Tage der Träume - Richard Wunderer - E-Book

Tage der Träume E-Book

Richard Wunderer

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Beschreibung

Es ist wie im Märchen: Julia hat die Landwirtschaftsschule mit Auszeichnung abgeschlossen. Sie hofft, nun ihre große Liebe Christian heiraten zu können und Bäuerin von Wildreut zu werden. Doch bald stellt sie fest, dass auf dem ihr früher so vertrauten Hof alles anders geworden ist. Sie und Christian haben immer öfter Streit. Der Bauer hat seltsame Pläne mit seinem Sohn, in die auch die hübsche und vor allem reiche Britta Rasmussen involviert ist, die sehr von Julias Verlobtem angetan ist. Ist Julias Liebe stark genug, um alle Widrigkeiten zu überwinden?

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LESEPROBE zum E-Book

© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: © STphotography – Fotolia.com

Lektorat und Bearbeitung: Gisela Faller, Stuttgart

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54615-0 (epub)

Worum geht es im Buch?

Richard Wunderer

Tage der Träume

Es ist wie im Märchen: Julia hat die Landwirtschaftsschule mit Auszeichnung abgeschlossen. Sie hofft, nun ihre große Liebe Christian heiraten zu können und Bäuerin von Wildreut zu werden. Doch bald stellt sie fest, dass auf dem ihr früher so vertrauten Hof alles anders geworden ist. Sie und Christian haben immer öfter Streit. Der Bauer hat seltsame Pläne mit seinem Sohn, in die auch die hübsche und vor allem reiche Britta Rasmussen involviert ist, die sehr von Julias Verlobtem angetan ist. Ist Julias Liebe stark genug, um alle Widrigkeiten zu überwinden?

1.

Die sinkende Sonne ließ die Berge noch einmal flammendrot gegen den rasch dunkler werdenden Abendhimmel aufleuchten. Schloss Forchtenau, hoch über dem Tal gelegen und mit seinen mächtigen Mauern und dem klobigen Bergfried nicht der unwichtigste Bestandteil der malerischen Bergkulisse, wurde vorübergehend ebenfalls in einen roten Lichtschein getaucht, der das alte Gemäuer ein bisschen unheimlich, fast schon gespenstisch wirken ließ.

Die spitzen, zwischendurch sogar gellenden Schreie, die aus der Tiefe des düsteren Gebäudes mit den kleinen, schießschartenartigen Fensteröffnungen drangen, hätten einen ahnungslos vorbeikommenden Wanderer fast glauben lassen können, dass er unversehens in eine ferne Vergangenheit zurückversetzt worden sei, in der noch blutige Folter betrieben wurde – wenn sich in sie nicht noch das Lachen und die übermütigen Scherzworte jugendlicher Stimmen gemischt hätten.

Die Tafel am Eingang zum Schlosshof ließ dagegen auch in einer solch verwunschenen Abendstimmung keinen Zweifel daran, dass die moderne Zeit nicht auf irgendeine geheimnisvolle Weise von diesen alten Mauern abgeprallt war, denn sie ließ Herankommende wissen, wozu die ehrwürdige Stätte inzwischen diente: »Landwirtschaftliche Hochschule Schloss Forchtenau« war darauf zu lesen.

Ob die Folter freilich damit schon als abgeschafft gelten könne, hätte nicht jeder der Studenten ohne Weiteres bestätigt; das galt vor allem für jene, bei denen sich während der schriftlichen Prüfungen größere Wissenslücken herausgestellt hatten, denn gerade die wurden im Mündlichen besonders streng befragt.

Freilich, nun war auch dies überstanden. Am Ende war sogar nicht ein einziger des diesjährigen Prüfungsjahrgangs durchgefallen, sondern alle hatten ihr Diplom entgegennehmen können. Die Anspannung der Prüfungszeit war vom selben Moment an in lärmende Ausgelassenheit umgeschlagen.

Fast alle Studenten hatten die letzten vier Jahre nahezu vollständig in Schloss Forchtenau verbracht, in dessen Mauern auch ein Wohnheim eingerichtet war. Sie waren täglich beisammen gewesen, und das hatte sie zu einer verschworenen Gemeinschaft werden lassen. Nun hieß es, sich wieder voneinander zu trennen: Die einen gingen zurück an ihren durch ihre Geburt vorherbestimmten Platz, etwa auf den Bauernhof ihrer Familie, die anderen waren in einem passenden Betrieb eingestellt worden oder noch auf der Suche nach einem Ort, wo das, was sie gelernt hatten, ihnen zu einem sicheren Einkommen und Ansehen verhelfen würde.

Es gehörte zur Tradition auf Schloss Forchtenau, dass die Absolventen zur Feier des Abschieds noch einmal einen letzten Rundgang durch das historische Gebäude machten, dessen älteste Teile noch aus dem Mittelalter stammten, wenn auch das wehrhafte, fast düstere Erscheinungsbild, das es von außen bot, im Inneren durch zahlreiche Umbauten späterer Jahrhunderte aufgehoben worden war.

Vor allem galt es natürlich, gemeinsam die Folterkammer aufzusuchen. Was sich dort in dunkleren Zeiten an Schrecklichem abgespielt haben mochte, konnte man freilich nur noch erahnen, denn außer ein paar eisernen Ringen an der rauchgeschwärzten Wand befand sich nur noch ein einziges, aber sehr anschauliches Überbleibsel der Vergangenheit dort: eine hölzerne »Strafgeige«, ein Instrument, das dem bedauernswerten Delinquenten um den Hals und beide Handgelenke geschlossen wurde. Im Mittelalter hatte man Übeltäter damit bestraft, dass sie in eine solche Strafgeige geschlossen und dann in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurden, dem Spott der anständigen Leute ausgesetzt.

Die Strafgeige in Schloss Forchtenau war freilich noch keine dreißig Jahre alt, wenn auch immerhin nach historischen Vorlagen gefertigt. Studenten hatten das Instrument als Jux nachgebaut und zum Abschied den Professoren verehrt, die, wie sie bei der feierlichen Übergabe anregten, ein solches Instrument zur Befragung bei der mündlichen Abschlussprüfung wohl gut gebrauchen könnten. Die Lehrkräfte hatten Sinn für Humor, und so war die Strafgeige, ganz stilecht, in dem Raum im Kellergewölbe der Burg gelandet, die allgemein als die einstmalige Folterkammer betrachtet wurde.

Inzwischen galt es schon jahrelang als ehrwürdige Tradition des Hauses, nach bestandener Prüfung Fotos aller Absolventen in diesem unbequemen Schmuck anzufertigen. Wie im Mittelalter bot das den Zuschauern die Gelegenheit zu Spott und Schabernack – gegen Kitzeln zum Beispiel konnte sich das Opfer mit seinen eingeschlossenen Händen ja nicht wehren. Das wurde vor allem dann weidlich ausgenützt, wenn das Opfer weiblich war, und so hätte Julia Bach wohl noch einiges auszustehen gehabt, wenn nicht schon nach wenigen Minuten ein Ritter für sie eingetreten wäre.

»Jetzt ist es genug!«, verwies Bruno Wittmann, der Sohn eines vermögenden Gutsbesitzers, die ausgelassenen Kameraden. »Julia hat genug gelitten! Außerdem sollten wir endlich zu einem Ende kommen; demnächst werden die Ersten doch schon abreisen. Fehlt denn noch von jemandem ein Foto?«

Der groß gewachsene Heinz Gruber, der den Fotoapparat in der Hand und seine berufliche Zukunft in Form eines Arbeitsvertrags mit einem Lebensmittelkonzern in der Tasche hatte, schüttelte den Kopf: »Nein, Julia war die Letzte, und ich habe auch schon fünf Aufnahmen von ihr gemacht. Aber Bruno, hast du denn schon vergessen, was sie uns angetan hat? Alle Professoren waren ihr vom ersten Moment an verfallen, und so hat sie nicht nur besser abgeschnitten als irgendein anderer von uns – nein, sie hat auch noch uns arme Sterbliche vier Jahre lang vergeblich nach ihrer Gunst seufzen lassen! Dafür muss sie meiner Meinung nach noch mindestens zehn Minuten büßen.«

»Immerhin ist es unsere letzte Gelegenheit!«, merkte Paul Meißner an, der beste Freund von Heinz, der auf seine Bewerbungen bislang noch keine Zusage bekommen hatte und deshalb bis auf Weiteres wieder sein Zimmer im Elternhaus beziehen würde. »Die sollten wir uns nicht entgehen lassen!«

Gerda Wandl, genannt die ›Rote Gerda‹, die einzige Tochter eines Großbauern, nickte eifrig, und zählte der Reihe nach Julias Todsünden auf: »Bei den mündlichen Prüfungen hat sie als Einzige in fast allen Fächern mit der vollen Punktzahl bestanden und somit die Maßstäbe verdorben. Denn andernfalls wäre das Ergebnis von uns Normalsterblichen viel mehr wert gewesen. Wenn es ums Praktische gegangen ist, hat sie erst recht aufgetrumpft und sogar ihre männlichen Kollegen wie ahnungslose kleine Schuljungen aussehen lassen! Dafür soll sie ruhig noch eine Weile leiden.« Sie piekste Julia noch einmal mit dem Finger in die Seite. »Aus dir, mein armer Bruno, spricht nur die Milde eines unglücklich Verliebten, der hofft, auf diese Weise die Gunst seiner Angebeteten erringen zu können!«

Übermütig lachend stimmten ihr alle anderen Ankläger bei, doch Bruno ließ sich durch solche Sticheleien nicht einschüchtern. Er trat zu Julia und erlöste sie von dem Folterinstrument.

»Wir haben uns eine Stärkung verdient«, forderte er dann die ganze Gesellschaft auf. »Auf in die Mensa! Bevor die Ersten unser Traumschloss endgültig verlassen, will ich euch alle noch zu einem Abschiedstrunk einladen!«

Mit diesen Worten löste er neuen Jubel aus, und die Meute verließ ohne weitere Einwände die Stätte des Grauens.

»Es tut mir leid, dass unsere schöne, gemeinsame Zeit heute ein Ende findet!«, sagte die ›Rote Gerda‹, als endlich jeder mit einem Glas vor sich an den Tischen Platz genommen hatte, und das entsprach nicht ganz der Wahrheit. In Wirklichkeit gab es nichts, was sie an ihrer Studienzeit vermissen würde – mit Ausnahme von Bruno Wittmann. »Vier Jahre lang haben wir all das gelernt, was eigentlich schon jede Bauernmagd können müsste.«

Diesmal schenkte sie der Julia Bach sogar ein herablassendes Lächeln. Auch wenn sie von ihr bei Bruno Wittmann ausgestochen worden war: Sie, Gerda, war Kind eines Großbauern, der es nicht nötig hatte, sich selbst die Hände schmutzig zu machen, und Bruno damit immerhin ebenbürtig. Wer war dagegen schon Julia Bach? Sicher, ihr Verlobter war ein Bauernsohn, aber der schuftete sich Tag für Tag auf dem Feld und im Stall den Buckel krumm. Julia selbst besaß noch weniger, nämlich gar nichts, das hatte sie selbst erzählt.

»Das Studium hat allen, die in der Landwirtschaft arbeiten, meinen höchsten Respekt verschafft«, gestand Bruno Wittmann. »Auch die Bauernmägde, falls man diesen Begriff heute überhaupt noch verwenden darf! Zum Schluss habe ich kaum mehr zu hoffen gewagt, dass ich die praktische Prüfung bestehen würde.«

Die Anwesenden grinsten. Brunos Ungeschicklichkeit in der Handhabung landwirtschaftlicher Geräte hatte auf Schloss Forchtenau einen geradezu legendären Ruf. Bei einer Gelegenheit war ihm von einer Lehrkraft sogar empfohlen worden, vorsichtshalber eine Ritterrüstung anzulegen, bevor er ein gefährliches Instrument wie etwa eine Mistgabel in die Hand nahm.

Freilich, die Prüfer hatten bei ihm dann wohlwollend ein Auge zugedrückt. Sie wussten ja, dass Bruno Wittmann kaum mit einer Mistgabel auf die Menschheit losgelassen würde.

»Auf unserem Gut haben wir fünf große Traktoren«, schilderte Bruno sein Dilemma. »Aber ich bin niemals auch nur als Beifahrer mitgefahren, geschweige denn, dass ich je einen gelenkt habe. Die schönen, schnurgeraden Ackerfurchen werden natürlich von unseren Angestellten gezogen. Ich habe wahrhaftig hier zum ersten Mal in meinem Leben versucht, einen Traktor dazu zu bringen, in die richtige Richtung zu fahren, und mich dabei so dumm angestellt, dass es mir richtig peinlich war. Mein einziger Trost ist, dass es wahrscheinlich auch das letzte Mal gewesen ist – denn diese Künste kann ich unseren Leuten daheim unmöglich vorführen. Die lachen sich ja kaputt, und meine Reputation als Juniorchef ist dann vermutlich im Eimer!«

Gerda tröstete ihn mit einem verständnisvollen Auflachen: »Künftig kann dir jedenfalls keiner von deinen Mitarbeitern eine krumme Furche für eine gerade vormachen! Glaub’s mir, Bruno, auch wenn du selbst bei dieser Arbeit normalerweise nicht mit anpacken musst: Es ist immer möglich, dass es doch einmal notwendig wird. Dann wirst du heilfroh darum sein, es einmal gelernt zu haben. Wir haben ja unsere Leute, die für uns die lästigste Arbeit erledigen, aber jetzt kann ich im Notfall an jeder Stelle mit einspringen. Dass ich mich nicht so geschickt anstelle wie jemand, der diese Arbeiten jeden Tag macht, dafür brauche ich mich dann kaum zu rechtfertigen.«

Bruno nickte. »Das ist wahr. Aber ich bin noch aus einem anderen Grund wirklich froh, dass ich mich zu einem Studium auf Schloss Forchtenau entschlossen habe …«

»Weil du sonst Julia nie begegnet wärst!«, rief Heinz vorlaut dazwischen, und Bruno lachte.

»Das versteht sich doch von selbst – aber gut natürlich, dass du es erwähnst«, sagte er und deutete eine Verbeugung in Julias Richtung an. »Aber ich meinte etwas anderes: Ich habe ja eigentlich vorher geglaubt, dass ich alles Nötige längst weiß, aber das, was man daheim lernt, ist eben doch nicht alles, was man wissen muss. Ich werde vermutlich einiges umkrempeln, wenn mein Vater mich erst einmal ans Ruder lässt. Wann das geschieht, steht freilich noch in den Sternen, und dass mein Vater mich vorher schon mit ›neumodischen Ideen herumexperimentieren‹ lässt, wie er das gerne nennt, wage ich doch nicht zu hoffen.«

Er lachte auf. »Ihr hättet sein Gesicht einmal sehen sollen, als ich in den letzten Semesterferien vorgeschlagen habe, groß in das Geschäft mit dem Biokraftstoff einzusteigen.«

»Du meinst, du willst Raps anbauen?«, fragte Julia. »Da würde ich an deiner Stelle aber lieber erst einmal ein Gutachten einholen, denn ob euer Gelände dafür wirklich geeignet ist, bin ich mir nicht so sicher. Wenn du das nicht sehr sorgfältig planst, verlierst du womöglich zu oft, zum Beispiel in heißen Sommern wie diesem, den größten Teil deiner Ernte und stehst am Ende mit leeren Händen da.«

»Genau, was mein Vater auch gemeint hat!«, rief Bruno mit einem übermütigen Lachen. Dass Julia ihm widersprochen hatte, nahm er ihr nicht krumm. »Wenn ich ihm dich als meine Braut vorstellen würde, wäre er sicher hell begeistert, auch wenn du kein Geld mitbringst. Er hat schon öfter gesagt, was mir am meisten fehle, das sei eine Frau, die mich davon abhält, teure Dummheiten zu machen!«

»Spinn dich aus!«, versuchte Julia lachend, ihn auf die Erde zurückzuholen. »Du weißt doch ganz genau, dass ich verlobt bin!«

Der Gruber war es, der Bruno einer Antwort auf diesen wenig diplomatischen Hinweis enthob. Denn der trank gerade sein Glas leer, stand auf und verkündete, er müsse sich nun schnellstens für die Heimfahrt fertigmachen. Wie auf ein geheimes Signal hin standen nun einer nach dem anderen alle auf, und es folgte ein allgemeines Abschiednehmen.

Schließlich war der größte Teil der Gruppe gegangen. Julia stellte noch rasch die Gläser auf einem Tablett zusammen und trug sie zu der Getränkeausgabe zurück; dann wollte sie ebenfalls in ihr Zimmer gehen. Anders als die meisten anderen musste sie noch eine Nacht lang hierbleiben. Ihr Verlobter Christian besaß kein Auto, um sie abzuholen, deshalb konnte sie erst am nächsten Tag mit dem Bus nach Hause fahren.

Doch Bruno hielt sie noch einmal zurück. Zwar reichte er ihr nur ganz formell die Hand, doch sein Blick war beinahe andächtig, und auch nach dem Abschiedsgruß konnte er sich einfach nicht von ihr losreißen.

»In dich müsste man sich verlieben dürfen!«, brachte er endlich heraus. »Julia, du bist die schönste Frau, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe – und die klügste noch dazu!«

»So etwas sollst du nicht einmal denken und schon gar nicht am letzten Tag vor unserem Abschied sagen!«, erinnerte sie ihn.

Aber er blieb dabei: »Heute, gerade am letzten Tag, darf ich dir das sagen. Das muss ich sogar, denn sonst weißt du ja gar nicht, wie ernsthaft es mich in Wirklichkeit bei dir erwischt hat. Julia, ich danke dir für vier schöne Jahre, die ich in deiner Nähe verbringen durfte! Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und noch einmal von vorne anfangen. Dafür würde ich sogar die praktische Prüfung noch einmal machen, und wenn’s mich auch um mein letztes bisschen Verstand brächte! Du wirst mir sehr fehlen, glaub mir.«

Sie hätte ihm gerne ein paar tröstende Worte gesagt, doch sie war nicht sicher, wie sie es anfangen sollte, ohne ihn entweder zu weiteren Liebesbezeugungen zu ermutigen oder im Gegenteil zu verletzen. Vorsichtshalber schwieg sie. Doch gerade das schien ihn nun noch ganz besonders anzuspornen.

»Julia!« Seine Stimme wurde so laut, dass sie zusammenzuckte, und wegen seiner tragischen Miene und weit ausholenden Gebärde befürchtete sie einen Moment lang sogar, er würde vor ihr auf die Knie fallen. »Du ahnst ja gar nicht, was du mir bedeutest!«, fuhr er leidenschaftlich, doch mit etwas gedämpfterer Stimme fort. »Glaub mir, du müsstest nur ›Ja‹ sagen, und schon in diesem Herbst könntest du dich als künftige Herrin auf dem Wittmann-Gut betrachten!«

»Oh, Bruno! Ich vermute sogar, dass du selbst den Unsinn glaubst, den du mir hier erzählst.«

»Wieso Unsinn?«, fragte er zurück. »In beinahe vier Jahren habe ich dich von Grund auf kennengelernt. Oder, um die Sache so auszudrücken: bei jedem Wetter, nicht nur bei Sonnenschein. Wir zwei würden ein großartiges Paar abgeben! Auch was das Gut betrifft: Du und ich, wir stehen für Visionen und praktischen Verstand, die beiden wichtigsten Bestandteile des Erfolgs. Niemand kann beides ganz in einer einzigen Person vereinigen, also bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als die passende andere Hälfte zu heiraten!«

Julia konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

»Ich bin für die Visionen zuständig«, fuhr Bruno fort, ermutigt durch ihre Reaktion »und genau deshalb weiß ich eines ganz genau: Nur gemeinsam könnten wir alles erreichen, was uns als Einzelnen niemals möglich wäre!«

Es erschien Julia doch gar zu herzlos, ihn nach dieser langen Rede ganz ohne Trost gehen zu lassen. »Da kannst du schon Recht haben«, gab sie zu. »Wir könnten gemeinsam vieles schaffen, daran glaube ich.« Doch damit er sich nicht wieder in unsinnige Gedanken verstrickte, schränkte sie sofort wieder ein: »Aber mein praktischer Verstand sagt mir, dass du dich hier in eine Vision versteigst, die du nicht ganz richtig durchdacht hast. Stell dir doch einmal vor, ich würde den Christian für dich verlassen. Müsstest du dir dann nicht Sorgen machen, ob ich nicht auch dich ebenso bedenkenlos fallen lassen würde, wenn sich vielleicht ein noch reicherer, ein noch charmanterer oder noch besser aussehender Mann als du um mich bemühen würde?«

Bruno machte ein so betroffenes Gesicht, dass er ihr ein bisschen leidtat.

»Glaub mir: Ich wünsche dir für dein ganzes Leben viel Glück!«, versicherte sie ihm in versöhnlichem Ton. »Ich bin überzeugt davon, du wirst ein hervorragender Gutsbesitzer sein und in deinem Leben vieles erreichen. Auch die richtige Frau wirst du noch finden! Aber glaub mir, ich bin nicht diese Frau. Bitte lass mich dich als einen guten Freund und Studienkameraden in Erinnerung behalten. Verdirb mir das nicht, indem du etwas von mir verlangst, das ich dir nun einmal nicht geben kann!«

Vor der Auffahrt zum Schlosstor hupte ein Autofahrer. Bruno Wittmann warf einen Blick durchs Fenster. »Verflixt, das ist mein Vater!«, rief er aus. »Julia, verrat mir doch, wie ich die richtige Frau nicht nur finden, sondern auch noch überzeugen kann, wenn mir der immer ausgerechnet im entscheidenden Moment dazwischenfunkt!« »Gerald Wittmann«, stellte sich der elegant gekleidete schlanke Herr mit den ergrauten Schläfen einige Minuten später der Begleiterin seines Sohnes vor. Noch bevor sie antworten konnte, hatte Bruno schon das Wort ergriffen. »Vater, das ist Julia Bach, von unserem Jahrgang mit großem Abstand die Beste.«

Er hätte wohl noch mehr herausgesprudelt, aber sein Vater unterbrach ihn. »Mutter wartet unten am Auto. – Frau Bach, bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit; wir können uns aber leider nicht lange aufhalten, denn wir haben noch eine lange Fahrt vor uns, die bei dieser Hitze nicht angenehm sein wird. Wir müssen uns beeilen, denn wir sind in einen Stau geraten und deshalb schon viel zu spät dran. Bruno, ist dein Gepäck schon vorbereitet?«

Julia war insgeheim erleichtert, auf diese Weise den Abschied kurzhalten zu können. Sie machte einen Schritt auf Bruno zu und reichte ihm betont freundschaftlich die Hand. »Leb wohl«, sagte sie, und in ihrer Stimme war nicht einmal die Spur von einem Bedauern zu hören.

Vom Fenster aus schaute sie dem davonfahrenden Wagen der Wittmanns nach. Sie verstand nicht besonders viel von Autos, aber dass es sich um ein sündteures Modell handelte, erkannte auch sie. Dennoch spürte sie nicht den leisesten Stich von Neid und hatte auch keineswegs den Wunsch, in diesem Auto zu sitzen und zusammen mit Bruno auf das Wittmann-Gut zu fahren. Schon gar nicht als seine Braut.

2

Während der Heimfahrt im Autobus von Schloss Forchtenau nach Steineck war Julia Bach zunächst noch ganz gelassen, doch als der Bus am Ortsschild von Steineck vorbeifuhr, begann ihr Herz erwartungsvoll zu klopfen. Gleich war sie an der Haltestelle, und ganz bestimmt würde Christian sie dort erwarten, um sie zum Hof zu begleiten. Wildreut, der Hof der Familie Wildreuter, lag ein gutes Stück außerhalb des Dorfes, und so würde sie wohl ihre Koffer erst einmal im Dorf lassen und später dorthin transportieren lassen. Sie sammelte ihr Handgepäck zusammen und machte sich zum Aussteigen bereit.

Doch es war nicht Christian, sondern sein Vater, Thomas Wildreuter, den sie dann an der Bushaltestelle vorfand.

Der Bauer von Wildreut war es gewohnt, den Stier immer bei den Hörnern zu packen, und so fasste er sich bei der Begrüßung kurz und kam gleich danach zum wichtigsten Punkt.

»Du wunderst dich wohl, warum der Christian dich versetzt hat? Der konnte nicht weg, weil sein Auto kaputt ist.«

»Seit wann hat der Christian denn ein Auto?«, fragte Julia.

Es war schon lange der Wunsch des einzigen Sohns vom Wildreuter-Hof gewesen, endlich einen eigenen Wagen zu haben. Das Geld war freilich immer ein bisschen knapp, und so war es bislang ein ständiges Streitthema zwischen Vater und Sohn gewesen, ob trotz des Preisverfalls landwirtschaftlicher Erzeugnisse ein Auto nun dringend erforderlich oder ein verzichtbarer Luxus sei.

»Nur ein Gebrauchtes!«, betonte der Bauer. »Es war eine so günstige Gelegenheit, dass ich dachte, über ein solches Geburtstagsgeschenk freut sich der Christian ganz sicher.«

Julia musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Wie es schien, hatte Thomas Wildreuter wieder einmal allen Beteiligten gegenüber das Bestmögliche aus der Sache herausgeschlagen. Das sah ihm ähnlich – im Feilschen machte dem Wildreuter so schnell niemand etwas vor!

»Der Nachteil ist natürlich, dass der Wagen öfter einmal bockt«, erklärte der Bauer. »Der Christian hat also heute den ganzen Morgen an seinem neuen Auto gewaschen und poliert und dabei vielleicht ein paar Tropfen Wasser in den Verteiler gebracht oder sonst etwas. Vorhin, als er losfahren wollte, ist der Wagen jedenfalls nicht angesprungen. Seitdem schraubt er die ganze Zeit unter der Motorhaube herum, und ich befürchte langsam, er macht dabei eher noch mehr kaputt, als dass er die Reparatur noch zustande bekommt.«

»Schade«, sagte Julia. »aber da kann man wohl nichts machen.«

»Nun bin eben ich an seiner Stelle auf meine alte Weise mit dem Traktor ins Dorf gekommen, um das Empfangskomitee zu spielen. Und da ich schon ein Empfangskomitee erwähne … Komm mit, der Zechmeier-Bürgermeister erwartet uns schon, denn selbstverständlich muss deine Heimkehr erst einmal gefeiert werden, und nach der langen Fahrt bist du sicher durstig.«

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, dann nahm er Julias Koffer in die Hand.

»Der Christian kommt jedenfalls nach, sobald er den Fehler am Auto gefunden hat.«

»Es freut mich für den Christian, dass er nun endlich sein Auto bekommen hat!«, versicherte Julia. Dennoch war sie ein wenig enttäuscht. Er hätte die Reparatur des Autos ja auch verschieben können, anstatt sie einfach zu versetzen! Und abgesehen davon: Warum hatte er sie eigentlich nicht schon gestern von Schloss Forchtenau abgeholt, wenn er nun ein Auto hatte?

Der Wildreuter war in Gedanken immer noch dabei, vor sich selbst eine so teure Anschaffung zu rechtfertigen. »Außerdem hat es sich ergeben, dass wir in nächster Zeit häufiger zu Terminen müssen, bei denen man ein Auto einfach braucht«, ergänzte er seine Erklärung. »Wir wollen nämlich ins Touristikgeschäft einsteigen!«

Julia warf ihm einen fragenden Blick zu. »Willst du Zimmer an Feriengäste vermieten?«

»Um Gottes willen!« Der Bauer war ehrlich entsetzt. »Das fehlte mir gerade noch! Nein, ich beteilige mich voraussichtlich an einem Hotel.«

»Auf Wildreut scheint wirklich der Wohlstand ausgebrochen zu sein!«, rief Julia lachend aus. »Du kaufst dem Christian ein Auto und hast danach immer noch genügend Geld übrig, um gleich noch ein ganzes Hotel zu bauen. Hast du denn im Lotto gewonnen?«

»So etwas Ähnliches«, gab Thomas Wildreuter mit einem vieldeutigen Lächeln zurück.

Inzwischen waren sie beim Wirtshaus »Zum Wildschütz« angekommen, und sie kam nicht mehr dazu, weiterzufragen, denn als sie in die Gaststube eintrat, wurde sie mit donnerndem Beifall und sogar mit Hochrufen empfangen. Sämtliche Prominenten des Dorfes hatten sich am Stammtisch versammelt, um die Heimkehrerin und ihr erfolgreiches Studium zu feiern. Sie musste ihre Diplomurkunde aus dem Gepäck heraussuchen, und sie wurde von Hand zu Hand weitergereicht.

»Nun bekommt ihr auf Wildreut also eine studierte Bäuerin«, stellte der Pfarrer mit einem beifälligen Schmunzeln fest. »Wildreuter, bekommst du da keine Komplexe?«

Julia warf dem Bauern einen vorsichtigen Seitenblick zu. Wie nahm der Bauer solche Frotzeleien auf? Sie hatte ein ungutes Gefühl, obwohl Thomas Wildreuter scheinbar fröhlich in das Gelächter der anderen mit einstimmte.

Christian tauchte auch nach einer guten Stunde nicht im »Wildschütz« auf, und so fuhr sie am Ende doch noch auf dem Traktor mit heim auf den Hof: Aus dem Dorf hinaus, die Felder entlang und dann auf die Waldstraße, wo der Schatten eine wahre Erleichterung war, denn die Sonne brannte an diesem Tag wieder sehr heiß vom Himmel.

»Regen ist wohl für die nächste Zeit nicht angesagt?«, erkundigte sie sich beim Wildreuter. Der schüttelte den Kopf.

»Höchste Zeit würde es dafür werden«, sagte er und ließ einen besorgten Blick über die Felder schweifen. »Wenn das so weitergeht, fürchte ich für die Ernte noch das Schlimmste.«

»Ewig kann das mit der Hitze ja nicht dauern!«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Auch die längste Hitzeperiode hat einmal ein Ende.«

»Fragt sich nur, wann! Außerdem, wenn es so heiß ist wie dieses Jahr, dann endet das meist mit einem Gewitter und schlimmstenfalls Hagel. Dann kann ich die Ernte erst recht vergessen.«

Julia entschied, das Thema nicht mehr weiterzuverfolgen, um ihn nicht weiter zu beunruhigen. Manchmal gab es eben Jahre, in denen war es mit dem Wetter wie verhext, und das konnte einen Bauern viel Geld kosten. Doch so lange sie selbst sich erinnern konnte, war es am Ende immer noch gut ausgegangen. Wirklich schlimme Ernteausfälle hatte sie noch nie miterlebt.

Die Bäuerin erwartete sie schon am Hoftor mit ausgebreiteten Armen. Von ihr immerhin wurde sie genauso empfangen, wie sie es sich ausgemalt hatte. Doch einer fehlte immer noch, und sie konnte gar nicht begreifen, warum.

Maria Wildreuter entging auch Julias suchender Blick keineswegs.

»Der Christian kommt gleich«, versicherte sie. »Sein Auto ist doch kaputtgegangen, ausgerechnet heute, und der Martin von der Tankstelle musste herkommen, um die Sache zu reparieren. Die beiden sind hinter dem Schuppen.«

Dass ihr Verlobter sie nicht abgeholt und es ebenso wenig geschafft hatte, später noch ins Dorf nachzukommen, das konnte Julia ja gerade noch verstehen. Aber den herannahenden Traktor konnte er einfach nicht überhört haben. Wieso hatte er es dann nicht für nötig befunden, sie wenigstens zu begrüßen?

»Am besten, wir bringen jetzt erst einmal dein Gepäck ins Haus«, fuhr die Bäuerin fort. »Oder warte – das kann ich genauso gut alleine machen, und du schaust erst einmal nach dem Christian.«

Der Martin war nirgends mehr zu sehen, doch hinter dem Stadel fand sie wirklich Christian Wildreuter, den Sohn des Bauern, vor. Er stand vor der geöffneten Kühlerhaube seines Wagens, einem blau lackierten Gefährt, das eigentlich ganz vertrauenerweckend aussah. Bei ihrem Anblick hob er den Kopf und sein Mienenspiel wechselte rasch von Ärger in Verlegenheit, um am Ende in eine nicht ganz echt wirkende Freude zu wechseln.

»Grüß dich, Christian«, sagte Julia und bemühte sich um ein Lächeln.

»Willkommen zurück auf dem Hof«, antwortete er und ließ die Zange zu Boden fallen, die er in der Hand gehabt hatte. »Bitte verzeih mir – ich kann dich leider weder umarmen, noch dir auch nur die Hand geben!«

Er hob ein wenig die Arme, um ihr seine ölverschmierten Hände zu zeigen.

»Aber sicher hat mich der Vater bei der Begrüßung würdig vertreten. Soviel ich weiß, wollte die ganze Dorfprominenz dir einen Empfang bereiten. Willkommensgrüße hast du heute sicher schon mehr als genug bekommen!«

»Von dir hör ich es dennoch am liebsten«, gestand sie. »Als ich dich an der Bushaltestelle nicht gesehen habe, war ich schon ein bisschen traurig.«

Seine ganze Erbitterung brach aus ihm heraus: »Wenn mir im Leben aber auch alles misslingt! Besonders schön hab ich meinen blauen Blitz für dich hergerichtet, gereinigt und poliert. Und dann lässt er mich einfach im Stich. Ich sollte ihn im Fischteich versenken!«

Er trat zornig mit dem Fuß nach dem Wagen und bremste erst im letzten Moment die Bewegung – wohl, weil ihm klar wurde, dass eine Beule im Blech auch nichts besser machen würde.

»Es tut mir leid«, bat er sie. »Glaub mir, ich habe mich sehr auf dich gefreut, und ich konnte es gar nicht erwarten, dich mit einer hochherrschaftlichen Abholung im Auto zu überraschen. Und dann so etwas! Der Martin ist übrigens gerade unterwegs, um mir ein Ersatzteil zu beschaffen. Frag mich lieber nicht, was das wieder kosten wird. Es ist einfach zum Verrücktwerden! Heute ist wirklich alles schiefgegangen, und um das Maß voll zu machen, habe ich dich jetzt auch noch verärgert.«

Julia beeilte sich, ihm zu versichern, dass sie überhaupt nicht böse auf ihn sei. In diesem Moment rief die Wildreuter-Mutter vom Haus her.

»Die Mutter hat einen Kuchen gebacken«, erklärte Christian und griff nach einem Lappen, um sich die Hände abzuwischen. »Komm, sonst wird der Kaffee kalt!«

Während der nächsten Viertelstunde genossen sie zu dritt die Köstlichkeiten, die die Bäuerin auf den Tisch gestellt hatte. Der Bauer schaute dagegen nur kurz herein und murmelte etwas von dringenden Arbeiten, die er zu erledigen habe, bevor er wieder das Weite suchte.

Julia musste sich ein Lächeln verbeißen, denn sie wusste natürlich genau, dass sich Thomas Wildreuter nicht viel aus solchen Kaffeerunden machte. Er war mehr fürs Herzhafte, und wenn man ihn zum Hinsitzen verlocken wollte, dann musste man ihm eher Speck und Brot hinstellen als ein Stück Kuchen.

Dennoch war die Stimmung am heutigen Tag eigenartig, das fand jedenfalls die Wildreuter-Mutter. Zwischen den beiden jungen Leuten wollte einfach keine unbefangene Unterhaltung zustande kommen. Es kam immer wieder zu langen Pausen im Gespräch, und vor allem Julia war schweigsam und wirkte nachdenklich.

Tatsächlich hatte Julia ein sonderbares Gefühl der Fremdheit, das sie einfach nicht abschütteln konnte. Da saß sie nun in der vertrauten Stube und kam sich vor, als sei sie eine Fremde auf Besuch. Dabei hatte sie sich so sehr aufs Heimkommen gefreut. Doch nun war es ihr, als gehöre sie in Wirklichkeit gar nicht hierher.

Eigentlich stimmte das ja sogar, denn sie war als Pflegekind bei den Wildreuters aufgewachsen. Dennoch wäre es Julia früher nie eingefallen, sich auf dem Hof nicht als Mitglied der Familie zu fühlen. Sie war schließlich hier aufgewachsen, ebenso wie Christian, und da sie beide heiraten würden, konnte sie Wildreut mit demselben Recht als ihre Heimat betrachten wie er auch.

Dass die Bauersleute sie damals, nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als Pflegekind aufgenommen hatten, war vielleicht in Steineck zunächst nicht ausschließlich als reine Herzensgüte ausgelegt worden. Immerhin war der Familie ein Pflegegeld versprochen worden, die sich des verwaisten kleinen Mädchens annehmen wollte. Doch niemand konnte Thomas Wildreuter nachsagen, dass er sich an seinem Pflegling in irgendeiner Weise bereichert habe. Sein Vorschlag war es schließlich gewesen, Julia auf die höhere Schule zu schicken. Und am Abend ihres achtzehnten Geburtstags, im Jahr vor ihrem Abitur, hatte er sie dann zu einer Aussprache in die Stube gerufen.

»Wir müssen über deine Zukunft sprechen«, hatte er gemeint. »Hast du dir schon einmal überlegt, wie es nach der Schule mit dir weitergehen soll?«

»Noch nicht so genau«, gestand sie ein. »Aber eigentlich dachte ich schon, dass ich am liebsten hier auf dem Hof mitarbeiten würde.«

Schon damals waren sie und Christian ein Paar gewesen, und sie hatten es ernst genug miteinander gemeint, dass Julia sich insgeheim schon längst als die künftige Bäuerin von Wildreut sah. Der Bauer schloss den Schrank auf, in dem er seine Schreibsachen verwahrte. Er kramte kurze Zeit darin herum, dann wandte er sich wieder zu ihr und drückte ihr ein kleines Büchlein in die Hand.

Sie betrachtete es einen Moment lang verwirrt. »Ein Sparbuch?«, fragte sie. »Was ist denn damit?«

»Dieses Sparbuch gehört dir, Julia«, sagte der Bauer. »Schau dir an, wie viel du besitzt!«

Er nahm es ihr noch einmal aus der Hand, blätterte, bis er auf der Seite mit den letzten Einträgen war, und deutete auf den Betrag, der an der untersten Stelle kam.

Julia blickte ihn ungläubig an.

»Woher kommt dieses Geld?«

»Als damals der Toni und die Eva … also, deine Eltern … diesen Unfall hatten und wir dich aufgenommen haben – nun, wir haben Pflegegeld dafür bekommen, dass du bei uns gewohnt hast«, erklärte der Bauer. »Wir haben das Geld aber nicht verbraucht, sondern für dich aufgehoben, denn so erschien es uns richtig. Junge Menschen brauchen für den Start ins Leben ein bisschen Geld, um sich etwas aufzubauen. Die Maria und ich haben uns überlegt, dass du vielleicht ja studieren willst. Dafür könntest du das Geld verwenden.«

Der Bauer hatte insgeheim fest damit gerechnet, dass Julia Lehrerin werden wollte, doch sie überraschte ihn mit einem ganz anderen Entschluss. »Dann werde ich ein Landwirtschaftsstudium machen!«

So war es also dazu gekommen, dass sie auf Schloss Forchtenau gelandet war, einer kleinen, fast schon familiären Fachhochschule, wo nur Studiengänge aus dem agrarwissenschaftlichen Bereich angeboten wurden. Dank des Geldes, mit dem sie den Aufenthalt im Wohnheim und die Verpflegung bezahlen konnte, hatte sie sich ganz auf das Lernen konzentrieren können, und nun hatte sie einen sehr guten Abschluss vorzuweisen.

Dass der Bauer und die Bäuerin ihr diese Möglichkeit verschafft hatten, dafür sollte ihr Dank darin bestehen, dass sie all ihr Wissen zum Nutzen von Wildreut verwenden würde. Es gab vieles, was Julia an ihrem altvertrauten Hof durch ihr Studium in völlig neuem Licht sah. Niemand konnte dem Bauern natürlich nachsagen, dass er den Hof schlecht bewirtschaftete, aber wann hatte ein Bauer denn schon Zeit, sich mit neuen Ideen und Vorstellungen vertraut zu machen?

Vielleicht waren es ja ihre eigenen neuen Ideen und Vorstellungen, die dieses Gefühl der Fremdheit hervorriefen?

Der Kaffee war ausgetrunken, und als die Bäuerin Julia nachschenken wollte, wehrte sie ab.

»Ich möchte jetzt doch einmal nach der Hanna und der Doris schauen«, sagte sie. »Die beiden habe ich noch gar nicht gesehen.«

»Kein Wunder!«, antwortete Christian trocken. »Die eine hat den Kopf so voll mit anderen Sachen, dass sie in letzter Zeit wie eine Schlafwandlerin herumläuft, und die andere hat uns vor einem Monat einfach sitzenlassen.«

Hanna Schütz, so erfuhr Julia, hatte offenbar einen Verehrer. Das war eine Nachricht, über die Julia sich freute, weil Hanna zwar sehr tüchtig, aber eher schüchtern war. Die Doris wiederum war in die Stadt gezogen, und niemand wusste so recht, warum. Ob auch in diesem Fall ein Mann im Spiel war, darüber konnte man nur spekulieren.

»Vielleicht hatte sie auch einfach nur genug vom Landleben«, mutmaßte die Bäuerin. »Es sind von Wildreut aus halt doch lange Fußwege zu bewältigen, um ein bisschen Vergnügen in Steineck zu bekommen. Vielleicht hätte sie es sich noch einmal überlegt, wenn wir schon das Auto gehabt hätten. Für die Arbeit von Doris haben wir jedenfalls vor zwei Wochen die Blumauer Kathrin eingestellt.«

»Da draußen läuft sie übrigens gerade über den Hof.« Christian nickte zum Fenster hin.

»Hol die Kathrin doch einmal her, damit sich die beiden bekannt machen können«, wies die Mutter ihn an.

Julia machte große Augen, als Christian die neue Angestellte hereinführte: Sogar in der Kluft für die Stallarbeit wirkte sie, als sei sie ein Fotomodell in den neuesten Kreationen eines ins Landleben verliebten Modeschöpfers, bereit für Aufnahmen in entsprechender Kulisse. Ihr hellblondes Haar hatte sie eng an den Kopf gesteckt, die Augen waren von einem fast unglaublichen, intensiven Blau und ihre Lippen so rot und üppig, dass Julia im ersten Moment dachte, sie hätte sich für die Stallarbeit geschminkt.

›Was für ein Glanz in unserem Kuhstall!‹, dachte sie spöttisch; dann rief sie sich zur Ordnung. Es gab überhaupt keinen Grund für Gehässigkeiten.

Der Nachmittag verging rasch, denn auch wenn natürlich niemand von Julia verlangte, heute schon auf dem Hof mit anzupacken, so half sie der Bäuerin natürlich dabei, das Kaffeegeschirr abzuwaschen. Und dann waren ja auch noch ihre Koffer und Taschen auszupacken und alles in ihrer Kammer zu verstauen.

Es begann schon zu dämmern, als das Fenster klirrte, als ob jemand etwas Leichtes dagegengeworfen hätte, Steinchen zum Beispiel. Sie machte es auf und blickte hinaus.

Christian stand im Hof, direkt unter ihrem Fenster. Er schwenkte einen Schlüsselbund in der Hand.

»Hast du Lust, mit mir in meinem blauen Blitz eine Spazierfahrt zu machen?«, fragte er sie.

»Gern«, sagte sie. »In fünf Minuten bin ich hier fertig, dann komme ich herunter. Funktioniert das Auto also wieder?«

»Kein Problem!«, rief Christian hinauf. »Als ich der Karre zugeflüstert habe: ›Jetzt möchte ich unbedingt mit meiner Julia eine kleine Partie unternehmen. Spring an, oder ich versenke dich auf der Stelle in unserer Jauchegrube!‹, da hat sie sich auf einmal problemlos starten lassen.«

Er lachte: »Na ja, vorher hat der Martin natürlich das verflixte Ersatzteil noch einbauen müssen. Den Vater wird wahrscheinlich der Schlag treffen, wenn er die Rechnung bekommt! Also, ich warte hier, bis du fertig bist. Beeil dich, bitte.«

Julia verstand plötzlich gar nicht mehr, warum sie sich vorher Christian gegenüber so fremd und befangen gefühlt hatte. Auf einmal schien wieder alles so zu sein, wie es immer gewesen war. So schnell wie möglich verstaute sie ihre restlichen Habseligkeiten, und schon wenige Minuten später öffnete sie, ein wenig atemlos, die Haustür, und fand ihren Verlobten, ungeduldig mit dem Fuß wippend, direkt vor der Tür vor. Er führte sie zum Auto, das immer noch hinter dem Geräteschuppen stand, hielt ihr zuvorkommend den Wagenschlag auf und fabrizierte dabei sogar eine etwas ungelenke Verbeugung.

»Angurten!«, befahl er, während er den Zündschlüssel im Schloss umdrehte, und noch ehe sie herausgefunden hatte, wie sie den Sicherheitsgurt befestigen musste, war er schon losgebraust.

»Wo fahren wir eigentlich hin?«, erkundigte sie sich, nachdem sie ein wenig hektisch das Problem mit dem Sicherheitsgurt gelöst hatte.

»Irgendwohin, wo wir ungestört sind. Daheim steht doch immer jemand hinter irgendeiner Ecke, und alles, was man sagt und tut, wird am nächsten Tag weitergetratscht!«

»Das stimmt schon … aber haben wir denn irgendetwas zu verbergen?«

»Nein, natürlich nicht!« Christian lachte. »Aber immer kann ich es auch nicht vertragen, dass man auf einem Bauernhof nie richtig allein miteinander sein kann.«

Er steuerte die Waldstraße entlang, die von Wildreut nach Steineck führte, bog aber schon vor dem Dorf auf einen Parkplatz ab, der an einem Wanderweg angelegt worden war und von der Straße nicht gesehen werden konnte. Dort schaltete er die Scheinwerfer ab, und sie saßen im Dunkeln.

Julia begann sich zu ärgern. Was sollte das denn werden? Sie hatte nicht die geringste Lust auf eine Herumknutscherei im Schutze der Nacht, so wie das vielleicht zwei verliebte Halbwüchsige machen würden – und das allein schien ja der Zweck dieses Ausflugs zu sein.

»Christian, sag’s mir ehrlich«, platzte es aus ihr heraus. »Was ist eigentlich los? Ich spüre doch ganz genau, dass irgendetwas nicht stimmt!«

»Hirngespinste! Warum sollte denn etwas nicht stimmen?«, versuchte er die Sache mit einem Lachen abzutun.

»Du hast mich nicht vom Bus abgeholt, bist nicht in die Wirtschaft gekommen, wo sich halb Steineck eigens meinetwegen versammelt hatte, und sogar, als ich auf dem Hof angekommen bin, hast du dich nicht blicken lassen«, zählte sie auf. »Unser Wiedersehen hatte ich mir schon ein bisschen anders vorgestellt. Und jetzt führst du dich auf, als wolltest du mich am liebsten hinter das nächstbeste Gebüsch verschleppen. Bitte entschuldige, wenn ich da einfach nicht mehr ganz mitkomme.«

»Was soll denn ich dann sagen?«, begehrte er auf. »Vier Jahre lang hast du mich hier alleine sitzen und auf dich warten lassen, und wozu? Um eine studierte Bäuerin zu werden. Meine Mutter hat auch nicht studiert, und ist sie deshalb etwa eine schlechte Bäuerin?«

Julia seufzte. »Ich dachte, das Thema sei endlich erledigt.«

Als sie sich entschieden hatte, die landwirtschaftliche Hochschule zu besuchen, war es Christian gewesen, der die meisten Einwände dagegen gehabt hatte. Keinen davon hatte Julia besonders überzeugend gefunden. Sie hatte schon damals den Verdacht gehabt, dass es ihm in Wirklichkeit nur gegen den Strich ging, eine Frau zu haben, deren Ausbildung höher war als seine eigene.

»Christian!«, sagte sie in eindringlichem Ton. »Wenn du keine studierte Bäuerin haben willst oder vielleicht sogar während der letzten vier Jahre eine andere gefunden hast, die dir als deine Bäuerin lieber wäre als ich, dann sag es mir bitte jetzt. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin!«

Er gab sich gekränkt. »Solche Verdächtigungen muss ich mir aber nicht bieten lassen! Manchmal habe eher ich mich gefragt, ob ich dir überhaupt noch etwas bedeute. Dort auf deinem Schloss warst du ja die ganze Zeit mit anderen Männern zusammen. Und dass sich von diesen Männern keiner für eine Frau wie dich interessiert haben soll, kannst du mir nicht erzählen. Gib’s ruhig zu!«

»Warum sollte ich das nicht zugeben?«, fragte sie aufgebracht zurück. »Da du es unbedingt wissen willst: Ja, wenn ich einen anderen als dich gewollt hätte, dann hätte es schon genügend Männer gegeben, mit denen ich hätte anbandeln können. Aber, Christian: ich wollte nicht. Und weißt du auch, warum? Weil du es bist, den ich liebe!«

Einige Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander in der Dunkelheit, bis sie spürte, wie er nach ihrer Hand tastete.

»Verzeih mir meine Eifersucht, Julia«, bat er. »Aber die Zeit, die du fort warst, ist mir endlos vorgekommen, und wenn ich nachts so allein in meiner Kammer lag und an dich dachte, bin ich vor Angst fast verrückt geworden, dass ich dich verlieren könnte.«

Als er sie in die Arme schloss, wurde Julia ganz deutlich bewusst, wie sehr sie Sehnsucht nach seinen Liebkosungen gehabt hatte. Im Dunkeln spürte sie die Wärme seines Körpers, seine streichelnden Hände und die kleinen Küsse, die er auf ihr Gesicht hauchte, von der Stirn über die Wangen, bis sie seine Lippen an ihrem Mund spürte.

»Julia, mein Lebtag bleiben wir beisammen«, flüsterte Christian mit heiserer Stimme. »Ich geb dich bestimmt nicht wieder her!«

»Ich bin so froh, dass ich wieder bei dir sein kann«, sagte sie. »Und ich will mich nie wieder von dir trennen müssen. Meinst du denn, ich habe auf Schloss Forchtenau nicht ständig Sehnsucht nach dir gehabt? Aber dann habe ich mir wieder vorgesagt, dass ich das alles ja auch für dich und den Hof mache. Ich will alles dafür tun, dass unsere Kinder einmal stolz darauf sind, Wildreut zu übernehmen!«

Sie spürte, wie Christian in ihren Armen erstarrte.

»Christian, was ist denn?«, fragte sie beunruhigt.

»Ach, nichts!«, versuchte er es mit einem Lachen abzutun. »Ich bin nur ein bisschen erschrocken, mit welcher Leichtigkeit du ein Urteil wie ›Lebenslänglich‹ über mich fällst.«

Das war das Erstbeste gewesen, was ihm als Ausrede eingefallen war, denn er ahnte, dass Julia es nicht gut aufnehmen würde, wenn er ihr wahrheitsgemäß sagte, dass sie sich anhörte, als werde er sich als Bauer künftig nur noch dem Regiment der Diplom-Agraringenieurin fügen und selbst nichts mehr zu sagen haben.

»Wieso sollte ich nicht von einer Ehe reden?«, fragte sie zurück, und ihre Stimme klang so gereizt, dass Christian begriff: Dieses Thema hätte er besser ebenfalls vermeiden sollen. »Habe ich es etwa nur geträumt, dass wir miteinander verlobt sind? Eine Verlobung, mein Lieber, ist ein Eheversprechen, falls dir das neu sein sollte!«

Christian wollte es nicht riskieren, noch einmal etwas Falsches zu sagen, und so entschied er sich zu schweigen. Julia wiederum fühlte sich durch sein Schweigen nur noch tiefer verletzt. Als er jedoch wieder nach ihrer Hand tastete, duldete sie es, dass sich seine Finger um ihre schlossen. Schweigend saßen sie einige Zeit so da, jeder mit seiner eigenen Kränkung beschäftigt und gleichzeitig voller Sehnsucht nach einem guten Wort vom anderen.

Nach einer Weile meinte Christian: »Es ist spät geworden. Wir sollten besser heimfahren, denn morgen haben wir einen langen Arbeitstag vor uns.«

»Ja«, antwortete Julia. Ihre Stimme klang tonlos.

Nachdem Christian den Wagen hinter dem Geräteschuppen abgestellt hatte, zog Julia sich sehr bald in ihre Kammer zurück. Vor ihren beiden Fenstern wiegten Laubbäume ihre Äste sanft im Nachtwind, und ein köstlicher Blumenduft kam zu ihr in den Raum. Das bleiche Mondlicht, das ihr zuvor im Auto kalt und fast unheimlich vorgekommen war, empfand sie nun, vom Bett aus, in das sie sich sofort zurückgezogen hatte, als tröstlich, während sie versuchte, sich einen Reim auf die Ereignisse des Tages zu machen.

Dass irgendetwas nicht so war, wie sie es erwartet hatte, stand jedenfalls fest. Immerhin hatte Christian, mit dem sie seit Jahren verlobt war und der selbst beteuerte, für immer mit ihr zusammenbleiben zu wollen, der Gedanke an eine Ehe mit ihr und an Kinder in eine regelrechte Panik versetzt.

Aber war es denn überhaupt notwendig, sich um solche Dinge Gedanken zu machen? Steigerte sie sich vielleicht gerade in eine Angst hinein, die ganz unnötig war?

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