Das Grab im Moor - Val McDermid - E-Book
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Das Grab im Moor E-Book

Val McDermid

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Beschreibung

Kein Grab ist tief genug für die Wahrheit! Eine Moor-Leiche in den schottischen Highlands wird zum 5. Cold Case für DCI Karen Pirie Die Suche nach dem geheimnisvollen Erbe ihres Großvaters führt eine junge Engländerin in die schottischen Highlands: Auf einer provisorischen Karte ist ein Ort mitten im Moor markiert. Dort stößt sie auf ein erstaunlich gut erhaltenes amerikanisches Motorrad, Baujahr 1944 – und auf eine männliche Leiche deutlich jüngeren Datums. DCI Karen Pirie, spezialisiert auf Cold Cases, ist eigentlich wegen eines anderen Falles in der Gegend, doch der Tote im Moor lässt ihr keine Ruhe. Er trägt ein sehr spezielles Paar Nike-Sneakers, eine Sonderanfertigung aus dem Jahr 1995. Und er ist offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben … Mit der sympathisch-kantigen Karen Pirie hat die britische Bestseller-Autorin Val McDermid eine Kommissarin erschaffen, die sich um so hartnäckiger in einen Cold Case verbeißt, je unlösbarer das Rätsel scheint. Die Krimi-Reihe mit Karen Pirie ist in folgender Reihenfolge erschienen: Echo einer Winternacht Nacht unter Tag Der lange Atem der Vergangenheit Der Sinn des Todes Das Grab im Moor Ein Bild der Niedertracht

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Seitenzahl: 634

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Val McDermid

Das Grab im Moor

Ein Fall für Karen Pirie

Aus dem Englischen von Ute Brammertz

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Suche nach dem geheimnisvollen Erbe ihres Großvaters führt eine junge Amerikanerin in die schottischen Highlands: Auf einer provisorischen Karte ist ein Ort mitten im Moor markiert. Unter der Erde stößt sie auf ein erstaunlich gut erhaltenes amerikanisches Motorrad, Baujahr 1944 – und auf eine männliche Leiche deutlich jüngeren Datums.

DCI Karen Pirie, spezialisiert auf Cold Cases, ist eigentlich wegen eines anderen Falles in der Gegend, doch der Tote im Moor lässt ihr keine Ruhe. Er trägt ein sehr spezielles Paar Nike-Sneakers, eine Sonderanfertigung aus dem Jahr 1995. Und er ist offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben …

Mit der sympathisch-kantigen Karen Pirie hat die britische Bestseller-Autorin Val McDermid eine Kommissarin erschaffen, die sich um so hartnäckiger in einen Cold Case verbeißt, je unlösbarer das Rätsel scheint.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

Epilog

Danksagung

Leseprobe »Ein Bild der Niedertracht«

Dieses Buch nahm seinen Anfang mit einer Buchhändlerin, die mir eine Geschichte erzählte. Aus diesem Grund ist es allen Buchhändlerinnen und Buchhändlern gewidmet, die Geschichten lieben, sie uns in die Hand drücken und uns süchtig machen.

Drei können ein Geheimnis bewahren, vorausgesetzt, zwei von ihnen sind tot.

 

Benjamin Franklin,

Poor Richard’s Almanack

1

1944 – Wester Ross, Schottland

Das schmatzende Geräusch von zwei Spaten in festem Torf war unverkennbar. Manchmal hatten sie denselben Rhythmus, dann wieder nicht: Sie überlagerten sich, trennten sich, erklangen nacheinander, fanden dann wieder zusammen, genau wie der schwere Atem der Männer. Der Ältere der beiden hielt einen Moment lang inne, stützte sich auf den Griff und ließ die kühle Nachtluft den Schweiß in seinem Nacken trocknen. Sein Respekt vor Totengräbern wuchs, die so etwas an jedem Werktag tun mussten. Wenn die Sache erst einmal vorbei war, würde er das ganz bestimmt nicht zu seinem Beruf machen.

»Komm schon, du alter Sack«, rief sein Begleiter leise. »Für Teepausen haben wir keine Zeit.«

Das wusste der Mann. Sie hatten die Sache zusammen angefangen, und er wollte seinen Freund nicht hängen lassen. Doch er bekam schlecht Luft. Er unterdrückte ein Husten und beugte sich vor, um weiterzumachen.

Wenigstens hatten sie sich die richtige Nacht ausgesucht. Ein klarer Himmel mit einem Halbmond, der gerade hell genug für ihre Arbeit war. Sicher, sie wären für jeden zu sehen, der den Weg neben dem kleinen Bauernhaus hochkam. Allerdings bestand kein Grund, weshalb jemand mitten in der Nacht unterwegs sein sollte. Keine Patrouille wagte sich so weit in die Schlucht, und dank des Mondscheins brauchten sie kein Licht, das Aufmerksamkeit erregen könnte. Sie waren überzeugt, dass man sie nicht entdecken würde. Schließlich waren ihnen durch ihr Training Geheimaktionen zur zweiten Natur geworden.

Eine sanfte Brise von der Bucht trug den Geruch der Ebbe nach Seetang und ein leises Brandungsgeräusch von Wellen an den Felsen herüber. Gelegentlich stieß ein Nachtvogel, den keiner der beiden bestimmen konnte, einen trostlosen Schrei aus und ließ sie jedes Mal zusammenfahren. Doch je tiefer das Loch wurde, desto weniger drang die Außenwelt zu ihnen durch. Nach einer Weile konnten sie nicht mehr über den Grubenrand sehen. Keiner der beiden Männer litt an Platzangst, doch diese Beengtheit bereitete ihnen Unbehagen.

»Das reicht.« Der ältere Mann lehnte die Leiter an die Seite und kletterte langsam zurück in die Welt, während er zu seiner Erleichterung spürte, wie sich die Luft um ihn her wieder bewegte. Zwei Schafe regten sich auf der anderen Seite der Schlucht, und in der Ferne bellte ein Fuchs. Noch immer keine andere Menschenseele weit und breit. Er ging auf den zwölf Meter entfernten Anhänger zu, wo eine geteerte Plane etwas Großes, Rechteckiges bedeckte.

Gemeinsam zogen sie die Leinwandhülle zurück, sodass die beiden Holzkisten zum Vorschein kamen, die sie zuvor gezimmert hatten. Sie wirkten wie zwei einfache, auf der Seite liegende Särge. Die Männer griffen nach den Seilen der ersten Kiste, mit denen sie gesichert war, und manövrierten sie behutsam von der Ladefläche des Anhängers herunter. Unter Ächzen und Fluchen schleppten sie die Last zum Rand der Grube und ließen sie vorsichtig in die Tiefe.

»Scheiße!«, stieß der jüngere Mann aus, als das Seil zu schnell durch seine Handfläche rutschte und seine Haut aufschürfte.

»Zieh einen verdammten Strumpf drüber«, sagte der Ältere. »Du weckst noch die ganze verfluchte Schlucht.« Er stapfte zum Anhänger zurück und prüfte mit einem Blick über die Schulter, ob der andere hinter ihm war. Sie wiederholten die Prozedur, jetzt langsamer und schwerfälliger, da sich die körperliche Anstrengung immer mehr bemerkbar machte.

Dann war es Zeit, die Grube zuzuschütten. Sie arbeiteten unter grimmigem Schweigen und schaufelten so schnell wie möglich. Als die Nacht allmählich an der Bergkette im Osten zu verblassen begann, machten sie sich an den letzten Teil ihrer Aufgabe und trampelten die oberste Torfschicht wieder fest. Sie waren dreckig, stanken und waren erschöpft. Doch die Arbeit war getan. Eines Tages, in ferner Zukunft, würde es sich auszahlen.

Bevor sie zurück ins Fahrerhaus kletterten, schüttelten sie sich die Hände und zogen sich dann in eine raue Umarmung. »Wir haben’s geschafft«, sagte der ältere Mann zwischen Hustenanfällen und hievte sich hoch auf den Fahrersitz. »Wir haben’s verdammt noch mal geschafft.«

Noch während er sprach, krochen die Mycobacterium tuberculosis-Organismen durch seine Lunge, wo sie Gewebe zerstörten, Löcher gruben und Lungenbläschen blockierten. In zwei Jahren würde er für sein Tun nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können.

2

2018 – Edinburgh

Der raue Nordwind in ihrem Rücken trieb Detective Chief Inspector Karen Pirie den gleichmäßig ansteigenden Leith Walk hinauf in Richtung Büro. Ihre Ohren kribbelten vom Wind und litten unter dem Knirschen, Bohren und Getöse von dem gewaltigen Abbruchobjekt am oberen Ende der Straße. Der geplante Bau mit seinen Luxuswohnungen, schicken Geschäften und Nobelrestaurants würde vielleicht Edinburghs Wirtschaft ankurbeln, aber Karen glaubte nicht, dass sie dort viel Zeit oder Geld lassen würde. Es wäre schön, dachte sie, wenn dem Stadtrat Ideen einfallen würden, die vor allem den Einwohnern zugutekämen und nicht den Touristen.

»Miesepetrige alte Schachtel«, murmelte sie vor sich hin, als sie auf den Gayfield Square bog und auf die niedrigen Betonklötze zuhielt, die die Polizeistation beherbergten. Über ein Jahr nach dem schmerzlichen Verlust, der Karen den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, gab sie sich bewusst Mühe, eine Bresche in die Schwermut zu schlagen, die ihr Leben wie Unkraut überwucherte. Allerdings musste sie zugeben, dass sie selbst an einem guten Tag noch lange nicht am Ziel war. Aber sie versuchte es.

Sie nickte dem uniformierten Polizisten am Empfang grüßend zu, hackte mit einem behandschuhten Finger auf das Tastenfeld ein und marschierte den langen Korridor entlang zu einem Büro, das wie ein unwillkommener nachträglicher Einfall hinten an das Gebäude angehängt war. Karen öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Ein Fremder saß an dem üblicherweise unbesetzten Schreibtisch im Raum, Füße auf dem Papierkorb, Daily Record aufgeschlagen im Schoß, in einer Hand ein mehliges Speckbrötchen.

Betont theatralisch trat Karen einen Schritt zurück und starrte auf das Türschild, auf dem »Historic Cases Unit« stand. Als sie sich wieder umwandte, war das Gesicht des dreisten kleinen Kerls immer noch auf die Zeitung gerichtet, aber sein Blick ruhte auf ihr, wachsam, bereit, sogleich zum Zeitungspapier zurückzugleiten, als wäre nichts gewesen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie hier zu tun glauben, Freundchen«, sagte sie beim Eintreten. »Aber eines weiß ich. Die Chance, einen guten ersten Eindruck zu machen, haben Sie längst vergeigt.«

Ohne Eile schob er die Füße vom Papierkorb zu Boden. Bevor er mehr sagen oder tun konnte, hörte Karen im Flur hinter sich vertraute schwere Schritte. Über die Schulter erblickte sie Detective Constable Jason »Minzdrops« Murray, der auf sie zusteuerte und versuchte, drei Becher mit Kaffee von Valvona & Crolla übereinander zu balancieren. Drei Becher?

»Hi, Boss, ich hätte ja gewartet, bis Sie da sind, aber Detective Sergeant McCartney, der hat nach einem Kaffee gelechzt, also hab ich mir gedacht, ich gehe eben …« Er bemerkte ihren eisigen Blick und schenkte ihr ein mattes Lächeln.

Karen durchquerte das Zimmer zu ihrem Schreibtisch, dem einzigen mit so etwas wie einer Aussicht. Die Beleidigung von einem Fenster ging über die Gasse auf eine leere Mauer hinaus. Karen starrte sie einen Moment lang an und bedachte dann den mutmaßlichen DS McCartney mit einem schmallippigen Lächeln. Er war vernünftig genug, die Zeitung zuzuschlagen, allerdings nicht so vernünftig, sich aufrecht hinzusetzen. Jason streckte sich vorsichtig zu seiner vollen Länge, um Karens Kaffee vor sie hinzustellen, ohne ihr zu nahe zu kommen. »DS McCartney?« Sie sagte es mit einer ordentlichen Portion Geringschätzung.

»Ganz genau.« Zwei Wörter genügten, um seine Herkunft zu verraten: Glasgow. Sie hätte es auch aufgrund seiner großtuerischen Ganovenart erraten können. »Detective Sergeant Gerry McCartney.« Er grinste, entweder hatte er nichts gemerkt, oder es war ihm egal. »Ich bin Ihre neue Kraft.«

»Seit wann das denn?«

Er zuckte mit den Schultern. »Seit die Assistant Chief Constable beschlossen hat, dass Sie eine brauchen. Offensichtlich findet sie, Sie brauchen einen Kerl, der weiß, wo’s langgeht. Hier wäre ich also.« Sein Lächeln wurde ein wenig säuerlich. »Direkt vom Major Incident Team.«

Die neue Assistant Chief Constable. Natürlich steckte sie dahinter. Als Karens ehemaliger Chef ins Kreuzfeuer eines Korruptionsskandals auf höchster Ebene geraten und zusammen mit dem Abfall entsorgt worden war, hatte sie gehofft, ihr Arbeitsleben würde sich zum Besseren wenden. Sie hatte nie in sein Bild davon gepasst, wie eine Frau sein sollte – unterwürfig, fügsam und dekorativ –, und er hatte immer erfolglos versucht, jede noch so kleine Unkorrektheit bei ihren Untersuchungen aufzudecken. Im Lauf der Jahre hatte Karen zu viel Energie damit vergeudet, seine Nase aus den Einzelheiten ihrer Ermittlungen herauszuhalten.

Als Ann Markie durch ihre Beförderung die HCU unterstellt worden war, hatte Karen sich eine weniger komplizierte Beziehung mit ihrer Chefin erhofft. Bekommen hatte sie etwas, das auf andere Weise kompliziert war. Ann Markie und Karen hatten dasselbe Geschlecht und den gleichen beeindruckenden Intellekt. Doch da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Markie trat jeden Tag fotogen und wie aus dem Ei gepellt zur Arbeit an. Sie war das glamouröse Gesicht der Police Scotland. Und sie stellte bei ihrem ersten Treffen klar, sie stehe zu hundertzehn Prozent hinter der Historic Cases Unit, solange Karen und Jason Fälle lösten, die die Police Scotland modern, engagiert und sozial aussehen ließen. Allerdings eher nicht, falls irgendwelche Idioten einen Monat mit der Suche nach einem als vermisst gemeldeten Mann zubringen sollten, der tot in seiner eigenen Wohnung lag. Ann Markie begeisterte sich für die Art von Gerechtigkeit, die sich in prägnante Clips für die Abendnachrichten fassen ließ.

Markie hatte erwähnt, dass das Budget möglicherweise für eine zusätzliche Kraft bei der HCU reichen würde. Karen hatte auf eine Zivilperson gehofft, die sich Verwaltungsaufgaben und einfachen Internetrecherchen widmete, damit Jason und sie ihren Scharfsinn an vorderster Front einsetzen konnten. Scharfsinn mochte vielleicht das falsche Wort sein, was Jason betraf. Aber auch wenn der Minzdrops nicht der Klügste war, besaß er doch eine Herzenswärme, die Karens gelegentliche Ungeduld zügelte. Sie waren ein gutes Team. Was sie brauchten, war Unterstützung im Hintergrund und keinen prahlerischen Glasgower Gockel, der glaubte, zu ihrer Rettung geschickt worden zu sein.

Er kam in den Genuss ihres strengsten Blickes. »Vom Major Incident Team zur Historic Cases Unit? Wem haben Sie denn auf die Fritten gepinkelt?«

Ein flüchtiges Stirnrunzeln, dann fing McCartney sich wieder. »Sehen Sie das vielleicht nicht als Beförderung?« Sein Unterkiefer schob sich ein Stück vor.

»Meine Vorstellungen stimmen nicht immer mit denen meiner Kollegen überein.« Sie nahm den Deckel von ihrem Kaffee und trank einen Schluck. »Solange Sie nicht glauben, es wäre Urlaub.«

»Nee, auf keinen Fall«, antwortete er. Jetzt richtete er sich auf seinem Stuhl auf und sah hellwach aus. »Beim MIT zollt man Ihnen gehörig Respekt«, fügte er rasch hinzu.

Karen verzog keine Miene. Jetzt hatte sie eine nützliche Sache über Gerry McCartney in Erfahrung gebracht – er war ein guter Lügner. Sie wusste ganz genau, wie viel Respekt ihre Abteilung bei Detectives genoss, die sich in Echtzeit mit verfahrenen Verbrechen herumschlugen. Sie hielten die HCU für Kinderkram. Wenn Karen einen Täter aus einem Altfall schnappte, wurde sie von den Medien als Heldin des Tages gefeiert. Wenn es ihr misslang? Tja, ihr sah keiner mit Argusaugen über die Schulter, nicht wahr?

»Jason arbeitet sich durch eine Liste mit Leuten, die 1986 einen roten Rover 214 besaßen. Sie können ihm dabei helfen.«

McCartneys Lippe zuckte leicht verächtlich. »Warum?«

»Eine Reihe brutaler Vergewaltigungen«, sagte Jason. »Er hat das letzte Mädchen so heftig geschlagen, dass es mit einem Hirnschaden im Rollstuhl gelandet ist. Sie ist erst vor zwei Wochen gestorben.«

»Was der Grund ist, weshalb neue Beweise aufgetaucht sind«, erklärte Karen. »Ein ehemaliges Straßenmädchen hat die Story in der Zeitung gesehen. Damals meldete sie sich nicht bei der Polizei, weil sie noch Drogen nahm und es sich nicht mit ihrem Dealer verderben wollte. Aber sie hatte ein kleines Notizbuch, in dem sie die Autos notiert hat, in die die anderen Frauen einstiegen. Erstaunlicherweise hatte sie es heute immer noch, irgendwo in einer alten Handtasche. Der rote Rover war in sämtlichen Nächten da, in denen die Vergewaltigungen stattfanden.«

McCartney hob seufzend die Augenbrauen. »Aber sie hat es nicht geschafft, das Kennzeichen aufzuschreiben. Ist das nicht typisch für eine Nutte?«

Jason blickte besorgt drein.

»Etwas, das Sie sich vielleicht merken sollten, Sergeant: In dieser Abteilung ziehen wir den Begriff ›Sexarbeiterin‹ vor«, sagte Karen. Es war kein Ton, der Widerspruch duldete. Gerry rümpfte die Nase, sagte aber nichts.

»Sie hat das Kennzeichen sehr wohl aufgeschrieben«, erklärte Jason fröhlich. »Aber die Tasche war auf dem Dachboden, wo die Frau jetzt wohnt, und die Mäuse haben sich darüber hergemacht. Die Seitenränder sind abgeknabbert. Alles, was wir haben, ist der erste Buchstabe: B.«

Karen lächelte. »Ihr beiden habt also die vergnügliche Aufgabe, die Unterlagen der Führerschein- und Kfz-Zulassungsstelle durchzugehen und die Fahrzeughalter von vor dreißig Jahren ausfindig zu machen. Irgendein Angestellter in der Führerscheinbehörde wird euch dafür lieben. Aber immerhin hat das Labor in Gartcosh aus den Beweisstücken, die seit all den Jahren in einer Schachtel herumliegen, DNA gewinnen können. Wenn wir also einen möglichen Verdächtigen finden, könnten wir ein schönes, sauberes Ergebnis erzielen.« Sie trank den Kaffee aus und warf den Becher in den Müll. »Viel Glück dabei!«

»Okay, Boss«, murmelte Jason, der sich bereits auf die Aufgabe konzentrierte. Geht mit gutem Beispiel voran, dachte Karen. Der Junge lernte dazu. Langsam, aber sicher lernte er dazu.

»Wohin gehen Sie?«, fragte McCartney, als sie sich zur Tür aufmachte.

Am liebsten hätte sie »Geht Sie nichts an« gesagt, doch sie entschied, dass sie es sich fürs Erste vielleicht nicht mit ihm verderben sollte. Jedenfalls nicht gleich. Solange sie ihn und seine Nähe zu Ann Markie noch nicht einschätzen konnte. »Ich bin auf dem Weg nach Granton, um mit einer der Restauratorinnen zu sprechen, die glaubt, sie habe vielleicht ein gestohlenes Gemälde in einer Privatsammlung gesehen.«

Abermals das leichte Lippenzucken. »Ich dachte nicht, dass das unser Ding wäre. Gestohlene Gemälde.«

»Ist es durchaus, wenn ein Wachmann bei dem Raub eine Ladung Schrotkugeln ins Gesicht bekommen hat. Vor acht Jahren, und das hier ist unser erster Hinweis, wo das Gemälde gelandet sein könnte.« Und weg war sie, die Route bereits in Gedanken planend. An Edinburgh gefiel ihr unter anderem, dass es leichter war, mit dem Bus und zu Fuß unterwegs zu sein, als sich ein Fahrzeug der Dienstflotte zu erstreiten. Alles, was einem das kleinliche Ausüben kleinlicher Macht ersparte, galt in Karens Augen als Vorteil. »Die Nummer sechzehn«, murmelte sie auf dem Weg zu den Bushaltestellen am Leith Walk. »Wunderbar.«

3

2018 – Wester Ross

Alice Somerville mühte sich mit der geschmeidigen Grazie einer Frau, die vierzig Jahre älter war als sie, vom Fahrersitz ihres Ford Focus. Ächzend streckte sie die Glieder, während sie in der kalten Brise zitterte, die vom Meeresarm am Fuß des Hanges herüberwehte. »Ich hatte vergessen, dass die Fahrt hier hoch so lang dauert«, murrte sie. »Die letzte Stunde nach Ullapool hat sich ewig gezogen.«

Ihr Ehemann richtete sich mühsam an der Beifahrerseite auf. »Und du warst diejenige, die Einspruch erhoben hat, als ich gestern Abend darauf bestand, einen Zwischenstopp in Glasgow einzulegen.« Er ließ die Schultern kreisen und bog den Rücken durch. »Wenn ich auf dich gehört hätte, wäre meine Wirbelsäule jetzt irreversibel geschädigt.« Er grinste sie an, ohne zu ahnen, wie dümmlich seine Gesichtszüge dabei aussahen. »Schottland erstreckt sich immer weiter, als man denkt.« Er wackelte mit je einem Bein, um seine Skinny Jeans wieder bis zu den braunen Lederschnürschuhen zu zwingen.

Alice zog den Haargummi von ihrem Pferdeschwanz und schüttelte das dunkle Haar aus. Als es um ihr Gesicht fiel, ließ es ihre spitzen Züge weicher erscheinen und betonte ihre geraden Brauen und hohen Wangenknochen. Sie öffnete den Kofferraum und holte ihren Rucksack heraus. »Letztes Jahr waren wir so aufgeregt, dass uns die Entfernung nicht weiter aufgefallen ist. Aber es ist hübsch. Schau dir die Berge an, wie sie da hinten beinahe miteinander zu verschmelzen scheinen. Und das Meer, diese großen heranwogenden Wellen. Es ist kaum zu fassen, dass das hier zum gleichen Land gehört wie Hertfordshire.«

Sie dehnte die Schultern und beugte sich dann zurück in den Wagen, um ein Blatt Papier herauszuholen, das sie vor der Abfahrt ausgedruckt hatte. »Das hier ist definitiv der richtige Ort.« Sie verglich die Abbildung auf dem Foto mit dem länglichen, flachen Bauwerk, vor dem sie geparkt hatten. Es war ein plumper Steinbau, der an der Seite des Hügels kauerte, aber offensichtlich vor Kurzem mit einem Auge für die ursprüngliche Linienführung renoviert worden war. Der Putz zwischen den Steinen war immer noch relativ frei von Moos und Flechten, die Fensterrahmen wirkten robust und gerade, ihre Farbe war nicht verwittert.

Will wirbelte herum und deutete auf ein zweistöckiges, weiß getünchtes Cottage auf der anderen Seite der Schlucht. »Und das muss Hamishs Haus sein. Sieht ziemlich schick aus für den Arsch der Welt.«

»Es ist kein Wunder, dass wir letztes Jahr nicht hergefunden haben. Laut Grantos Karte war das hier nichts weiter als eine Ruine. Ein Haufen Steine, der früher einmal ein Kuhstall war. Und es gibt keine Spur von der Schafhürde, die er als wichtigste Orientierungshilfe von der Straße aus eingezeichnet hatte.« Alice knurrte missbilligend. Sie wies auf den Hang, wo Dutzende Schafe an Gras knabberten, das schon ganz stoppelig aussah. »Wo auch immer ihr Weidezaun ist, jedenfalls nicht mehr auf dem Hügel da.«

»Aber jetzt sind wir hier. Dank Hamish.« Will holte eine große Reisetasche aus dem Auto. »Machen wir es uns gemütlich.«

Alice ließ den Blick durch die Schlucht schweifen. Das weiße Cottage sah verlockend nah aus, doch Hamish hatte sie gewarnt, zwischen ihnen läge ein tückisches Torfmoor. Zweifellos war das hier etwas ganz anderes als die makellose Landschaft bei ihnen zu Hause. Schlagen Sie es sich aus dem Kopf hinüberzulaufen, hatte er warnend in der E-Mail geschrieben, die er mit detaillierten Erklärungen und einer Wegbeschreibung geschickt hatte. Auf der unebenen einspurigen Straße war es eine knappe Meile, aber zumindest würden sie trocken und sicher dorthin gelangen. »So weit ist es gar nicht. Schätzungsweise dauert es nicht mehr als eine halbe Stunde, höchstens. Wir könnten doch rübergehen und kurz Hallo sagen. Es wäre schön, sich die Füße zu vertreten.«

»Wir haben Hamish gesagt, morgen, Alice. Ich möchte ihn nicht auf dem falschen Fuß erwischen. Vergessen wir nicht, dass er derjenige ist, der uns einen Gefallen tut. Außerdem müssen wir uns ums Abendessen kümmern. Ich habe jetzt schon riesigen Hunger. Was auch immer uns oben in Clashstronach erwartet, wird morgen früh auch noch da sein.« Der Ortsname ging ihm unbeholfen von der Zunge. Er zog Alice in einer einarmigen Umarmung zu sich. »Du bist immer so ungeduldig.«

Alice schnaubte, stellte sich jedoch auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. Dann ging sie den Steinplattenweg entlang zu dem von ihnen gemieteten Haus, das Hamish ihnen empfohlen hatte. Sie sah abermals auf dem Blatt Papier nach und tippte einen Code in das Sicherheitsschließfach. Es schwang auf und offenbarte zwei Schlüsselsätze an einem Haken. Will hielt kurz inne, um sich im Seitenspiegel zu mustern – die dunkelblonde Tolle saß, der Spitzbart war akkurat, keine Blutwurstreste vom Mittagessen zwischen den Zähnen –, bevor er ihr folgte.

Die Eingangstür führte in eine kleine Diele, eine offene Tür an der einen Seite ging in den Hauptraum des Häuschens. Ein Ende war als Küchenzeile gestaltet, komplett mit Gefrierkombination und Gasherd. Daneben ein rustikaler Esstisch aus Kiefernholz und vier Stühle mit Flechtlehnen und festgebundenen, bequem aussehenden Sitzkissen. Mitten auf dem Tisch stand eine Vase mit Gartenwicken. Alice nahm an, dass sie in Anbetracht von Klima und Jahreszeit künstlich sein mussten, aber sie sahen echt aus und ließen den Raum heimeliger wirken.

Am anderen Ende des Zimmers stand ein prall gepolstertes Sofa gegenüber von einem Flachbildfernseher, der über einem steinernen Kamin mit Brennofen hing, zu beiden Seiten ordentlich aufgestapelte Torfziegel. Der Kamin wurde von zwei Sesseln flankiert. »Sieht okay aus«, stellte Will fest.

»Ein bisschen spartanisch.« Alice lud ihren Rucksack auf einem der Küchenstühle ab. »Selbst mit den Bildern an den Wänden.« Sie wedelte in Richtung der Fotos von wilden Meereslandschaften und Felsen.

»Hamish hat geschrieben, sie seien erst vor ein paar Wochen mit der Arbeit fertig geworden«, rief er ihr ins Gedächtnis, während er zu den beiden Türen am gegenüberliegenden Ende des Raumes ging. Er öffnete die linke, die in ein elegant gefliestes Badezimmer mit einem langen Panoramafenster mit Blick auf den Meeresarm führte. »Wow!«, entfuhr es ihm. »Eine Wahnsinnsaussicht beim Baden oder Duschen.«

Alice sah über seine Schulter. »Wenigstens befindet sich die Toilette hinter einem Sichtschutz«, sagte sie.

»Wie spießig«, neckte er sie.

Alice, die im Allgemeinen gut austeilte, bohrte ihm sanft den Finger in die Rippen und sagte: »Ich möchte nur niemandem einen Anblick zumuten, der ihn sein ganzes Leben lang verfolgt.«

Die andere Tür führte in ein Schlafzimmer, das einfach eingerichtet war mit einem großen Doppelbett und einer Garnitur dazu passender Kiefernmöbel, die offensichtlich aus einem Mitnahme-Einrichtungshaus stammten. Die Show stahl ihnen ein weiteres Panoramafenster mit einem atemberaubenden Ausblick auf das Meer und blaugraue Berge, die am Horizont ineinander übergingen. »Nicht übel«, sagte Alice.

Will ließ die Reisetasche aufs Bett fallen. »Es ist viel komfortabler als alles, was Long John Silver und Jim Hawkins auf ihrer Schatzsuche hatten. Ich geh die Einkäufe reinholen.«

Als er sich umdrehte, trat Alice näher und griff um ihn herum, Hände auf seinen Gesäßbacken, und zog ihn an sich. »Dafür ist immer noch reichlich Zeit«, murmelte sie und strich mit den Lippen an seinem Hals entlang, ihr Atem warm und spielerisch an seiner Haut. »Das hier ist echt aufregend, Will. Ich habe das Gefühl, dass wir kurz davor stehen, Grantos richtiges Erbe aufzuspüren.«

Eine Schatzsuche, fand Will, hatte etwas für sich. Nach drei Ehejahren regte sich bei Alice die Lust auf Sex weniger häufig. Doch die Vorbereitungen auf diese Expedition und die Vorstellung, wozu sie führen könnte, hatte in ihr eine Erregung ausgelöst, die er nur zu gern ausnutzte. »Da kommt von mir keine Widerrede.« Er schlang die Arme um sie, zufrieden, dass immer noch so wenig Ermunterung ihrerseits nötig war, damit sein Körper reagierte. Er ließ sich nach hinten fallen.

Sie küsste ihn abermals, diesmal auf den Mund, und verlagerte ihr Gewicht, sodass er auf dem Bett eingeklemmt war. Eine Hand ließ sie zwischen sie gleiten. »Mmm, das merke ich.«

»Wir sollten öfter auf Schatzsuche gehen.« Und dann war genug geredet.

4

2018 – Edinburgh

Die beiden Frauen, die am Tisch hinter Karen in ein Gespräch vertieft waren, wirkten völlig fehl am Platz. Sie beobachtete sie im Spiegel an der Wand des Café Aleppo, und wenn sie sich konzentrierte, verstand sie jedes Wort ihrer Unterhaltung. Ironischerweise hätte sie ihnen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, wären sie in ihrem natürlichen Habitat gewesen – schätzungsweise in Bruntsfield oder Morningside, beim Trinken eines Wiener Filterkaffees in der deutschen Konditorei oder eines Flat White in einem schicken Hipster-Café. Doch es musste einen Grund geben, weshalb weiße Frauen undefinierbaren Alters aus der Mittelschicht ganz unten am Leith Walk über kleinen Gläsern mit Mirans starkem Kardamomkaffee die Köpfe zusammensteckten.

Karen war der einzige andere Gast, der nicht aus dem Nahen Osten stammte, und sie hatte ihre eigenen Gründe für ihre Anwesenheit. Zum einen lag das Café mehr oder weniger auf halber Strecke zwischen dem Depot und ihrem Büro, und sie hatte einen Kaffee gebraucht, um sich nach einer Stunde künstlerischen Geschwafels unten in Granton zu erholen. Zum anderen musste sie sich überlegen, was es bedeutete, dass ihr Ann Markies Strohmann aufgezwungen worden war. Sie konnte sich eine Auszeit nehmen, um sich Gedanken über DS Gerry McCartney zu machen, weil sie mit absoluter Sicherheit wusste, dass ihr hier keiner ihrer Kollegen zufällig über den Weg lief. Ein gemeinnütziges, von einer Gruppe syrischer Flüchtlinge geführtes Lokal war kein Ort, den sich viele Polizeibeamte für ihre Mittagspause aussuchten.

Das war nicht der einzige Grund für Karens Besuch. Sie war Miran und den anderen Syrern zuerst auf ihren nächtlichen Spaziergängen durch die Stadt begegnet. Sie hatten sich unter einer Brücke um eine Feuerstelle gedrängt, weil sie über keinen anderen Treffpunkt verfügten. Karen hatte eine seltsame Verbundenheit mit ihnen verspürt und ihnen geholfen, die Kontakte zu knüpfen, die zur Gründung des gemeinnützigen Cafés nötig waren. Jedes Mal war es ihr peinlich, dass man dort deshalb ihr Geld nicht nahm. Aus ihrer Perspektive hatte sie ihnen nicht groß auf die Sprünge geholfen, sondern eher eine Schuld beglichen. Sie sahen das anders und weigerten sich regelmäßig, sie zahlen zu lassen. Karen hatte eingewandt, für einen Außenstehenden könnte es aussehen, als würden sie versuchen, eine Detective Chief Inspector zu bestechen. Miran hatte gelacht. »Ich glaube, keiner, der Sie kennt, wäre so dumm.«

Folglich überschlug sie immer den Preis dessen, was sie verzehrte und trank, und ließ einen angemessenen Betrag in die Spendendose für den wohltätigen Verein fallen, der Menschen unterstützte, die nicht das Glück gehabt hatten, der Hölle zu entkommen, in die Syrien sich verwandelt hatte. Mirans Ehefrau Amena hatte ihr einmal in die Augen gesehen und leicht anerkennend genickt. Wenn Karen in Edinburgh irgendwo hingehörte, dann ins Aleppo.

Doch diese beiden Frauen mit ihren professionell gefärbten Haaren, den dezenten Goldohrringen und Kaschmirtüchern passten überhaupt nicht her. Gewöhnlich herrschte im Aleppo kein Mangel an schottischer Kundschaft, doch das waren Leute aus dem Stadtteil Leith – Anwohner, die wegen des authentischen nahöstlichen Essens und des unerbittlich starken Kaffees kamen. Ganz anders als diese Frauen. Da es Karen nie völlig gelang, außer Dienst zu sein, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ein Gespräch, das wahrscheinlich nicht für andere Ohren bestimmt war.

Die Blondine-mit-dunklen-Strähnchen nickte der Brünetten-mit-hellen-Strähnchen mitfühlend zu. »Wir waren alle schockiert«, sagte sie. Abgeschwächter Edinburgh-Dialekt, sonor und tief. »Ich meine, natürlich waren wir einfach fassungslos, als du uns erzählt hast, er habe versucht, dich zu erwürgen, aber es war einfach irrsinnig, dass er mitten in eine Abendgesellschaft platzt und es zugibt.« Nun war Karen voll und ganz gefesselt. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit.

»Er hat versucht, sich herauszureden.« Die Vokale der anderen Stimme klangen ein bisschen anders. Vielleicht Perthshire? »Hat Reue gezeigt. Damit euch der arme Logan leidtut und ihr mir die Schuld gebt. Ihm war nicht klar, dass es zu spät war. Dass ich längst zur Polizei gegangen war.«

»Aber jetzt weiß er das doch, oder?«

Die Brünette lachte spöttisch auf. »Darauf kannst du wetten. Nächste Woche wird er offiziell vernommen.« Karen entspannte sich ein wenig. Zumindest hatte man die Frau ernst genommen. Auch wenn das eine Frage der sozialen Schicht sein konnte. Es war bedauerlich, aber eine Frau wie sie, die eine derartige Beschuldigung vorbrachte, würde immer mehr Aufmerksamkeit ernten als jemand weiter unten auf der sozialen Leiter.

Das leise Klirren von Glas auf Untertasse. Tiefes Einatmen. Dann sagte die Blondine behutsam, sich herantastend: »Meinst du nicht, dass es, während ihm das droht, nicht unbedingt der beste Zeitpunkt ist, um nach Hause zurückzuziehen?«

Ach was, dachte Karen.

»Er muss ausziehen.« Resolut. Gelassen. Eine Frau, die eine Entscheidung getroffen hatte. »Ich muss mit den Kindern wieder ins Haus zurück. Es ist verrückt, dass wir in Fionas Einliegerwohnung hausen, während er in unserem Zuhause wohnt. Er ist derjenige, der die Hypothekenraten nicht gezahlt hat. Er ist derjenige, der eine halbe Million Pfund unseres Geldes verloren hat bei Sportwetten, von denen er nichts versteht. Er ist derjenige, der die Affäre hatte. Er ist derjenige, der die Hände um meine Kehle gelegt und versucht hat, mich zu erwürgen.« Ihre Stimme war ruhig, beinahe roboterhaft. Karen warf noch einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Die Sprecherin sah so entspannt aus, als bespräche sie ihren wöchentlichen Online-Einkauf bei Waitrose. Das Ganze hatte etwas Bühnenhaftes, fast, als wäre es eine absichtsvolle Darbietung. Allerdings musste Karen einräumen, dass sie von Natur aus misstrauisch war.

»Das stimmt alles, Willow. Aber was wirst du tun, falls er sich weigert zu gehen?«

Willow seufzte. »Ich werde einfach dafür sorgen müssen, dass er es einsieht, Dandy. Denn Fionas guter Wille neigt sich allmählich dem Ende zu. Ich werde an seine Liebe zu den Kindern appellieren.«

»Du kannst nicht allein in das Haus gehen. Du kannst nicht ohne Verstärkung einen Mann zur Rede stellen, der versucht hat, dich zu erwürgen. Ich sage Ed, dass er dich begleiten soll.«

Willow stieß ein Lachen aus, das, so vermutete Karen, in einer bestimmten Sorte von Illustrierten als glockenhell beschrieben werden würde. »Ich versuche, die Situation zu entschärfen. Ed ist ungefähr zehn Zentimeter größer und fünfzehn Zentimeter breiter als Logan. Das würde die Sache nur schlimmer machen. Hör mal, er hat seine Lektion gelernt. Er hat schon die Polizei am Hals. Er wird die Sache nicht noch eskalieren lassen.«

Dandy – Dandy? Wer benannte sein Kind nach einem Comic? – seufzte. »Ich glaube, du interpretierst es völlig falsch. Er hat nichts mehr zu verlieren, Willow. Er hat kein Geld, keine Arbeit. Wenn die Polizei mit ihm durch ist und er eine Vorstrafe wegen häuslicher Gewalt hat, werden ihn die Familiengerichte nicht mehr allein in die Nähe der Kinder lassen. Wenn du ihn obendrein noch hinauswirfst, wird er obdachlos sein, denn nach allem, was wir jetzt wissen, wird ihn keiner von uns bei sich aufnehmen.«

»Geschieht ihm recht.« Willows Stimme war seltsam ausdruckslos und kalt.

Eine lange Pause. Lang genug für Karen, um am Kaleidoskop zu drehen und sich ein anderes Bild zu machen.

»Ich sage ja nicht, er hätte nicht das und noch viel mehr verdient. Aber betrachte es mal einen Moment von seiner Perspektive aus, Willow«, fuhr Dandy fort. »Im Moment ist das Dach über seinem Kopf das Einzige, was er noch hat. Wenn du versuchst, ihm das wegzunehmen … wer weiß, wie er darauf reagiert.«

Karen schlüpfte in ihren Mantel und erhob sich. Sie trat neben den Tisch der beiden und bemerkte die verwirrte Verblüffung auf den Gesichtern der Frauen, als sie ihre Gegenwart registrierten. »Es tut mir leid, Sie zu unterbrechen, meine Damen«, sagte sie. »Aber ich habe eben Ihr Gespräch mitbekommen.« Sie schenkte ihnen ein besonders herzliches Lächeln. Die beiden waren höflich; sie konnten nicht anders, sie mussten es erwidern. »Ich bin Polizeibeamtin.« Da verschwand das Lächeln. »Ich wollte nur sagen, nach meiner Erfahrung – wenn man jemanden, der nichts mehr zu verlieren hat, in die Ecke drängt, jemanden, der schon einmal die Hände um Ihre Kehle hatte? So etwas kann Frauen das Leben kosten.«

Dandy schob den Stuhl nach hinten, sie schauderte mit entsetzt verzerrtem Gesicht angesichts dieser schroffen Wahrheit. Doch Willow wurde reglos wie eine Katze, die ihrer Beute auflauerte. »Logan würde Willow niemals umbringen«, protestierte Dandy.

»Am besten geht man jeder Möglichkeit aus dem Weg. Am besten vermeiden Sie einen Showdown zwischen Ihnen beiden. Besonders in einer Küche, die mit scharfen Messern ausgestattet ist«, riet Karen.

»Das ist lächerlich. Ich muss mir das nicht anhören.« Willow stand auf und legte sich ihr Tuch um. »Ich gehe auf die Toilette, Dandy, dann kümmere ich mich um die Rechnung. Ich sehe dich draußen.«

Karen sah ihr nach und wandte sich dann wieder an Dandy, die immer noch wie vor den Kopf gestoßen dasaß und sich nicht rührte. »Da ist noch etwas, was ich sagen möchte, Dandy. Ich bin ein misstrauischer Mensch. Das gehört zu meinem Beruf. Und während ich eben Ihrer Freundin zugehört und mit angesehen habe, wie gefasst sie war, habe ich mich unwillkürlich gefragt, was hier wirklich vor sich geht. Hat sie tatsächlich Angst vor ihm? Oder leistet sie für etwas ganz anderes Vorarbeit? Heutzutage sind die Gerichte ausgesprochen wohlgesinnt bei Frauen, die sich verteidigen, wenn sie unmittelbar um ihr Leben fürchten müssen durch Männer, die ihnen gegenüber bereits erwiesenermaßen gewalttätig waren.«

Jetzt war Dandy aufgesprungen. »Wie können Sie es wagen!«

Karen zuckte mit den Schultern. »Ich kann es wagen, weil es genauso meine Aufgabe ist, Logan zu beschützen wie Willow. Sind Sie sicher, dass Sie hier nicht gerade zu einer Entlastungszeugin gemacht werden? Die praktischerweise die Fassung der Ereignisse ihrer Freundin bestätigen kann?«

»Das ist unerhört! Wie heißen Sie? Ich werde mich über Sie beschweren!«, rief Dandy, sodass sich die Blicke aller anderen Gäste auf sie richteten.

Karen machte zwei Schritte auf die Tür zu und drehte sich dann noch einmal um. »Ich werde die Nachrichten genau verfolgen, Dandy. Ich hoffe nur, dass ich weder Sie noch Ihre Freundin Willow je wiedersehen muss.« Auf dem Weg nach draußen ließ sie ein paar Münzen in die Spendendose fallen und fragte sich, ob sie sich eben völlig zum Narren gemacht oder ein Menschenleben gerettet hatte.

5

2018 – Edinburgh

Als Karen am Abend DCI Jimmy Hutton von der Begegnung erzählte, hörte sie zu ihrer Genugtuung, dass er nicht fand, sie hätte überreagiert. Sie saßen in Karens Wohnung im Hafenviertel, die Lichter gedimmt, und zwar nicht aus irgendeinem romantischen Motiv heraus, sondern weil sie beide den dramatischen Ausblick auf den Firth of Forth vom Panoramafenster des Wohnzimmers aus genossen. Jede Woche bot sich ein anderes Bild, je nach Wetterlage, Jahreszeit und dem Verkehr in dem breiten Mündungsgebiet.

»Übrigens finde ich, dass du das Richtige getan hast, Karen«, sagte Jimmy und griff nach dem Eiskübel, um seinem Strathearn Rose Gin noch einen Würfel hinzuzufügen. Dies war zu ihrem Ritual geworden. Angefangen hatte es als regelmäßige Montagabend-Session, aber aufgrund der Arbeitsbelastung war es heutzutage ein flexibel verschiebbarer Genuss. Karens Wohnung, eine Auswahl an Gin und die jeweiligen Zutaten. Die mit jedem Monat, der verstrich, immer opulenter wurden. Allerdings waren sie nicht so weit gegangen, den Drink zu mixen, für den man das Tonicwater eines kleinen unbekannten Privatabfüllers plus einen speziellen Seetangaufguss und eine Scheibe rosa Grapefruit brauchte.

»Ich will einen Gin Tonic und keine japanische Teezeremonie«, hatte Karen erklärt. »Und hast du überhaupt gesehen, wie viel das Seetangwasser kostet?«

Die Gin-Abende hatten als gegenseitige Selbsthilfegruppe nach dem Tod von Phil Parhatka, Karens Geliebtem, angefangen. Als Polizeibeamter war er im Dienst ums Leben gekommen. Karen hatte geglaubt, die Auswirkungen eines plötzlichen gewaltsamen Todes auf die Hinterbliebenen zu begreifen. Bis sie es selbst erlebte, war ihr nicht klar gewesen, wie dieser eine Linie durch das eigene Leben schnitt. Sie hatte das Gefühl, als seien die Verbindungen zwischen ihr und dem Rest ihres Lebens durchtrennt worden. Anfangs hatte sie es nicht ertragen, mit jemandem darüber zu reden, was geschehen war und was es bedeutete, weil niemand sonst ihr besonderes Wissen besitzen konnte.

Dann war Jimmy, Phils ehemaliger Vorgesetzter, eines Montagabends mit einer Flasche Gin vor ihrer Wohnung aufgetaucht, und Karen hatte instinktiv gewusst, dass in ihm der gleiche Kampf wie in ihr vor sich ging. Sie brauchten beide eine Weile – lange Abende mit Gesprächen über die Arbeit, schottische Politik und die Macken ihrer Kollegen –, aber letztlich brachen sie ihr Schweigen und teilten ihre Trauer.

Mittlerweile war eine feste Institution daraus geworden. Jimmys Ehefrau hatte Karen auf der Weihnachtsfeier seines Teams erzählt, der Gin sei billiger als ein Therapeut, und es tue ihrem Mann gut. Es war so etwas wie eine Erlaubnis, eine Methode, Karen zu verstehen zu geben, sie sähe sie nicht als Bedrohung für ihre Ehe. Allerdings hatte Karen sich nie als Bedrohung für irgendeine Ehe betrachtet. Sie war, wie sie wusste, die Art Frau, die Männer entweder geringschätzig oder aber wie eine etwas furchteinflößende große Schwester behandelten. Nur Phil hatte mehr in ihr gesehen. Nur Phil hatte sie wirklich gesehen.

»Ich saß da und hörte diesen Frauen zu und musste unwillkürlich an dich und Phil und den Rest eurer Einheit denken. Wenn ich beim Team zur Prävention von Tötungsdelikten gewesen wäre, hätte ich dort sitzen und nichts sagen können? Die Antwort war offensichtlich«, sagte Karen.

»Du würdest es dir nie verzeihen, wenn du den Mund gehalten hättest und etwas Schreckliches passieren sollte.«

Karen lachte leise in sich hinein. »Ich weiß. Aber gleichzeitig habe ich mich gefragt, ob ich mich in den Minzdrops verwandele.«

»Wie das?«

Mit einem Seufzen starrte sie in ihren Drink. »Er hat mir erzählt, sein neues Motto lautet: ›Was würde Phil tun?‹ Was mir keine andere Wahl gelassen hat, als im Aleppo etwas zu sagen, denn Phil hätte sich sofort eingemischt.«

»Das ist doch gut, oder? Dass Jason so denkt?«

Karen verzog den Mund zu einem süffisanten Lächeln. »Natürlich. Er lernt, ein besserer Polizist zu sein. Aber es ist mir ein bisschen unheimlich, wenn ich dieses Stirnrunzeln in seinem Gesicht sehe und weiß, er versucht gerade, einen Mann nachzuahmen, dem er nie das Wasser reichen wird.«

»Ach ja, da ist der Minzdrops nicht der Einzige.«

»Und apropos nie an Phil heranreichen – diese verfluchte Ann Markie hat mir einen Mitarbeiter geschickt.«

Jimmys Lächeln war schief. »Ich gehe mal davon aus, dass du nicht beeindruckt bist.«

»Ich wollte jemanden für den Schreibkram, damit Jason und ich für die eigentlichen Ermittlungen frei sind. Ich habe gedacht, vielleicht jemand kurz vor der Pensionierung, der nicht mehr raus auf die Straße will, aber in dem noch ein bisschen Eifer steckt, die Bösewichte hinter Gitter zu bringen. Und was hat sie mir geschickt? Einen Deppen aus Glasgow, der so aufgeblasen ist, dass es mich wundert, dass es noch nicht peng gemacht hat.«

Jimmy konnte ein glucksendes Lachen nicht unterdrücken. »Es tut mir leid, ich sollte nicht lachen, aber der Hundekuchen weiß echt, wie du tickst. Sie weiß genau, wie sie dich in Rage bringt.«

Karen hielt inne, ins Stocken geraten durch eine Bezeichnung, die ihr bisher noch nicht zu Ohren gekommen war. Cops – und Journalisten, wie sie sich hatte sagen lassen – suchten immer Spitznamen für ihre Kollegen und Vorgesetzten. Je schwerer verständlich, desto besser, falls es unbefugte Lauscher gab. Daher der Minzdrops, so genannt, weil es eine Süßwarenmarke namens Murray Mints gab. Darüber hinaus lautete deren Werbespruch »So gut, dass man sie einfach langsam auf der Zunge zergehen lassen muss«, was perfekt auf einen Polizisten passte, der nicht allzu schnell schaltete. Karen kannte ihren eigenen Alias nicht und hatte nichts dagegen, wenn das so bliebe. Sie hatte eine Ahnung, dass es sich wie eine Kränkung anfühlen würde. »›Hundekuchen‹?«, wiederholte sie.

Jetzt grinste Jimmy vor Entzücken, weil er etwas wusste, was seine Freundin nicht wusste. »Du kennst doch diese Hundekuchen, die wie Markknochen aussehen sollen, aber stattdessen an kleine Hotdogs erinnern? Die heißen Markies.«

Karen kapierte es. »Super.«

»Ja. Ein paar Leute haben es mit Sparks versucht, nach Marks and Spencer, aber das hat sich nicht durchgesetzt.«

»Zu heimelig«, sagte Karen. »Hundekuchen gefällt mir. Genau der richtige Grad an Respektlosigkeit. Wie dem auch sei, dieser Kerl, den sie mir aufgebrummt hat, ein Sergeant namens McCartney, er behauptet, vom Major Incident Team gekommen zu sein. Was für mich keinen Sinn ergibt, es sei denn, er hat echt was verbockt. Keiner mit dem geringsten bisschen Ehrgeiz sucht sich die Historic Cases Unit aus.«

»Du schon.«

Karen schüttelte den Kopf. »Eine andere Art von Ehrgeiz. Ich habe nicht das geringste Verlangen, mich die Karriereleiter der Police Scotland hochzuquälen, das ist wie eine nach unten fahrende Rolltreppe hochzulaufen. Mein Ehrgeiz gilt der Aufklärung von Fällen, bei denen alle anderen aufgegeben haben. Antworten bereitzustellen für Menschen, die schon viel zu lange darauf warten, herauszufinden, wer ein Loch in ihr Leben gerissen hat und warum.«

»Berechtigter Einwand. Du glaubst, der Hundekuchen hat ihn dorthin versetzt, um ein wachsames Auge auf dich zu haben?«

»Ich weiß es nicht. Bei der Sache mit Gabriel Abbott habe ich mich ziemlich hart an der Grenze des Erlaubten bewegt. Wenn es die Makrone nicht erwischt hätte, hätte ich möglicherweise tief in der Scheiße gesteckt. Ich frage mich bloß immer wieder, ob ich den einen Vorgesetzten, der mir den Garaus machen wollte, einfach gegen die nächste Version eingetauscht habe.«

»Womit wirst du den neuen Knaben also beschäftigen?«

»Ich lasse ihn gerade die Besitzer roter Rover 214 aus den Achtzigerjahren ausfindig machen.« Ein boshaftes Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Die Hälfte wird tot sein. War es nicht vorgeschrieben, im Besitz eines Rentenausweises und eines kleinen Tweedhuts mit Feder dran zu sein, bevor man sich so einen kaufen durfte?«

»Oder aber man arbeitete für eine Firma, deren Flottenkäufer jeden hasste, der einen Firmenwagen bekam. Aber ein paar sind bestimmt noch am Leben. Es besteht die geringe Chance, dass es keine Sackgasse ist. So ist das mit Altfällen. Manchmal ist es das am wenigsten erfolgversprechende Ende, womit sich das Ganze aufdröseln lässt.«

»Soll ich sehen, was ich über diesen McCartney herausfinden kann?«

Karen griff nach dem Strathearn und schenkte sich nach. »Na, du bist um einiges näher dran am schlagenden Herzen der Police Scotland als ich. Bloß keine Umstände, aber sollte dir etwas zu Ohren kommen …« Sie schob ihm die Flasche hin.

»Kein Ding. Schon erledigt!«

»Und bis ich was von dir höre, werde ich McCartney einfach als den Schoßhund des Hundekuchens betrachten.«

6

2018 – Wester Ross

Wenn Alice den idealen Highland-Bauern hätte beschreiben sollen, hätte er stark dem Mann geähnelt, der die Tür des weißen Cottages öffnete, als ihr Wagen neben einem sieben Jahre alten Toyota Landcruiser zum Stehen kam, dessen Radläufe mit einer derart dicken Schlammschicht verkrustet waren, dass sie einer Glaswolleisolierung ähnelte.

Er war knapp zwei Meter groß. Sein Haar, das die gleichen Schattierungen aufwies wie die Torfziegel, die in ihrem Wohnzimmer aufgeschichtet waren, fiel ihm in widerspenstigen Locken auf die Schultern. Der üppige Bart sah so weich aus, dass sie am liebsten das Gesicht darin vergraben hätte. Er trug einen weiten, handgestrickten Pullover in Waldbeerenfarbe über einem Kilt, der schmale Hüften und muskulöse Waden betonte. Dicke Wollstrümpfe warfen über einem Paar abgenutzter Arbeiterstiefel Falten. Er war nicht unbedingt schön. Aber prächtig. Entweder war das Hamish Mackenzie, ging es ihr durch den Kopf, oder irgendein Prinz aus Game of Thrones.

Er trat aus dem Türrahmen, ein Begrüßungslächeln im Gesicht. »Alice«, sagte er, als sie aus dem Wagen stieg. »Und Will. Es ist schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Hamish.« Sein Griff um ihre Hand war warm. Seine Haut fühlte sich trocken und schwielig an. Wills Finger in ihrem Kreuz waren weich, wie sich Alice auf einmal bewusst wurde. Die andere Hand streckte er Hamish entgegen. »Kommen Sie rein, wir genehmigen uns einen Kaffee und werfen noch mal einen Blick auf die Karten, in natura sozusagen.« Seine Stimme war tief, und unter der Oberfläche schien ein Hauch Belustigung mitzuschwingen.

Sie folgten ihm in eine Küche, die sich auf undefinierbare Weise männlich anfühlte. Edelstahl und auf weichen Glanz polierte Eiche, die Art von Küchengeräten, die Alice bisher immer nur in schicken Kochsendungen gesehen hatte, gerahmte einfarbige Drucke von Obst und Gemüse aus ungewöhnlichen Winkeln. »Nehmen Sie Platz.« Hamish wedelte in Richtung einer Frühstückstheke, während er an einen Kaffeeautomaten trat, der kompliziert genug aussah, um an der nächsten Marsmission beteiligt zu sein. »Espresso? Flat White?« Eine Pause, und dann, die Stimme zwei Tonlagen tiefer: »Latte?«

»Flat White ist super«, sagte Alice.

Will runzelte die Stirn. »Für mich einen Latte.«

»Ich mag zur Abwechslung mal einen Flat White.« Sie versuchte, nicht defensiv zu klingen.

Eine Unterhaltung war unmöglich, während die Maschine ächzte und zischte und spuckte und keuchte, doch Hamish hatte auf der Frühstückstheke eine Reihe Landkarten ausgebreitet, über die Alice sich begierig hermachte. »Das ist die Karte von meinem Granto«, sagte sie geistesabwesend und schob sie beiseite, um die beiden Karten zu mustern, die, wie sie annahm, Hamish gezeichnet hatte. Eine zeigte den Bauernhof und seine Umgebung, wie es jetzt war, einschließlich des Ferienhäuschens. Die Karte darunter wies am oberen Rand eine Notiz auf: Zusammengeschustert aus alten amtlichen topografischen Karten, Gemeindekarten und einer aus der Bücherei in Inverness. 1944 hat es wahrscheinlich ungefähr so ausgesehen. Seine Schrift war ordentlich und leserlich, die Karten exakt und sorgfältig gezeichnet.

»›Granto‹?«, fragte Hamish.

»So haben wir meinen Großvater genannt.«

Hamish brachte die Tassen herüber, die in seinen großen Händen wie für Zwerge wirkten. »Es ist verständlich, dass es Ihnen bei Ihrem Streifzug letzten Sommer entgangen ist. Kaum ein Erkennungszeichen steht noch. Beziehungsweise steht noch in einer erkennbaren Form.« Er reichte ihnen die Getränke und wies auf das Häuschen, in dem sie wohnten. »In dunkler Vorzeit war das mal ein Kuhstall. Im Winter voller Vieh. Aber wir haben vor ein paar Generationen die Rinderzucht aufgegeben, und der Stall verfiel im Lauf der Jahre völlig. Zur Zeit Ihres Großvaters sah es wahrscheinlich nach einem Schutthaufen aus.« Er deutete auf die Skizze ihres Großvaters von der Schlucht. »Und diese Schafhürde hier ist längst fort. Wir haben jetzt einen richtigen Pferch, gleich hinter der Hügelkuppe.«

»Ich sehe, wie es zusammenpasst.« In Alice’ Stimme vibrierte freudige Erregung.

»Ich finde es erstaunlich, dass Sie es wiedererkannt haben, Hamish«, sagte Will. »Ich weiß nicht, wie es mir ergangen wäre.«

Hamish zuckte mit den Achseln. »Ich kenne dieses Land seit meiner frühesten Jugend. Als Sie die Karte Ihres Großvaters auf unserer örtlichen Facebook-Seite gepostet haben …« Er hob eine Schulter und zuckte lässig. »Ich habe die Ähnlichkeiten gesehen. Und mich hat die Neugier gepackt.«

Er war neugierig genug gewesen, um auf Alice’ Post zu antworten und nachzufragen, ob sie wisse, wo ihr Großvater 1944 stationiert gewesen wäre. Als sie preisgab, dass es sich um Clachtorr Lodge gehandelt hatte, bloß zwei Meilen entfernt, war die Sache klar gewesen.

»Wenn man erst mal weiß, wonach man sucht, ist es offensichtlich«, sagte Will und lehnte sich mit Kennermiene zurück, als wäre die Entdeckung irgendwie auch sein Verdienst. »Also, wie ist der Plan? Wie wollen wir vorgehen?«

»Hamish, das ist superleckerer Kaffee«, warf Alice ein. »Wow!«

»Danke, ich hoffe doch, dass man mir beim Zubereiten einer anständigen Tasse Kaffee nichts vormachen kann.« Der große Mann lächelte und neigte das Kinn zufrieden.

Will nippte widerstrebend an seinem Latte. »Ziemlich gut«, räumte er ein. »Noch mal, wie sieht unser Plan aus?«

Hamish ließ sich mit leicht verschämter Miene auf einem Barhocker gegenüber von ihnen nieder. »Ich habe ein Geständnis abzulegen«, sagte er. »Als wir übereinkamen, dass das hier höchstwahrscheinlich der Ort ist, an dem Ihr Großvater seinen Schatz vergraben hat, habe ich mir einen Metalldetektor ausgeliehen und mich ein bisschen umgeguckt, um zu sehen, ob da irgendetwas ist.«

»Wow!«, entfuhr es Alice abermals. »Und haben Sie was gefunden?«

»Allerdings. Es gab zwei Stellen, wo er wie eine Sirene losging. Gleich nebeneinander und ungefähr dort, wo Ihr X die Stelle markiert.«

»Unglaublich«, sagte Alice freudestrahlend.

»Sagen Sie nicht, dass Sie schon mit dem Graben angefangen haben.« Wills Lächeln war so unecht wie ein Verlobungsring aus dem Kaugummiautomaten.

»Natürlich nicht. Das hier ist Ihr Ding, Alice. Das will ich Ihnen auf keinen Fall verderben. Ich habe nur die Stelle mit einer Schnur und zwei Eisenpflöcken markiert, bloß als kleine Hilfe.« Hamish war eher belustigt als empört, wozu er, wie Alice fand, durchaus berechtigt gewesen wäre.

»Nicht jeder ist so ungeduldig wie ich, Will«, schalt sie ihn. »Danke, Hamish. Das ist echt nett von Ihnen.«

Hamish trank seinen winzigen Espresso in einem Zug leer und grinste. »Eigentlich nicht, ich war fasziniert. Glauben Sie mir, das ist in dieser Gegend das aufregendste Ereignis, seit Willie Macleods Bulle von der Landspitze gefallen ist und auf den Felsen festsaß, als die Flut einsetzte.«

Sie war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte oder das Bild von einem Highland-Bauern in ihren Köpfen bediente, aber sie lachte trotzdem glucksend. »Na, für mich ist es auch aufregend. Granto sprach so oft von seinen Highland-Abenteuern während des Kriegs, dass es sich für mich beinahe anfühlt, als wäre ich selbst dabei gewesen.«

»Wie packen wir die Sache denn jetzt an?«, fragte Will, die kaputte Schallplatte, die im Hintergrund sprang und klackte.

Hamish erhob sich und räumte seine Tasse in den Geschirrspüler. »Ich habe mir gedacht, das Einfachste wäre, den kleinen Bagger zu benutzen, um die oberen Torfschichten abzuräumen, vielleicht ungefähr einen Meter tief oder so. Danach heißt es leider ein bisschen Knochenarbeit für uns.« Er musterte die beiden von Kopf bis Fuß. »Sie sind nicht wirklich passend gekleidet, was?«

»Wir haben Gummistiefel im Auto«, sagte Alice.

»Immerhin«, erwiderte Hamish zweifelnd. »Ich habe noch einen Ersatzoverall, der Ihnen vielleicht passt, Will. Er wird ein bisschen groß sein, aber Sie können ihn in die Gummistiefel stopfen.« Er legte die Stirn in Falten und spitzte den Mund. Dann hellte sich seine Miene auf. »Ich glaube, hinten im Schuppen könnten noch alte Latzhosen sein. Aus meiner Jugend. Meine Gran hat nie etwas weggeworfen, das man vielleicht noch mal gebrauchen könnte. Einen Moment.« Er verließ das Zimmer, und sie hörten eine Tür auf- und zugehen.

»Was für ein netter Kerl«, stellte Alice fest.

»Du machst ja keinen Hehl aus deiner Meinung.« Will konnte den bitteren Unterton nicht unterdrücken. Gewöhnlich gelang es ihm, seine eifersüchtige Ader hinter scherzhafter Neckerei zu verbergen, aber etwas an Hamish Mackenzie hatte bei ihm sichtlich einen wunden Punkt getroffen.

»Er macht sich richtige Umstände für uns. Ich bin dankbar, weiter nichts. Er hätte sich gar nicht erst mit uns einlassen müssen, ganz zu schweigen davon, dass er alte Landkarten aufgetrieben und uns den besten Kaffee gemacht hat, den ich seit Wochen getrunken habe.« Sie leerte ihre Tasse und erhob sich, um sie in den Geschirrspüler zu stellen.

»Das ist alles wahr«, sagte Will. »Aber es bedeutet nicht, dass du wie ein bescheuerter Teenager rüberkommen musst. Fast kein Satz ohne ein ›Wow‹.«

Sie trat hinter ihn und umarmte ihn. »Dummer Junge«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Als wenn ich einen anderen Mann ansehen würde, wenn ich doch deinen Ring am Finger trage.«

Will stieß ein Ächzen aus. Mit mehr war nicht zu rechnen, das wusste sie, und sie entschied, es auf sich beruhen zu lassen. »Die Vorstellung von dir im Overall finde ich ziemlich sexy.« Ein Ölzweig.

»Pah! Wenn der für unseren Iron Man hier gemacht ist, werde ich wie ein Vollidiot aussehen.« Er wand sich herum und gab ihr einen festen Kuss auf den Mund. »Aber wen kümmert’s, solange wir bekommen, wofür wir hergekommen sind.«

7

2018 – Wester Ross

Sie gaben ein merkwürdiges Trio ab, als sie den Weg hinterm Bauernhaus hochgingen. Eher schräge Vögel aus einer Hollywood-Komödie als ein ernsthaftes Team – Hamish, groß und breitschultrig, das Haar jetzt zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden, ein gut sitzender waldgrüner Overall, den er in abgenutzte schwarze Gummistiefel gesteckt hatte; Will, kleiner und schmaler, sogar noch ein Stück geschrumpft durch einen hellbraunen Overall, der zwei Nummern zu groß war und lose über einem Paar Hunter-Gummistiefeln hing, die aussahen, als wäre ihr größter Härtetest bisher ein Besuch im örtlichen Waitrose-Supermarkt gewesen; und Alice, in eine blaue Latzhose gezwängt, die nicht zu den mit bunten Bonbons bedruckten Gummistiefeln passte. »Wir können genauso gut zu Fuß gehen«, hatte Hamish gesagt. »Es ist nur etwa eine halbe Meile, und ich habe den Bagger und die Werkzeuge bereits hochgebracht. Außerdem ist es ein schöner Morgen.«

Unterwegs sah Alice sich eifrig um. »Es ist komisch, sich meinen Granto vor all den Jahren hier in genau dieser Landschaft vorzustellen. Auf der ganzen Welt tobte Krieg, und hier war er, an diesem friedlichen, zeitlosen Ort.«

»Eben nicht genau diese Landschaft«, murmelte Will. »Sonst hätten wir es letztes Jahr selbst gefunden.«

Hamish lachte in sich hinein. »Jawohl. Und ich raube Ihnen ja ungern Ihre Illusionen, Alice, aber zeitlos gilt nur, wenn man Zeit in einer relativ kurzen Spanne misst. Die Leute betrachten die Highlands als Wildnis. Eine Art Spielplatz für Menschen, die jagen, schießen, angeln und wandern gehen wollen. Aber sie sind genauso eine künstliche Umgebung wie die Großstädte, die sie hinter sich lassen.«

»Wie meinen Sie das?« Alice blieb stehen und ließ den Blick über die Heide und die Hügel schweifen, wo sich Felszungen durch den Erdboden schoben, die Oberflächen durch Flechten und Moos verfärbt. »Für mich sieht es hier ziemlich natürlich aus.«

»Das liegt daran, dass die Natur Zeit hatte zurückzuerobern, was wir zuvor kolonisiert hatten. Gehen Sie etwa dreihundert Jahre zurück, und diese Schlucht wäre voller Menschen, die das Land bewirtschafteten. Stellen Sie es sich nur mal vor. Rauch steigt von circa einem Dutzend bis zwanzig Schornsteinen auf. Ein paar Rinder hier und da auf den gemeinsamen Weideflächen. Feldfrüchte, die im Run-Rig-Feldsystem wuchsen, wobei jeder Kleinbauernhof seine eigenen fünf Morgen Land bewirtschaftete.« Hamish deutete auf den glitzernden Meeresarm jenseits des Küstenstreifens. »Unten am Ufer ein paar kleine Boote, die Fischnetze zum Trocknen und Flicken ausgebreitet.«

»Und was ist dann geschehen?«, fragte Will.

Hamish verzog das Gesicht. »Die Highland-Vertreibungen. Die Parzellenwirtschaft reichte bestenfalls zur Selbstversorgung. Viel Gewinn warf sie nicht ab, also war es nie leicht, die Pacht zu bezahlen. Und die Adeligen, denen das Land gehörte, waren gierige Mistkerle. Sie wollten eine höhere Rendite von ihrem ererbten Gut, um die Schulden zu begleichen, die sie durch ihr Leben in Saus und Braus anhäuften. Dann kam die organisierte Schafzucht auf. Zieh einen Zaun ums Land, steck viele Schafe rein, und du brauchst so gut wie keine Arbeitskräfte. Sehen Sie den Hügel auf der anderen Seite der Schlucht? Das sind meine Schafe. Ich habe fast fünfhundert Cheviot-Schafe, und die meiste Arbeit wird von Teegan und Donny erledigt. Dazu noch Jagdausflüge, und schon hat man eine ganz neue Wirtschaft, zu der nur eine Handvoll qualifizierter Leute und eine Menge importierter Saisonarbeiter benötigt werden.«

»Wohin sind denn die ganzen Menschen gegangen?«, fragte Alice.

»Also, echt jetzt?«, warf Will ein. »Wieso gibt es deiner Meinung nach in Kanada so viele Leute mit schottischen Nachnamen?«

»Kanada und Neuseeland und die Carolinas und Indien und so ziemlich überall, wo das britische Empire willige Arbeitskräfte brauchte.« Hamishs Tonfall war weniger schroff. »Heutzutage sind viel mehr Nachkommen der schottischen Diaspora auf der ganzen Welt verstreut, als in Schottland leben.«

»Wow, das habe ich gar nicht gewusst!« Alice betrachtete die Landschaft und versuchte sich vorzustellen, was Hamish beschrieben hatte. »War das überhaupt legal?«

Hamish schüttelte den Kopf. »Damals gab es keine gesicherten Pachtverhältnisse.«

»Aber konnten sie nicht protestieren? Sich auf die Hinterbeine stellen?«

Hamish schenkte ihr einen langen, ernsten Blick. »Man kann nicht viel dagegen tun, wenn sie einem mitten in der Nacht das Haus anzünden, weil man sich das nicht gefallen lassen will.«

»Das ist schrecklich.« Alice’ Augen waren aufgerissen.

»Wie lange betreibt Ihre Familie denn hier schon Landwirtschaft?«, erkundigte sich Will, bevor sie mehr sagen konnte.

»Die Kirchenbücher reichen bis 1659 zurück, und wir waren damals schon hier. Meine Großeltern glaubten, sie würden die Letzten der Familie sein, weil meine Mum nach Edinburgh zog, um Ärztin zu werden, und mein Onkel zur Armee ging und eine Deutsche heiratete und sich dort niederließ. Aber ich bin von Kindesbeinen an bei jeder Gelegenheit hergekommen, und ich habe bei ihnen gelernt, wie man das Land bewirtschaftet. Also haben sie mir das Pachtverhältnis hinterlassen.« Er grinste die beiden an. »Bin ich nicht ein Glückspilz?«

Alice stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben. »Ist es nicht manchmal einsam?«

Hamish schüttelte den Kopf. »Hier ist reichlich was los.«

»Die Winter müssen verdammt trostlos sein.« Wills Miene war säuerlich.

»Trostlos ist irgendwie mein Ding. Und es ist ein Gegensatz zu jetzt. Ich meine, schauen Sie sich um. Wenn die Sonne scheint, könnte man in Griechenland sein. Das Glitzern des Meeres, türkis, wie das Mittelmeer. Und die Landschaft, sie unterscheidet sich gar nicht so von der auf Kreta.«

»Abgesehen davon, dass die Temperaturen ungefähr fünfzehn Grad niedriger sind.« Abermals Will, dessen Groll die Oberhand gewann.

Dann erstiegen sie einen sanften Hang, und gleich vor ihnen stand ein gelber Kleinbagger neben der Straße. Ein kleines Führerhaus mit einem windschiefen Dach hockte auf einem Paar Raupenketten, die gezahnte Schaufel unter dem gefalteten Arm, als wäre es ein schlafender mechanischer Vogel. Die Farbe war verblasst, und die Dellen und Kratzer waren in einem nicht ganz passenden Farbton übermalt worden. »Es ist nicht gerade ein neues Gerät«, räumte Hamish ein. »Aber wir achten hier in der Gegend auf unser Zeug – es muss lang halten, bevor es anfängt, sich auszuzahlen.«

Er schwang sich problemlos ins Führerhaus, wo er wie ein Erwachsener im Spielzeug eines verwöhnten Kindes aussah. »Los geht’s!« Der Motor sprang beim ersten Versuch an. »Will, können Sie die Spaten da und die Brechstange holen?« Er wies auf den krummen Baum auf der anderen Seite des Baggers und fuhr dann los über das morastige Heideland.

»Wo fährt er hin?«, fragte Will, der nur mit Mühe drei Spaten und ein großes Brecheisen schleppte.

»Gib her.« Alice griff nach dem Brecheisen. »Wow, das ist aber schwer! Er hat doch gesagt, er habe die Stelle markiert, weißt du noch? Ich gehe mal davon aus, er weiß, in welche Richtung er muss. Ich meine, er wird nicht willkürlich irgendwohin fahren, oder? Für uns sieht es vielleicht nach Wildnis aus, aber er kennt die Gegend wahrscheinlich wie seine Westentasche.«

Will blieb zurück. »Alice? Wie viel wissen wir über diesen Kerl? Ich meine, wir sind hier draußen am Arsch der Welt. Kein anderer Mensch weit und breit. Er hat einen Bagger und eine verflucht schwere Brechstange. Soviel wir wissen, könnte er irgendein verrückter Highland-Serienmörder sein.«

Kurzzeitig stand Alice der Mund offen, dann brach sie in Gekicher aus. »Für den Bruchteil einer Sekunde hättest du mich fast gekriegt, du böser, böser Junge. Verrückter Highland-Serienmörder.« Sie schnaubte vor Lachen. »Komm, du Faulpelz. Gehen wir unser Glück machen.«

8

2018 – Wester Ross

Es war von Anfang an klar, dass Hamish wusste, wie man den Bagger bediente. Er positionierte die Schaufel über dem einen Ende der abgesteckten Fläche und senkte sie überraschend reibungslos und mit Fingerspitzengefühl auf die unebene Oberfläche des Moores ab. Die Zähne bissen durch die kräftigen Gräser und die struppige Heide und gruben sich in den Torfboden. Sie schrammten eine lange Narbe quer über die Oberfläche, dann manövrierte Hamish die Schaufel hoch und zur Seite, um den Inhalt außerhalb der Schnur abzuladen, die er zur Orientierung gespannt hatte.

Alice konnte nicht anders. Sie stieß ein verzücktes Jauchzen aus, als der klebrige Torf zu einem glänzenden Haufen herausglitt. Hamish bemerkte ihre Begeisterung und grinste ihr zu, bevor er sich wieder seiner Aufgabe widmete. Er legte eine Fläche von ungefähr zweieinhalb mal einem Meter frei. Dann entfernte er sorgfältig die Torfschichten, bis das weiche Schmatzen des Torfes, ohne Vorwarnung, einem leisen Kratzen wich. Hektisch winkte Will mit den Armen, da er überzeugt war, dass Hamish das veränderte Geräusch über dem Motorenlärm des Baggers nicht hören konnte.