Das Glück geht seltsame Wege - Richard Wunderer - E-Book

Das Glück geht seltsame Wege E-Book

Richard Wunderer

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Beschreibung

Eigentlich sind sie zwei sehr unterschiedliche Naturen: die resolute Cordula vom Sandnerhof und der sanftmütige Lehrer Georg. Trotzdem finden sie sich von der ersten Begegnung an sehr sympathisch. Nur keiner will es sich selbst und dem anderen eingestehen. Georgs Schwierigkeiten mit der Schulbehörde kommen Cordula deshalb nicht ungelegen, sie stellt ihn als ihren neuen Verwalter ein. Als sie jedoch kurz darauf mit ihrer Schwester Doris den Verwalter tauscht, wirbelt das die Herzen aller Beteiligten tüchtig durcheinander.

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LESEPROBE zuVollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2006

© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: Studio von Sarosdy, DüsseldorfLektorat: Angelika Oberauer, Bergen/Obb.Satz: Buch-Werkstatt Gmbh, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54597-9 (epub)

Worum geht es im Buch?

Richard Wunderer

Das Glück geht seltsame Wege

Eigentlich sind sie zwei sehr unterschiedliche Naturen: die resolute Cordula vom Sandnerhof und der sanftmütige Lehrer Georg. Trotzdem finden sie sich von der ersten Begegnung an sehr sympathisch. Nur keiner will es sich selbst und dem anderen eingestehen. Georgs Schwierigkeiten mit der Schulbehörde kommen Cordula deshalb nicht ungelegen, sie stellt ihn als ihren neuen Verwalter ein. Als sie jedoch kurz darauf mit ihrer Schwester Doris den Verwalter tauscht, wirbelt das die Herzen aller Beteiligten tüchtig durcheinander.

1

Lautes Knallen und Donnern riss die junge Bäuerin aus dem Schlaf. Sie fuhr erschrocken in die Höhe, setzte sich im Bett senkrecht auf und spürte ihr Herz bis in den Hals hinauf schlagen. Während der nächsten Minute fand sie sich in der Dunkelheit der Nacht überhaupt nicht zurecht. Was ging da im Wald vor? Waren etwa Wilderer am Werk? Beim nächsten Knall überzog sich der Himmel mit einem blutroten Feuerschein, der Cordulas Schlafkammer gespenstisch aufleuchten ließ, bis er langsam wieder erlosch. Die noch immer mit Eis und Schnee bedeckten Bergzacken oberhalb des Bannwaldes glühten, als wäre der Weltuntergang schon gekommen, stünde die Welt in Flammen und sei dafür die Hölle aufgebrochen.

Die Angst, die Cordula in ihrer Schlaftrunkenheit verspürt hatte, verschwand schnell. Sie war nun hellwach und schimpfte sich selbst als eine dumme Gans. »Heute ist doch Frühlingsfest«, fiel es ihr ein, »und da geht es bekanntlich schon am frühen Morgen recht hoch her.

Behände sprang sie aus dem Bett, warf sich ihre dicke Strickjacke über die Schultern und lief barfüßig zur Kammer ihrer Mutter hinüber, damit diese sich nicht unnötig ängstige. »Hoffentlich hat sie vor Schreck nicht gleich der Schlag getroffen«, dachte sie halb im Scherz. Cordula selbst war im Grunde ein starkes und selbstbewusstes Mädel, das nicht so schnell was umwarf.

Behutsam drückte sie die Klinke nieder, denn sie wollte der Mutter an diesem Morgen nicht gleich den zweiten Schreck versetzen. In der Kammer der Bäuerin flackerte unter dem Bild der »Muttergottes« ein rotes Lämpchen. Zum Glück war die Knallerei für den Augenblick vorbei.

»Mutter, hat dich dieser Höllenlärm auch so erschreckt?«, fragte Cordula zum Bett hin, auf das ein Schein von Mondlicht fiel. Als sie keine Antwort bekam, wiederholte sie ihre Frage etwas lauter. Aber die Bäuerin rührte sich nicht, sodass Cordula zur Gaudi rief: »Stell dich nicht schlafend, Sandner-Bäuerin! Auch wenn’s noch finster ist, hat der neue Tag schon begonnen!«

Als wiederum keine Antwort kam, verspürte Cordula auf einmal ein heimliches Grauen. Langsam, beinahe zögerlich, ging sie zum Bett der Bäuerin. »Mutter, um Himmels willen, ist dir net gut? Hast dich auch so vor dieser Knallerei erschreckt?«, fragte sie vorsichtig.

Cordula knipste die Nachttischlampe an und blickte gespannt auf ihre Mutter. Die Bäuerin lag mit dem Gesicht zur Wand, drehte sich nun jedoch um und herrschte ihre Tochter an: »Freilich hab ich es gehört, aber dann bin ich wieder eingeschlafen. Du hast mich jetzt aufgeweckt! Mit fünfzig bin ich schließlich net mehr die Jüngste und schlaf net mehr so gut, wie du mit deinen sechsundzwanzig Jahren.«

Cordula ließ ihre Mutter schimpfen und atmete nur erleichtert auf, denn sie hatte schon das Schlimmste befürchtet. Hatte man nicht neulich die Huber-Bäuerin, eine Schulkameradin der Mutter, in der Früh tot in ihrem Bett gefunden? Ein Herzinfarkt hatte ihr ein rasches, völlig unerwartetes Ende bereitet. So schnell kann es gehen! Doch sie hatte sich, Gott sei Dank, umsonst gesorgt: Die Mutter war wohlauf, und ihr Mundwerk war auch net eingerostet.

Cordula setzte sich auf die Bettkante und streichelte die Hand ihrer Mutter. »Heute haben wir einen besonderen Tag. Es ist Frühlingsanfang, und das wird bei uns im Dorf gründlich gefeiert.«

Die Sandner-Bäuerin nickte versöhnlich. »Ja, das ist mir dann auch gleich eingefallen. Aber erst einmal hab ich von dem Lärm einen tüchtigen Schrecken bekommen.« Etwas schwerfällig erhob sie sich von ihrem Nachtlager: »Nun lass mich doch endlich aufstehen! Wenn wir heute noch ordentlich feiern wollen, muss erst das Tagwerk verrichtet werden.« Sie stieg aus dem hohen, altmodischen Bett und schlüpfte in ihre Latschen. »Einen Bauern gibt es ja leider auf unserem Hof net mehr, also müssen wir Weiberleut umso fester anpacken«, seufzte sie und ging dann mit ihrer Tochter hinaus in den kalten Flur des alten Bauernhauses.

Eine Stunde später war mit vereinten Kräften die dringendste Arbeit getan, und alle saßen um den großen Küchentisch: Die Bäuerin Herta Sandner an einer Schmalseite, ihr gegenüber Cordula, ihre Tochter. Links drängten sich die Mägde Erika, Liesa und Kathi zusammen; rechts hatten die Knechte Peter und Anton ihren Platz.

Während des Frühstücks meinte die Bäuerin, die sich heute in einer recht aufgeräumten Stimmung befand: »Ich lad euch heute Mittag zum Höfling-Wirt ein. Es wär mir aber ganz recht, wenn ihr zuerst in die Kirch gehen würdet und net gleich zum Wirt. Am Nachmittag gibt es noch Gaudi genug. Auf dem Kirchenplatz ist heuer ein Tanzboden aufgestellt, wo’s nach dem festlichen Umzug bestimmt recht lustig zugehen wird. Wenn das Wetter den Tag über so schön bleibt, dann wird der Stiegler Sepp ganz sicher seine Ruderboote an den Weiher bringen.«

»Das wär net schlecht«, freute sich der Anton, der zwar kein großer Wassersportler, wohl aber im Dorf als recht erfolgreicher Schürzenjäger bekannt war. Schmunzelnd dachte er daran, dass ihm nur wenige Dirndl ein Busserl verweigerten, wenn er sie im Mondlicht über den kleinen See ruderte.

Dessen ungeachtet ermahnte die Sandner-Bäuerin ihre Leute: »Vorsichtig bleiben beim Bootfahren! Auf dem Weiher ist schon manches Unglück geschehen«, und dann warf sie noch jene schwierige Frage auf, vor der sich ihre Leute jeden Sonntag fürchteten: »Einer muss auf dem Hof bleiben. Es treibt sich in letzter Zeit zu viel Gesindel in unserer Gegend herum. Es muss ja net gleich ein Mörder oder Brandstifter kommen, aber im vorigen Jahr haben Betrunkene dem Silber-Bauern alle Stalltüren aufgerissen und sein Vieh in den Auwald getrieben. Sie haben es auch noch lustig gefunden, wie der arme Lois verzweifelt hinter einem jeden Rindvieh nachgerannt ist!« Sie blickte forschend in die Runde. »Also, wer erbarmt sich?« Als sich niemand freiwillig meldete, entschied die Sandner Herta: »Erika, du bist die Jüngste und wirst noch viele Feste mitmachen können. Also bleibst du dieses Mal auf dem Hof.«

Das Dirndl nickte schicksalsergeben, warf aber dann sogleich einen fragenden Blick zu den beiden Burschen hinüber. Wie wenn sie es ausgemacht hätten, bot sich sogleich der Peter an: »Bäuerin, nachher bleib halt auch ich daheim. So ein junges Dirndl kann man net allein auf dem großen Hof lassen. Sie braucht ein wengerl Schutz«, meinte er mit einem Augenzwinkern zu der Erika hinüber.

Die Bäuerin nickte nachsichtig. Diese Bitte konnte sie dem Peter wohl schlecht verwehren, obwohl sie wusste, dass bereits über die Erika und ihren Knecht gemauschelt wurde. Das Dirndl muss wissen, auf wen sie sich einlässt, dachte sie seufzend.

Als die Sandner-Bäuerin mit ihrer Tochter und den drei Dienstleuten zum Kirchgang von ihrem Hof in den Ort hinunter kam, waren einheimische und ortsfremde Gäste schon eifrig am Feiern. Nicht nur beim Höfling-Wirt im »Goldenen Rössel« hatten sie beinahe schon alle Plätze besetzt, auch in der Kirche drängten sich ungewöhnlich viele Menschen zusammen. Hochwürden Hannes Gleisner, ein echter Bauernpfarrer und Spätberufener, erzählte in seiner Sonntagspredigt viel über den Ursprung des Frühlingsfestes. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass die Burschen und Dirndl schon in alten Zeiten das endgültige Vertreiben des Winters und den Einzug des Frühlings auf den Straßen mit übermütigem Treiben gefeiert hatten. Verständnisvoll lächelnd ermahnte er nun die Jugend: »Dieses Vergnügen kann ich euch also net verwehren, auch wenn es wilden, heidnischen Ursprungs ist.«

Gleich nach dem Schlusssegen gingen die Sandner-Bäuerin, ihre Tochter und drei der Dienstleute zum »Goldenen Rössel« hinüber. Mit ihnen kamen noch viele andere Kirchgänger und fanden es ungerecht, dass inzwischen schon die besten Plätze von jenen Leuten besetzt waren, die nicht dem Gottesdienst beigewohnt hatten.

Beinahe wäre es zum Streit und somit zu einer ernsthaften Störung der Festesfreude gekommen, aber der Wirt verlor nicht die Nerven und sorgte mit Ruhe und Besonnenheit dafür, dass jeder einen anständigen Platz bekam. So saßen viele männliche Urlauber zwischen hübschen Dorfdirndln und andererseits einheimische Burschen neben feschen Urlauberinnen, was den meisten recht gelegen kam. Einigen Stammgästen, darunter auch den Leuten vom Sandner-Hof, wurde ein Tisch im Jagdstüberl angeboten. Somit fanden alle ihre Plätze und auch bald volle Teller.

Immer wenn der Höfling Karl oder seine Kellnerinnen Essen und Trinken ins Jagdstüberl brachten, konnte die Cordula einen flüchtigen Blick in den großen Speisesaal werfen. Dort reihten sich um den Stammtisch die Honoratioren von Stockern: der Arzt, der Oberlehrer, die zwei wichtigsten Geschäftsleute des Ortes. Am Kopfende der Tafel thronte der Bürgermeister Kurt Schöll, neben ihm seine Frau Annelies. An deren Seite sah Cordula einen Mann, den sie nicht kannte. Um über ihn etwas zu erfahren, stellte sie sich ungläubig und fragte die Mutter aus: »Seit wann dulden unsere Großkopferten einen Fremden an ihrem Stammtisch?«

Die Sandner-Bäuerin blickte zu dem Fremden hin. Sie kannte ihn tatsächlich, denn sie hatte öfters im Ort auf der Gemeinde zu tun. »Das ist der Schöll Georg. Im Augenblick noch ohne Anstellung, aber im Herbst soll er die Erstklässler in unserer Schule unterrichten. Der hat eben die notwendige Protektion.«

Cordula war neugierig geworden und wollte noch einiges mehr über ihn erfahren. Damit sie nicht ohne Vorwand fragen musste, gab sie sich verwundert: »Ein Lehrer, dazu noch ein Auswärtiger? Wieso darf der schon jetzt am Stammtisch sitzen, wenn sogar unser Oberlehrer in dieser Runde beinahe nur geduldet wird!«

Die Sandner-Bäuerin wiederholte: »Was ich schon gesagt hab: Georg Schöll heißt er und ist der Bruder unseres Bürgermeisters. Während der Zeit, bis man ihn im Herbst auf unsere Kinder loslassen wird, lernt er inzwischen auf dem Schöll-Hof das Ausmisten. Wenn er sich als Fremder bei uns in der Schule vielleicht doch nicht halten wird, kann er nachher wenigstens bei seinem Bruder den Stallknecht machen. Aber ich hab nichts gesagt.«

Die Tür schloss sich wieder, und Cordula hatte den Schöll Georg beinahe schon wieder vergessen.

Ein paar Nachzügler kamen noch zum Essen, mussten aber auch nicht mehr lang auf einen Platz warten, denn bei dem prächtigen Frühlingswetter hielt es fast keinen Gast länger als notwendig im »Rössel«. Der Festzug zum Abschied vom Winter und zur Begrüßung des Frühlings würde am Nachmittag sicherlich kaum vor drei Uhr beginnen, deshalb machten vor allem die jungen Leute bis dahin einen Spaziergang in den Wald und über die schon grün werdenden Wiesen bis hinunter zum Seerosen-Weiher.

Dort erlebten die Fremden allerdings ihre nächste Enttäuschung, denn die drei Ruderboote des Stiegler Sepp waren schon von Einheimischen bestellt und bezahlt worden. In eines davon sprang der Anton vom Sandner-Hof. Ihm waren zwei Dirndln geblieben, die Liesa und die Kathi. Um so eine Begleitung ließ er sich in Ufernähe noch wie ein Pascha beneiden, aber auf dem offenen Wasser schmälerte ihm ausgerechnet der Überschuss an weiblicher Schönheit alle Möglichkeiten zum zärtlicheren Schöntun. Gerade nur ein paar harmlose Busseln gewährten ihm seine beiden Begleiterinnen.

Den Spaziergängern bot sich auch vom Ufer aus ein großartiges Bild der im Frühling erwachenden Natur. Auf den Bergen ringsum glitzerte noch Firn in der Sonne, rund um den Weiher grünte und blühte es schon längst.

Die Luft war so lind, dass um zwei Uhr Nachmittag der Gastgarten des »Goldenen Rössels« wieder bis auf den letzten Platz besetzt war. Nach dem üppigen Mittagessen bewiesen die meisten Gäste einen kaum zu löschenden Durst. Um keinen von ihnen unnötig lang leiden zu lassen, hatte der Wirt für diesen Festtag zum Stammpersonal noch vier Aushilfskellnerinnen eingestellt, die sich für ein gutes Trinkgeld arg abhetzten, als dann auch noch die von ihrem Spaziergang schon wieder ausgehungerten Gäste ankamen, die nach einer deftigen Brotzeit verlangten. Ins ländliche Brauchtum weniger gut Eingeweihte konnten es kaum fassen, wie viele Maßkrüge und Tablette mit Speisen die gut gestellten Kellnerinnen Mal stemmen konnten.

Die friedlich genießenden Zecher wurden schließlich durch wildes Geschrei, Trommelwirbel auf Blechtöpfen und fürchterliches Kreischen erst aufgeschreckt und dann auf die Straße gelockt. Dazwischen hörten sie allerdings auch Blasmusik. Alles in allem wurde es ihnen klar, dass der festliche Umzug mit dem Winteraustreiben begonnen hatte und mit der Begrüßung des Frühlings enden würde. In Stockern feierte man diese beiden Ereignisse eben anders als im Rest der Welt: Voran zogen Kinder mit lauten Ratschen, daran schlossen sich fünf erschreckend grausliche Hexen. Als Nächstes kamen Männer mit aus Holz geschnitzten, bunt bemalten Masken. Geschmückte Wagen wurden von Pferden oder Ochsen gezogen. Zu guter Letzt kehrte eine Gruppe Bauersfrauen mit Besen den Winter endgültig aus dem Land. Nun konnte der Frühling einziehen. Erfreulich und schön anzuschauen waren die Mädchen in ihren schmucken Dirndlkleidern, begleitet von schneidigen Burschen in Krachledernen und Bauernjankern. Den größten Jubel aber lösten am Ende des Zuges die Musikanten der Freiwilligen Feuerwehr aus. Mit der Kapelle steuerte das Fest nun auf seinen Höhepunkt zu. Im Rhythmus ihrer Marschmusik, und zwar der »Kaiserjager«, gekleidet in ihre feschen Uniformen, zogen die Männer ins »Goldene Rössel« ein und platzierten sich dann auf dem Podium des Festsaales.

Von allen Seiten stürmte man nun zur Tanzfläche. Vor allem die jungen Leute waren kaum mehr zu bändigen, aber auch die Älteren, Bedächtigeren konnten der flotten Blasmusik nicht widerstehen und wagten das eine und andere Tänzchen. Der Frühling war somit auch in ihre Herzen eingezogen.

Cordula Sandner ließ kaum einen Tanz aus. Es fehlte ihr nicht an Partnern, man riss sich geradezu um sie. Doch sie gab keinem Burschen einen Korb, denn sie wollte an diesem schönen Tag keinen Burschen verletzen oder kränken. So tanzte sie mit allen, war lustig, ohne sich jedoch etwas zu vergeben.

Eine zufällige Beobachtung beeinträchtigte zuletzt jedoch ihr Glücksgefühl: Als Cordula vom vielen Tanzen ein wenig verschnaufen musste, sah sie den Lehrer Georg Schöll mit der Eisenstein-Kramerin tanzen, dann mit der Tochter vom Doktor und schließlich mit seiner Schwägerin, der Annelies Schöll. Offensichtlich hatten es ihm die »besseren« Damen des Dorfes besonders angetan. An ihrem Tisch war er jedoch nie stehen geblieben. Er lächelte ihr zwar zu, wenn er vorüberging, forderte sie jedoch nicht zum Tanzen auf. Das wurmte sie ein wenig.

»Der Herr Lehrer sichert sich wohl schon vorsorglich die Gunst der Einflussreichen von Stockern, damit sie sich gegebenenfalls für ihn einsetzen. Darum ist ihm halt die Tochter einer Bergbäuerin net so wichtig. Der hält sich wohl zu gut dafür, mich auch einmal um einen Tanz zu bitten. Ganz schön hochnäsig ist der. Möchte nur wissen, auf was sich dieser Tintenkleckser so viel einbildet«, dachte die Cordula gekränkt.

Bevor es draußen langsam finster wurde, suchte die Sandner-Mutter ihre Tochter und meinte: »Unsere Dirndln haben sich schon müd getanzt. Die kommen jetzt mit mir heim, denn wir möchten vor Einbruch der Nacht auf dem Hof zurück sein. Heute sind gewiss einige Besoffene unterwegs, denen möchte ich im Finstern auf dem Waldweg lieber net begegnen. Kommst du auch mit?«

Später fragte sich die Cordula oft, warum sie sich an diesem Abend zum Bleiben entschieden hatte. War es deswegen gewesen, weil sie sich noch etwas erhoffte?

Die Sandner-Bäuerin war gar nicht damit einverstanden gewesen, dass ihre Tochter noch bleiben wollte. »Wenn du eine Stunde nach mir net auf dem Hof bist, komm ich noch einmal ins Dorf herunter und hole dich!«, drohte sie ihr, bevor sie mit ihren Mägden das Wirtshaus verließ.

Auch in der folgenden Stunde beobachtete Cordula möglichst unauffällig den Georg Schöll; als der zuletzt sogar mit der Großdirn vom Bürgermeister tanzte, reichte es ihr. Sie fühlte sich von ihm zurückgesetzt, verachtet, persönlich beleidigt, wie vor allen bloßgestellt, und so ging sie mit feindseligen Gefühlen von der Tanzgesellschaft weg, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden.

»Lächerlich«, redete sie sich ein, »wie wenn ich mich über so einen armseligen Federfuchser ärgern könnte.«

Doch sie ging nicht gleich heim, sondern erst noch zum Weiher hin. Wollte sie sich an seinem Ufer von ihrem Ärger ein wenig abkühlen? Sie wusste es selbst nicht ganz genau. »Hier ist es doch viel schöner als im Tanzsaal«, dachte sie weiter, während sie auf die schwarze, spiegelglatte Wasserfläche blickte.

Das Mondlicht spiegelte sich romantisch im stillen Wasser des Weihers. Dahinter wuchsen die Schatten der Berge hoch in den Nachthimmel. Über all dem schloss ein mit großen Sternen übersätes Firmament die kleine Welt von Stockern gegen die Unendlichkeit des Weltalls ab.

Doch dann wurde es plötzlich laut. Eine Gruppe junger Burschen stürmte aus dem Wirtshaus und lief zum kleinen See hinunter.

»Ich pack’s nicht, schaut euch die an!«, rief einer, der aus Siebenanger, einem in der Nähe von Stockern gelegenen Dorf, zur Feier des Tages herübergekommen war. »Bei der mach ich heute noch mein Glück!«

Seine Freunde lachten ihn aus: »Kannst es ja versuchen, aber ich glaub net, dass du bei der da Glück hast. Die trauert wohl einem anderen nach, sonst würd sie net gar so traurig zum Wasser hinschauen«, meinte einer von ihnen.

»Wetten, dass ich von der heut noch ein Busserl krieg?«, grinste der angetrunkene Bursche. »Die wartet doch bloß darauf, dass sie heute noch einer ein wengerl herzt. Der wird ihr Kummer schnell vergehen, wenn ich sie erst einmal in den Armen halt. Mir hat noch keine widerstanden.«

Doch seinen Kumpanen schien auf einmal die Lust nach weiteren Vergnügungen vergangen zu sein. Sie winkten lustlos ab und machten sich aus dem Staub.

Ein paar Minuten wartete der sich für unwiderstehlich haltende Draufgänger noch ab, dann entschloss er sich, sein Vorhaben wahr zu machen. Mit ein paar schnellen Schritten war er in Cordulas Nähe und lehnte sich an einen Baum. Schon immer hatte er sich für besonders witzig und einfallsreich gehalten, darum ging er auch jetzt in der gewohnten Art gleich zuversichtlich aufs Ganze: »Schöne junge Frau, wenn dich der Gendarm sieht, sperrt er dich in den Kotter! So viel ich weiß, ist es bei euch in Stockern verboten, dass ein Dirndl an so einem Festabend allein heimgeht«, rief er ihr zu.

Cordula würdigte den zudringlichen Burschen keines Blickes, sondern schaute weiterhin übers Wasser zu den Bergen. Als der aufdringliche junge Mann jedoch keine Ruhe gab, rief sie ihm drohend zu: »Ich will allein bleiben, lass mich also in Frieden und verschwinde!«

Doch der Bursche dachte gar nicht daran, so schnell aufzugeben. Im Gegenteil: Er ging nun umso mehr zum Angriff über, indem er nun ganz nahe zu ihr hinging und schmeichelnd und werbend seinen Arm um ihre Schulter legte: »Sei keine langweilige Nocken«, flüsterte er ihr zärtlich zu. »Ich will doch nur ein einziges Busserl von dir.«

Sie schüttelte seine Hand wie ein giftiges Insekt von ihrer Schulter ab, musste jedoch schnell einsehen, dass auch das nichts half, denn der Bursche wurde jetzt noch dreister. Cordula wollte schon zuschlagen, als plötzlich der Lehrer vor ihr stand. Sie starrte ihn an und spürte ihr Herz dabei noch schneller schlagen.

»Verschwinde, Bürscherl! Und belästige meine Begleiterin nicht länger, sonst landest du im Wasser!« Er stieß den aufdringlichen Kerl mit einer kraftvollen, geschickten Handbewegung von Cordula weg. Damit nahm er dem glücklosen Hallodri allen Mut, denn prügeln wollte der sich wegen der langweiligen Dirn keinesfalls.

»Entschuldigung«, stotterte er verwirrt, »ich konnte doch net wissen, dass du und sie …?« Mit diesen Worten rannte er los und verschwand schnell in der Dunkelheit.

»Danke«, sagte Cordula lächelnd, »da sind Sie gerade noch rechtzeitig gekommen.« Erst jetzt hatte sie Gelegenheit, sich den neuen Lehrer genauer anzusehen: Er musste so um die dreißig sein, war ziemlich groß, eine sportliche Erscheinung. Von seinem braunen, naturgewellten Haar fiel ihm eine Strähne in die Stirn. Seine dunkelbraunen Augen hatten sie schon in der Gaststube fasziniert, als er an ihr vorübergegangen war. Unvorstellbar, dass solche Augen jemals hart und böse in eine Schulklasse blicken konnten! Sie konnte nichts dagegen tun, aber er war ihr sofort sympathisch.

Noch einmal dankte sie ihm für seine Hilfe, machte aber keine Andeutung, dass sie sich länger mit ihm unterhalten wollte. Immerhin hätte er den ganzen Nachmittag über genug Möglichkeiten gefunden, mit ihr näher bekannt zu werden, aber er hatte es nicht der Mühe wert gefunden, sie auch nur um einen Tanz zu bitten. Das konnte und wollte sie ihm nicht so schnell verzeihen.

Als er jedoch gleich wieder zurück zur Gaststube ging, tat es er ihr doch Leid, ihn in kein längeres Gespräch verwickelt zu haben.

An drohende Gefahren dachte sie nicht; als sie etwas später durch den nächtlichen Wald heimwärts marschierte, war sie mit ihren Gedanken doch noch immer bei dem feschen Lehrer, der sich zumindest für sie eingesetzt hatte. So fühlte sie sich jetzt besser als noch vor einer halben Stunde am See. Trotzdem war sie froh darüber, ihm nicht allzu deutlich gezeigt zu haben, wie sympathisch sie ihn fand.

2

Über die Wintermonate war der große Heustadel baufällig geworden. Der Frühling machte die Sandner-Bäuerin so unternehmungslustig, dass sie am Morgen beim Frühstück ihrer Tochter mitteilte:

»Es ist wohl das Beste, wenn wir den alten Stadel wegreißen und einen neuen bauen. Ihn zu renovieren, lohnt sich nicht mehr. Die Zimmerei Pernhager hat mir ja schon vor einem halben Jahr einen Plan gemacht. Jetzt fehlt nur noch die Genehmigung durch die Gemeinde. Könntest du vielleicht …« Die Sandnerin sah ihre Tochter fragend an.

»Ja, freilich«, erklärte sich die Cordula sofort bereit, der Mutter den lästigen Behördenweg abzunehmen. »Wenn ich heute ohnehin Eier zum Höfling-Wirt und zum Kramer liefern soll.«

Die Sandner-Mutter wurde nicht hellhörig, als sich die Tochter weigerte, zum Tragen den üblichen Rucksack zu nehmen, und sich stattdessen mit zwei Körben abschleppte. Das begründete sie recht lustig: »Mit dem Rucksack kommt man immer wie ein buckliger Zwerg daher. Da krieg ich doch lieber vom Schleppen lange Affenarme!«

Selten noch war ihr nachher der Weg hinunter ins Dorf so lang und mühevoll vorgekommen. Ihr schien, als habe ihr die Mutter statt Eier Steine in die Körbe gepackt. Beinahe bereute sie schon, dass sie sich aus Eitelkeit diesmal gegen einen Rucksack gewehrt hatte.

Als sie den Lebensmittelladen Eisenstein betrat, begrüßte sie der kleine, dickliche Kramer mit einem sonnigen Lächeln, aber sie versprach sich: »Grüß dich, Herr Eisenstein, ich bring dir die bestellten Steine.«

Der Kramer fand es überhaupt nicht lustig, wenn man über seinen etwas ungewöhnlichen Namen spaßte. Als seine Freundlichkeit augenblicklich erlosch, bemerkte Cordula ihren Versprecher. Rasch verbesserte sie sich: »Eier, wollte ich sagen. Aber die Mutter hat mir heute wahrscheinlich Steine eingepackt, denn die Körbe sind mir noch nie so schwer vorgekommen.«

Gleich hellte sich das runde, gutmütige Gesicht des Kramers wieder auf, und er gab ihr sogar den gut gemeinten Rat: »Mit einem Rucksack hättest du dich weniger abschleppen müssen.« Er griff in seine Kasse, bezahlte die frischen Landeier, die von seinen Kunden so geliebt wurden, und setzte ein ordentliches Trinkgeld drauf.

Cordulas Stolz wehrte sich dagegen, Trinkgeld anzunehmen, aber der zart besaitete, empfindliche Mann hätte ihr womöglich unterstellt, ausgerechnet von ihm wollte sie sich nichts schenken lassen. Also schob sie das zusätzliche Geld ein und beruhigte sich im Gedanken mit dem Sprichwort: »Nimm, wenn man dir was gibt, schrei nur, wenn man dir was nimmt!«

Erich Eisenstein schaute ihr mit einem bewundernden, ein wenig sehnsüchtigen Blick nach, und sobald sich hinter dem Mädel die Tür geschlossen hatte, dachte er: »So ein liebes Dirndl. Wäre ich mit vierzig für sie nicht schon ein bissel zu alt, so würde ich ihretwegen noch einmal auf Freiersfüßen gehen. So wie sie mich angelächelt hat, könnte ich mir beinahe Hoffnungen machen.«

Aber die Cordula Sandner hatte den Kramer schon wieder vergessen. Als sie an der Schule vorbeiging, läutete es gerade zur Pause. Wie eine wilde Horde stürmten die nach ein bissel Freiheit dürstenden Kinder in den Schulgarten, drängten und balgten sich, bis der Oberlehrer Felix Grieb sie mit einem lautstarken Machtwort zur Ordnung rief. Er war eigentlich ein kleiner, eher schwächlich wirkender Mann, doch die Schüler folgten ihm aufs Wort. »Wie kleine Raubtiere dem Dompteur im Zirkus gehorchen sie ihm«, musste Cordula lächelnd denken. »Ob ihr nächster Lehrer, der Georg Schöll, das auch schaffen wird?« Sie zweifelte nicht daran, musste sie doch an sein energisches Eintreten für sie beim Frühlingsfest denken. Hatte er da nicht den frechen Burschen, der sie belästigte, mit einem Handgriff und der Drohung, Meister in einem japanischen Kampfsport zu sein, sofort zur Flucht getrieben?

Cordula, deren Gedanken zu dem jungen Lehrer hin geschweift waren, erinnerte sich daran, dass sie auch noch andere Besorgungen zu erledigen hatte.

Ihr nächster Weg führte sie also auf den Dorfplatz zum »Goldenen Rössel«. Karl Höfling, der Wirt, empfing sie überaus freundlich, denn erstens entsprach das seinem heiteren Wesen, zweitens nützte er es aus, dass seine Frau, die Berta, um diese Zeit in der Küche mitten in der Arbeit steckte. Auf seine banalen Schmeichelreden legte Cordula wenig Wert, für sie war nur wichtig, dass er sie gleich bezahlte, denn Geld konnte man auf dem Sandnerhof immer gebrauchen, zumal die Scheune neu gebaut werden sollte.

»Schade, dass du beim Fest so zeitig verschwunden bis«, tat er ihr schön. »Wie der ärgste Trubel vorbei gewesen ist und auch ein armer Wirt zum Verschnaufen gekommen ist, hätt ich dich gern noch auf den Tanzboden geführt. Oder meinst du, mir ist es nicht aufgefallen, wie sehnsüchtig du allerweil zu mir hergeschaut hast?«

Letzteres war eine seiner oft bewährten Redewendungen, wenn es ihm darum ging, die Unterhaltung mit einem Dirndl in eine gewisse Richtung zu lenken. Cordula fiel darauf nicht herein. Wenn sie schon verdächtig oft mit Blicken nach einem gesucht haben mochte, war dieser ganz bestimmt nicht der Höfling-Wirt gewesen. So lachte sie nur über seine plumpen Annäherungsversuche und schickte sich an, wieder weiterzugehen. Sie meinte aber noch:

»Ich muss für die Mutter noch zur Gemeinde gehen, Höfling-Wirt. Wenn du mir aber etwas Liebes tun willst …?«

»Gern«, versicherte ihr der Karl schnell, ohne zu wissen, um was es ging.

»Nachher darf ich meine zwei Tragkörbe einstweilen bei dir lassen? Die nimmt mir gelegentlich eine Dirn zum Hof hinauf mit. Danke dir, Karl, und noch einen schönen Tag!«

»Wenn es nur das ist«, erwiderte der Wirt, während in seine wässrig blauen Augen eine leichte Enttäuschung trat. »Auch dir einen schönen Tag«, rief er ihr nach, aber leise genug, dass ihn seine Berta nicht bis in die Küche hörte. Dann schimpfte er vor sich hin: »So eine Hex! Erst heizt sie einen Gutgläubigen mit Blicken auf, nachher lasst sie ihn stehen wie einen alten Regenschirm und rennt davon. Die wird’s auch noch einmal billiger geben! Früher oder später zahlt jede im Leben ihr Lehrgeld!«

Auf dem Gemeindeamt konnte sie leider vorerst nicht viel erreichen, denn der Gemeindeschreiber Oskar Beer teilte ihr bedauernd mit, dass der Bürgermeister Schöll mit dem Doktor nach Steinbrücken gefahren ist und erst gegen Abend zurückkommen würde. »Aber wenn ich dir helfen kann?«, fragte er die Cordula.

»Passt schon, ich versuch es morgen oder übermorgen wieder«, meinte die Cordula und fügte hinzu: »Es geht um die Baugenehmigung für unseren neuen Stadel. Da hätte ich unbedingt mit dem Bürgermeister persönlich reden müssen.«

»Ich versteh«, entgegnete der Schreiber etwas gekränkt. »Wenn es sich um wichtigere Entscheidungen handelt, geht ihr Bauern lieber gleich zum Schmied und nicht erst zum Schmiedl.«

Andererseits war er auch wieder froh, dass er an diesem Vormittag, da sein Chef auswärts war, nicht aus seiner Ruhe aufgestört wurde.

Die junge Sandner war noch nicht ganz bei der Tür draußen, da zog er schon die Lade seines Arbeitstisches auf und holte die Brotzeit heraus.

Cordula ging mit fröhlich beschwingten Schritten in Richtung Kirchberg aus dem Dorf, an dessen Ende der protzige Hof des Bürgermeisters stand. Hier sah alles viel stattlicher aus als bei den Sandner-Leuten unterhalb des Bannwalds. Das Wohnhaus hätte ebenso für einen Gutshof gepasst. Eine Menge von Dienstleuten werkten zwischen den Stallungen, Scheunen und Schuppen. Ein Landarbeiter fuhr gerade mit dem nagelneuen, schweren Traktor durchs Tor, und aus dem Stall drängte eine große Rinderherde auf die Weide hinaus.

Seitlich vom Wohnhaus sah Cordula ein dunkelblaues Personenauto stehen, das möglicherweise nicht hierher gehörte. Die Nummerntafel konnte sie nicht lesen, denn sie wurde von einem davor stehenden Schubkarren verdeckt.

Cordula fuhr zusammen, als sie von der Seite her eine Frauenstimme unfreundlich anherrschte: »Was willst denn du da?«

»Grüß dich!«, antwortete die Cordula, eingeschüchtert wie selten, auch wenn sie die Großdirn sofort erkannte. »Ich möcht gern ein paar Worte mit dem Schöll reden.« Absichtlich hatte sie nicht den Bürgermeister verlangt, und so kam der Georg aus dem Haus. Der erkannte sie zwar sofort, meinte aber nur:

»Es tut mir Leid, mein Bruder ist von Steinbrücken noch nicht heimgekommen.«

Vergeblich wartete sie darauf, dass er sie fragte, ob er etwas für sie tun könnte. Um nicht gleich wieder fortgehen zu müssen, schilderte sie ihm deshalb ungefragt ihr Anliegen. Zuletzt meinte sie noch: »Wir haben kein besonders großes Anwesen. Es liegt unterhalb vom Bannwald, ein paar hundert Meter oberhalb vom Dorf. Vom Hof aus haben wir einen großartigen Blick hinunter über ganz Stockern und hinauf zu der Kaiser-Wand mit dem Hohen Giller. Sie müssen sich unseren Hof einmal ansehen.«

Der Lehrer musste unweigerlich grinsen, als die Cordula so loslegte. Aber ihm gefiel ihr forsches, schneidiges Wesen, ihr scheinbar unbeirrbares Lossteuern auf ein Ziel. Wollte sie ihm wirklich nur ihren heimatlichen Hof zeigen, oder verbarg sich dahinter eine ganz bestimmte Absicht? Er wurde ein wenig nachdenklich bei dieser Überlegung.

Die Cordula war mit dem Erreichten zufrieden und verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass er zwar der Bruder vom Kurt Schöll, deshalb aber noch lange kein Hiesiger sei. Vom Zugereisten bis zum Einheimischen war es ein langer Weg, den selbst der Doktor Strack und der Oberlehrer Felix Grieb noch nicht ganz geschafft hatten.

Als sie den jungen Lehrer so nachdenklich sah, meinte sie scherzend: »Mir scheint, ich bin grad ein wenig vorlaut gewesen und bekomm jetzt von dem Herrn Lehrer eine schlechte Note in Betragen. Es ist halt mein größter Fehler, dass ich immer mit der Tür ins Haus falle.«

Der Junglehrer musste lachen. »Du gefällst mir immer besser«, dachte er, laut meinte er hingegen: »Du hast mich neugierig gemacht. Ich möchte mich gern davon überzeugen, ob man von eurem Hof tatsächlich auf den Hohen Giller und die Kaiser-Wand schauen kann. Ich werde also demnächst einmal zu euch hinaufkommen, mit oder ohne meinen Bruder.«

Beinahe hätte Cordula zu viel Freude verraten. So fragte sie nun betont gelassen: »Wann willst du denn kommen?« Sie bemerkte gar nicht, dass sie sich beide auf einmal duzten.

»Wann wäre es am günstigsten?«, fragte er, und aus seiner Stimme hörte sie, dass ihm das Spiel schon Freude bereitete.

»Wann du willst. Wir hausen zwar im Anblick der Kaiser-Wand, aber deswegen haben wir noch lang keinen kaiserlichen Hof! Bei uns braucht keiner um eine Audienz nachzusuchen.«

Wieder daheim angekommen, wollte Cordula ihre Freude über den baldigen Besuch des Lehrers sofort ihrer Mutter mitteilen. Die werkte schon seit der Frühe in der Küche, denn die gehörte zu ihrer Welt, und darin ließ sie keine Dirn herumpfuschen. Die Bäuerin hatte ihre Tochter vom Fenster aus schon freudestrahlend über den Wiesenweg laufen sehen und war überzeugt, dass sie alle Aufträge bestens ausgeführt hatte. Darum rief sie schon ins Vorhaus, wo die Cordula soeben ihr Schuhwerk wechselte: »Bist du auch beim Eisenstein die Eier losgeworden und hat er gleich gezahlt? Bis der auch nur einen Zerquetschten herausrückt, verlier ich manchmal die Geduld. Hat der Höfling-Wirt wieder ein paar von seinen depperten Sprüchen losgelassen? Manchmal hab ich beinahe Sorgen, ob ich dich überhaupt allein zu ihm gehen lassen kann.«

»Ich bin mit sechsundzwanzig grad kein Kind mehr und kann mich recht gut meiner Haut erwehren!«, rief die Cordula lachend, denn sie fühlte sich an diesem Tag so gut beisammen, dass ihr auch die Mutter mit ihrem Unken die glänzende Laune nicht verderben konnte. »Alles in Ordnung. Den Eisenstein hab ich so lieb angeschaut, dass er mir aufs erste Wort seinen ganzen Laden geschenkt hätte. Im ›Goldenen Rössel‹ hab ich den Höfling-Wirt auf dem linken Ohr schlecht gehört, und so bin ich seiner Unwiderstehlichkeit nicht erlegen. Leider hab ich beim Bürgermeister nichts ausgerichtet.«

Gerade darauf hätte die Sandner-Mutter den größten Wert gelegt. Darum schimpfte sie jetzt voller Empörung los: »Ganz typisch: Erst drischt der Schöll große Sprüche und verspricht vor der Wahl das Blaue vom Himmel, aber sobald man von ihm auch nur eine kleine Gefälligkeit braucht, erinnert er sich an nichts mehr!«

Cordula hätte die Mutter aus ein bissel Bosheit recht gern noch länger im Ungewissen gelassen, denn für gewöhnlich glaubte sie dem Schöll Kurt jedes Wort, aber noch eine, die größte Neuigkeit brannte ihr schon auf der Zunge. Deshalb rückte sie damit heraus: »Du sollst nicht gleich verzweifeln, Mutter, der allmächtige Kurtl ist heute nur auf Dienstreise und wird bestimmt demnächst nach Stockern zurück kommen!«

Die Herta Sandner wäre taub gewesen, hätte sie aus Wort und Ton ihrer Tochter das Spötteln nicht herausgehört. Darum stellte sie ein bissel haarig fest: »Liebe Cordula, für dich ist unser Bürgermeister noch lang nicht der Kurtl!«

Aber Cordulas prächtige Laune war nicht mehr zu dämpfen. »Mutter, hätte ich vom ›Schöll‹ geredet, so wär es vielleicht zu Missverständnissen gekommen, denn einen zweiten Schöll habe ich doch angetroffen und mich mit ihm unerwartet gut verstanden: mit dem Georg!«

Dass die Sandner-Mutter verärgert sein könnte, überraschte Cordula nicht, denn das hätte sie aus Übermut absichtlich verschuldet, aber sie war doch von der argen Wirkung ihrer Worte überrascht. Die Herta Sandner fuhr auf ihre Tochter geradezu feindselig los: »Dass der Bürgermeister nicht anzureffen war, ist die eine Sache; aber was hast du noch mit dem Georg Schöll zu reden gehabt? Viel Stolz hast du leider nicht von mir geerbt, denn in meiner Jugend hätte ich so einen nicht einmal mit einem einzigen Blick angeschaut! Du aber verstehst dich sogar noch gut mit ihm! Schämen solltest du dich, denn nachher ist es kein Wunder, wenn ausgerechnet die auswärtigen Lotter unsere Dirndln für billiges Freiwild einschätzen!«

Eine ganze Weile hatte Cordula ihr verständnislos zugehört. Nun vergaß sie sogar die notwendige Achtung vor der Mutter und stellte sie scharf zur Rede: »Darf ich dich was fragen? Ich versteh net einmal, dass du auf den Bürgermeister einen Grant hast, denn du weißt gar net, ob er in unserer Angelegenheit vielleicht doch etwas erledigt hat. Keinesfalls dürftest aber du deswegen auf seinen Bruder so zornig sein. Der hat doch gar nichts damit zu tun.«

Die Sandner-Mutter steigerte sich inzwischen noch mehr in Wut, denn die Uneinsichtigkeit ihrer Tochter machte sie geradezu narrisch. Sie hörte auch nicht länger auf Cordulas Einwände, sondern urteilte so hart, wie sie es für gerecht hielt: »Deswegen muss er sich als Auswärtiger noch lang net an eines von unseren Dirndln heranmachen, frech reden und vielleicht sogar zulangen!«

Cordula starrte ihre Mutter an. »Was redest denn da für ein Zeug daher!«, fuhr sie die Herta an, denn sie ahnte schon, von wo der Wind wehte.

»Verstell dich besser net so scheinheilig!«, fauchte die Bäuerin zurück, »ich hab aus zuverlässiger Quelle erfahren, was sich nach dem Frühlingsfest zwischen dir und diesem arbeitslosen Lehrer am See drunten abgespielt hat. Die Gstatter Frieda hat es mir erzählt, und die ratscht nicht irgendetwas herum. Wenn die was sagt, dann hat das Hand und Fuß.«

»Da muss die Frieda aber etwas ganz und gar falsch verstanden haben«, entgegnete Cordula heftig.

»Was gibt es denn da falsch zu verstehen? Gesehen hat sie dich beim Weiher unten, mit dem Lehrer, und zwar in einer ganz und gar eindeutigen Situation.« Als sie in Cordulas ungläubiges und aufgebrachtes Gesicht blickte, wurde sie doch ein wenig unsicher. »Stimmt es etwa nicht? Dann sag eben du mir, wie es richtig gewesen ist«, meinte sie eine Spur versöhnlicher.

»Du müsstest doch am besten wissen, wie viel Unheil der Tratsch aus angeblich sicherer Quelle schon angerichtet hat. Bisher hab ich mir allerweil eingebildet, darauf könnten nur die Dummen und die Sensationslüsternen hereinfallen. Dich, Mutter, hätte ich bestimmt nie dazu gezählt.«

»Dann sag mir, wie es wirklich war.« Die Bäuerin schaute ihrer Tochter dabei herausfordernd in die Augen.

Cordula erzählte ihrer Mutter nun die wahre Geschichte, und sie schloss sie, indem sie Georg Schöll noch einmal über alle Maßen lobte: »Wäre der Georg nicht gekommen und hätte den Hallodri von mir ferngehalten, wer weiß, was an diesem Abend noch passiert wäre. Aber dazu ist es, zum Glück, nicht gekommen. Da hat schon rechtzeitig einer dafür gesorgt. Der großmäulige Angeber ist davongelaufen wie ein geprügelter Hund. Ich hab mich bei meinem Helfer nicht einmal richtig bedanken können, das hat er nämlich in seiner Bescheidenheit nicht wollen. Was sollte ich also deswegen groß im Ort herumerzählen? Leider haben das andere getan, die gar nicht dabei gewesen sind, und man sieht wieder einmal, was der Tratsch anrichtet. Darum hab ich den Georg Schöll auch zu uns auf den Hof eingeladen. Freilich hab ich das net so offiziell getan, eher so nebenbei. Aber er hat die Einladung angenommen.«

»Um Himmels willen«, murmelte die Sandner Herta reuig, »da muss ich mich beim Bruder von unserem Bürgermeister unbedingt noch entschuldigen.«

»Gar nichts musst du!«, widersprach die Cordula. »Sollte er demnächst wirklich kommen, dann reden wir lieber über was Schönes und nicht über einen angetrunkenen Radaubruder.«

3

Die nächste Zeit verging der Cordula etwa so langsam wie einem Kind die Woche vor Weihnachten. Während der nächsten Tage stand sie jeden Morgen eine Stunde früher als sonst auf, damit sie mit der Arbeit zeitiger fertig wurde. Dann wusch sie sich unter der Dusche den Stallgeruch herunter. Schon am Frühstückstisch duftete sie frisch nach Seife.

Aber der Georg Schöll zeigte sich noch immer nicht auf dem Sandner-Hof. Mit der Zeit wurde es Cordula beinahe zur Gewissheit, dass er sein Versprechen nicht ernst gemeint habe und daher auch nicht daran dachte, es einzulösen. Der Mutter ihr ein wenig spöttisches Lächeln brachte sie beinahe um ihr letztes bissel Beherrschung, doch sie riss sich zusammen, denn sie wollte sich vor den Dienstboten keine Blöße geben.

Am Sonntag zog sie ihr schönstes Festdirndl an, denn sie hatte die Hoffnung auf Georgs Besuch noch immer nicht ganz aufgegeben.

»Warum putzt du dich für den Kirchgang denn gar so heraus?«, fragte die Bäuerin spöttisch.

»Warum auch nicht? Muss ich ins Dorf allerweil denselben Kittel anziehen, grad wie wenn ich nur einen im Schrank hängen hätte?«, fuhr sie so heftig auf, dass der Sandner Herta ihr Verdacht beinahe zur Gewissheit wurde.

An diesem Sonntag blieb die Bäuerin allein auf dem Hof, denn sie wollte die Zeit nützen, um die Rechnungsbücher in Ordnung zu bringen. Cordula ging schon recht zeitig aus dem Haus, wogegen es die Dienstleute mit dem Kirchgang nicht ganz so eilig hatten.

In Stockern schauten vor allem die Frauen überrascht und recht neugierig auf die festliche Tracht der Sandner-Tochter. Der Silber Lois dachte sich nichts dabei, als er seiner Frau zuflüsterte: »Sauber schaut sie aus, die Sandner Cordula. Beinahe könnte man sie schon für eine Bauernbraut halten! Mit der könnt sogar mich noch einmal das Heiraten freuen.« Damit verdarb er sich den ganzen Sonntagsfrieden.

Auf dem Hauptplatz standen schon ein paar junge Männer vor dem »Goldenen Rössel«. Einer von ihnen pfiff der Cordula anerkennend nach, doch das konnte sie nicht leiden und schenkte ihm dafür keinen Blick. Da sie frühzeitig ins Dorf gekommen war, ging sie noch eine ganze Weile vor dem Kirchentor auf und ab. Mit manchen Frauen wechselte sie ein paar Worte, mit dem alten Stiegler Sepp scherzte sie sogar. Doch selbst dabei schaute sie nicht wirklich fröhlich drein. Sie wachte erst richtig auf, als sie über die Straße von der Au her den Bürgermeister in größerer Begleitung kommen sah. Mit ihm waren seine Frau Annelies, der Beer-Schreiber vom Gemeindeamt und einige seiner Dienstleute. Nur den einen, auf den die Cordula mit wachsender Ungeduld gewartet hatte, sah sie nicht.

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