Das goldene Taschenmesser - Marcel Huwyler - E-Book

Das goldene Taschenmesser E-Book

Marcel Huwyler

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Beschreibung

Das luxuriöse Dasein von Unternehmergattin Eliza Roth, geborene Schild, ist jäh zu Ende, als ihr Mann bankrottgeht und sich beim versuchten Versicherungsbetrug in die Luft sprengt. Die Lebedame steht vor dem Nichts: Die Bankkonten tiefrot, die Villa weg, von der geldadligen Society fallen gelassen, und die Gläubiger ihres Mannes sind auch nicht gerade zimperlich. Da kommt ihr das Angebot eines mysteriösen Impresarios aus der Hochfinanz gerade recht. Eliza soll dessen Konkurrenz aushorchen. Als ehemalige Stewardess der Swissair weiß sie schließlich, wie man hochfliegende Manager mit Souplesse domptiert. Ihr Einsatz als Agentin bringt sie auf eine Geschäftsidee: Wirtschaftsspionage - aber mit Stil und Style. Und dank ihres nach Macht und Reichtum klingenden Namens »Roth-Schild« angelt sie sich exklusive Kundschaft. Und auch in ihrem Privatleben geht es furios zu und her. Da ist der junge Filou Fabio, der für seinen Paten ein Jagdschloss hütet und Eliza bei sich wohnen lässt. Als Kulissenschreiner am Stadttheater ist er ein Könner im Erschaffen von Illusionen, was er bei seinem Nebenverdienst - dem Fälschen von Antiquitäten - unverfroren ausnutzt. Und schließlich wird Eliza auch noch von dubiosen Gestalten bedroht, die hinter einem sagenumwobenen Sammlerstück ihres verstorbenen Gatten her sind. Das begehrenswerte Relikt befand sich einst an Bord der Titanic …

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Marcel Huwyler

Das goldene Taschenmesser

Der erste Fall von Eliza Roth-Schild

atlantis

Prolog

»Wenn Sie glauben, Ihr dramatischer Auftritt würde mich einschüchtern«, sagte Eliza Roth und klemmte die Oberschenkel zusammen, um sich nicht vor Angst ins Nachthemd aus Shantungseide zu machen, »dann muss ich Sie enttäuschen.«

Sie war aufgewacht, weil eine Männerstimme ihren Namen gerufen hatte. Mitten in der Nacht.

»Elizaaaa …« Das A lang- und hochgezogen wie von einem Psychopathen. Oder jemand, der sein Kätzchen suchte.

Nur ein böser Traum, hatte sie geglaubt, die Augen aufgeschlagen und an die Stuckdecke über ihrem Bett gestarrt. Die Vollmondblässe verwässerte den Raum. Eliza zuckte zusammen. Dutzende Augenpaare starrten auf sie herunter. Obwohl sie seit ihrem gin-tonic-seligen Absturz von vergangener Woche bereits ein paar Mal in Fabios Gästezimmer genächtigt hatte, erschrak sie noch immer ob den Schädeln an den Seidentapetenwänden. Ein Kadaverkabinett aus Fell, Geweih und Horn. Ausgestopfte Jagdtrophäen: Gämsen, Hirsche, Eber, zwei Steinböcke und ein Dachs. Und eine Ziege. Welcher Irre schoss Ziegen?

»Elizaaa …«

Jetzt war sie hellwach. Doch kein Traum. Sie setzte sich auf und überprüfte mit ruckartigen Spatzenkopfbewegungen den Raum. Den Mund aufgeklappt, um geräuscharm atmen und besser lauschen zu können.

Die beiden Flügel der Terrassentür standen weit offen, hatte sie beim Zubettgehen vergessen …

»Elizaaa …«

Das kam von draußen. Wer wusste, dass sie sich auf diesem Anwesen versteckte? Sie schwang sich aus dem Bett, zupfte das hochgerutschte Nachthemd über ihren Hintern und zehenspitzelte zur Terrassentür. Das Fischgratparkett fühlte sich kühl an und knarrte unter Tupfern ihrer Füße.

Über die gesamte rückseitige Fassade des Jagdschlösschens verlief auf Parterrehöhe eine durchgehende Terrasse samt üppig verzierter Balustrade. Ähnlich einer Veranda, allerdings in Sandstein. Salons und Schlafgemächer im Erdgeschoss verfügten über direkten Zugang. Von der Terrassenmitte führten wenige aber breite Stufen hinunter auf einen ellipsenförmigen Kiesplatz und die dahinterliegende Parkanlage. Auf eben diesem Kiesoval stand jetzt eine Gestalt und schaute zu ihr hoch.

»Elizaaaa … Das hat aber gedauert.«

Der Kerl mochte an die zwei Meter groß sein. Bullige Statur, die Arme im Fünfundvierzig-Grad-Winkel vom Körper gestreckt, was ihm die Statur eines gigantischen Hydranten verlieh. Seine Vollglatze glänzte metallen im Mondlicht, die Visage indes lag im Schatten. Und diese Stimme. Whiskey-Voice, dachte Eliza.

Sie war in der Terrassentür stehen geblieben und wurde das Gefühl nicht los, den Mann irgendwo schon mal gesehen zu haben. Und zwar erst kürzlich. Hatte er sie beschattet?

Weglaufen oder vortreten? Sie hatte die letzten Tage genug einstecken müssen, fand sie. Es war an der Zeit, ihre Moral etwas aufzupolieren. Also tat sie einen energischen Schritt auf die Terrasse, schob ihre Schultern zurück und reckte das Kinn, als stünde sie Modell für ein Jeanne-d’-Arc-Gemälde. Der Kerl machte ihr Angst. Verpiss dich, du durchgeknallter Vollidiot!, dachte sie, sagte aber nur: »Wer immer Sie sind, und was immer Sie wollen: Jetzt scheint mir kein günstiger Zeitpunkt dafür. Ich muss Sie bitten, das Privatgrundstück zu verlassen und morgen zu einer angemessenen Uhrzeit erneut vorzusprechen.«

Ihre Art, Schiss schick zu formulieren.

»Es gibt Leute, Eliza, die mögen es nicht, wenn man zu ihnen ›Nein‹ sagt.« Der Kerl ging halb in die Hocke und griff hinter sich zu Boden. Erst jetzt bemerkte Eliza, dass neben ihm mehrere Gegenstände auf dem Kies lagen. Schachteln oder Kisten. Ganz genau ließ sich das im fahlen Licht schwer erkennen. Als er sich wieder aufrichtete, schwang er einen Gegenstand, ähnlich einem kleinen Gitarrenkoffer. Dann tat er eine energische Zurrbewegung mit der einen Hand – und augenblicklich zerriss ein Knattern die Stille.

Der Kettensägenmann.

Eliza merkte, wie sie zitterte. Ihr muskuläres Gedächtnis riet zur Flucht. Der Kerl indes machte keine Anstalten, sie anzugreifen. Ging sogar zwei Schritte zurück, bis er vor den Kisten oder Kartons zu stehen kam.

Die keine Kisten oder Kartons waren.

Anlässlich ihres ersten Hochzeitstages vor einer Million Jahre hatte Hardy ihr ein achtteiliges Reisegepäckset geschenkt.

Wie alle zeitlos schönen Dinge stammten die edlen Stücke aus Italien.

Eine Auftragsarbeit, handgefertigt von der Manufaktur Talamona & Ricci aus Modena. Zwei Trolleys unterschiedlicher Größe, zwei Handkoffer, ein Weekender, sowie Business- als auch Handtasche und ein Kosmetikköfferchen. Sämtliche Teile aus Sumpfbüffelleder, mit gepolsterten Griffen, verstärkten Ecken aus goldfarbenem Metall und mit Elizas Monogramm ER versehen.

Eine Bagage für Reise-Connaisseurs zum Preis eines Kleinwagens.

Während Eliza geschlafen hatte, musste der Kerl über die Terrassentür eingedrungen sein und das Set entwendet haben. Jetzt stemmte er die Säge theatralisch in die Höhe, wie ein Priester etwas Sakrosanktes, ehe er das Kettenschwert in jedes Stück rammte und damit italienisches Gepäckdesign zerfetzte.

Eliza presste die Fäuste auf den Mund. Diese Koffer waren für sie so viel mehr als bloße Transportbehälter. Sie liebte sie. Damit packte man noch jede Reise. Erst erlesenes Gepäck, davon war sie überzeugt, machte einen Urlaub zum Ereignis. Das Auge reiste schließlich mit. Und: Die acht Stücke waren alles, was ihr nach dem Unglück geblieben war.

Plötzlich stand Fabio neben ihr auf der Terrasse, nur mit Shorts bekleidet und einer Heuschoberfrisur. »Was ist hier los? Wer ist das? Na warte, dem Kerl will ich …«

Eliza schüttelte den Kopf und legte ihre Hand auf seine nackte Brust, um ihn aufzuhalten. Eine Berührung, die Fabio hätte missverstehen können, wäre der Anlass nicht dermaßen dramatisch gewesen.

Der Motor starb jäh ab. Der Kerl betrachtete erst sein Werk, zielte dann mit der Kettensäge auf Elisa, drehte sich um und lief davon. Durch den Park und noch weiter, bis ihn die Nacht verschluckte.

»Himmelherrgottsterne, was war das denn?«

»Mein Gepäck. Und eine Drohung.«

1

Einige Tage zuvor

Als Eliza nach ihrem dreistündigen Aufenthalt im Wellnessbereich des Grand Hotels Gneiserhof – inklusive einer Deep-south-Massage ihres Lieblingskneters Alejandro – in die Glacier-Suite zurückkehrte, zeigte das Display ihres Handys sieben Anrufe in Abwesenheit. Sowie eine neue Sprachnachricht. Alle von derselben Telefonnummer. Einer einprägsamen Zahlenkombination, wie nur Pizzakurierdienste und Blaulichtorganisationen sie verwendeten.

Eliza verspürte ein Ziehen im Magen.

Sie hörte die Sprachnachricht ab. Eine Beamtin der Kantonspolizei bat um Rückruf, ohne Details zu nennen. Es sei dringend.

Elizas Magen verknotete sich.

Sie setzte sich auf die Kante ihres Grand Lit und wählte die Nummer.

Zwanzig Minuten später checkte eine völlig verhühnerte Eliza aus.

Ihre Koffer waren chaotisch gepackt, sie hatte das erstbeste Kostüm angezogen, dazu x-beliebige Pumps. Und keinen Schmuck. Hingegen hatte sie sich ein paar Minuten Zeit genommen für ein einfaches Make-up. Und einen Spritzer Acqua di Valletta. Déformation professionnelle.

Die Chefstewardess der Swissair hatte Eliza und den anderen Kolleginnen damals immer wieder eingebläut: Selbst im Falle einer Notlandung habe das Personal frisch und gepflegt auszusehen.

Wobei das hier für Eliza eher einem Absturz nahekam.

Und ausgerechnet jetzt war Hardy nicht erreichbar. Weder ging er an sein Handy, noch hatte die Schüpbach, die Leiterin seines Sekretariats in der Firma, eine Ahnung, wo er sich aufhielt. Sie wisse von keinem Termin, hatte sie gesagt. Und Herr Roth habe auch keine Notiz in der digitalen Agenda hinterlassen. »Ab dreizehn Uhr ist der Rest seines Tages leer.«

Eliza schrieb ihrem Mann eine alarmistische WhatsApp-Nachricht und schrie ihm auf die Mailbox. In anderen Fällen hatte das bisschen Hysterie ihm Beine und Schuldgefühle gemacht. Und er hatte sich jeweils umgehend gemeldet.

Hoteldirektor Zimmerli eilte händeringend in die Lobby und zeigte sich bestürzt über die Situation seines langjährigen Stammgastes.

»Ein Notfall, ich muss sofort nach Hause«, erklärte Eliza, ohne auf die näheren Umstände einzugehen. Nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück. Sie bat Herrn Zimmerli, vom Shuttlebus zum Bahnhof gefahren zu werden.

»Kommt überhaupt nicht infrage, Frau Roth, dass Sie den Zug nehmen. Das dauert viel zu lange, und außerdem würde ich es mir nie verzeihen, Sie in der Verfassung allein reisen zu lassen.«

Sie wies sein Angebot, mit der hoteleigenen Limousine ins Unterland chauffiert zu werden, zunächst – wie es das Ritual erforderte – pro forma ab.

»Ein Nein lasse ich nicht gelten«, insistierte Direktor Zimmerli, »nicht von einer Habituée wie Ihnen. Unser Manfred verstaut bereits ihr Gepäck im Wagen.«

 

Die gekühlten Ledersitze im Fond des Wagens taten Elizas erhitztem Gemüt gut. Und ein Glas Flute Bottignier Brut aus der Minibar lockerte den Knoten in ihrem Magen zumindest etwas. Sie streifte ihre Pumps ab.

Hardy rief nicht zurück. Und die Lesebestätigung ihrer WhatsApp-Nachricht an ihn zeigte nach wie vor nur ein graues Häkchen. Weder zwei graue noch zwei blaue. Nicht erhalten, nicht gelesen.

Sie zischte einen Fluch auf Gossenfranzösisch und sah im Rückspiegel, wie Manfred die eine Augenbraue hochzog.

2

Der zuständige Feuerwehrkommandant starrte unverblümt in Elizas Studentengässchen, während er ihr die Lage erklärte.

Die Villa Buchenberg war komplett niedergebrannt.

Das Feuer war kurz nach vierzehn Uhr von einer Nachbarin gemeldet worden. Erste Löschkräfte waren bereits eine Viertelstunde später vor Ort, trotzdem konnte ein Ausbrennen und damit die vollständige Zerstörung des Gebäudes nicht verhindert werden.

Eliza stand einfach nur da, minutenlang, mit geballten Fäusten, und betrachtete die rauchende Ruine.

Vor neunzehn Jahren hatte Hardy die Villa von der Erbengemeinschaft der Stahlgießereidynastie Buchenberg erstanden. Ein typisch klassizistischer Bau von neunzehnhundertzwölf, ein echter Horrisberger, dem Architekten seinerzeit. Sie hatten die Residenz sorgfältig und aufwändig kernsanieren lassen, federführend damals war Gabathuler & Van Berg, das Architekturbüro ihrerzeit. Eliza hatte einen Satz aus dem Baubeschrieb auswendig gelernt, um Besucher damit zu beeindrucken. »Die Struktur des Gebäudes ist klar und hierarchisch gegliedert, die Abfolge von Räumen mit axialen Öffnungen schafft attraktive Durchblicke.« Es hatte sie danach nie jemand um zusätzliche Erläuterung gebeten.

Gestalten in weißen Schutzanzügen und Leuchtjacken standen in der Ruine und stocherten mit Sondierstangen und Einreißhaken darin herum. Da und dort stieg noch Rauch auf. Der stechende Geruch nach möttelnden Trümmern und verkohltem Hausrat, die dafür verantwortlichen Phenole, Kresole und Naphthaline, verursachten Eliza Kopfschmerzen und würden wohl in einer Migräne enden.

Alles nur noch Schutt und Asche. Die Bibliothek mit den zu Hunderten zugekauften Büchern von Flohmärkten, der kleine, barockgerahmte Caspar Wolf an der Wand und der Steinway beim Eckfenster, auf dem ein angesäuselter Hardy zu später Stunde ebenso beschwipsten Gästen The Entertainer vorgeklimpert hatte. Der mit Isfahan-Teppichen ausgelegte Salon mit dem sieben Meter langen Esstisch aus westafrikanischem Ovengkol, illuminiert von drei venezianischen Korblüstern aus Muranoglas. Futsch.

Und dann natürlich Hardys Lieblingssessel. Auf dem er, einer Zeremonie gleich, nach dem Sonntagsbrunch zu ruhen pflegte, die Wirtschaftswoche durchblätterte und dazu eine Bolivar Belicoso Fino rauchte.

Ein Sessel mit Historie.

Er hatte einst in Ernest Hemingways Landhaus in Ketchum, Idaho gestanden. Hardy hatte die Trouvaille an einer Telefonauktion bei Lampdon’s in Genf ersteigert. Die Regularien des Auktionators hätten es erlaubt, unter einem Pseudonym mitzubieten, aber Hardy war mit vollem Namen angetreten. Die Konkurrenz sollte ruhig wissen, mit wem sie sich da duellierte. In ebendiesem Sessel soll Hemingway neunzehnachtundfünfzig seine Erinnerungen zu Paris – Ein Fest fürs Leben skizziert haben. Erzählte Hardy immer.

Er war ein Sammler von Liebhaberstücken, die Geschichte geschrieben oder Berühmtheiten gehört hatten. Solche Berührungsreliquien in seiner Nähe zu wissen, ölte sein Ego. Der Hemingway-Sessel war sein mit Abstand massigstes Objekt, die anderen Exponate waren kleineren Formats. Handschmeichler. Hardyschmeichler, wie Eliza sie nannte. In seinem Büro in der Firma hatte er eine ganze Vitrine davon.

Eliza ihrerseits würde ihren Master Bedroom schmerzlich vermissen – der Master selbst schlief in seinem eigenen Zimmer –, mit dem Queensize-Boxspringbett und dem offenen Coloradokamin, der sie an Skiurlaube in Aspen erinnerte. Und dann natürlich das Ankleidezimmer. Beim Gedanken und Gedenken an ihre eingeäscherte Garderobe trieb es ihr die Tränen in die Augen.

»Madame Roth, bitte entschuldigen Sie die Störung. Wohin darf ich Ihr Gepäck bringen?« Manfred war hinter sie getreten und machte ein betretenes Gesicht. Wie Menschen es tun, die im unpassendsten Augenblick mit etwas Törichtem aufwarten.

Sie wies den Chauffeur an, die Koffer und Taschen im Geräteschuppen zu deponieren, der am Rande des Grundstücks stand und als einziges Nebengebäude kein Opfer der Flammen geworden war.

»Wenn ich noch etwas für Sie tun kann …«

Sie dankte Manfred für seine Dienste und wünschte ihm gute Heimfahrt. Er nickte, nahm den zusammengefalteten Hunderter, den sie ihm zusteckte, kommentarlos entgegen und besaß genügend Berufsethos, nicht einmal ansatzweise nach dem Schein zu schielen.

 

In einem weißen Faltpavillon, der Eliza an die Cocktailpartyzelte erinnerte, wie man sie anlässlich Hardys Sechzigstem im Garten aufgestellt hatte, hielten Feuerwehr und Polizei ihre Lagebesprechungen ab. Eliza wurde hereingebeten und nahm auf einem Klappstuhl Platz.

Bereitwillig aber mechanisch gab sie zu Protokoll, was man von ihr wissen wollte. Eine Beamtin mit einem -ic am Namensende und abgekauten Daumennägeln erfasste auf einem Laptop Personalien und Allgemeines. Die Frage nach dem derzeitigen Aufenthaltsort ihres Gatten quittierte Eliza mit einem Schulterzucken.

Dann wurde ihr angeboten, ob man ihr eine Erfrischung bringen dürfe.

Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr meinte sie, ja, sehr gern, um diese Zeit trinke sie für gewöhnlich Tee. »Five o’clock, Sie wissen schon. Ein Assam würde jetzt Leben retten. Ich bin aber auch mit einem Ceylon Ambakande glücklich.«

Die Anwesenden schauten perplex in die Runde, bis die Beamtin mit dem -ic die Order »einmal Tee« an irgendjemanden weitergab. Das klang, merde alors, nach profanem Beutel an einem Faden, dachte Eliza.

»Mein Name ist Imhof, Kantonspolizei.« Ein älterer Beamter mit grauem Bürstenschnitt, der bislang geschwiegen, die ganze Zeit über aber Notizen in ein schwarzes Moleskine mit Gummiband gemacht hatte, wendete sich an sie. »Frau Roth, wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu Ihrem Ehemann, Gerhard Roth?«

Eliza bildete sich ein, über gute Menschenkenntnis zu verfügen. Auch dies einer der Soft Skills – damals sprach man noch von Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich –, der in ihrem Beruf als Stewardess unabdingbar gewesen war. Beim Boarding sofort zu erkennen, welche Passagiere Ärger machen konnten. Wer Trinker war, wer Rabauke, wer Flugangst hatte, oder wer sie anbaggern würde. Und wer zum Rabauken wurde, weil er aus lauter Flugangst zu viel trank. Dieser Imhof hier ging in Ordnung. Er strahlte Ruhe und Routine aus, schien geerdet und besaß ein ehrliches Gesicht.

Eliza nahm seine Frage auf. »Vorgestern Abend. Mein Mann rief mich im Grand Hotel Gneiserhof an, wo ich für ein paar Tage Urlaub machte.«

»Vorgestern, sagen Sie. Und seither nicht mehr? Eine … lange Zeit.«

»Wir sind ja auch schon lange verheiratet«, gab sie etwas pikiert zurück. »Seit dreiundzwanzig Jahren.«

»Will heißen?«

»Da muss man nicht mehr jeden Abend Händchen halten, um einschlafen zu können.«

Imhof tat, als notiere er Elizas Antwort ins Notizbuch, aber sie konnte sehen, dass er nur kleine Rauten kritzelte. Er schien lange über das Gesagte nachzudenken und spielte dabei mit seinen Lippen Duckface. Ohne aufzuschauen, fragte er endlich: »Ist Ihnen an Ihrem Mann in letzter Zeit etwas aufgefallen?«

Sie betrachtete ihn mit schiefem Kopf.

»Ich meine, benahm er sich anders als sonst? Nervöser vielleicht, abgekämpft, apathischer – oder euphorischer?«

»Nein, da war nichts.«

»Stress in seiner Firma?«

»Kennen Sie den Patron eines Schweizer Traditionsbetriebs in der dritten Generation mit über dreihundert Angestellten, der in Zeiten von Globalisierung keinen Stress hat?«

Den Satz hatte sie von Hardy. Genau so formulierte er es jeweils anderen Big Shots gegenüber während Kongressen und Rotarierbanketts, bei Stehapéros auf Fachmessen und Flying Dinners während des Swiss Economic Forums. Alles Anlässe, zu denen sie ihn früher hatte begleiten dürfen. Eliza Roth, die Unternehmergattin. Viel früher. Heute war immer diese Schüpbach mit dabei. »Mein Backoffice und meine rechte Hand«, wie Hardy sie nannte. Und Eliza fragte sich öfters, wo überall diese Hand Dienst leistete.

Imhof riss sie aus ihren Gedanken. »Ihr Mann ist Alleininhaber der Firma ROVETECH, Roth Verbindungstechnologie.«

»Schrauben-Roth.«

»…«

»Er wird in der Branche nur ›Schrauben-Roth‹ genannt.«

Imhof schnalzte mit der Zunge und wechselte einen kurzen Blick mit seinen Kollegen.

»Und was ist mit Stress … in der Ehe?«

»Wie gesagt, dreiundzwanzig Jahre.«

»Ja?«

»Zusammenleben, ohne aneinander zu kleben. Gemeinsame Bankkonten, getrennte Betten.«

Imhof nahm den Bleistift in die andere Hand, als wechsle er die Taktik der Befragung. »Ist es in der Vergangenheit schon einmal vorgekommen, dass Ihr Mann während so vieler Stunden nicht erreichbar war?«

Eliza schüttelte den Kopf.

Ein junger Polizist betrat den Pavillon und reichte Eliza einen Pappbecher mit Tee. Sie äugte hinein, roch an dem Inhalt – und trank trotzdem einen Schluck. Der falsche Moment, fand sie, für kapriziöse Statements über Teekultur.

»Ihr Mann – hat er irgendwelche Krankheiten oder Gebrechen?«

»Leichter Bluthochdruck, knarzende Knie und empfindliche Zahnhälse sind in seinem Alter ja nichts Ungewöhnliches. Das wissen Sie selbst wohl nur zu gut.«

Sollte Imhof ihre kleine Stichelei registriert haben, ließ er es sich nicht anmerken. »Es gibt Krankheiten«, fuhr er stoisch fort, »die nicht sichtbar sind.«

»Wenn Sie nach seelischen Leiden fragen: Nein, nein, Hardy ist nicht depressiv.«

»An wen bei der ROVETECH können wir uns wenden, um weitere Erkundigungen einzuholen?«

»Verlangen Sie nach Frau Schüpbach. Die weiß alles und kennt meinen Mann bald besser als ich.« Der Satz geriet ihr eine Spur zu süffisant. Imhof quittierte Elizas gereizte Anspielung mit einem Stirnrunzler.

Dann fragte er: »Wie viele Fahrzeuge besitzen Sie?«

Eliza fand die Frage doch sehr eigenartig und zeigte das mit dünnen Lippen. »Wir haben zwei. Hardy fährt einen Maserati, ich einen Range Rover.« Und dann blitzschnell nachgeschoben: »Einen Evoque, das kleinste Modell dieser Marke.« Kaum geäußert, ärgerte sie sich. ›Das kleinste Modell‹ – klang wie eine Relativierung. Schlimmer noch, wie eine Entschuldigung. Als wäre ein bisschen formschöner Wohlstand eine Schande. »Aber da ich mit der Bahn in die Berge gereist bin«, fuhr Eliza schnell fort, »steht mein Wagen in der Garage …« Sie sog scharf die Luft ein und blickte zu einem der schwelenden Haufen, der einst die Vierfachgarage samt angegliedertem Hobbyraum gewesen war. »… stand mein Wagen in der Garage.«

Imhof knetete seine Knöchel und schaute mit einem Male sehr ernst. »Frau Roth, wir haben zwei ausgebrannte Wagen gefunden.«

Eliza vergass für einen Moment zu atmen. Und der Knoten im Magen erhielt noch eine Windung mehr. »Moment mal, Sie denken … Denken Sie … der Hausbrand und Hardys Verschwinden haben miteinander zu tun? Glauben Sie, mein Mann könnte …«

Sofort wurden ihr beschwichtigende Handflächen entgegengestreckt. Man denke vorläufig gar nichts, man gehe lediglich jeder Spur nach, prüfe alle Eventualitäten. Und schließlich die Floskel aller Floskeln ermittelnder Beamter: »Reine Routine, Frau Roth.«

Rund um den Unglücksort herum wurden Stative mit Scheinwerfern aufgestellt. In zwei Stunden würde die Dämmerung einsetzen. Drei Polizisten mit schwarzen Arbeitsoveralls und gelben Schutzhelmen betraten die Szenerie. Einer hatte mehrere Fotoapparate umgehängt, die beiden anderen trugen Koffer, die wie Werkzeugkisten aussahen. Auf der Rückenpartie ihrer Uniform stand »Brandermittler«. Am Rande der Ruine befand sich ein vierter Mann. In Zivil. Mit Anzug und Gummistiefeln. Er tippte auf einem Tabletcomputer herum und hielt Sichtkontakt zu den drei Polizisten.

»Der Experte Ihrer Versicherung«, kommentierte Imhof ungefragt. »So ein Millionenschaden kommt denen auch nicht alle Tage auf den Tisch.«

Eliza zuckte mit den Schultern. Um alles Administrative und die Finanzen in ihrer Ehe kümmerte sich Hardy. Er war der mit den Zahlen, sie war die mit den Sprachen.

»Wie können wir Sie in den nächsten Tagen erreichen?«, fragte Imhof, zog das Gummiband um sein Moleskine und ließ es knallen. »Wo werden Sie wohnen, Frau Roth?«

Zum ersten Mal an diesen Tag wusste Eliza keine Antwort.

3

Mit Gitti von Fellenberg saß Eliza im Vorstand des städtischen Wohltätigkeitsclubs. Die beiden Damen hatten einen ähnlichen Jahrgang, den gleichen Golflehrer, waren beide kinderlos geblieben und verstanden sich so gut, dass sie sich einmal im Monat im Caligula verabredeten. Zu einem After-Work-Drink, wenngleich keine von ihnen einer Arbeit im herkömmlichen Sinn nachging. Es gab wohl gleich gestrickte Interessen und gesellschaftspolitische Ansichten ähnlichen Couleurs, zu einer aufrichtig herzlichen Frauenfreundschaft hatte es indes nie gereicht. Sie fanden einander nett und fühlten sich auf unverbindliche Weise miteinander verbunden.

Nichtsdestoweniger hatte Eliza in ihrer Not als Erstes an Gitti gedacht und sie angerufen. Zwar kannte Eliza eine Menge Menschen – Small-Talk-Kolleginnen, Golfplatz-, Pilateskurs- und Society-Kontakte oder Pausebekanntschaften aus Theater und Oper –, aber die beste Freundin gab es nicht. Immerhin war Gitti von all ihren oberflächlichen Bekanntschaften diejenige, die die meiste Tiefe besaß.

»Oh, ma chère, was für ein Unglück. Etwas Derartiges wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Du siehst nudelfertig aus.« Eine tief bewegte Gitti umarmte sie, tätschelte ihr die Schulterblätter und zog sie am Arm ins Haus. Der Taxifahrer lief dreimal zum Wagen zurück, bis Elizas gesamte Bagage im Entree stand. Sie entließ ihn mit einem Extrafünfziger.

Die großzügige Fensterfront im Wohnzimmer ging nach Westen hin und bot eine uneingeschränkte Aussicht auf Stadt, Alpen und See. Triple-A-Lage, wie Hardy hierzu sagen würde. Gut möglich, dachte Eliza, dass sie sich hier oben am Stadtberg, dem bevorzugten Viertel der Upperclass, eine Domain suchen würden. Kein schlechter Ort, um neu anzufangen. Die Dämmerung hatte eben eingesetzt, das Rubinorange des Himmels konkurrierte mit dem eigenen Spiegelbild auf der Seeoberfläche. Nein, definitiv kein schlechter Ort.

Mit einer theatralischen Geste wies Gitti ihr einen Platz auf der Sofalandschaft zu, die für Elizas Geschmack eine unmögliche Kuhfladenfarbe aufwies, und auf der es sich auch genauso warm und weich saß. Von irgendwoher erklang leise Proseccojazz, eine Duftkerze im goldenen Glas brannte. Und an der Wand gegenüber hing doch tatsächlich ein Rolf Knie.

»Tee, Kaffee, Wein?«, fragte Gitti, um ihr Angebot in der gleichen Sekunde zurückzuziehen. Umstände und Uhrzeit, fand sie, verlangten nach weitaus Stärkerem.

Nach dem ersten Schluck von ihrem doppelten Gin Tonic mit Gurke und rotem Kampotpfeffer begann Eliza von ihrem Martyrium zu berichten. Schilderte als Erstes die schockierend unsensible Art der Benachrichtigung, ihre überhastete Abreise im Gneiserhof – »darum meine mäßig salonfähige Aufmachung, entschuldige bitte« –, das Chaos auf dem Grundstück, die totale Zerstörung der Villa Buchenberg und die erbarmungslose Befragung durch die Polizei. Erst beim Erwähnen von Hardys Verschwinden versagte ihr die Stimme.

»Und du hast keine Ahnung – Eliza, ganz entre nous –, wo er sich aufhalten könnte?«

Eliza schüttelte so energisch den Kopf, dass die Eiswürfel in ihrem Kristallglas klirrten.

Gitti war taktvoll genug, keine Liste möglicher Gründe für das plötzliche Verschwinden von Ehemännern durchzugehen. Und Eliza ihrerseits schwieg über die Andeutungen der Polizei hinsichtlich Hardys Psyche und dem Mysterium, dass beide Wagen verbrannt waren. Mit solch intimen Interna ging man nicht hausieren. Gitti besaß einen zu großen Freundinnenkreis.

»Und es ist wirklich alles … verbrannt? Du besitzt nichts mehr?«

»Nur noch, was in den Koffern ist. Für die ersten Tage wird das reichen müssen.«

»Ich leihe dir gern etwas von meiner Garderobe.«

»So lieb von dir.« Im Geiste verdrehte Eliza die Augen. Da Selbstironie nicht zu Gittis Stärken gehörte, meinte sie das mit den Kleidern wohl ernst. Sie lief Marathon, aß wie ein Spatz und hatte die Figur einer Bronzeplastik von Giacometti. Elizas Kurven benötigten mindestens drei Kleidernummern größer.

»Ich hoffe, es ist für deinen Mann in Ordnung, wenn ich hier übernachte.«

»Marc kommt immer spät nach Hause. Er ist über deinen Besuch informiert. Er wird keine Probleme machen.« Den letzten Satz fand Eliza eigenartig, und die plötzliche Kälte in Gittis Stimme war ihr nicht entgangen. Marc von Fellenberg, so viel war ihr bekannt, besaß eine florierende Privatklinik für Oralchirurgie. Es ging das Gerücht, er fühle manchen Patientinnen auch außerhalb der Sprechstunde auf den Zahn.

Eliza schaute auf ihr Handy. Noch immer nur ein graues Häkchen auf WhatsApp. Imhofs Satz verfolgte sie. Frau Roth, wir habenzweiausgebrannte Wagen gefunden. Sie zog die Schultern hoch und schüttelte sich, als ließe sich so die böse Ahnung verscheuchen, die sich ihr immer penetranter aufdrängte.

Ein zweiter Gin Tonic entfaltete seine Wirkung, Eliza fühlte sich mit einem Male deprimiert und von einer bleiernen Müdigkeit niedergedrückt. Wie nach einem dieser aufwühlenden, kräftezehrenden und alles – Beziehung, Ehe, gemeinsames Leben – infrage stellenden Streits, den sie und Hardy manchmal ausfochten. Gittis Angebot einer leichten Abendmahlzeit lehnte sie dankend ab. Sie wollte einfach nur noch schlafen, sagte sie, und an nichts mehr denken müssen.

 

Der Rumms einer zugeknallten Tür und die sich durchs Gemäuer fortsetzende Vibrationswelle weckten sie. Durch das gekippte Fenster hörte Eliza Schritte auf dem gekiesten Vorplatz. Männerschritte. Sehr energisch. Oder wütend. Das musste Marc sein. Dann das Summen und Rumpeln eines aufgleitenden Garagentors mit Elektroantrieb, ein Automotor sprang an, fein knirschender Kies beim Rückwärtsfahren, brutal knirschender Kies von durchdrehenden Reifen. Schließlich brauste der Wagen unschön hochtourig jaulend davon.

Definitiv wütend, dachte Eliza.

Ihr Befund wurde bestätigt, als sie kurz darauf im Morgenmantel ins Erdgeschoss hinunterwandelte und an der Küchenbar eine weinende Gitti antraf.

»Guten Morgen.« Eliza tat, als habe sie die Tränen übersehen.

Gitti wirkte ertappt, wischte sich mit den Handflächen übers Gesicht, schniefte und fragte dann etwas gar überschwänglich: »Hallooo, meine Liebe. Gut geschlafen?«

»Geht so.«

»Kaffee?«

»Unbedingt.«

Sie tranken aus bauchigen Tassen und schwiegen. Eliza fragte nichts. Sollte Gitti darüber reden wollen, was mit Marc vorgefallen war, würde sie es schon sagen. Stattdessen teilten sie sich die Tageszeitung. Im Lokalteil war der Brand in einem kurzen Einspalter vermeldet. Der Ort des Unglücks wurde genannt, die Namen der Besitzer aber nicht. »Weiß eh schon die halbe Stadt«, seufzte Eliza und zeigte Gitti auf ihrem Handy eine Vielzahl von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten, die über Nacht hereingekommen waren. Viel Bedauern und Mitleid, noch mehr Neugier.

»Wie geht das jetzt eigentlich weiter?«, fragte Gitti und schenkte Kaffee nach.

»Wenn ich das wüsste. Ich nehme an, die Polizei wird sich wieder melden. Wegen dem Feuer. Und wegen … Hardy.«

»Dass du so ruhig bleiben kannst?« Gitti bekam erneut feuchte Augen.

»Ich bin nicht ruhig, es ist mehr wie eine Lähmung. Ich kann nichts tun außer warten. Das macht mich ganz teigig.«

»Vorschlag.« Gitti umfasste Elizas Handgelenke, und sie hatte plötzlich diesen Pflegefachfrauenblick drauf. »Wir beide machen heute einen schönen langen Spaziergang. Reden, Natur, frische Luft, das wird unserem Gemüt guttun, d’accord?«

Eliza nickte unmotiviert und fragte sich, wie sehr Gitti mit ›unserem‹ in erster Linie ihren eigenen Seelenschmetter meinte.

Das Gästezimmer verfügte über ein Bad. Eliza duschte lange und heiß, und versuchte dabei, Muskeln und Kopf zu entkrampfen. Gitti hatte einen Stapel Frotteetücher in drei Größen auf einem Badezimmermöbel im Kolonialstil drapiert.

Zuoberst lag ein Duschabzieher.

Nichts fand Eliza demütigender, als im nackten Zustand Duschglaswände trocken zu wischen.

Sich lang machen zu müssen, ausgestreckt und auf Zehenspitzen den Abzieher von der Decke in einer möglichst geraden Bahn nach unten zu führen. Und dann gar hinkauern zu müssen, um auch die untersten Wasserspritzer zu erreichen. Wieder hoch, wieder runter. Wie ein Plakatkleber. Und das alles tropfend, fröstelnd, mit Gänsehaut, wackelndem Hintern und wippendem Busen.

Splitterfasernackt – nur du und der Abzieher in der Nass- und Hasszelle.

Nichtsdestoweniger tat sie es. Sie erhielt in diesem Haus Asyl. Da spielte man gefälligst nach den Spielregeln der Gastgeber.

»Siehst schon viel besser aus«, sagte eine strahlende Gitti, als Eliza eine halbe Stunde später in der Halle stand.

Sie spazierten über drei Stunden, ohne über das zu reden, was jede von ihnen umtrieb. Kein Hardy, kein Marc, keine Brandschauplätze oder andere Unglücksorte. Keine Wahrheiten. Stattdessen etwas Allgemeinklatsch und Verlegenheitstratsch. Duftkerzengespräche. Die meiste Zeit aber schwiegen beide, schauten versonnen in die Baumkronen oder noch höher, an das Kondenzstreifennetz am föhnblauen Himmel, und lauschten dem Kruspeln des ersten, welken Laubes unter ihren Schritten. Die Hände tief in den Taschen ihrer Dufflecoates vergraben, die diesen Herbst wieder in Mode waren.

Sie schlenderten zum Wächliwald hoch, nahmen dann den Panoramaweg und erreichten ziemlich genau zur Lunch Hour den Alpenblick. Die von Fellenbergs schienen hier Stammgast zu sein. Gitti bekam drei Begrüßungsküsschen vom Wirt und, auch ohne reserviert zu haben, einen schönen Tisch am Fenster.