Frau Morgenstern und der Abgrund - Marcel Huwyler - E-Book
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Frau Morgenstern und der Abgrund E-Book

Marcel Huwyler

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Beschreibung

Die ungewöhnlichste Auftragskillerin der Welt: Violetta Morgenstern ist zurück Violetta Morgenstern, pensionierte Lehrerin und kreative Profikillerin, ist auf der Flucht vor dem Staat, als sie einen neuen Auftrag erhält: Mit ihrem Kollegen, dem Ex-Söldner Miguel Schlunegger, soll sie den mysteriösen Tod eines Journalisten aufklären. Die Spur führt in die finstere Vergangenheit, zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Das mörderische Duo findet heraus, dass sich ein furchtbares Ereignis der Weltgeschichte in Wirklichkeit ganz anders abgespielt hat. Und dann muss Violetta Morgenstern auch noch feststellen, dass sie selbst ihrem besten Freund nicht mehr vertrauen kann.

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Marcel Huwyler

Frau Morgenstern und der Abgrund

Der fünfte Fall der Mordslady

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt von der Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung der Motive von shutterstock.com/Clash_Gene; sharpner; RajaDigital

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-98708-011-1

Marcel Huwyler wurde 1968 in Merenschwand/Schweiz geboren. Als Journalist und Autor schrieb er viele Jahre Reportagen über seine Heimat und Geschichten aus aller Welt. Er lebt heute an einem See in der Zentralschweiz.

instagram.com/marcel_huwyler_schreibt

Prolog

Vor über 86Jahren, an einem Montag Anfang Mai

Ein Gigant.

Es gibt nur dieses eine Wort, das dem jungen Mann angemessen genug erscheint. Das Schiff ist kolossaler und ehrfurchtgebietender als alles, was ihm in seinen vierundzwanzig Lebensjahren bisher unter die Augen gekommen ist.

Und unbestreitbar der Gipfel der Eleganz.

Er kennt nichts, was diesem Gefühl gleichkommt. Und mit seinen zweihundertfünfundvierzig Metern ist das Schiff lediglich vierundzwanzig Meter kürzer als die »Titanic«.

Der junge Mann hat in der Volks-Zeitung sämtliche Artikel über diesen Triumph deutscher Ingenieurskunst und dessen Bedeutung für das Reich gelesen sowie in der Berliner Illustrierte Zeitung die Fotoreportagen und insbesondere die Konstruktionsskizzen eingehend studiert. Die Jungfernfahrt des Luxusliners hat er sich letzten Frühling in der Wochenschau im Kino angesehen. Und zwei Offizierskameraden, denen es aufgrund familiärer Beziehungen zur Reederei vergönnt war, das Schiff zu besichtigen, haben ihm in Superlativen davon berichtet.

Aber hier und jetzt selbst vor diesem Giganten zu stehen, Pracht und Dimension auf sich wirken zu lassen, als stünde er vor einer Gottheit, stimmt ihn zutiefst demütig. Und übermütig zugleich.

Denn er ist einer der Passagiere. Er fährt mit. Von Deutschland über den Atlantik nach Amerika. Nach New York.

In der Sakkotasche seines Straßenanzugs steckt ein Einwegticket für tausendsiebenhundert Reichsmark. Dafür muss ein Fachangestellter acht Monate lang arbeiten.

Er ist mit der Bahn von Berlin her angereist, führt eine lederne Maulbügeltasche und seine Olympia-Reiseschreibmaschine im Transportkoffer bei sich und trägt, statt seiner Wehrmachtsuniform im Rang eines Leutnants, für einmal Zivilkleidung. Letzteres ist wichtig, gilt es doch, um keinen Preis aufzufallen. Nichts darf die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Größtmögliche Anonymität sei einer der Garanten für eine erfolgreiche Mission, haben ihm seine Auftraggeber eingebläut, als sie mit ihm den Plan bis ins kleinste Detail durchexerzierten und er sich anhand von Blaupausen der Schiffsbaupläne jede Niete, jede Strebe und den Verlauf jedes Korridors einprägte.

Zusammen mit den anderen Passagieren – die meisten offenkundig gut situiert, was angesichts des horrenden Fahrpreises kein Wunder ist – steht er in der Warteschlange vor der Gepäckaufgabe, die sich in einem mächtigen Backsteingebäude mit hohen, schmalen Fenstern und Dachoberlichtern befindet. Angestellte der Reederei und Zollbeamte kontrollieren sämtliches Gepäck auf Schmuggelware und Gefahrgüter. Und auf Devisen, denn die Passagiere dürfen nur eine kleine Menge Reichsmark ausführen. Eine Reihe dahinter beobachten Männer mit Granitvisagen und dunklen Trenchcoats die Szenerie. Der junge Mann ist sich ziemlich sicher, dass sie Angehörige der Geheimen Staatspolizei sind, der Gestapo.

Nachdem sein Gepäck penibel genau durchsucht und für unbedenklich und somit reisetauglich befunden worden ist, darf er an Bord. Ein Steward mit antrainierter Höflichkeit geleitet ihn über mehrere Treppen und Aufgänge zu seiner Unterkunft auf dem A-Deck. Seine Auftraggeber haben dafür gesorgt, dass er die Doppelkabine – gegen achthundert Reichsmark Aufpreis – für sich allein benutzen kann. Fremde Augen und Ohren sind unerwünscht, weil eine potenzielle Gefahr.

Der junge Mann packt seine Sachen aus und verstaut sie, erfrischt sich am in die Wand einklappbaren Waschbecken aus Kunststoff (es gibt doch tatsächlich fließendes heißes Wasser) und macht sich anschließend mit dem Luxusliner vertraut. Er schlendert das Promenadendeck hinunter und die Wandelhalle entlang, besichtigt die geschmackvoll dekorierten Gesellschaftsräume mit ihren modernen Rohrstühlen, Seidentapeten und der riesigen Weltkarte an der Wand, den exklusiven Rauchsalon mit der Bar, die Bordbibliothek samt Schreibzimmer sowie den Speisesaal, dessen Tische eben mit weißen Tüchern, Silberbesteck und Porzellanservices eingedeckt und mit frischen Schnittblumen dekoriert werden.

Er greift sich eine Speisekarte, wirft einen Blick darauf und überlegt, ob er zum Abendessen die Mastente bayrischer Art mit Blaukraut oder lieber das Wildbretkotelett Beauval mit Berny-Kartoffeln wählen soll. Nicht, dass er Appetit hätte, geschweige denn richtigen Hunger. Dazu ist er viel zu angespannt. Aber wenn seine Tarnung als gut betuchter Geschäftsreisender glaubhaft sein soll, muss er sich während der Überfahrt nach New York solchen Dingen wie Kulinarik, Small Talk und Piano-Soirées im Gesellschaftsraum zugeneigt zeigen.

Um keinen Preis auffallen.

Wie ein normaler, neugieriger Passagier soll er wirken, haben sie ihm eingetrichtert. Luxus, Eleganz und À-la-Carte an Bord genießend. Lediglich auf die erlesenen Burgunder, die Moselweine, Liköre und die Drinks an der Bar würde er verzichten. Denn nur ein klarer Kopf kann außergewöhnliche Befehle nüchtern umsetzen.

Exakt um zwanzig Uhr sechzehn setzt sich das Schiff in Bewegung. Die zurückbleibende Hafenmannschaft und eine Horde Schaulustiger johlen zum Abschied und winken ungezügelt; die Passagiere grüßen ihrem Stand und den guten Sitten entsprechend weitaus verhaltener zurück.

Der junge Leutnant schaut sich das Spektakel vom Promenadendeck aus an. Er genießt die in der Abenddämmerung vorbeiziehende Landschaft. Bald schon werden sie das offene Meer erreichen. Die weiße Bordwand wird von Scheinwerfern angeleuchtet, damit der Gigant für Beobachter aus der Ferne noch heroischer wirkt.

Am Bug des Traumschiffs ist in Frakturschrift sein Name angebracht.

Am Heck prangen mehrere Hakenkreuze.

Der junge Mann heißt Heinrich und denkt unentwegt an seine Mission. Und an seine Frau in Berlin. An Charlotte. Und an das Kind, das sie zusammen erwarten.

1

Sterben ist selten schön.

Schon gar nicht mit heruntergelassener Hose.

Nach eingehender Prüfung aller in Frage kommender Eliminierungs-Möglichkeiten hatten sich Morgenstern und Schlunegger für die »Traube« als Tatort entschieden.

Das rustikale, holzgetäfelte Restaurant wurde in vierter Generation von der gleichen Familie geführt, lag in der Altstadt und war wegen seiner keck interpretierten Menü-Klassiker nicht nur bei Wie-früher-bei-Mama-Essern beliebt. Der Hit war das Pot-au-feu im Silbertopf mit kräftiger Bouillon, zartem Siedfleisch, Speck, Rindszunge, Saucisson und einem drallen Markbein. Im GourMillau wurde die urgemütliche Gaststube seit letztem Jahr erstmals mit dreizehn Punkten gelistet, was zu vielen neureichen Neugierigen, aber auch vergrämten Alteingefressenen geführt hatte. Seither versuchte die Wirtefamilie den Kulinarik-Spagat zwischen Foodies und Stammgästen.

Die Zielperson war männlich, siebenundfünfzig Jahre alt und aß jeden Werktag in der Traube zu Mittag.

Der Mann hielt sich stets an die Tagesgerichte, die »Der Chef empfiehlt« auf einer schwarzen Klappwandtafel beim Eingang mit Kreidemarker anpries. An diesem Mittwoch genoss er Menü drei, Hackbraten à la Oma Hedwig mit Kartoffelstock, Erbsen und Rüben und einer Marsalasoße wie nicht von dieser Welt. Dazu trank er seinen obligaten Humpen Bier; ein »Kübeli«, wie er jeweils bei Agnes bestellte, im wohligen Glauben, die Verniedlichungsform mache das Maß weniger voll.

Hackbraten, fand Violetta Morgenstern, sei eine würdige Henkersmahlzeit.

»Daran habe ich noch gar nie gedacht«, sagte Miguel Schlunegger. »Das letzte Gericht vor dem Hinrichter … Was wäre das bei mir?« Er zog erst die Stirn kraus und zeigte dann sein breitestes Schurkengrinsen, was Morgenstern alleweil als Warnung verstand, dass er eben bedenklich kreativ geworden war.

Er hatte gewählt: »Zur Vorspeise nehme ich Mordatella. Danach ein Killi con Carne, mit Sterbsen als Gemüse, und zum Nachtisch dann natürlich – weil bereits auf halbem Weg ins Nirwana – eine Götterspeise. Oder aber, sollte meine letzte Mahlzeit schnell und grausam stattfinden, dann entscheide ich mich für Rosenkohl.«

»Ach, komm, du Schwätzer, Rosenkohl kann sehr lecker schmecken.«

»Stimmt, wenn man ihn vor dem Essen durch ein Steak ersetzt.«

»Was du wieder für Blödsinn verzapfst. Rosenkohl beispielsweise halbiert, zusammen mit Cashewkernen in Butter angebraten und zum Schluss mit Semmelbröseln scharf kurz krustig anrösten. Du, das schmeckt wirklich …«

»Keine Kochschule jetzt, Morgenstern.«

Sie schaute ihn an, als habe er sie beleidigt. »Trotzdem solltest du das Thema Ableben etwas seriöser nehmen, Miguel. Das Ende kann ganz schnell und unerwartet kommen. In unserer speziellen Lebenssituation sowieso.«

»Entspann dich, Morgenstern, hast ja recht.« Miguels Grinsen schmolz zusammen. »Ich mag halt einfach nicht andauernd an mein Finale denken. Finde, damit beschwöre ich es geradezu herauf.«

»Selbstverständlich überlege auch ich nicht ständig an meinem letzten Stündchen herum, aber etwas Vorsorge für die Endsorge sollte halt schon sein. Drum habe ich …«

»Augenblick!« Miguel deutete auf den Bildschirm seines Tabletcomputers. »Unser Mann bestellt gerade die Rechnung.«

Die weitwinklige Überwachungskamera im Innenraum des Restaurants – Miguel hatte sie vor einigen Tagen mit Hilfe einer Spy-Software geknackt und sich so zum Zuschauer gemacht – zeigte eben, wie ihre Zielperson die Hand hob, die Fingerspitzen in monetärer Geste aneinanderrieb und der vorbeieilenden Bedienung mit hochgerecktem Kinn zunickte.

»Genau wie jeden Mittag. Erst bezahlt er, danach muss er mal – dann sollten wir wohl auch mal.« Miguels Signal zum Einsatz.

Sie saßen beide auf einer von Platanenbäumen beschatteten und Sonnenstrahlensplittern gesprenkelten Parkbank am Rande einer Naturwiese, zu der ein paar Gebüschreihen gehörten, ein achteckiger Brunnen aus Sandstein mit einem »Trinkwasser«-Täfelchen sowie eine separate Hundekackecke. Ein kleiner grüner Lungenflügel mitten in der Altstadt und keine drei Fußmarschminuten von der Traube entfernt. Das Wildeste hier auf diesem friedlichen Fleckchen waren der frei wuchernde Wiesensalbei, die Margeriten und Goldnesseln und die dauerzeternden Spatzen. Es gab hektischere Einsatzzentralen für Liquidationsteams.

Violetta hatte ihre Handtasche dabei, ein Riesenteil in der Farbe Resolutrot, über das Miguel immer spottete, darin hätte mehr Platz als in einem Großvolumenabfallsack für Bau und Gewerbe. Er schaute ihr amüsiert zu, wie sie jetzt beinahe mit Kopf und Oberkörper in der Tasche verschwand, um darin herumzukramen. Kann gut sein, dachte Miguel, dass sie nach einer verlegten Kaffeemaschine sucht, einem antiken Nachttischchen oder einem alten Auto.

Als könnte sie seinen Spott hören, schaute Violetta unversehens zu Miguel hoch und zog die Stirn in Falten. Dann holte sie aus der Monsterhandtasche ein dunkelblaues Kopftuch hervor, eine Überwurfschürze mit Alttanten-Farbmuster in Siebzigerjahre-Braun- und Orangetönen und eine schwarze Kassenbrille mit dickem Gestell und riesigen Fenstergläsern. Sie zog die Kleider an, setzte die Brille auf – und sah augenblicklich so ganz verwandelt aus.

»Gut so?«

»Steht dir prima! Genau dein Style. Meine greise Tante Cäcilia selig, die sah auch so …«

»Dummer Laferi.«

Miguel schenkte ihr einen übertrieben sentimentalen Gesichtsausdruck. »Jetzt im Ernst, Morgenstern, alles prima. Du bist nicht wiederzuerkennen – und darum einsatzbereit. Dann wünsche ich viel Glück als Putze.«

Sie betrachtete ihn mit umwölkter Stirn. »Putze? Etwas gar despektierlich.«

»Okay, dann halt Putzfrau.«

»Das nennt sich heute Raumpflegerin.«

»Schon klar, klingt natürlich massiv cleaner.«

»Nein, aber weniger minderwertig, du Chauvi.«

»Na, dann pfleg mal schön den Raum, Morgenstern.«

»Mach ich. Wenn alles sauber klappt, wird es unserer Zielperson bald so richtig dreckig gehen.«

Miguel schnappte theatralisch nach Luft und hob die Hände, als ergebe er sich. »Mann, Mann! Ich möchte einmal erleben, dass dir die Worte fehlen.«

Violetta machte mit den Schultern eine verlegene Kleinmädchen-Geste, so als sei sie unsicher, ob er das eben als Kompliment oder als Vorwurf gemeint hatte. Aus ihrer Hosentasche zog sie ein winziges Schächtelchen, entnahm ihm einen Hörknopf und tupfte sich diesen in ihr rechtes Ohr. Dann sprach sie in ihre Uhr am Handgelenk. »Verbindungskontrolle. Ist ein Herr Schlunegger da?«

»Höre dich laut und deutlich«, antwortete er gerade mal zwei Meter neben ihr und drückte seinen eigenen Knopf noch etwas tiefer in den Gehörgang.

»Was macht unser Mann?«

Miguel schaute auf das Tablet. »Plaudert gerade angeregt mit der Bedienung. Jetzt lachen beide. Geselliger Typ, unsere Zielperson.«

Violetta seufzte. »Sowieso eigentlich ein ganz feiner Kerl. Zu allen Leuten freundlich und zuvorkommend. Er hat Humor, Anstand und ein ausgeprägtes soziales Gewissen. So einen Chef wünscht man sich, lebt und lässt leben. Ich frage mich schon die ganze Zeit über, wer so einen Menschen umbringen lassen will.«

»Morgenstern … nicht.«

Sie funkelte Miguel an. »Man darf doch wohl noch darüber nachdenken, warum wir eine so rechtschaffene Person …«

»Nein. Nicht. Tu’s nicht«, fiel er ihr ins Wort. »Nicht darüber nachdenken. Ist in unserem Beruf nur hinderlich.«

»Aber fragst du dich denn nicht, warum jemand den Tod dieses Mannes …«

»Tue ich nicht. Ist nicht unsere Aufgabe. Zudem haben wir bestenfalls einen Bruchteil seines Lebens und Wesens durchkämmt. Haben dabei zwar nur Positives gefunden, aber wer weiß, was der Mann für Leichen im Keller hat?«

»Hat er nicht. Ich bin ja eigenhändig in seinen Keller eingebrochen und hab ihn durchsucht. Abgesehen von etwas gar viel Alkohol war da nichts Unrechtes.«

Miguel atmete genervt aus. »Sei nicht kindisch. Du weißt genau, was ich meine.«

»Okay, dann bin ich halt kindisch.« Sie schaute trotzig. »Und dennoch frage ich mich halt, was er verbrochen hat, dass wir ihn …«

»Nein. Nein! Morgenstern, hör auf, fertig jetzt. Oder wechsle den Job.«

Sie betrachtete nachdenklich den Boden und schwieg ärgerlich lange. Miguel fühlte sich fast dazu genötigt, einfach irgendetwas zu sagen, nur um endlich die Beklemmung loszuwerden. Schließlich hob sie den Kopf und schenkte Miguel ein aufgesetztes Lächeln. »Gut, meinetwegen, dann ist das halt so. Ist nun mal unser Geschäftscredo. Wir fragen nie, warum – wir bringen einfach nur um.«

»So gefällt mir die Lady schon besser.« Er nickte ihr gönnerhaft zu.

»Wir sind nicht die Richter, sondern einfach nur Hinrichter.«

»Hey, da ist sie ja wieder, meine gute alte Morgenstern. Hab mir schon Sorgen gemacht«, kumpelte er und puffte die Faust in ihre Schulter.

»Ist aber trotzdem ein netter Mann.«

»Ein sehr netter Mann.«

»Mit dem Herz am rechten Fleck.«

»Dann bringen wir dieses jetzt zum Stoppen. Bereit, Morgenstern?«

Sie nickte, packte ihre riesige Handtasche und eilte davon in Richtung Restaurant.

Miguel schaute ihr nach, schüttelte den Kopf und seufzte in sich hinein. Dann splittete er den Screen auf seinem Tablet, behielt einerseits die Überwachungskamera der Gaststube im Auge und startete anderseits eine weitere Software.

Ihr Mann war eben dabei, den ausgedruckten, sich zusammenrollen wollenden Kassenbon auf dem Tisch zu studieren. Er nickte dabei leicht vor sich hin und machte Murmellippenbewegungen, so als rechne er nach, fingerte dann aus der Brieftasche drei Geldnoten und legte diese in einem Fächer auf das Tischtuch. Zuletzt baute er mit ein paar Münzen ein Trinkgeldtürmchen darauf.

»Bin drin«, raschelte es in Miguels Ohr.

Synchron dazu sah er auf dem Display, wie Morgenstern die beinahe bis auf den letzten Platz besetzte Traube betrat, über das schwarz-dunkelblau geflieste Schachbrettmuster am Boden lief und sich schnurstracks in den rückwärtigen Teil des Restaurants begab. Wo sich die Waschräume befanden.

Der Auftrag war vor fünf Wochen im Darknet auf der Website ihrer Agentur »Wir lösen Ihr Problem – Wir entsorgen Ihre Sorgen« eingegangen. Das Auftragskillerbusiness lief gut. Nein, sehr gut sogar. Sie hatten eine Marktlücke gefunden.

Subjekte im Mandat ins Grab spedieren war eine Goldgrube.

Je komplizierter die Welt da draußen wurde, desto einfachere Lösungen suchten die Menschen. Und was war simpler, als wenn ein Problem einfach weg war? Und zwar ein für alle Mal. Dauerhaft nachwirkend. Zukunftsfest. Weil verstorben.

Mochte die Gesellschaft den Trend »Nachhaltigkeit« eben erst entdeckt und zum Lifestyle erhöht haben – die Profi-Umbringer in der Schatten- und Unterwelt wussten schon lange um die Relevanz dieses Themas.

Vom anonymen Auftraggeber erhielten Morgenstern und Schlunegger erste Informationen über Ort und Art des Ziels zugeschickt, entschieden sich nach eingehender Evaluation und Kalkulation, den Job anzunehmen, und gingen nach Vorauszahlung der Hälfte des Honorars (via weder rück- noch vorwärtsverfolgbarer Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum, Tether oder Monero) ans Werk.

Die Zielperson hieß Joachim G. Kellermann, war siebenundfünfzig Jahre alt, gelernter Augenoptiker, nicht sehr groß, dafür mit elf Kilo Speck über Idealgewicht. Nur noch wenig graues Haar, buttermilchweiße Haut voller Sommersprossensprenkel, grüne Augen und ein goldenes Gemüt. Bekennender Barbecue-, Elvis- und Westernfilmfan. Und über die alten, schwarz-weißen Slapstick-Klamotten von Stan Laurel und Oliver Hardy konnte er sich auch heute noch totlachen. Er besaß sie alle auf DVD. Weswegen (und wohl auch aufgrund seiner Leibesfülle) er in seinem Freundes- und Kollegenkreis den Spitznamen »Oli« trug.

Von seinem Vater hatte er vor fünfzehn Jahren die Kellermann-Optik AG geerbt, eine prosperierende Brillenladenkette. Seit seinem Amtsantritt war es ihm gelungen, den Umsatz massiv zu steigern und die Anzahl der Filialen auf achtzehn zu verdoppeln. Kellermann zahlte seinen Angestellten zehn Prozent mehr Lohn als in der Branche üblich, spendierte ihnen eine zusätzliche Urlaubswoche und hatte bezahlte Mutter- und Vaterschaftsferien eingeführt, als ein Großteil der KMU-Chefs den Begriff noch nicht einmal kannte. Die Belegschaft der Kellermann-Optik vergötterte ihren Chef.

Er war geschieden und lebte allein. Keine Kinder, keine Haustiere, keine Altlasten. Vor zwei Jahren hatte er sich eine Eigentumswohnung gekauft, im obersten Stockwerk eines Hochhausneubaus am Rande der City. Der Innenausbau des Apartments war vom Architektenteam bewusst puristisch-reduziert gestaltet worden; viel Glas, Beton und Stahl, nahezu farb- und gänzlich seelenlos. Wie aus dem Immobilienkatalog für Zahnarztpraxen. Gedacht und designt für eine junge, hippe Klientel, die Style am Bau zu schätzen wusste.

Also nicht für Leute wie Kellermann.

Der Genuss- und Gemütsmensch hatte beim Umzug seine alte, schwere Wohnwand aus dunkler Wotan-Eiche mitgebracht, Omas Schrank, Esstisch und Kristalllüster, ein Dutzend wolkendicke Orientteppiche sowie die riesige lebkuchenbraune Ledersofalandschaft. Die nackten Betonwände erwärmte er mit seiner Kollektion von Albert-Anker-Kopien.

Bei der Observation hatten Morgenstern und Schlunegger herausgefunden, dass Kellermann an den Wochenenden den Wellnesstempel eines nahen Hotels besuchte, sich Dampfbad und Sauna gönnte, eine Hot-Stone-Massage und am Schluss eine halbe Weichkochstunde im Whirlpool. Ansonsten hockte er nach Feierabend und in der Freizeit im Jogginganzug – der noch nie für seine Ursprungsbestimmung im Einsatz gewesen war – auf dem Lebkuchenleder und zischte ein paar Dosenbier aus dem Appenzell. Dazu guckte er seine »Laurel und Hardy«-Filme oder Netflix-Serien über Wikinger, Barbaren, Römer und College-Girls.

Oder er spionierte seine Nachbarinnen aus.

Letzteres war das Neck- und Bemerkenswerteste an Kellermanns Lebenswandel, wie Miguel fand. Vor dem Panoramafenster im Wohnzimmer hatte der Kerl ein Teleskop mit Stativ stehen, mit dem er in die gegenüberliegenden Wohnungen linste und Anwohnerinnen ohne Gardinen und Ahnung beim Wohnen beobachtete.

»Schau an, unser Herr Kellermann ist ein Spanner«, hatte Miguel gesagt.

»Er ist ja bald weg vom Fenster«, hatte Morgenstern geantwortet und dabei selbstironisch die Augen verdreht ob ihrer Wortfrotzelei.

War so eine Art Spiel von ihnen geworden. Das Ableben der Zielpersonen mit zu deren Berufen oder Neigungen passenden Flachwitzen zu kommentieren.

Die Zahnärztin hinterließ eine schmerzliche Lücke.

Der Erzbischof musste dran glauben.

Der Starmusiker hörte die Englein singen.

Die Uhrmacherin segnete das Zeitliche.

Der Metzger ging den Weg allen Fleisches.

Die Managerin der Bundesbahnen lag in den letzten Zügen.

Der sanft entschlafene Bundesbeamte.

Und – Miguels Favorit – (ein Promi-Kill-Auftrag vom vergangenen Oktober): Der Olympiazweite im Geräteturnen verreckte.

Opferwortspiel nannten sie es. War saudoof, ihnen beiden schon klar. Despektierlich sowieso. Aber sie konnten sich darob köstlich amüsieren und kicherblödelten herum wie Kinder in der Umkleide – was ihnen etwas Druck im Job und von der Seele nahm und die Auftragsliquidation damit ein klein wenig erträglicher machte.

Idiotische Kalauer gegen posttraumatische Belastungserkrankungen. Ihre Art der Wundpflege am Gemüt.

Morgenstern und Schlunegger waren nach Auftragserteilung auf dem Schweizer Bahnschienennetz in ihren anonymen mobilen Wohneinheiten – zwei als Kühltransporter getarnte und mit »TransCoolChem« beschriftete Güterwaggons – ins neue Einsatzgebiet gereist und hatten umgehend mit der Observation Kellermanns begonnen.

Wie immer galt es, Alltag, Umfeld, Spleens und Routinen der Zielperson auszuspionieren. Am erfolgversprechendsten war es, auf Liebes- und Berufsleben sowie Hobbys und Zipperlein zu fokussieren. In neunzig Prozent aller Killfälle war dort der Eliminierungsansatz zu finden. So auch in diesem Fall.

Beim Hacken und Sichten von Kellermanns Arztunterlagen hatten sie seine angeborene Schwachstelle entdeckt.

Er litt an Epilepsie.

Bereits als Junge waren Teile seines Gehirns übermäßig aktiv gewesen und hatten zu viele Signale abgegeben. Die Krankheit hatte bekanntlich unterschiedliche Gesichter. Wahlweise zuckten einzelne Muskeln, etwa ein Arm oder Bein; es konnte aber auch der gesamte Körper krampfen und steif werden, was zu einer Ohnmacht führte. Zwischen den Anfällen hatten die Betroffenen meist keine körperlichen Beschwerden.

Joachim G. Kellermanns Epilepsie war stark ausgeprägt. Weswegen er seit seinem dreizehnten Lebensjahr Medikamente nahm, die ihm einen weitgehend normalen Alltag ermöglichten. Der letzte schwere Vorfall war vor über elf Jahren geschehen. Er war anfallsfrei, solange er seine Arzneimittel schluckte.

Also nahmen sie ihm diese weg.

Miguel war vor zwei Wochen in Kellermanns Wohnung eingebrochen und hatte die Dose mit den Anti-Anfallpillen gegen ein Placebo identischen Aussehens ausgetauscht.

Seither bewegte sich Kellermanns Gehirn langsam, aber unaufhaltsam auf einen Anfall zu.

Es benötigte nur noch einen starken Auslöser.

»Miguel, ich betrete jetzt die Männertoilette. Die drei Kabinen … sind unbesetzt. Aber an den vier Pinkelbecken stehen noch zwei Kerle. Ich warte. Standby, bis die sich verpisst haben.«

Da es in den Waschräumen der Traube aus nachvollziehbaren Gründen keine Videoüberwachung gab, war Miguel auf den Livekommentar von Morgenstern angewiesen. Obwohl sie in ihre Mikrofon-Uhr nur flüsterte, kam jedes Wort ein paar hundert Meter weiter bei Miguel auf der Parkbank glasklar an.

Aus der Schürzentasche zog Violetta Gummihandschuhe und einen Putzlappen und begann, die Armaturen am Waschtisch zu reinigen. Sie konnte hören, wie einer der Pinkler den Reißverschluss seines Hosenstalls hochzog. Dann stand er auch schon neben ihr am freien Becken, wusch sich die Finger, streckte sie für ein paar Sekunden in den Händetrockner und verließ ziemlich zackig den Raum.

Während der ganzen Zeit über hatte er den Kopf gesenkt gehalten und die Reinigungskraft nicht ein einziges Mal angeschaut. Exakt wie Miguel prophezeit hatte: »Du wirst dort drin praktisch ungesehen agieren können, Morgenstern. Wir Männer mögen beim Pinkeln nämlich keine weiblichen Anwesenden, irritiert uns irgendwie sehr«, hatte er ihr beim Feintuning des Einsatzplanes verraten. »Also ignorieren wir die Frauen einfach und hauen möglichst schnell wieder ab.«

Der zweite Pinkler ließ plötzlich einen tiefkehligen Brunzgrunzer ertönen, was angesichts seines fortgeschrittenen Alters wohl auf eine für ihn überraschend geglückte, weil längst nicht mehr selbstverständliche Entleerung der Blase hindeutete. Aus dem Augenwinkel heraus sah Violetta, wie er auf Wippzehen stehend kleine, kurze Abschüttelbewegungen machte. Danach das Reißverschlussschnurren. Dann war der Kerl auch schon weg – ohne sich die Hände gewaschen zu haben.

»Soiniggel.«

»Negativ. Bitte wiederholen.«

»Männer halt!«

»Äh … Morgenstern?«

»Vergiss es. Was macht unser Mann?«

»Sitzt noch am Tisch und … Nein, Korrektur, er steht in diesem Moment auf und geht nach hinten in Richtung Waschräume. Geschätztes Rendezvous in fünf Sekunden, in vier, drei, zwei …«

Hatte Schlunegger jetzt tatsächlich »Rendezvous« gesagt? Als wär das hier ein Date oder die Ankopplung zweier NASA-Raumschiffe im Orbit.

»Positiv, sehe ihn.« Violetta hielt Kellermann die Tür auf (auch er würdigte sie keines Blickes) und beobachtete, wie er sich vor eines der Urinale stellte.

»Zielperson zielt in Becken Nummer drei.«

»Bestätige, Becken drei.«

»Ich hänge jetzt das Schild auf.« Aus ihrer Schürzentasche zog Violetta eine Tube mit ZackHaft-Sekundenkleber sowie ein Stück beschriftete, laminierte Pappe in der Größe A4 und brachte diese mit zwei Tupfern an der Außenseite der Tür an.

»Dieser Waschraum wird gerade gereinigt. In wenigen Minuten steht er unseren Gästen wieder zur Verfügung.«

Somit war garantiert, dass Miguel ungestört eliminieren konnte. Der durchschnittliche Schweizer Bildungs- und Spießbürger machte sich eher in die Hose, als ein Gebotsschild zu missachten. Hochkackkorrekt.

»Kannst jetzt dein Discogewitter starten«, zischelte sie in ihre Armbanduhr. »Ich bin standby vor der Tür.«

Bei der sanften Renovation der Traube vor eineinhalb Jahren hatte der Architekt die Wirtefamilie für eine neue, spleenige Idee im Männerwaschraum begeistern können – das sogenannte »Smart-Urinal« für Stehpinkler. Am oberen Ende des hochmodernen Beckens war ein zigarrenschachtelgroßes Display eingebaut. Begann Mann nun mit Druck zu strahlen, wurde das von Feuchtigkeitssensoren registriert – und auf dem Display erschienen Werbevideos. Die Philosophie dahinter: Nie ist ein Mann unabgelenkter, ganz bei sich und somit empfänglicher für Werbebotschaften, als wenn er sein Stück Glück in Händen hält und fokussiert dirigiert.

Durchschnittlich vierzig Sekunden lang – das hatten die Entwickler des Smart-Urinals eigens in einer Studie herausgefunden – stand der Mann ruhig da beim Wasserlassen. Also wurde er während dieses Piesel-Countdowns mit Reklamespots berieselt für Autos, Sportshops, Baumärkte, Handys und Arzneien auf pflanzlicher Basis bei Prostatabeschwerden.

Die Urinale waren per WLAN mit einer Cloud verbunden, um die Werbespots zu managen oder auszutauschen. Miguel hatte keine zwei Minuten benötigt, um sich in die Piss-Cloud zu hacken und dort sein eigenes, sehr spezielles Filmchen zu platzieren.

Das er jetzt abspielte. Auf dem Display von Becken drei. Wo Joachim G. Kellermann gerade Wasser ließ – und alsbald auch sein Leben.

Er war der Typ Pinkler mit vollständig geöffneter Hose. Lediglich durch den runtergezogenen Reißverschluss zu bächeln, war ihm zu nah am empfindsamen Zartfleisch. Darum machte er immer auch noch Knopf und Gurt auf.

Auf seinem Tablet startete Miguel das Werbefilmgewitter. Disco, wie Morgenstern es betitelte. Sie hatten zusammen diese Eliminierungsmethode immer und immer wieder durchgerechnet. War reine Physik. Körpermasse, Fallgeschwindigkeit, Aufschlagwinkel, Materialhärte und Kantenart des Prallobjekts – der kalkulierte Erfolgsfall lag bei über neunzig Prozent. So gut wie todsicher.

Kellermann starrte reflexartig und wie paralysiert auf das Display hinunter. Extrem helle Blitze, wild gerasterte Lichtbalken und -punkte sowie kontrastreiche Grellreize schossen mit der Kadenz und Heftigkeit eines Stroboskops über den Bildschirm. Bohrten sich in Kellermanns Augen, auf die Netzhaut und jagten von dort in Form extrem überreizter Signale ins Schädelinnerste.

Wo eine Art Kernschmelze ausgelöst wurde.

Der Anfall krallte sich mit nie gekannter Heftigkeit in sein Gehirn und löste eine schwere Reflexepilepsie aus. Der Körper zuckte, strampelte und zappelte. Kellermann verlor binnen Sekunden das Bewusstsein, fiel verdreht zur Seite um und knallte im Fallen mit dem Hinterkopf an die Kante der Urinalschüssel links neben ihm. Dabei brachen seine ersten beiden Halswirbel, was wiederum die Nervenstränge im Rückenmarkskanal zerriss. Noch bevor sein Körper auf dem hellblau gefliesten Boden aufschlug, war Kellermann tot.

Auf Miguels Anweisung hin betrat Violetta den Waschraum, kniete sich neben das Opfer und suchte dessen Puls am Hals seitlich des Schildknorpels und dann noch am daumenseitigen Handgelenk. Zwei Mal gar nichts.

»Morgenstern? Erledigt?«

»Ja, Mann und Job.«

Violetta schlubberfetzte sich die Gummihandschuhe von den Händen, verließ den Waschraum, schlenderte mit der Nonchalance eines ganz normalen, gut gesättigten und zufriedenen Gastes durch das Lokal und zur Tür hinaus.

Als sie sich drei Minuten später neben Miguel auf die Parkbank setzte, löschte dieser gerade den Gewitterdiscofilm aus der Pinkel-Cloud, verwischte sämtliche seiner digitalen Spuren und loggte sich aus. Er grinste Violetta an.

»Was? Was?«

»Aktueller Neuzugang in unserem Opferwortspiel.«

»Oje, Schlunegger hat wieder gedichtet.«

Miguel bedachte sie mit einem Trommelwirbelblick. »Der Optiker, der für immer die Augen schloss.« Er lachte heiser und ausgelassen.

Und Violetta mit ihm. Laut, wohlmeinend gemein und tapferbitter. Gleichzeitig spürte sie wieder diesen Stein in ihrer Brust, der da immer lag, der aber heute noch schwerer wog und mit jedem bösen Mal mehr an Ballast zulegte.

Oh, sie kannte ihre Sünden.

Morgenstern. Mordenstern.

Kellermann war wirklich ein netter Kerl gewesen.

Und sie fragte sich zum millionsten Mal, ob ein ganz bestimmter Platz in der Hölle dereinst noch heißer eingefeuert werden würde als all die anderen Plätze der anderen Verdammten.

Jener, der für sie vorgesehen war.

2

Er war hin und so was von weg.

Miguel fand ja alles, einfach alles an Leena wunderbar. Ganz besonders, wenn sie ihn anschaute, mit ihren grünspangrünen Augen, so wie jetzt gerade. Auf diese ganz bestimmte, einzig-zartige Leena-Weise. Und ihr Gesicht sich ihm öffnete, hell leuchtend aufging und zu strahlen begann wie ein neuer, reiner, grundgütiger Morgenhimmel, sodass es ihm vorkam, als ertrinke er in ihrem Antlitz, versinke, immer tiefer, bis zum Boden ihres Herzens … Das waren Momente, in denen Miguel zerschmolz, die Rüstung von ihm abfiel, seine ewige Flucht endlich etwas Friedensruh wich. Und er fühlte, was er nie für möglich gehalten hätte: Erlösung.

Leena nannte diesen Zustand einfach nur »Liebe«.

Aber Leena sah viele Dinge schnörkelloser als er. Gleichzeitig aber auch mehr flirty. Und vor allem aber spitzmädischer.

»Hast du gewusst, Miguel, dass in Hongkong betrogene Frauen ihre Ehemänner legal umbringen dürfen? Allerdings nur mit bloßen Händen.«

Er löste sich aus der Löffelchenstellung, knabberte an ihrem mit Sommersprossen besprenkelten, milchweißen Schulterblatt, sodass sie wohlig erschauderte, und fragte dann mit gespieltem Entsetzen: »Dann sind wir jetzt also in der Schwarzen-Witwe-Phase? Wenn das Spinnenweibchen nach der Paarung das Männchen auffrisst?«

Leena umfasste mit beiden Händen sein erhitztes Gesicht. »Oh je, Kannibälchenhäppchen-Schlunegger. Das würde ja bedeuten, dass du mir – sehr bildlich jetzt – zum Halse hinaushängst.«

Sie verkicherküsste ihn, er ließ es gern geschehen und suchte immer wieder ihre Augen. Zwei Blicke – ein Augenblick.

So lief das mit Leena und Miguel seit bald einem halben Jahr. Sie trafen und liebten sich einmal im Monat. Jeweils für drei Tage und zwei Nächte, immer Freitagabend bis Sonntagnachmittag.

Immer an einem anderen Ort, in einem anderen Hotel, mit falschen Namen und Barbezahlung – war Miguels Bedingung (Sicherheit und Unsichtbarkeit garantierten sein Fortleben, das wusste er).

Immer eine Suite mit Champagnerfrühstück – war Leenas Bedingung (eine so kribbelnde Liebe benötigte laufend Prickelnachschub, fand sie).

Nach der Riesengeschichte letztes Jahr im Dorf Schwarzmoos mit dem Schweizer Vietnamkriegsgeheimnis, dem Umweltskandal und dem toten zwölfjährigen Jonas hatten sie erst monatelang nichts mehr voneinander gehört. Zwei Liebesnächte hatten sie damals in Schwarzmoos miteinander verbracht, gedacht, das könne niemals etwas für immer sein, und waren schließlich beide, ohne richtig »Adieu«, »schön war’s« und »Ende« zu sagen, in ihre jeweils neuen Welten verschwunden.

Leena Camenzind, die kleine Lokaljournalistin auf der Außenstelle Schwarzmoos, die den Story-Shaker publik gemacht und es damit in die Weltpresse geschafft hatte, wurde subito in die Chefredaktion befördert und zog weg, in die schöne, große Stadt am blauen See.

Und Miguel … war danach wie immer auf der Flucht. Nahm zusammen mit Morgenstern neue Elimination-Aufträge an, erledigte, liquidierte, beendete Existenzen und Probleme – und hetzte anschließend weiter. Immer den ehemaligen Arbeitgeber, das geheime, staatliche Killer-Ministerium »Tell« im stresssteifen Nacken. Seit er und Morgenstern sich mit der Firma auf dramatische und blutige Art und Weise überworfen hatten, standen sie selbst auf deren Abschussliste.

Doch dann – aus einem sich aufstauenden Begehren heraus – hatte Miguel sich wieder bei Leena gemeldet. Und sie ihm sofort zurückgeschrieben. Ein erstes Wiedersehen, ein Déjà-vu, zum zweiten Mal eine Liebe auf den ersten Blick … Danach hatten sich die Dinge geradezu überschlagen. Seither waren sie ein Paar. Und auf Distanz zusammen. Einmal im Monat, für drei Tage und zwei Nächte. Ihre Art von Fernbeziehung.

»Oasenzeit« nannten sie es.

Für beide war das okay so; die ideale Schnittmenge zwischen Job, Wohnsituation, Eigenständigkeit, Liebe und Bedürfnissen aller Art. Keiner von ihnen wollte mehr, niemand wollte weniger. Vorerst jedenfalls.

Aufgrund einiger unbedarft verplapperter Gedankensplitter ihrerseits hatte Miguel gemerkt, dass Leena davon ausging, dass er für eine geheime Abteilung der Regierung arbeitete. Etwas ziemlich Heftiges, dachte sie wahrscheinlich, und darum Verdecktes. Und weil er oft tage-, ja manchmal gar wochenlang nicht erreichbar war, vermutete sie ihn wohl im Ausland. Miguel ging davon aus, dass Leena recherchiert hatte und dabei unweigerlich auf Sondereinsätze von »externen Experten« auf Schweizer Botschaften gestoßen sein musste, in Risikogebieten wie Ostafrika, Maghreb, Naher und Mittlerer Osten. In dieser Spezialschublade sah sie ihn wohl. Alles zwar komplett falsch – aber für Miguel goldrichtig. Das würde Leena auch erklären, warum ihr Liebster nie über seinen Arbeitsalltag sprechen wollte; er war sicherlich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Ihr gegenüber sowieso – der neugierigen Pressetante. Also bohrte sie nie nach. Und Miguel war froh darüber.

Wenn Leena ihn nicht fragte, brauchte er sie nicht anzulügen.

Nachdem sie sich an diesem Morgen endlich aus ihrer Verknäuelung hatten lösen können, tänzelte Leena unbekleidet in Richtung Badezimmer. Miguel schaute ihr nach und brachte den Mund nicht mehr zu. Er war jedes Mal aufs Neue fasziniert, wie sie es fertigbrachte, beim Um-die-Ecke-Abbiegen zuerst den Kopf, dann Oberkörper und Beine und erst zu allerletzt ihren herzförmigen Hintern mitzunehmen. Ein Anblick, der ihn schier wahnsinnig machte. Und er wusste genau, dass sie das wusste und deshalb ihren Abbiege-Akt erst recht aufreizend inszenierte.

Während Leena unter der Regendusche stand, bestellte Miguel beim Zimmerservice zwei große Frühstücke. Einmal mit extra Pancakes, Speck und Rührei für sich. Einmal mit zusätzlich Eggs Benedict auf Sauce Hollandaise für die Dame.

Und eine Flasche Champagner.

Sie zmörgelten mit feuchten Haaren und in dicken Frottee-Bademänteln bei geöffneter Terrassentür ihrer Suite, weil Leena das Glockengebimmel des Fleckviehs auf den Alpweiden so gern mochte. Es war ein taufrischer Frühsommermorgen, und als sie fertig gegessen hatten, fröstelte Leena etwas, was sie als willkommenen Grund verkündete, abermals unter die Bettdecke zu schlüpfen. Sie standen vom Tisch auf, küssten sich, verschlangen und umschlangen sich und stolperten wie ein vierbeiniges Fabelwesen zum Kingsize-Bett.

Irgendwann hatte Miguel sich daran gewöhnt, dass seine Liebste im Bett in allen (wirklich allen) Situationen bunte Wollsocken trug. Leenas Spleen. Ihr Strumpftrumpf. Zum einen, weil sie tatsächlich schnell kalte Füße bekam und die Dinger kuschelig fand. Zum anderen hatte sie in einem Psychologie-Magazin von der Studie einer holländischen Universität gelesen, die besagte, dass Frauen mit Wollsocken den besseren Sex hätten. Leena hatte vor Miguel die entsprechende Stelle auswendig und mit so viel Verve rezitiert, als sei es ein Gedicht: »Mit Wollsocken an den Füßen kommen achtzig Prozent der Frauen zum Orgasmus, ohne sind es lediglich fünfzig.«

Selbstverständlich hielt Miguel die Studie in diesem Seelenheini-Heftchen für ausgemachten Quatsch. Anderseits … Mit einer Sockenfetischistin wollte er sich nicht in die Wolle kriegen. Könnte schlimmstenfalls in einem Beischlaf-Embargo gegen ihn ausarten. Also konterte er mit keinem seiner obligaten Machosprüche, sondern blieb ihr brav bei warmem Fuß.

»Und, wie läuft’s bei dir im Job?«, fragte er und zeichnete mit dem Zeigefinger langsam eine Palme auf ihren nackten Hintern.

Sie lag bäuchlings auf dem Laken, nippte an ihrem Champagnerglas und seufzte dabei so schwer, dass Miguel sich fragte, ob das Schaumgesöff derart schön entspannte oder ob berufliche Sorgen der Grund waren.

»Du glaubst nicht, an wie vielen Sitzungen im Tag ich teilnehmen muss«, löste Leena das Rätsel auf. »Viel zu viel Managementkram, Sparrunden, Budgetkürzungen, HR-Leerlauf und die vielen Verrenkungen vor dem Verleger und seinen Inserenten. Aber ich will nicht klagen. Das ist nun mal der Preis, wenn ich in der Chefetage mitmachen will.«

Miguel zeichnete mit dem Zeigefinger das Matterhorn auf ihren nackten Rücken. »Klingt trotzdem nicht so prickelnd.«

Auf sein anders gemeintes Stichwort hin drehte sie sich um, streckte ihm ihr leeres Champagnerglas vor die Nase und schnurrte nach mehr. Miguel griff nach der Flasche im Kühlkübel und füllte ihr Glas wieder auf.

Sie sagte: »Ich will nicht klagen, die Arbeit in der Chefredaktion ist … anders. Spannend, herausfordernd. Aber in letzter Zeit habe ich immer öfters vermisst, was ich eigentlich mal gewesen bin.«

Miguel legte den Kopf schief. »Reporterin?«

»Erfasst. Ich will unbedingt wieder mehr ins Feld. Will wieder schreiben, recherchieren, an der Front stehen und gute Geschichten erschnüffeln.«

»Wäre das denn überhaupt möglich nebst deinen Führungsaufgaben?«

»Es ist möglich.« Sie nickte so heftig, dass ein kleiner Gutsch aus ihrer Champagnerschale schwappte. »Oh ja, das geht. Neuerdings wieder. Ich habe der Geschäftsleitung vor ein paar Wochen einen entsprechenden Antrag gestellt, und der wurde genehmigt. Jetzt mache ich wieder zwei Storys pro Monat. Das fühlt sich prima an.«

Miguel zeichnete mit dem Zeigefinger die Konturen eines Geländewagens auf ihren nackten Oberschenkel und musste gegen seinen Willen an seinen Straßenpanzer denken, den er am Tag der Flucht einfach hatte stehen lassen müssen. Herrgott, wie er den klavierlackschwarzen Chevrolet Pick-up vermisste. Etwas verlegen schüttelte er den deplatzierten Gedanken ab – falscher Zeitpunkt, ganz falscher Kontext –, indem er so tat, als fröstle ihn. Dann streckte er seine Nase in die Kuhle zwischen Leenas Hals und dem Schlüsselbein und inhalierte geräuschvoll. »Und wo schnüffelt meine Lieblingsreporterin derzeit so herum?«

Sie stieß ihn kichernd mit spitzen Fingern zurück, und diesmal spritzte etwas von ihrem Champagner auf Miguels Oberkörper. Er schaute gespielt empört, und Leena leckte die Tropfen so nervtötend geräuschvoll auf wie der Speichelabsaugrüssel beim Zahnarzt. Dann räusperte sie sich und versuchte, ein halbwegs ernsthaftes Gesicht zu machen.

»Ich habe aktuell ein paar wirklich heiße Story-Eisen im Feuer. Letzte Woche etwa ein exklusives Porträt über diese neue starke Frau an der Spitze der First Swiss Money Finance. Durfte sie einen Tag lang begleiten, junges, taffes Ding. Genau solche Ladys braucht das Bankenland Schweiz, die mischt die angegreisten Dagobert-Duck-Geldsäcke ganz schön auf. Und kommende Woche reise ich für eine Reportage in das Tessin, wo eine der größten Goldraffinerien der Welt steht. Davon weiß die Allgemeinheit seltsamerweise gar nichts. Oder war dir das bekannt?«

War es Miguel nicht. Aber er stimmte Leena zu, das sei ein faszinierendes Thema, interessiere ihn sehr, und er versprach, ihre Reportage zu lesen. »Ich lese sowieso alles, was du schreibst. Alles.«

Mit einem Klaps auf seinen Nasenrücken bedankte sie sich für seine Scheinheiligschmeichelei. »Und dann habe ich demnächst noch ein Interview mit dem neuen CEO unserer nationalen Airline.«

»Ja, stimmt, da thront ja jetzt ein Frischling im Cockpit. Ein Kerl aus Deutschland, hab ich gehört.«

»Er lebt aber seit über einem Jahrzehnt in der Schweiz. Guter Mann, fähiger Manager mit beeindruckendem Leistungsausweis. Hat in den letzten vier Jahren die angekratzte Serfosa-Chemie-Gruppe wieder auf Kurs gebracht. Tja, und nun gewährt er mir ein Interview. Prima Sache … eigentlich.«

»Eigentlich? Meine ich da, einen leicht besorgten Unterton in deiner Stimme zu hören?«

Sie schaute wie ein ertapptes Schulgör. »›Leicht besorgt‹ ist massiv untertrieben. Der Termin liegt mir gehörig auf dem Magen.«

»Ist der Kerl denn so mühsam? Einer dieser typischen Manager-Ärsche?«

»Im Gegenteil. Er ist echt gut; unkompliziert, hat Witz und Charme und ziemlich was auf dem Kasten. Nein, mich bedrückt mehr der Ort, wo das Interview stattfinden soll. Nämlich in der Luft, am Himmel.«

»Wie jetzt?«

»Der neue Airline-CEO ist selbst begeisterter Hobbypilot. Also lädt er die Medienschaffenden jeweils ein, ihn an Bord seiner kleinen Cessna zu porträtieren. Er dabei als Pilot am Steuer.«

»Das ist doch eine witzige Idee. Gibt ausnahmsweise mal originelle Interviewfotos. Was gefällt dir daran denn nicht?«

Sie legte den Kopf schief und lächelte bittersüß, wie eine schöne Schauspielerin in einem französischen Schwarz-Weiß-Film mit viel Zigarettenrauch und ohne Happy End. »Ach, Schatz. Du weißt eben doch noch nicht ganz alles von mir.«

»Was möchtest du mir beichten?« Er zeichnete mit dem Zeigefinger ein Rautenmuster auf ihre Schulter.

»Ich habe Höhen- und Flugangst.«

Woraufhin Miguel sie in den Arm nahm und ihr während der folgenden halben Stunde mehrmals bewies, wie lustvoll entspannend Höhenflüge sein konnten.

Nach der Landung lagen sie beide da, rangen nach Atem, starrten an die pseudobarocke Stuckdecke der Suite und teilten lange Momente des Schweigens.

»Du … Da ist noch etwas, über das ich mit dir sprechen wollte«, sagte Leena nach einer Weile.

Allein ihr gedämpfter Tonfall aktivierte bei Miguel sämtliche Alarmsysteme. »Was ist los, Leena?«

»Nicht hier, nicht im Bett. Aber wir müssen reden. Lass uns wandern gehen.«

Über Miguel schwappte eine kalte Welle der Angst. Wandern war die wütende Version von spazieren. Eine »Wir müssen reden«-Verlautbarung und wandern … endete in den seltensten Fällen als Plauderbummel.

Ging es etwa um ihre Liebesbeziehung?