Weise auf die Stroop-Leistung auswirken würde.[5] Sie führten eine Serie von drei Experimenten durch, in denen sie Teilnehmer aufstehen ließen. Dabei fanden sie heraus, dass der Stroop-Effekt für inkongruente Reize – bei denen sich die Leistung eigentlich verlangsamen müsste – bei stehenden Teilnehmern im Vergleich zu sitzenden Versuchspersonen tatsächlich schneller als normal ist. Es ist, als mobilisiere der bloße Akt des Aufstehens kognitive und neuronale Ressourcen, die sonst ungenutzt blieben. Außerdem zeigen neuere Studien, dass Gehen die Blutzirkulation im Gehirn erhöht und sogar die Auswirkungen längeren Sitzens aufhebt.[6] Wenn man regelmäßig längere Phasen der Unbeweglichkeit durch Aufstehen unterbricht, verändert man den Zustand des Gehirns, indem man größere neurokognitive Ressourcen mobilisiert; das ist ein Aufruf ans Hirn zu körperlicher und zugleich kognitiver Aktivität.

Es ist klar, dass Gehen neben verbesserter kognitiver Kontrolle viele andere Vorteile bietet. Wir alle wissen, dass es gut für das Herz ist. Doch Gehen nützt auch dem Rest unseres Körpers. Gehen schützt und heilt Organe, die großen Belastungen ausgesetzt sind. Es ist gut für den Darm, weil es für eine bessere Verdauung sorgt.[7] Außerdem verlangsamt regelmäßiges Gehen die Alterungsprozesse unseres Gehirns und kann diesen Vorgang in einer wichtigen Hinsicht sogar umkehren. In jüngeren Experimenten wurden ältere Menschen aufgefordert, dreimal in der Woche an relativ leichten Gruppenwanderungen teilzunehmen.[8] Bei den Teilnehmern der regelmäßigen Wanderungen wurde die normale Alterung der Hirnareale, die als Basis für Lernen und Gedächtnis dienen, weitgehend umgekehrt – im Schnitt um etwa zwei Jahre. Bei diesen Gehirnregionen wurde auch eine Volumenzunahme festgestellt; das ist schon an sich ziemlich bemerkenswert, lässt es doch darauf schließen, dass regelmäßiges Gehen plastische Veränderungen in der Gehirnstruktur selbst veranlasst und sie etwa so stärkt, wie Muskeln gestärkt werden, wenn wir sie bewegen.

Eine Vermutung über Altern und Gehen liegt auf der Hand: Sie werden nicht alt, bis Sie aufhören zu gehen, und Sie hören nicht einfach auf zu gehen, weil Sie alt werden. Wenn Sie häufig und regelmäßig gehen, besonders wenn Sie es rasch und in einem angemessenen Rhythmus tun, können Sie viele negative Folgen des Alterns vermeiden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Gehen und verbesserter Kreativität, verbesserter Stimmung und einer allgemeinen Leistungssteigerung des Denkens. Phasen aerober Übungen nach dem Lernen können den Abruf zuvor erlernten Stoffs erleichtern und verbessern. Geeignetes und regelmäßiges aerobes Training kann nachweislich zur Bildung neuer Zellen im Hippocampus führen, der Hirnregion, die für Lernen und Gedächtnis zuständig ist. Regelmäßige sportliche Aktivitäten regen die Produktion eines wichtigen Moleküls an, das die Plastizität des Gehirns unterstützt, den Wachstumsfaktor BDNF (brain-derived neurotrophic factor).[9] Die Redensart «Bewegung ist Medizin» ist richtig: Kein Medikament hat alle diese positiven Effekte. Und Medikamente haben häufig Nebenwirkungen, Bewegung nicht.

Als ich einmal durch das schöne Glendalough-Tal wanderte, hörte ich das Trommeln vieler Schritte. Ich blieb stehen und wurde mit dem Anblick von vier oder fünf Rothirschen belohnt, die durch das Tal liefen. Es war im Spätherbst, Brunftzeit, ich hörte den Hirsch röhren und rufen. Das ist noch etwas, was das Gehen für Sie leistet: Sie sehen, riechen und fühlen die Dinge, wie sie sind, und nicht bei Tempo 100 durch die Windschutzscheibe. Durch Gehen gewinnen Sie persönliche Eindrücke, statt sie nur über eine Distanz wahrzunehmen. Natürlich fahre ich wie viele andere auch Auto und pendele mit dem Zug zur Arbeit. Aber Gehen ist für mich als Fortbewegungsart etwas Besonderes. Durch Gehen kann ich mir alles von der Seele laufen – was auch immer es ist. Gehen macht mir einen klaren Kopf, ermöglicht mir, die Dinge zu durchdenken. Die natürliche Bewegung bedeutet für Körper und Gehirn Erfahrungen und Anforderungen, die andere Formen der Bewegung Ihnen nicht verschaffen. Durch Autos, Fahrräder, Züge und Busse werden Sie auf je andere Weise von der Umgebung getrennt, Sie werden mechanisch vorwärtsbewegt, manchmal sind Sie hinter Glas isoliert, sind zu schnell unterwegs, haben Angst vor Unfällen, versuchen, einen neuen Song im Radio zu finden. Es handelt sich um eine besondere Form der Passivität: Sie sitzen, doch Sie kommen mit hohem Tempo voran. Das kann beim Gehen nicht passieren: Sie müssen einen Fuß vor den anderen setzen, bis Sie angekommen sind. Sie suchen sich Ihren eigenen Weg, erleben die Welt in unmittelbarer Nähe, in Ihrem eigenen Tempo, auf Ihre eigene Weise.

Aber woher wissen wir, dass Gehen tatsächlich diesen vielfältigen Nutzen für Körper, Geist und Lebensqualität hat? Wo sind die Beweise? Beweise gibt es reichlich und sie zeigen, wie wir im Lauf dieses Buchs sehen werden, dass Gehen jedem Aspekt unseres Seins zugute kommt, von unserem körperlichen Wohlbefinden über unsere geistige Gesundheit bis zu unserem Sozialleben und darüber hinaus.

*

Es mag offensichtlich erscheinen, aber wenn wir gehen, ist auch unser Gehirn in Bewegung. Wie wir sehen werden, haben wir uns evolutionär als eine sich bewegende Spezies entwickelt: Wir gehen herum, wir bewegen uns, wir suchen in der Welt nach neuen Informationsquellen. Mit anderen Worten: Wir sind nicht einfach ein Gehirn, das in einen Schädel eingeschlossen ist, wir sind ein Bewusstsein in Bewegung – wir sind «kognitiv mobil». Die Erforschung der Frage, wie wir denken, Schlüsse ziehen, uns erinnern, lesen und wie wir schreiben, bezeichnen wir als Kognitionswissenschaft. In der Regel findet die wissenschaftliche Untersuchung der Kognition in einem Labor statt, wo sorgfältig kontrollierte Experimente durchgeführt werden und eine Vielzahl von Methoden und Tests zur Messung kognitiver Fähigkeiten zur Anwendung kommen.

Fast alles, was sich auf verlässliche und gleichmäßige Weise bewegt, kann vermutlich irgendwie gemessen werden: etwa das Muster der Augenbewegungen – wohin jemand blickt, welche besonderen Stellen auf dem Bildschirm er ins Auge fasst und wie lange, das rasche Flackern der Zu- und Abnahme der Pupillengröße, die elektrischen Reaktionen des Gehirns, Reaktionszeiten und wie der Teilnehmer in dem ihm zugewiesenen Stuhl hin und her rutscht. In der neuesten Generation von Experimenten führen die Probanden komplexe Aufgaben aus, während sie in einem MRT-Gerät liegen, das mit einer Vielzahl raffinierter Methoden ihre Gehirnaktivitäten bei der Ausführung einer bestimmten kognitiven Aufgabe misst und lokalisiert.

Im Prinzip gibt es zwei bildgebende Verfahren zur Darstellung des Gehirns (Neuroimaging). Das erste und bei weitem häufigere ist die Magnetresonanztomographie (MRT), die in zwei Spielarten angewendet wird: funktionell (also fMRT) und strukturell (sMRT). Das MRT ist ein medizinisch sicheres, nichtinvasives Verfahren, das uns (im Prinzip) ermöglicht, bis zu einer Größenordnung von einem Millimeter das Gehirn bei der Arbeit zu beobachten. Das andere wichtige Verfahren zur bildgebenden Darstellung des Gehirns ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), bei der sogenannte radioaktive Tracer ins Blut der Probanden injiziert werden müssen. Anschließend wird bei den einzelnen Aufgaben die Aufnahme der Tracer in verschiedenen Gehirnregionen kartiert. PET ist eine Technik, die im Vergleich zum MRT nur eine unzulängliche räumliche Lokalisation ermöglicht, außerdem ist sie etwas unangenehm, vor allem, wenn jemand eine Spritzenphobie hat. Eine spezielle Verwendung findet PET bei der Entwicklung neuer medikamentöser Behandlungen von Erkrankungen des Gehirns oder anderer Organe. Beim MRT dagegen sind keine Injektionen erforderlich, und Strukturen und Funktionen des Gehirns lassen sich weitaus besser lokalisieren. MRT und PET verdanken wir völlig neue Einblicke in die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns.[10]

Stellen wir uns jetzt vor, Sie werden gebeten, an einem fMRT-Experiment teilzunehmen. Man legt Sie auf die Pritsche des MRT-Scanners und schiebt Sie langsam bis zur Mitte der Röhre. Zunächst wird ein sMRT erstellt, ein Bild mit verschiedenen Schnitten durch Ihr Gehirn, um sicherzugehen, dass es dort keine Anomalien oder anderen Probleme gibt. Nehmen wir an, es geht alles glatt, und Sie erhalten nun Ihre Anweisungen für das fMRT. Sie schauen auf ein kleines Kreuz auf einem Bildschirm (das ist die sogenannte Augenfixierung), dann werden Sie aufgefordert, eine Aufgabe auszuführen. Wenn wir vom Thema dieses Buchs ausgehen, könnte es sich um eine räumliche Navigationsaufgabe handeln. Vielleicht haben Sie einen Joystick und müssen sich damit einen Weg durch ein kompliziertes dreidimensionales Labyrinth suchen. Ausgehend von dem, was wir aus Experimenten an Ratten und Menschen wissen, erwarten wir ein sehr hohes Maß an Aktivität in der Hippocampusformation sowie in den Hirnregionen, die für Bewegung zuständig sind. Wie kann man beweisen, dass die Hippocampusformation spezifisch für die Aufgabe aktiviert wird? Hier zeigt sich die Bedeutung der Kontrollexperimente. Oft geht man dabei subtraktiv vor: Aktivität, die nichts mit der Aufgabe zu tun hat, wird von relevanter Aktivität abgezogen. In einer Pause, wenn die Versuchsperson nicht die Labyrinth-Aufgabe löst, könnte man sie auffordern, den Joystick entsprechend einer sprachlichen Anweisung zu bewegen, damit sie auch in diesem Moment visuell und motorisch aktiv ist.

Dieses Laborexperiment hat sich als bemerkenswert erfolgreich erwiesen, damit konnte das Standardmodell der menschlichen Kognition überprüft und erweitert werden. Allerdings weist es bestimmte Einschränkungen auf. Die besondere Beschränkung, mit der wir uns hier beschäftigen, ist die Frage, wie wir das messen, was in einem Gehirn vorgeht, während das Gehirn sich umherbewegt – wenn sich der Geist sozusagen in der freien Natur bewegt. Der Experimentalpsychologe Simon Ladouce und seine Kollegen an der Stirling University vertreten die (wie ich finde, richtige) Ansicht, dass unser Wissen über Kognition langsamere Fortschritte gemacht hat, als es möglich gewesen wäre, weil frühere und gegenwärtige Generationen von Psychologen und Neurowissenschaftlern weniger intensiv erforscht haben, wie Gehirn und Verstand in der Bewegung funktionieren.[11] Um den Heerscharen von Experimentalforschern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war der Grund natürlich, dass es äußerst schwierig ist, in der freien Natur Laborbedingungen zu schaffen. Die Aktivitäten des in Bewegung befindlichen Geistes zu untersuchen, ist machbar, aber nicht leicht. Realistisch betrachtet, setzt die Erforschung der Kognition unter natürlichen Bedingungen einiges voraus: Wir müssen die besten Errungenschaften unserer Laborpraxis nehmen und den Instrumenten irgendwie Mobilität verleihen, um messen zu können, was Menschen sagen, denken und tun, während sie umhergehen.

Mit der neuesten Generation mobiler Technologie sind wir alle wohlvertraut. Sie lassen sich für unsere Zwecke nutzen, indem wir mit ihnen festhalten, wie wir uns verhalten, wenn wir im Freien sind und uns umherbewegen. Viele, wenn nicht die meisten von uns, besitzen Smartphones. Gewöhnlich verfügen sie schon über Apps zur Messung der Schrittzahl und des Gehtempos, zur Bewertung unserer Ernährung und viele weitere Funktionen. Durch Rückgriff auf diese und andere Technologien sind wir in der Lage festzuhalten, was das Gehirn macht, während die Kognition mobil ist. Dabei haben sich Smartphones als besonders nützlich erwiesen. Die Versuchsteilnehmer können zu verschiedenen Tageszeiten angepingt und unter anderem gefragt werden, was sie gerade tun, wie sie sich fühlen und was sie vorhaben. Das wird als «Erfahrung-Sampling» bezeichnet.[12]

Zwar lässt sich mit indirekten Methoden untersuchen, wie Gehen das Gehirn verändert, doch es kann erheblich schwieriger sein, die zugrunde liegenden Mechanismen zu identifizieren und zu verstehen. Diese Veränderungen mit der Aktivität bestimmter Gehirnzellen, Schaltkreise und Systeme in Verbindung zu bringen und diese dann mit der Kognition und dem Verhalten im Ganzen zu verknüpfen, ist noch schwieriger. Doch wir beginnen jetzt erst zu verstehen, wie Gehen sich auf die Aktivität im Gehirn auswirkt. Und umgekehrt begreifen wir allmählich, wie Gehen das Gehirn so verändert, dass es aktiviert wird.

Stellen Sie sich einen Augenblick vor, Sie wären eine Katze, die dasitzt und auf ihre Beute lauert. In der Nähe befindet sich eine Ratte, die ihrerseits auf der Suche nach Futter ist. Und Sie, die Katze, schleichen sich lautlos an. Ihr visuelles System ist jetzt besonders geschärft, einfach weil Sie sich leise vorwärtsbewegen. Sie nehmen Informationen rascher auf; Ihre Pfoten sind bereit, die Beute zu packen.

Malen Sie sich jetzt aus, die Ratte liefe zu einem Bau oder einem Nest zurück. Es herrscht Halbdunkel, und sowohl die Sehschärfe der Katze als auch die der Ratte ist extrem eingeschränkt. Vielleicht nehmen Sie beide die Geruchsspur des anderen wahr, aber die ist möglicherweise diffus und liefert keinen Hinweis, der verlässlich genug ist, um die Beute zu erlegen oder dem Fressfeind zu entkommen. Wenn Sie keinen absolut sicheren Zufluchtsort haben, ist Ihre Chance größer, wenn Sie sich still und vorsichtig bewegen, denn Ihr visuelles System wird durch die Bewegung geschärft. Entsprechend sind Ihre Aussichten größer, die Beute zu erwischen, wenn Sie umherschleichen, Ihren Kopf und Ihre Augen bewegen.

Hier haben wir ein interessantes «evolutionäres Wettrüsten». Die Aktivität in den visuellen Arealen beider Erscheinungsformen, der Ratte als Beute und der Katze als Fressfeind, wird durch Gehen geschärft und abgestimmt. Gehen ermöglicht Ihnen, Ihre Beute leichter zu erwischen, aber Gehen ermöglicht Ihnen genauso, dem Raubtier leichter zu entkommen. Es gibt zwei miteinander konkurrierende Kognitionssysteme, das der Katze und das der Ratte, jedes darauf ausgerichtet, die Ziele des anderen zu durchkreuzen. Und die Aktivität jedes Systems wird geschärft durch die gleiche Ursache: Gehen. Das bringt uns zu einer wichtigen und allgemeinen Schlussfolgerung: Gehen verändert die Aktivität im Gehirn merklich auf unauffällige, wichtige und wirksame Weise.

Dieses Katze-Ratte-, Fressfeind-Beute-Beispiel hilft uns, genauer zu erfassen, was bei mobiler Kognition zunächst mit der Aktivität in den Zellen, Schaltkreisen und Systemen des Gehirns und dann mit dem Verhalten geschieht. Was passiert mit Ihrem visuellen System, wenn Sie die Dinge in Ihrer Umgebung beim Gehen sehen? Wie rasch kann ich etwas sehen, wenn ich gehe und aufmerksam bin, und wie schnell erblicke ich es, wenn ich sitze und aufmerksam bin? Gehen verändert die Aktivität in den Hirnregionen, die für das Sehen zuständig sind, auf viele positive Weisen, denn diese Regionen sind evolutionär darauf angelegt, die Reaktionen auf das, was in der realen Welt geschieht, zu beschleunigen und effektiver zu gestalten.

Überlegen wir uns einen Augenblick, wie sich Bewegung auf die Kognition auswirken könnte. Wir können uns das Gehirn (etwas vereinfacht, wie ich zugeben muss) folgendermaßen vorstellen: Das Gehirn erhält Input aus der Außenwelt (die sensorische Seite des Nervensystems) und verarbeitet ihn (die zentrale Komponente des Nervensystems). Anschließend können sich die Ergebnisse dieser Verarbeitung durch irgendeinen Output auf das Verhalten auswirken (der motorische Aspekt). Die Aktivität in diesen verschiedenen Teilsystemen lässt sich während des Gehens messen. Und daraus ergibt sich, dass Gehen die Gehirnaktivität messbar zum Besseren verändert. Hören, Sehen und Reaktionszeit – das alles verbessert sich während aktiver Bewegung.

Unsere Mobilität stellt uns bei der Datensammlung vor einige Probleme. Wie wir sehen werden, sind die Experimente, die man gegenwärtig mit Ratten und Mäusen durchführt, relativ einfach. Dagegen verlangen Experimente mit Menschen in Bewegung etwas mehr Einfallsreichtum.

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Die Via Alpina führt durch acht Alpenländer (Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Liechtenstein, Monaco, Slowenien, Schweiz) und besteht aus fünf langen miteinander verschlungenen Wegen. Insgesamt erstrecken sich die fünf Routen über 5000 Kilometer. Die Wege der Via Alpina sind sehr alten Ursprungs, und gelegentlich erzählen die archäologischen Funde längs der Wege interessante und traurige Geschichten aus der Vergangenheit. So wurde 1991 die 5000 Jahre alte Leiche eines Mannes mittleren Alters nahe der heutigen österreichisch-italienischen Grenze gefunden. Man nannte ihn Ötzi, den Mann aus dem Eis.[13]

Der arme Ötzi nahm ein unschönes Ende: Als man seinen Körper röntgte, zeigte sich, dass eine Pfeilspitze aus Feuerstein tief in die linke Schulter eingedrungen war und dass man ihm dann den Schädel eingeschlagen hatte. Seine Arme wiesen einige Abwehrverletzungen auf. Es ist nicht ganz klar, welche Verletzung es war, der Ötzi erlegen ist. Weder die Pfeilspitze noch der Schlag auf seinen Kopf hätten wohl zum sofortigen Tod geführt. Möglicherweise ist er einfach an dem Blutverlust aufgrund seiner Schulterwunde gestorben. Es war fast unvermeidlich, dass Ötzi im Tod noch weitere Demütigungen erleiden musste – er wurde zum Aushängeschild der Via Alpina, mit dem Erfolg, dass die Lokale vor Ort heute Ötzi-Pizza und Ötzi-Eiskrem anbieten.[14]

Wie schneidet Ötzi im Vergleich zu einem modernen Menschen ab? Die Menschen seiner Zeit dürften nomadisch gelebt haben, anders als seine sesshafteren Brüder und Schwestern im 21. Jahrhundert. Wie mag sich das auf seinen Körper und Geist ausgewirkt haben?

Im Jahr 2011 gelang es, die Vergangenheit wiederzuerwecken, sodass wir eine Vorstellung von seinem Körper und Geist und seiner nomadischen Lebensweise haben. Die Forscher untersuchten, wie ein relativ aktiver zweiundsechzigjähriger Mann auf die Umwelt reagierte und sich den veränderten Verhältnissen anpasste, während er den langen Wanderweg über die Alpen zurücklegte. Im Lauf von drei Monaten bewältigte der anonyme Italiener 1300 Kilometer der Via Alpina zurück.[15] Bevor er aufbrach, ließ er sich in einem Labor von Kopf bis Fuß vermessen. Alle wichtigen Aspekte seiner Körperfunktionen wurden erfasst, Atemkapazität, Muskelstärke, Körperfettanteil, Blutbild und viele andere Faktoren. Dann wurde er mit einem mobilen physiologischen Labor ausgerüstet, das er mit sich herumtragen musste. Dieses Mini-Labor bestand aus einem Rucksack voller Instrumente und weiteren Geräten, die ihm ermöglichten, mehrmals am Tage seine Blutwerte zu bestimmen. Dank der tragbaren Instrumente konnten sich die Wissenschaftler ein Bild davon machen, wie sich ihr moderner Ötzi fortlaufend an seine lange Bergwanderung anpasste.

Die gute Nachricht lautet, es ist nie zu spät, um mit dem Gehen zu beginnen, selbst längere Entfernungen. Trotz ordentlicher Fitness hatte der moderne Ötzi nie zuvor einen Marsch von entsprechender Länge und Dauer unternommen, doch die Messungen zeigten, dass sich sein Körper rasch und mühelos an die Strapazen der Reise anpasste, sogar an die Notwendigkeit, mit dem leichten Sauerstoffmangel in großen Höhen zurechtzukommen. (Die Höhenlagen der Via Alpina schwanken zwischen 0 und 3000 Meter über dem Meeresspiegel. Die Höhenkrankheit setzt gewöhnlich über 1500 Meter ein, wenn der Sauerstoffgehalt der Luft auf 84 Prozent des Gehalts auf Seehöhe fällt. Auf 3000 Metern beträgt er 71 Prozent.)

Die positiven Veränderungen betreffen praktisch jeden gemessenen Bereich der Körperfunktionen. Sein Body-Mass-Index – den man häufig benutzt, um Adipositas zu bestimmen – ging um etwa 10 Prozent zurück. Dagegen fiel infolge der täglichen körperlichen Betätigung der Prozentsatz seines Körperfetts dramatisch, insgesamt um rund ein Viertel. (Sie wollen abnehmen? Vergessen Sie das Fitnessstudio; begeben Sie sich stattdessen auf eine wirklich lange Wanderung. Und gehen Sie in der Natur, über einen Zeitraum von Tagen oder Wochen. Das wird Ihnen weit mehr zugutekommen.)