Das Grab von Trueslow Hall - - Katherine Webb - E-Book

Das Grab von Trueslow Hall - E-Book

Katherine Webb

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Beschreibung

Die dunkelsten Wahrheiten sollten nie an die Oberfläche kommen.

1999. Eine Gruppe von Archäologen stößt auf dem Gelände von Trueslow Hall, einem kleinen Herrenhaus in Wiltshire, auf eine Grabstätte aus der Bronzezeit. Die Archäologen feiern ihren Erfolg, bis plötzlich ein Mitglied der Gruppe verschwindet: eine junge Frau namens Nazma Kirmani. Die polizeilichen Ermittlungen laufen ins Leere, und der Fall bleibt über zwanzig Jahre lang ungeklärt.

2020. Als ein Zufallsfund neue Beweise zu Nazmas Verschwinden liefert, werden DI Lockyer und DC Gemma Broad auf den Cold Case angesetzt. Wollte Nazma freiwillig verschwinden, oder wurde sie Opfer eines Verbrechens? Und wer ist die fremde Frau, die sich damals als Nazma ausgegeben hat?

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Seitenzahl: 598

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

1999. Eine Gruppe von Archäologen stößt auf dem Gelände von Trueslow Hall, einem kleinen Herrenhaus in Wiltshire, auf eine Grabstätte aus der Bronzezeit. Die Archäologen feiern ihren Erfolg, bis plötzlich ein Mitglied der Gruppe verschwindet: eine junge Frau namens Nazma Kirmani. Die polizeilichen Ermittlungen laufen ins Leere, und der Fall bleibt über zwanzig Jahre lang ungeklärt.

2020. Als ein Zufallsfund neue Beweise zu Nazmas Verschwinden liefert, werden DI Lockyer und DC Gemma Broad auf den Cold Case angesetzt. Wollte Nazma freiwillig verschwinden, oder wurde sie Opfer eines Verbrechens? Und wer ist die fremde Frau, die sich damals als Nazma ausgegeben hat?

Die Autorin

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im englischen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Wirtschafterin auf herrschaftlichen Anwesen. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt und schreibt sie heute in der Nähe von Bath, England. Mit ihrem großen Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« gelang ihr der Durchbruch als Schriftstellerin, es folgten weitere SPIEGEL-Bestseller. In ihrer Krimireihe um das Ermittlerduo Lockyer & Broad sind bereits »Der Tote von Wiltshire« und »Die Morde von Salisbury« erschienen.

Katherine Webb

Das Grab von Trueslow Hall

Lockyer & Broad ermitteln

Aus dem Englischen von Frank Dabrock

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Hollow Grave erschien erstmals 2024 bei Quercus.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 Katherine Webb

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, unter Verwendung von Bildmaterial shutterstock (Bernulius, Iva Vagnerova, Penny Hicks, Julian Gazzard)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31817-8V001

www.heyne.de

1 Tag eins, Montag

DI Matt Lockyer drückte auf die Klingel eines gepflegten Reihenhauses in der Nähe von Bristol. Neben ihm stand DC Gemma Broad, und er konnte ihre Anspannung spüren. Beide wussten, dass sie hier keine leichte Aufgabe erwartete.

Die Tür wurde von einer Frau in den Sechzigern mit stumpfem kastanienbraunem Haar geöffnet, die sie freundlich anlächelte.

»Hallo«, sagte sie und kniff die Augen zusammen, um einen Blick auf die Gesichter hinter den Schutzvisieren zu werfen, die sie tragen mussten.

»Mrs. Kirmani?«

»Ja?«

Die beiden zückten ihre Ausweise, und das Lächeln schwand aus dem Gesicht der Frau.

»Ich bin Detective Inspector Lockyer, und das hier ist Detective Constable Broad«, sagte Lockyer.

Mrs. Kirmani schluckte. »Haben Sie sie gefunden?«

»Nein. Soweit ich weiß, hat einer unserer Kollegen Sie angerufen, um –«

»Ja, natürlich«, sagte sie. »Ich dachte nur … Tut mir leid. Kommen Sie rein. Ich werde meinen Mann holen.«

Mrs. Kirmani führte die beiden ins Wohnzimmer, das altmodisch, aber gemütlich eingerichtet war. Auf einem Regalbrett über dem Gasofen standen Fotos von lächelnden Kindern und Familienfeiern sowie das gerahmte Porträt eines Mädchens mit makelloser Haut und wunderschönen braunen Augen, das einen Doktorhut trug und eine Schriftrolle in den Händen hielt. Lockyer kannte das Foto; es war eines von vielen, die die Kirmanis der Polizei nach dem Verschwinden ihrer Tochter zur Verfügung gestellt hatten. Als würde die Anzahl der Bilder die Chancen erhöhen, sie wiederzufinden. Auf jedem trug das Mädchen eine silberne Halskette mit einem Anhänger, in den winzige Sterne graviert waren. Lockyer betrachtete das Foto.

Als Mrs. Kirmani zurückkehrte, blieb sie auf Abstand und war so umsichtig, ein Fenster zu öffnen, um etwas kalte, feuchte Luft hereinzulassen. Der Novemberhimmel war von einem fahlen Grau, und der Nieselregen verschleierte den Blick auf die anderen baugleichen Häuser in der Straße.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie, als ein recht kleiner Mann mit kurzen Schritten hinter ihr das Zimmer betrat.

Er sah ein wenig älter aus als sie und war asiatischer Herkunft. Seine hängenden Schultern zeugten von einer Last, die er schon sehr lange mit sich herumtrug. Die grauen Augen waren eingesunken, und auf beiden Seiten seines Mundes hatten sich tiefe Falten eingegraben. Falls er je die Hoffnung gehegt hatte, seine Tochter wiederzusehen, so vermutete Lockyer, dann hatte er sie schon vor einer Weile aufgegeben.

»Wie können wir Ihnen behilflich sein?«, fragte er in einem ernsten, höflichen Tonfall.

»Danke, dass Sie uns empfangen, Mr. Kirmani«, sagte Lockyer. »Wie Sie wissen, haben wir vor Kurzem im River Kennet, ein paar Kilometer östlich von Marlborough, eine Tasche gefunden, und wir glauben, dass sie Ihrer Tochter gehört haben könnte.«

Der ältere Mann nickte, sagte dann aber: »Ich glaube nicht, dass sie Nazma gehörte.«

»Man hat uns erzählt, ein paar Kinder hätten sie gefunden«, sagte Mrs. Kirmani.

»Das stimmt. Sie dachten, dass sie wichtig sein könnte, und haben sie ihren Eltern gezeigt.«

»Sie hätten nicht am Fluss spielen sollen«, murmelte Mrs. Kirmani. »Zu dieser Jahreszeit ist das Wasser bestimmt sehr tief.«

Mr. Kirmani tätschelte die gefalteten Hände seiner Frau. Entweder um sie zu beruhigen oder um sie zurückzuhalten, dachte Lockyer.

»Ich stimme Ihnen zwar zu, aber in diesem Fall bin ich froh, dass die Kinder dort waren«, sagte Lockyer. »Mr. Kirmani, warum glauben Sie, dass die Tasche nicht Ihrer Tochter gehörte?«

»Ich habe Nazma nie damit gesehen. Sie sieht eher aus wie die Tasche eines Mannes. Und die Kleidungsstücke könnten irgendjemandem gehört haben – es lässt sich nicht mehr sagen, wie sie ursprünglich mal ausgesehen haben.«

Er hatte recht. Während der vielen Jahre im schlammigen Flussufer waren die Kleidungsstücke fast vollständig vermodert. Allerdings waren vier rostige halbkreisförmige Drahtstücke erhalten geblieben, was bewies, dass sich in der Tasche mindestens zwei BHs befunden hatten. Lockyer beschloss jedoch, sie nicht zu erwähnen.

»Und das Geld«, fuhr Mr. Kirmani fort. »Warum sollte sie auf diese Weise Geld mit sich herumgetragen haben? In bar und zusammengerollt, wie ein … Verbrecher?«

»Vielleicht hat man ihr den Reisepass und die Bahnkarte gestohlen«, fügte Mrs. Kirmani hinzu. »Das ist doch wohl eher wahrscheinlich, oder? Dass jemand beides – zusammen mit dem Geld – gestohlen und dann versucht hat, die Sachen loszuwerden. Oder er hat sie verloren.«

Niemand würde absichtlich hundertsiebzig Pfund in bar wegwerfen, schon gar nicht ein Dieb. Aber Lockyer verstand, warum die Kirmanis nicht wollten, dass die Nike-Reisetasche ihrer Tochter gehört hatte. Kleidung, Bargeld, Bahnkarte, Reisepass: Offenbar handelte es sich um eine Fluchttasche.

Lockyer nickte Broad unauffällig zu, und sie räusperte sich leise. »Wir haben noch einen anderen Gegenstand in der Tasche gefunden, und wir hoffen, dass Sie ihn für uns identifizieren können.«

Sie holte eine kleine Beweismitteltüte hervor. Darin befand sich ein angelaufener metallischer Gegenstand, der schwach glänzte. Es handelte sich um einen mit winzigen Sternen gravierten Anhänger an einer Silberkette. Broad legte beides auf den Couchtisch und lehnte sich zurück, und Mrs. Kirmani griff danach.

»Oh …«, flüsterte sie und umklammerte den Arm ihres Mannes.

Mr. Kirmani nahm den Anhänger und zog die Brauen nach unten. Er sank noch etwas mehr in sich zusammen, während er die Plastiktüte in seinen Fingern betastete.

»Bitte öffnen Sie die Tüte nicht«, sagte Broad. »Tut mir leid. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass wir nach so langer Zeit im Wasser noch forensische Beweise finden, aber wir können es zumindest versuchen.«

Mr. Kirmani nickte. »Aber Sie haben den Anhänger geöffnet und hineingesehen?«

»Das haben wir«, sagte Lockyer.

Der ältere Mann schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft.

»Darin waren ein kleiner Haarzopf und ein Foto?«

»Ja.«

Eigentlich waren es nur ein paar vermoderte Strähnen, und von dem Foto war nur noch ein winziger, verblasster Fetzen übrig. Reisepass, Bargeld und Studenten-Bahnkarte waren durch eine Kunststoffbrieftasche geschützt gewesen, und die Halskette hatte man in einem Seitenfach der Reisetasche gefunden. Ein Teil der Kette hing aus dem Fach heraus, als wäre sie in Eile hineingestopft worden.

Für einen Moment herrschte Schweigen. Die Beweismitteltüte zitterte zwischen Mr. Kirmanis Fingern, und die Augen seiner Frau füllten sich mit Tränen.

»Ist das die Halskette Ihrer Tochter?«, fragte Broad die beiden leise.

»Ja«, sagte Mrs. Kirmani, als ihr Mann nicht antwortete. »Das sind die ineinandergeflochtenen Haare von Nazma und ihrer Mutter … Haris erster Frau, Amrit. Sie ist gestorben, als Nazma noch sehr klein war. Zusammen mit Hari hat sie die Sachen für den Anhänger ausgewählt, damit sie ihre Mutter immer ganz nah bei sich hatte. Das Foto war von ihr – von Amrit.«

Lockyer konnte nicht die geringste Verbitterung in Mrs. Kirmanis Stimme hören. Nur Trauer.

»Diese Kette hat Nazma also sehr viel bedeutet?«, fragte er.

»Sie hat sie nie abgenommen. Nun – nur wenn sie schwimmen war oder geduscht hat. Sie hätte sie nicht verloren. Oder irgendwo liegen lassen.«

»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sich drei Gegenstände, die Nazma gehörten, in einer Tasche befanden, die ihr nicht gehört haben soll«, sagte Lockyer vorsichtig.

»Aber … ich habe doch gesagt«, begann Mr. Kirmani, nachdem er kurz nach Luft geschnappt hatte. »Ich habe von Anfang an gesagt, dass sie nicht abgehauen ist! Meine Nazma würde uns so etwas nicht antun, ihrer Familie!«

»Standen Sie sich nahe?«

»Natürlich standen wir uns nahe.«

»Hari«, sagte Mrs. Kirmani sanft. »Sie müssen das doch fragen.«

»Sie fragen, aber sie hören nicht zu! Vor einundzwanzig Jahren hat uns die Polizei gefragt, ›Warum könnte sie abgehauen sein? Was für einen Grund könnte sie gehabt haben? Standen sich die Familienmitglieder nahe?‹, und ich habe gesagt, ›Sie würde nicht einfach abhauen! Sie hatte keinen Grund dazu! Es gab keinen Streit zwischen uns.‹ Aber man hat nicht zugehört.«

»Das tut uns wirklich leid!«, sagte Broad. »Es gab offenbar gute Gründe zu der Annahme, dass Nazma einfach … noch mal von vorne anfangen wollte, an einem anderen Ort.«

»Das ist doch Blödsinn«, sagte Mr. Kirmani. Er hielt den Anhänger hoch. »Und das hier beweist, dass das Blödsinn ist. Sie glauben, dass sie diese Tasche gepackt hat und abgehauen ist. Aber warum lag die Tasche dann all die Jahre im Fluss? Zusammen mit Nazmas kostbarstem Besitz. Warum sollte sie die Sachen wegwerfen?«

»Das hätte sie nicht getan«, sagte Lockyer leise.

Die Augen des alten Mannes waren von Wut und Trauer erfüllt. »Ob ich von ihr enttäuscht gewesen sei, hat die Polizei gefragt. Ob sie gegen unsere Religion verstoßen habe? Ich wollte wissen, ob sie das auch eine weiße Familie fragen würden. Hm? Oder nur eine pakistanische Familie?«

Lockyer erwiderte nichts. Aber er schämte sich dafür.

»Ich habe den Beamten gesagt: ›Wir sind eine ganz normale Familie. Nazma war glücklich und wurde geliebt. Sie hatte stets ein Lächeln im Gesicht …‹« Ihm versagte die Stimme. »Sie mochte ihren Job und hat uns an den Wochenenden immer besucht, und auch ihren Bruder. Sie hegte keine ›Abneigung gegen ihre Stiefmutter‹ und hat Andrew geliebt. Dass sie einfach abgehauen sein soll, ohne uns etwas zu sagen …« Er schüttelte energisch den Kopf. »Das hätte sie niemals getan. Niemals.« Um seine Worte zu unterstreichen, tippte er mit dem Zeigefinger in die Handfläche der anderen Hand.

»Mr. Kirmani …«

»Wo war ihr Foto in der Zeitung? Wo ihr Name in der Sendung Crimewatch? Nichts dergleichen ist passiert. Weil sie ein pakistanisches Mädchen mit brauner Haut ist und kein weißes Mädchen mit hübschen blonden Haaren. Bei Nazma gab es keine ›Rekonstruktion der letzten Stunden‹, keine Belohnungen, keine Aufrufe an die Bevölkerung.« Mr. Kirmanis Gesicht war wutverzerrt. »Meine Tochter wurde entführt, und man hat das einfach … zugelassen.«

In der Pause, die auf seine Worte folgte, war nur sein unregelmäßiger Atem zu hören.

Lockyer versuchte, sich all die Jahre voller Schmerz und Ungewissheit vorzustellen, in denen man mit dem Schlimmsten rechnete, ohne Gehör zu finden. In denen man so wenig Informationen hatte, dass man über die letzten Momente der Vermissten nur spekulieren konnte – wobei das Grauen, mit dem der Verstand diese Leere füllte, grenzenlos war. Es war kaum zu ermessen, wie schwer das alles zu ertragen sein musste.

Und ihm wurde auch die ungeheure Tragweite eines möglichen Polizeiversagens bewusst.

Er warf Broad einen Blick zu. Zeit zu gehen. Die beiden erhoben sich.

Nazmas Vater schaute zu ihnen hoch. »Und was werden Sie jetzt unternehmen?«

»Wir werden jedes einzelne Beweisstück im Zusammenhang mit Nazmas Verschwinden überprüfen«, sagte Lockyer ruhig. »Und wir werden alles tun, um herauszufinden, was mit Ihrer Tochter passiert ist.«

»Danke«, sagte Mrs. Kirmani.

Ihr Mann brachte nur ein Nicken zustande und wandte sein Gesicht ab. Männer seiner Generation schämten sich oft, ihre Gefühle zu zeigen, aber auf ihn traf das nicht zu. Der Schmerz hatte ihm diese Art von Stolz ausgetrieben.

»Dürfen wir ihre Kette behalten?«

»Tut mir leid, Mrs. Kirmani. Wir können sie Ihnen erst nach dem Ende der Ermittlungen zurückgeben. Danke, dass Sie mit uns gesprochen haben. Wir finden selbst hinaus.«

Die beiden eilten mit gesenkten Köpfen durch den Regen zu Lockyers zuverlässigem altem Volvo. Einen Moment lang saßen sie einfach nur da und lauschten dem Prasseln auf dem Dach. Meine Tochter wurde entführt. So etwas passierte sehr häufig: Frauen und Mädchen verschwanden auf dem Heimweg von der Arbeit, von einem Geschäft oder einem Pub. Oder während sie joggten oder den Hund Gassi führten. Anschließend erschienen in der Presse körnige Überwachungsbilder von ihnen. Augenzeugenberichte lieferten widersprüchliche Schilderungen ihres Verhaltens und der Personen, in deren Begleitung sie sich befanden, als sie zuletzt gesehen wurden. Und dann kam gar nichts mehr. Nur noch Schweigen. Der Fall blieb unaufgeklärt, manchmal für immer. Dieses Versagen – gegenüber dem Opfer und dessen Familie – war eine schwere Bürde, und diesmal hatte man sie Lockyer und Broad aufgeladen. Dem Zwei-Personen-Team für ungeklärte Kapitalverbrechen in Wiltshire. Aber vielleicht ergab sich damit auch die Chance, einen unentdeckten Mörder zu schnappen.

»Glauben Sie, er hat recht?«, fragte Broad. »Glauben Sie, dass man ihrem Verschwinden weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat, weil sie nicht weiß war?«

»So was kommt auch heute noch vor, Gem. Und Sie können Gift darauf nehmen, dass genau das damals passiert ist.«

»Man hat sich bei den Ermittlungen also weniger Mühe gegeben? Nur wegen ihrer Hautfarbe?«

Lockyer dachte darüber nach. »Sosehr mir die Vorstellung missfällt, aber das ist ziemlich wahrscheinlich. Allerdings gab es tatsächlich gute Gründe für die Schlussfolgerung der Ermittler, dass Nazma abgehauen ist. Und wir müssen jeden dieser Gründe gründlich überprüfen.«

»Sie glauben den Kirmanis also – dass sie nicht einfach wortlos gegangen wäre?«

»Sie wollte irgendwohin, das verrät uns die Fluchttasche. Aber selbst wenn sie ihren Plan in die Tat umgesetzt hat, wie, zum Teufel, ist die Tasche – mit ihrem Reisepass und ihrem kostbarsten Besitz – im Fluss gelandet, nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt, wo sie zuletzt gesehen wurde?« Er spähte in den Nieselregen hinaus, während er den Wagen startete. »Und ja, ich glaube den Kirmanis.«

»Ich auch.«

Auf der Rückfahrt nach Devizes sprachen die beiden kaum. In letzter Zeit war Broad sowieso schon schweigsamer als sonst, und noch mehr seit der Ankündigung eines weiteren bevorstehenden Lockdowns. Obwohl Lockyer ihr die Frage bereits gestellt hatte, fragte er jetzt erneut: »Alles okay, Gem?«

Sie blickte ein wenig erschrocken zu ihm herüber, als hätte er sie tief aus ihren Gedanken gerissen. »Ja, klar.«

Sie war eine schlechte Lügnerin, aber Lockyer bohrte nicht weiter nach. Denn er war fest davon überzeugt, dass jemand, der sich aussprechen wollte, das aus freien Stücken tun würde. Trotzdem wünschte er, er könnte Broad dazu ermutigen, ohne sie beide in Verlegenheit zu bringen.

»Wie geht’s Hedy? Und ihrem Babybäuchlein?«, fragte Broad und sprach ein Thema an, über das Lockyer auf keinen Fall reden wollte.

»Gut«, sagte er.

Heute war der zweite November. In drei Tagen würde das ganze Land erneut in den Lockdown gehen, weil die Zahl der Corona-Infektionen wieder steil anstieg und die Krankenhäuser am Rande der Belastungsgrenze waren. Lockyer wusste, dass die letzten Wochen von Hedys Schwangerschaft anstrengend werden würden. Sie litt unter hohem Blutdruck und sollte sich schonen, aber er spürte ihre wachsende Unruhe. Eine Ungeduld, die nicht nur darauf zurückzuführen war, dass sie das Haus hüten musste. Deshalb dachte er, dass er sich, was ihre gemeinsame Zukunft betraf, womöglich etwas vormachte.

Broad kannte ihn gut genug, um bei diesem Thema ebenfalls nicht weiter nachzubohren.

»Mr. Kirmani wurde zur Befragung vorgeladen«, las sie aus der Akte vor.

»Als Verdächtiger?«

»Als Person von Interesse. Man hat ihn nicht besonders hart rangenommen, aber offenbar gab es die Theorie, dass es sich um eine Art Ehrenmord gehandelt haben könnte oder dass die Familie Nazma für eine arrangierte Hochzeit nach Pakistan zurückschicken wollte, woraufhin sie abgehauen ist.«

»Eine arrangierte Hochzeit? Obwohl Mr. Kirmani in zweiter Ehe mit einer weißen britischen Frau verheiratet ist?«

»Ja. Aber die Theorie fiel in sich zusammen, als Mr. Kirmani sie darauf hinwies, dass er nicht mal Moslem sei.« Broad schaute zu Lockyer hinüber. »Er ist Anglikaner. Er besucht seit Jahrzehnten den Sonntagsgottesdienst in der St. John’s Church in Keynsham – was der Pfarrer hocherfreut bestätigt hat.«

»Mein Gott«, murmelte Lockyer, den Blick auf die Straße gerichtet. »Man kann es ihm kaum verdenken, wenn er behauptet, dass die Polizei in ihm zuerst den Pakistani und erst dann den besorgten Vater gesehen hat.«

»Offensichtlich ist es so gewesen«, sagte Broad ernst. »Man hat die Theorie vom Ehrenmord zwar rasch wieder verworfen, aber trotzdem – da war es schon zu spät.«

»Seit wann lebt Kirmani in Großbritannien?«

Broad blätterte ein paar Seiten zurück. »Hari und Amrit sind 1973 kurz nach ihrer Heirat hierhergezogen. 1975 wurde Nazma geboren. Dann kam ein weiteres Mädchen, das kurz nach der Geburt gestorben ist. Amrit starb 1982 an einem angeborenen Herzleiden, da war Nazma sieben. Zwei Jahre später heiratete Hari Kirmani Liz, geborene Stokes, und ihr Sohn Andrew – Nazmas Halbbruder – wurde 1985 geboren. Offenbar standen sich Andrew und Nazma trotz des Altersunterschieds sehr nahe. Nazma war gerade vierundzwanzig geworden, als sie verschwand. Sie war so alt wie ich. Andrew war damals vierzehn.«

»Wurde der Bruder vorgeladen und befragt?«

»Nein. Und Liz auch nicht«, sagte Broad. »Aber man hat sie überprüft, und es deutete nichts auf eine Beteiligung der Familie hin. Kurz danach wurde Nazma von der Vermisstenliste gestrichen.«

»Genau.«

Falls man Nazma tatsächlich entführt hatte, fragte sich Lockyer, wann hatte sich der Täter sicher gefühlt? Wie lange hatte es gedauert, bis ihm klar wurde, dass die Polizei nicht mehr nach ihm suchte?

»Wir suchen jetzt nach dir«, murmelte er.

In ihrem winzigen Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums von Wiltshire in Devizes hatte Broad an ihrem Whiteboard detailreiche Fotos vom Inhalt der Nike-Tasche befestigt. Lockyer betrachtete die schmutzigen Überreste der Kleidungsstücke. Die Naturfasern waren vollständig verrottet, und auch sonst war kaum noch etwas übrig: die Nylon-Etiketten, die BH-Drähte und fünf Messingknöpfe einer Levi’s-Jeans. Einem T-Shirt mit hohem Polyesteranteil war es etwas besser ergangen. Teile des Ausschnitts und der Rückseite hatten überdauert, und eine gründliche Reinigung hatte ergeben, dass es ursprünglich gelb gewesen war und Größe L hatte; außerdem war es mit einer Liste von Datumsangaben bedruckt. Vielleicht handelte es sich um das Tour-T-Shirt einer Band. Nazma war jedoch nur 1,57 Meter groß gewesen und hatte weniger als fünfzig Kilo gewogen. Allerdings trugen Frauen in der Freizeit oft T-Shirts in Übergröße.

Broad nahm das Abschlussfoto von Nazma aus der Akte und heftete es zu den anderen ans Board. Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, in dem überhaupt nichts Spöttisches lag. Beide Wangen zierte ein kleines Grübchen, und sie hatte langes, glänzendes schwarzes Haar. Nach ihrem Abschluss in Archäologie und Anthropologie an der University of Exeter hatte sie dort ihren Master gemacht und gerade ihre Doktorarbeit begonnen, als sie verschwand.

»Gut«, sagte Lockyer, und Broad schreckte erneut leicht zusammen, »gehen wir die wesentlichen Fakten durch. Im Zuge ihrer Doktorarbeit hat Nazma an einer Grabung in Avebury teilgenommen, zusammen mit einer Gruppe Archäologen von … Wie war noch mal der Name?«

»Brittonic Archaeological Services«, sagte Broad nach einem Blick in die Unterlagen.

»Genau. Die Ausgrabung war eine ziemlich große Sache – sie wurde für die Sendung Dig Britain von Channel 4 gefilmt. Sie ging bis Ende September. Am Samstag, den zweiten Oktober, fuhr Nazma dann mit einer Gruppe Kollegen zum Marlborough Mop, um dort zu feiern. Irgendwann trennte sie sich von den anderen, um eine Toilette aufzusuchen, und kehrte nicht wieder zurück. Sie teilte einem ihrer Kollegen in einer SMS mit, dass sie nicht länger bleiben wolle und mit dem Taxi nach Hause fahren würde. Was die anderen wohl überraschte.«

»Hat die Polizei versucht, den Taxifahrer ausfindig zu machen?«

»Ja. Sie hat mit allen zugelassenen Taxifahrern in Marlborough gesprochen. Ohne Erfolg. Aber vielleicht war der Wagen nicht registriert. Außerdem gab es damals noch nicht so viele Verkehrskameras.«

Wortlos starrten die beiden auf das Foto der lächelnden jungen Frau. Im Präsidium war es still, denn es war zur Hälfte leer. Die Corona-Epidemie hatte die Belegschaft gezwungen, sich möglichst weiträumig zu verteilen, im Homeoffice zu arbeiten oder in wiedereröffneten alten Polizeigebäuden, sodass in dem großflächigen Backsteinbau, in dem sie jetzt waren, eine gespenstische Stille herrschte.

»Ich bin auch ein paarmal auf dem Mop gewesen«, sagte Broad. »Mit ein paar Freunden aus der Oberstufe. Bis meinen Eltern klar wurde, wie es dort zuging. Ich meine, eigentlich sind alle nur betrunken und machen Randale. Es gibt zwar die Fahrgeschäfte, Zuckerwatte und so weiter, aber die Pubs an der Hauptstraße bleiben geöffnet. Ich kann mich an viele sturzbesoffene Leute erinnern – viele davon noch minderjährig. Und wahrscheinlich haben auch jede Menge Drogen den Besitzer gewechselt – nicht dass ich das damals mitgekriegt hätte.« Sie warf Lockyer einen Seitenblick zu. »Es wundert mich, dass Sie nie dort waren, Chef. Sie kommen doch ganz aus der Nähe und sind ein echter Partylöwe.«

»Haha.« Lockyer verzog das Gesicht. Er hatte Menschenmengen schon immer gehasst, vor allem wenn sie betrunken waren. »Das war mehr die Baustelle meines Bruders«, murmelte er. Sein jüngerer Bruder Chris war auch ein paarmal auf dem Mop gewesen und jedes Mal völlig fertig zurückgekehrt – obwohl er erst seit dem Abend, an dem er gestorben war, legal Alkohol trinken durfte.

Broad nickte verlegen, die Erwähnung von Chris hatte sie zum Verstummen gebracht. Ein weiterer ungeklärter Mord. Ein Fall, der Lockyer tagtäglich begleitete.

»Womit wir zu der einzigen bestätigten Sichtung von Nazma nach diesem Abend kommen«, sagte Lockyer. »Die Sichtung, die die Polizei veranlasst hat, die Suche nach ihr einzustellen.«

Broad ging zu ihrem Schreibtisch zurück, nahm ein weiteres Foto und befestigte es am Board. Es war das körnige Standbild einer Sicherheitskamera, aufgenommen am Empfangstresen des Polizeireviers in Islington, das man damals an den leitenden Ermittlungsbeamten in Wiltshire gefaxt hatte. Die Kamera war so ausgerichtet, dass man die Person, die am Tresen stand, gut sehen konnte. Aber die junge Frau auf der Aufnahme trug eine Kappe und hatte das Kinn nach unten geneigt. Sie hatte langes schwarzes Haar und war zierlich gebaut. Die Kieferpartie stimmte überein, und auch der sanft geschwungene Wangenknochen, doch der Schatten der Kappe verbarg Augen und Nase.

»Ist das die beste Aufnahme, die man damals bekommen konnte?«, fragte Lockyer.

»Ja. Aber der diensthabende Polizist war überzeugt, dass diese Frau Nazma Kirmani war. Sie hat eine Brieftasche mit ihren Bankkarten und ihrem Führerschein vorgezeigt, um sich auszuweisen. Sie sagte, sie sei vorbeigekommen, weil sie gehört habe, dass die Polizei um ihr Wohlergehen besorgt sei. Sie versicherte, dass es ihr gut gehe und sie nicht in Schwierigkeiten stecke.«

»Wann war das?«

»Freitag, der achte Oktober. Also sechs Tage nachdem man sie zuletzt in Marlborough gesehen hatte.«

»Das und die SMS haben dazu geführt, dass die Ermittlungen schließlich eingestellt wurden.«

»Durchaus verständlich«, sagte Broad.

Das war es. Da Nazma überstürzt aufgebrochen war, hatte man sie zwar anfangs als stark gefährdet eingestuft, aber es war reines Glück – und wahrscheinlich ein Versäumnis –, dass die schmale Akte inzwischen nicht in den Mülleimer gewandert war. Sie enthielt die ursprüngliche Vermisstenanzeige und den Ermittlungsbericht, den eine Beamtin namens Brodzki verfasst hatte – mit Angaben zu dem Ort, an dem Nazma zuletzt gesehen worden war, zu ihrer Kleidung, den Orten, die man überprüft hatte, und zu den Personen, die bezüglich ihres Verbleibs befragt worden waren. Es gab die telefonische Zeugenaussage eines Straßenhändlers, der glaubte, sie an jenem Abend in Marlborough gesehen zu haben, und einen Eintrag zur Bodenprobe eines Schuhabdrucks, die man in einer Scheune von Trueslow Hall genommen hatte. Dazu fanden sich keine weiteren Einzelheiten, und Lockyer vermutete, dass man die Probe nicht analysiert hatte. Eine derartige forensische Untersuchung wäre damals hausintern durchgeführt worden. Allerdings hielt Lockyer es für nahezu ausgeschlossen, diese Probe jetzt noch auftreiben zu können.

»Kein Protokoll ihrer SMS«, murmelte Lockyer. »Kein Hinweis darauf, wovor sie weggelaufen sein könnte.«

»Nein. Oder wo sie hinwollte«, gab Broad zu bedenken. »Ich meine, sie ist wahrscheinlich nicht nur vor etwas weggelaufen, sondern hatte vielleicht irgendeinen Plan, von dem sie glaubte, dass ihre Familie ihn nicht billigen oder verstehen würde.«

»Sicher.«

Lockyer dachte über Hari Kirmanis schreckliche Gewissheit nach, dass seinem Kind etwas zugestoßen war und die Polizei die Suche viel zu schnell eingestellt hatte. Er war fest entschlossen, nicht das Gleiche zu tun.

»Andererseits«, sagte Broad, »wenn sie abgehauen ist, warum hat sie dann ihre Fluchttasche nicht mitgenommen? Und wenn es ihr gut ging und sie einer Freundin eine SMS geschickt hat – warum nicht dann auch ihren Eltern? Oder ihrem Bruder?«

»Nun, vielleicht waren sie das Problem. Außerdem ist es durchaus möglich, dass sie 1999 noch keine Handys hatten«, sagte Lockyer.

Broad blinzelte – jemand in ihrem Alter musste schon viel Fantasie aufbringen, um sich eine Zeit ohne Handys vorzustellen. »Ich nehme an, dass man von Nazmas Telefon keine Tracking-Daten eingeholt hat?«

»Diese Technologie steckte damals noch in den Kinderschuhen, Gem. Und warum hätte man das tun sollen, nachdem sie einer Freundin eine SMS geschickt und das Polizeirevier aufgesucht hatte?«

»Wenn sie das auf dem Bild tatsächlich ist.«

»Die Frau sieht aus wie sie. Und sie hatte ihre Brieftasche und ihren Führerschein.«

»Sie glauben also, das ist Nazma?« Ihre Frage klang fast wie ein Vorwurf.

Lockyer ließ sich Zeit für seine Antwort. Keine Rekonstruktion der letzten Stunden. Keine Aufrufe an die Bevölkerung, keine Belohnungen. »Ich glaube vorerst gar nichts.« Er tippte auf das Standbild der Überwachungskamera. »Aber wenn das hier tatsächlich Nazma ist und sie kurz zuvor abgehauen war, dann können wir davon ausgehen, dass sie noch lebt. Sie wäre inzwischen Mitte vierzig. Falls sie von der Bildfläche verschwinden wollte, benutzt sie jetzt wahrscheinlich einen falschen Namen. Machen wir uns auf die Suche nach ihr. Wir können zunächst ihre Freundin befragen, der sie in den Tagen, nachdem sie in Marlborough aufgebrochen war, eine SMS geschickt hat. Ihrer Mitbewohnerin. Wie hieß sie noch?«

Broad sah nach. »Emma Billingham.«

»Versuchen Sie, sie ausfindig zu machen. Und ich werde sehen, ob ich in Erfahrung bringen kann, wer im Polizeirevier von Islington hinterm Empfangstresen stand, als Nazma dort angeblich aufgetaucht ist.«

Er starrte auf das grobkörnige Foto – auf die Frau mit der Kappe, die den Kopf nach unten geneigt hatte. Sein Blick wanderte zwischen dem Foto und dem lächelnden Gesicht auf dem Abschlussporträt hin und her. Gut möglich, dass die Fotos dieselbe Person zeigten, aber das ließ sich nicht eindeutig sagen. Und wenn es sich nicht um dieselbe Person handelte, dann war die Frau, die das Revier in Islington aufgesucht hatte, eine unbekannte Beteiligte. Die aus irgendeinem Grund ein Interesse daran gehabt hatte, dass die Polizei die Suche nach Nazma einstellte. Und der Plan war aufgegangen.

2

Der Feldweg, der zu den beiden abgelegenen Häuschen führte, von denen Lockyer eines bewohnte, war mit matschigen Pfützen übersät, obwohl noch nicht einmal Winter war. Im Vorderzimmer des linken Hauses, in dem seine ältere Nachbarin Iris Musprat lebte, brannte Licht. Lockyer wartete, bis er sah, dass sich im Innern etwas bewegte. Irgendwann hatte er angefangen nachzuschauen, ob bei ihr das Licht ein- oder ausgeschaltet war, ob die Vorhänge auf- oder zugezogen waren oder ob sie morgens ihre Ziege aus dem klapprigen Stall gelassen und am Ende des Tages wieder hineingebracht hatte. Wenn abends der Ton des Fernsehers nicht durch die Nachbarwand dröhnte, ertappte er sich dabei, wie er nach irgendeinem anderen Lebenszeichen lauschte.

Iris war wie Lockyer ein Einzelgänger, jedoch wesentlich unzugänglicher als er. Es hatte lange gedauert, bis sie Vertrauen zu ihm gefasst hatte, und es überraschte ihn, dass sie Hedy sofort ins Herz geschlossen hatte.

»Ihres, oder?« hatte sie zum ihm gesagt, als sie deren Babybauch bemerkt hatte.

»Ja, meins«, hatte er erwidert. Iris hatte darauf nur vielsagend genickt, um vielleicht ihre Anteilnahme und Zustimmung auszudrücken, oder aber ihren Unmut. Seitdem kam sie häufiger als sonst vorbei und brachte merkwürdige Getränke und Geschenke für Hedy oder das Baby mit. Außerdem erteilte sie Lockyer regelmäßig Ratschläge.

Ja, meins. Es beunruhigte ihn jedes Mal, wenn er sich das ins Gedächtnis rief. Jedes Mal, wenn er Hedy sah. Vielleicht war es Angst. Vielleicht auch Ungläubigkeit, Freude oder Wut. Schwer zu sagen. Weder Lockyer noch Hedy erhoben gern die Stimme. Wenn sie sich stritten, geschah das mit einer derart stillen Intensität, dass sich die Luft wie bei einem aufziehenden Gewitter elektrisch auflud. Inzwischen verspürte er beim Öffnen der Haustür jedes Mal eine starke innere Anspannung. Manchmal vermisste er die Einsamkeit früherer Zeiten.

»Hedy?«, rief er. Irgendwo im Haus war Gebrabbel aus dem Radio zu hören.

»Hier oben.«

Er fand Hedy im Gästezimmer, sie kniete auf dem Boden und hatte eine Kommode zur Hälfte zusammengebaut. In der einen Hand hielt sie einen Schraubenzieher, in der anderen die Anleitung, einen Ausdruck nackter Wut im Gesicht.

»Sag kein Wort«, warnte sie ihn.

Das Baby schien sie langsam auszuzehren; während es stetig wuchs, wurde Hedy selbst immer magerer. Die Haut unter ihren Wangenknochen und Schlüsselbeinen war tief eingesunken, ihre Arme waren dünn wie Streichhölzer, ihre Augen riesig.

Sie funkelte ihn wütend an. »Ich weigere mich, das nicht zu verstehen.«

Lockyer verspürte einen Anflug ohnmächtiger Liebe. »Hedy, Selbstbaumöbel sind dazu gedacht, deinen Blutdruck in die Höhe zu treiben.«

Er streckte seine Hände aus, und nach einem kurzen Zögern ließ sie sich von ihm nach oben ziehen, worauf sie schwankend versuchte, das Gleichwicht zu halten. Sobald sie wieder sicher stand, wanderten ihre Hände zum Babybauch, und sie machte ein finsteres Gesicht, wie Lockyer das schon häufig beobachtet hatte.

»Drecksding«, murmelte sie und schleuderte die Anleitung auf einen Berg Leisten und Tüten voller Unterlegscheiben und Schrauben.

»Ich mache es später fertig«, sagte Lockyer. »Du solltest dich ausruhen.«

»Wenn ich mich noch mehr ausruhe, drehe ich total durch«, sagte sie. »Können wir bitte einen Fernseher kaufen?«

»Sobald wir einen Fernseher haben, willst du dir nur noch irgendwelche Sendungen anschauen. Ich vermisse ihn gar nicht mehr.«

»Man sieht fern, weil es unterhaltsam ist. Deshalb. Das hier ist schlimmer als der Knast.«

»Es ist bald vorbei«, sagte er.

»Das hast du damals über meine Haftstrafe auch gesagt. Aber es kommt mir so vor, als wäre ich schon seit Jahren hier eingesperrt.«

Seufzend ging sie zum Fenster und spähte in die Abenddämmerung hinaus, auf die nassen, herbstlich braunen Bäume. Erneut spürte Lockyer ihr starkes Verlangen, von hier zu verschwinden. Das machte ihn nervös. Der Geburtstermin war in etwa fünf Wochen.

»Mrs. Musprat ist vorhin vorbeigekommen, mit einem absolut widerlichen Gebräu«, sagte sie. »Sie ist erst wieder gegangen, nachdem ich es getrunken hatte.«

»Bitte sag mir, dass du das nicht getan hast.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, es war hauptsächlich Rizinusöl. Ach, und übrigens, wir haben immer noch kein Babybett.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich darum kümmere.«

»Tu nicht so geheimnisvoll.«

»Das musst du gerade sagen.«

Man wurde kaum schlau aus ihr; sie besaß eine erstaunliche Selbstbeherrschung und einen Gleichmut, der ihn verunsicherte, weil er nicht wusste, was sie dachte. Er erinnerte sich daran, wie er sie im Gefängnis besucht hatte, bevor es ihm gelungen war, ihre Unschuld zu beweisen. Wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, frei zu sein, sich ein neues Leben aufzubauen. Eine eigene Familie zu gründen. Wahrscheinlich war eine ungewollte Schwangerschaft mit dem Detective, der sie überhaupt erst hinter Gitter gebracht hatte, nicht unbedingt das, was sie sich erträumt hatte. Sie wollte das Baby, das war völlig klar. Aber er war sich nicht sicher, ob sie auch ihn wollte.

»Du weißt schon, dass du wegen des Lockdowns nicht zu mir auf die Station darfst, wenn die Wehen einsetzen?«

»Ja. Das habe ich mir schon gedacht.«

»Ich habe heute Morgen die Entbindungsstation angerufen. Du darfst nur in den Kreißsaal, kurz bevor das Kind kommt. Aber du darfst nicht auf die Station.« Sie sagte das in einem nüchternen Tonfall. »Ich an deiner Stelle wäre froh. Wenn ich noch einmal hören muss, wie jemand mit rührseliger Stimme das Kind ›Baby‹ nennt, als wäre es sein Name, dann schreie ich.«

Sie hatte die in der zwanzigsten Woche obligatorische Ultraschalluntersuchung in Frankreich durchführen lassen, kurz bevor sie nach Großbritannien zurückgekehrt war. Lockyer hatte das grobkörnige Bild des Babys gesehen, dessen Geschlecht sie immer noch nicht kannten. Hedy hatte es nicht wissen wollen. Inzwischen hatte man ihr eine Hebamme zugewiesen, die Lockyer noch nie gesehen hatte, und Hedy hatte online an einem Schwangerschaftskurs teilgenommen. Lockyer hatte keine Rolle bei ihren Plänen für die Geburt gespielt. Keine Rolle bei ihrer Entscheidung, das Kind überhaupt zu bekommen. Wenn sie nicht zurückgekommen wäre, hätte er gar nicht erfahren, dass sie schwanger war. Vielleicht wäre sein Kind geboren und großgezogen worden und schließlich in die Welt hinausgegangen, ohne dass er je etwas von seiner Existenz gewusst hätte. Wie sollte er da nicht wütend sein?

Aber sie war zurückgekommen.

»Bist du noch fit genug für das Abendessen heute bei meinen Eltern?«, fragte er.

Hedy warf einen Blick über die Schulter, sie war von der Vorstellung nur wenig begeistert. Dann nickte sie. »Das ist wohl für eine Weile die letzte Gelegenheit. Bis Weihnachten.«

»Dann werden wir zu dritt sein.«

Hedy lächelte zaghaft. Sie würden bald absolutes Neuland betreten, und sie beide wussten es.

Rings um das Bauernhaus, in dem Lockyer aufgewachsen war, fegte wie immer ein heftiger Wind, obschon der Monat verhältnismäßig trocken gewesen war und die tief liegenden Felder noch nicht unter Wasser standen. Im Innern erwartete sie der warme, vertraute Mief, den er so liebte: der Geruch von Schafen und Hunden, von gekochtem Essen und alten Teppichen. Trotz der Abwesenheit seines jüngeren Bruders, die dem Haus und der Familie gleichermaßen zusetzte, fühlte er sich hier immer noch zu Hause. Jody Upton, die im Sommer als Aushilfskraft hergekommen und anschließend geblieben war, verstand es bestens, die dunklen Schatten zu vertreiben, und war ein echtes Arbeitstier. Lockyer war ihr für beides zutiefst dankbar.

Trudy öffnete mit einem strahlenden Lächeln die Tür, und Lockyer bemerkte, dass sie vorsichtig Halt suchte, bevor sie ihre Holzkrücke losließ, um Hedy zu umarmen. Sie war durch eine heftige Immunreaktion auf das Corona-Virus, die sie zu einem langen Krankenhausaufenthalt gezwungen hatte, stark geschwächt. Sie wurde schnell müde, hatte Probleme mit der Feinmotorik und einen unsicheren Gang. Die Zeiten, in denen sie auf dem Hof helfen konnte, waren vorbei.

»Wie geht es dir, meine Liebe?«, fragte sie Hedy.

»Ich komme mir wie ein Hochseetanker vor. Und mein Rücken bringt mich noch um.«

»Du Ärmste«, sagte Trudy. »Ich kann mich noch gut daran erinnern. Die Leute meinten immer zu mir, ich sähe aus wie das ›blühende Leben‹ … das blühende Elend traf es wohl eher. Komm, setz dich ans Feuer, ich bringe dir eine Wärmflasche.«

Sie griff nach ihrer Krücke und drehte sich vorsichtig um, darauf bedacht, das Gleichgewicht zu halten. Im Vorbeigehen klopfte sie Lockyer auf die Schulter, und er beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.

»Wo ist Jody?«, fragte er.

»Sie hat noch zu tun«, sagte sie. »Du kannst ihr sagen, dass sie reinkommen soll. In einer halben Stunde steht das Essen auf dem Tisch.«

Lockyer traf Jody dabei an, wie sie vor den Fressgittern im Stall, wo die kleine Rinderherde vor Kurzem ihr Winterquartier bezogen hatte, Heu verteilte. Sie trug einen Overall, eine Wollmütze und ihre wetterfesten Sicherheitsstiefel und hatte ihre EarPods eingestöpselt, sodass sie ihn nicht kommen hörte. Es stank heftig nach Jauche. Lockyer trat in ihr Blickfeld und hob eine Hand.

»Alles okay?«, sagte sie und rieb sich mit dem Ärmel die Nase.

»Ja. Und bei dir?«

Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf den Nieselregen und die Jauche. »Mir könnt’s nicht besser gehen.«

»Mum sagt, dass es in einer halben Stunde Essen gibt.«

»Ich bin fast fertig. Ich wünschte, sie hätte mich kochen lassen. Ich brauche dafür nur ein Zehntel der Zeit.«

»Dazu ist sie immer noch in der Lage.«

»Das versteh ich ja«, sagte Jody. »Ich weiß nur nicht, wie viel Shepherd’s Pie ich noch ertragen kann.«

»Hedy ist auch hier«, sagte Lockyer sachlich.

»Hab’s gesehen.«

»Meinst du, du kannst nett zu ihr sein?«

»Glaube nicht«, sagte Jody fröhlich.

Sie und Hedy waren wie Feuer und Wasser, es war also kein Wunder, dass sie sich nicht mochten. Nach Lockyers Erfahrung schafften es Frauen zwar meistens, irgendwie miteinander auszukommen, wenn sie mussten, diese beiden jedoch nicht. Noch nicht.

»Es geht ihr beschissen«, sagte er. »Sie fühlt sich schrecklich, und … diese ganze Ungewissheit …«

»Sie bekommt ein Kind, sie muss nicht über glühende Kohlen laufen. Frauen tun das seit Anbeginn der Zeit. Ich bin auch schwanger gewesen, vergiss das nicht. Es ist nicht halb so schlimm, wie sie tut.« Jody zeigte mit dem Finger auf die Ochsen. »Einer dieser Mistkerle hat mir gerade auf den Fuß getreten, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir zwei Zehen gebrochen hat. Das ist schrecklich.«

»Komm schon, Jody … Kannst du nicht etwas nachsichtiger mit ihr sein?«

Sie verdrehte die Augen. »Na schön. Ich werde mir besonders viel Mühe geben, nett zu Lady Hedy zu sein, der Herzogin von Hedyshire.«

Lockyer grinste. »Hörst du dir überhaupt selbst zu?«

»Halt die Klappe.«

»Müssen wir jemanden aufsuchen, der sich deinen Fuß ansieht?«

»Damit ich stundenlang in der Ambulanz hocke und darauf warte, dass man mir einen Verband verpasst? Nein danke.«

»Gut, dann hör auf zu jammern. Du hast noch Zeit, dich zu duschen, und, wenn ich das sagen darf, das ist auch dringend nötig.«

»Darfst du nicht, Laufbursche«, sagte sie im Weggehen.

Als Jody an den Tisch kam, roch sie frisch gewaschen, und ihre kurzen blau-schwarzen Haare waren noch feucht. Es gab Fischpastete statt Shepherd’s Pie, und wie üblich plauderte Trudy unbekümmert drauflos, während Lockyers Vater John hin und wieder eine Antwort murmelte, Lockyer sich bemühte, die Gesprächspausen zu füllen, und die beiden jüngeren Frauen einander demonstrativ ignorierten.

»Du solltest etwas mehr essen«, sagte Jody, als Hedy nicht mal ihre erste Portion schaffte. »Du wirst sonst dürr wie eine Vogelscheuche.«

Im Vergleich zu Jodys kräftiger, sportlicher Figur fiel erst recht auf, wie viel Gewicht Hedy verloren hatte.

Hedy warf ihr einen kühlen Blick zu. »Mir geht’s gut, danke.«

»Ich schätze, es ist ein Junge, so wie das Baby dich aussaugt«, fuhr Jody fort.

Hedy sah sie an, ohne zu blinzeln. Doch Jody lächelte ungerührt.

»Habt ihr beide schon über einen Namen nachgedacht?«, fragte Trudy.

Lockyer und Hedy wechselten einen Blick. Er vermutete, dass die meisten Paare das inzwischen getan hätten. Allerdings war er sich nicht sicher, ob sie überhaupt ein Paar waren.

»Nun«, sagte Hedy, »meine Mum heißt Pauline, aber ich habe den Namen nie besonders gemocht. Und zu meinem Vater habe ich keinen Kontakt mehr, von dieser Seite gibt es also nicht viel Anregung. Meine Großmutter hieß Elise, was ein hübscher Name ist … Vielleicht Daniel, wenn es ein Junge ist. Ich habe Danny immer gemocht.«

Lockyer zuckte innerlich zusammen, und selbst Trudy starrte für einen Moment auf ihr Besteck. Weil Hedy ausgerechnet diesen Namen aus Tausenden von Jungennamen nannte, und weil sie offenbar nicht in Betracht zog, das Baby vielleicht nach seinen anderen Großeltern zu benennen, den Großeltern, mit denen sie gerade zusammensaß. Sie schien vergessen zu haben, dass das Kind auch Teil dieser Familie sein würde.

Lockyer schaute zu Hedy, worauf sie rot anlief, als würde sie begreifen, was sie getan hatte. Auf der anderen Seite des Tisches nippte Jody an ihrem Wasser und musterte Hedy prüfend. Hedy konnte zwar nicht wissen, dass Danny der Name von Jodys im Alter von drei Jahren verstorbenem Sohn war, dennoch machte sich Lockyer mit einem beklommenen Gefühl auf Jodys Reaktion gefasst.

»Wird deine Mutter vorbeikommen, wenn das Baby da ist?«, fragte Trudy ein wenig steif.

»Ich … ich glaube nicht«, stammelte Hedy. »Sie müsste dann wieder zwei Wochen in einem Quarantänehotel verbringen, was sie schon beim letzten Mal gehasst hat. Außerdem gibt es kaum Flüge.«

»Oh. Das ist schade.«

Jody räusperte sich. »Hedy, du weißt ja, dass Matt tierisch genervt ist, weil wir uns nicht verstehen. Also, mir ist da was eingefallen, was wir gemeinsam haben.«

»Jody …«, versuchte Lockyer sie zurückzuhalten, aber sie ignorierte ihn.

»Nein, das ist wirklich gut – es ist sogar ziemlich witzig. Wir beide waren zur selben Zeit im Knast. Eastwood Park, 2012. Allerdings habe ich nur achtzehn Monate gesessen, nicht vierzehn Jahre. Aber wir waren zur selben Zeit dort.«

Für einen Moment herrschte Stille. Niemand sagte etwas. Dann begann John zu lachen – was Lockyer schon so lange nicht mehr erlebt hatte, dass er fast vergessen hatte, wie sich das anhörte. Es war ein überraschend jungenhaftes Lachen für einen derart trübsinnigen Mann und wurde von einem schweren Keuchen begleitet. »Jody!«, stieß er hervor. »Du hast es wirklich faustdick hinter den Ohren!«

Jody grinste ihn an. »Was denn? Ich suche nur nach Gemeinsamkeiten, mehr nicht.«

»John, also wirklich«, sagte Trudy, als er schließlich aufhörte zu lachen, weil er husten musste und nach Luft schnappte.

»Beachte sie einfach nicht, Hedy – sie hat nur Unfug im Kopf«, sagte John, was Hedy mit einem schmallippigen Lächeln erwiderte.

»Achtzehn Monate zählen kaum«, sagte sie ruhig.

»Ja, ich war nur auf der Durchreise.« Jody wandte sich mit ihrem boshaften Grinsen Hedy zu. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich an dich erinnere. Tracey Grant hat dich öfter fertiggemacht, oder? Sie war ein echtes Miststück. Sie hat immer die Frauen schikaniert, die sich nicht zur Wehr setzten.«

Hedy erwiderte nichts.

»Einmal ist sie im Speisesaal auf dich losgegangen, aber jemand hat seinen Fuß ausgestreckt und sie zu Fall gebracht. Sie purzelte über den Boden, eingesaut mit Ochsenschwanzsuppe, und röhrte wie ein Elch … Es war saukomisch. Sie dachte, das sei Gwen gewesen, und dann brach die Hölle los.«

Hedy zuckte zusammen. »Ich erinnere mich.«

Jody beugte sich vor. »Das war nicht Gwen.«

Erneut herrschte für einen Moment Stille. Lockyer und seine Eltern konnten nur abwarten.

»Danke«, sagte Hedy schließlich.

»Keine Ursache.« Jody griff nach der Backform mit der Pastete und füllte sich eine weitere Portion auf. »Mein Sohn hieß Danny, falls du dich fragst, warum alle eben so komisch reagiert haben. Er starb, als er noch sehr klein war. Aber lass dich davon nicht abhalten, dein Kind so zu nennen. Das macht mir nichts aus.«

Hedy seufzte leise, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Aber kurz darauf erklärte sie, dass sie müde sei und gern nach Hause wolle.

»Ich kapiere nicht, warum sie sich so aufführen muss«, murmelte sie, sobald sie und Lockyer im Wagen saßen.

»Sie wollte nicht … Hör zu, sie ist zwar ungehobelt, aber ich glaube, ehrlich gesagt, dass sie versucht hat, ein wenig das Eis zu brechen.«

»Ach ja? Glaubst du?«, sagte Hedy schroff.

»Hedy …«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie ein Kind verloren hat?«

»So was … so was erwähnt man nicht beiläufig in einem Gespräch. Schon gar nicht mit …« Er verstummte.

»Mit mir?«

»Mit einer werdenden Mutter.«

»Aber du redest mit Jody über mich? Warum willst du, dass wir uns gut verstehen, Matt?«

»Das tue ich nicht. Aber das würde das Leben sehr viel einfacher machen. Jody ist auf dem Hof eine große Hilfe. Wenn sie jetzt gehen würde, wäre es schwer, einen Ersatz zu finden, und meine Eltern kämen alleine nicht zurecht.«

»Davon rede ich nicht«, murmelte Hedy. »Sie verteidigt ihr Revier. Sie will mich nicht in der Nähe deiner Eltern haben – vor allem nicht in der Nähe deines Vaters. Und sie will auf keinen Fall, dass ich in deiner Nähe bin.«

»Hedy, das ist Blödsinn.«

»Ach ja? Hast du mit ihr geschlafen?«

Lockyers überraschtes Schweigen sagte alles. Hedy wandte den Blick ab. »Dachte ich mir.«

»Nur einmal. Wir waren nie … zusammen, oder so was in der Art. Es war nur …«

»Was?«

»Keine Ahnung. So was passiert eben«, sagte er. »Hör zu, du warst nicht da. Ich wusste nicht, ob du je wieder zurückkommst. Und ich wusste ganz sicher nicht, dass du schwanger warst.«

»Lass es einfach, Matt.«

»Was?«

Er fuhr so langsam, wie er konnte, den zerfurchten Feldweg entlang, damit ihr Rücken nicht durchgerüttelt wurde, und kam schließlich zum Stehen.

»Was soll ich lassen, Hedy?«

»Zu versuchen, mich zu beruhigen. Das musst du nicht.« Sie warf ihm einen Blick zu, während sie sich aus dem Wagen wuchtete. »Das ist absolut nicht nötig.«

Schweigend liefen sie zur Haustür.

»Ich sollte vielleicht einen Spaziergang machen«, sagte Lockyer, bevor sie das Haus betraten.

»Tu das.«

Sie war es gewohnt, dass er nach Einbruch der Dunkelheit regelmäßig spazieren ging. Das half ihm, einen klaren Kopf zu bekommen, seine Gedanken zu ordnen und vielleicht etwas besser zu schlafen. Aber es klappte nicht immer, und er glaubte nicht, dass es heute Abend funktionieren würde. Sie waren beide einfach nicht bereit, zusammen ein Kind zu bekommen. Hedy war seit nicht mal einem Jahr wieder auf freiem Fuß, und obwohl sie sich schon sehr lange kannten, hatten sie in dieser Zeit kaum Kontakt zueinander gehabt. Er liebte sie zwar, aber er hatte sich auch mit dem Gedanken angefreundet, dass sie ihn für immer verlassen hatte. Ebenso wie mit dem Gedanken, dass er nie Vater werden und eine eigene Familie haben würde. Er war darüber nicht gerade glücklich gewesen, aber er hatte es akzeptiert.

Und jetzt waren sie wieder vereint und sahen, völlig unvorbereitet, der anstrengendsten Erfahrung entgegen, die es für ein Paar gab. Aber sie konnten kaum darüber reden, wie sie sich dabei fühlten. Das spielt doch eigentlich keine Rolle, oder?, hatte sein alter Freund Kevin gesagt, als Lockyer ihm davon erzählt hatte. Das Kind kommt, ob ihr nun bereit seid oder nicht.

Lockyer atmete die nächtlichen Gerüche der Salisbury Plain ein, den Geruch des glitschigen, kalkhaltigen Schlamms und der umgeknickten braunen Gräser und die feuchte Luft, die weiteren Regen ankündigte. Er dachte über Nazma Kirmani nach. Und er fragte sich, ob sie irgendwo noch lebte oder inzwischen tot war. Hari Kirmanis Gewissheit, dass seine Tochter einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, hatte ihm keine Ruhe gelassen: Inzwischen hielt er die Frau auf den Überwachungsbildern aus Islington für eine Verdächtige und nicht für Nazma selbst.

Aber seine Gedanken wanderten unweigerlich zu seiner eigenen Situation zurück. Hatte Hedy womöglich recht, was Jodys Feindseligkeit betraf? Oder war Hedy nur ein wenig eifersüchtig auf sie? Er fand das eine tröstliche Vorstellung, denn es bedeutete, dass ihr tatsächlich etwas an ihm lag. Allerdings gab es eine Alternative zu dem steinigen Weg, der vor ihnen lag: dass Hedy nach der Geburt mitsamt dem Kind wieder verschwinden würde. Sosehr er auch darüber nachgrübelte, er wusste nicht, was er davon halten würde. Denn obwohl er es insgeheim unzählige Male geleugnet hatte – in Wahrheit fühlte er sich gefangen.

3 Tag zwei, Dienstag

Nazma Kirmanis frühere Mitbewohnerin Emma Billingham arbeitete als Lehrerin und war momentan wegen Burn-out krankgeschrieben. Sie wohnte im Obergeschoss eines stattlichen georgianischen Gebäudes an einer der Hauptstraßen von Bath. Ihr Gesicht war ausgezehrt und wirkte angespannt. An den Wurzeln ihres dunkelbraunen Haars verlief ein breiter Streifen Grau – eine in der Pandemie inzwischen weitverbreitete Frisur. Ihr Blick wanderte unablässig umher, und sie hielt nie länger als eine Sekunde Augenkontakt. Emma führte die beiden in ein Wohnzimmer mit einer schrägen Decke, wo Lockyer – mit seinen fast eins neunzig – den Kopf leicht einziehen musste. Dort holte sie eine Gesichtsmaske hervor und setzte sie auf.

»Wir können auch draußen reden, wenn Sie sich dann wohler fühlen«, sagte Broad.

Emma schüttelte den Kopf. »Ist schon okay. Sie sagten, Sie wollten über, äh, Nazma reden?«

Lockyer bemerkte, dass sie kurz zögerte, bevor sie den Namen ihrer früheren Mitbewohnerin aussprach.

»Ja. Soweit wir wissen, haben Sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens mit ihr zusammengewohnt. War das hier, in Bath?«

»Ja – also, in Weston. Ziemlich weit draußen. Aber wir konnten uns damals nichts anderes leisten.«

»Wie haben Sie beide sich kennengelernt?«

»An der Uni. In Exeter. Wir wohnten beide im Studentenheim.«

»Standen Sie sich nahe?«

»Sie war meine beste Freundin«, sagte Emma, wobei ihr rechtes Auge leicht zuckte. Außerdem zitterten ihre Hände stark. Lockyer fragte sich, ob das ihre normale Anspannung war oder ob es daran lag, dass sie mit der Polizei reden musste. »Haben Sie sie gefunden?«

Lockyer spürte, wie Broad neben ihm aufhorchte. Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er hasste es, dass sie Masken tragen mussten: Das machte es sehr viel schwerer, in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Emma senkte den Kopf und zog die Brauen zusammen.

»Ich dachte … Sie hätten sie vielleicht gefunden. Nach all der Zeit. Ich meine, es gibt doch Möglichkeiten, eine Person zu identifizieren, oder? Selbst wenn nur noch die Knochen übrig sind. Oder … die Zähne.« Sie schaute mit geweiteten Augen auf. »Tut mir leid. Ich wollte nicht …« Sie schüttelte den Kopf. »Machen Sie weiter.«

»Aufgrund von neu aufgetauchten Beweisen untersuchen wir erneut Nazmas Verschwinden«, sagte Lockyer. »Die ursprüngliche Ermittlung kam zu dem Schluss, dass sie aus eigenen Stücken gegangen sei, deshalb enthält die Akte zu dem Fall kaum Informationen. Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen zu Nazma stellen, vor allem zu den Wochen und Monaten vor ihrem Verschwinden. Und zu den Nachrichten, die sie Ihnen geschickt hat, kurz nachdem sie am zweiten Oktober 1999 verschwunden war.«

»Okay.«

»Über welchen Zeitraum haben Sie von ihr Nachrichten bekommen?«

»Nur für ein paar Tage. Nicht lange.«

»Ich nehme an, Sie haben das Telefon nicht aufbewahrt oder die Nachrichten irgendwie gespeichert«, sagte Lockyer.

»Nein. Tut mir leid. Das Telefon war uralt.«

»Wissen Sie noch, was Nazma geschrieben hat?«

Emma antwortete nicht sofort, und Lockyer hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Miss Billingham?«, forderte Broad sie behutsam auf.

»Was man eben so erwarten würde. Dass sie für eine Weile verschwinden müsse und ich schon wüsste, warum. Dass es ihr gut gehe und wir uns bald wiedersehen würden, so was in der Art. Außerdem bat sie mich, sie nicht zu kontaktieren und niemandem zu erzählen, wo sie hingegangen ist.«

In Emmas Augen glänzten Tränen.

»Ist schon gut«, sagte Broad. »Lassen Sie sich Zeit.«

»Tut mir leid. Ich kann nicht fassen, dass mich das nach all den Jahren immer noch so aufwühlt.«

»Sie hat Ihnen offenbar viel bedeutet.«

»Ja. Sie war einfach wunderbar. Einer dieser Menschen, in deren Gegenwart man sich besser fühlt. Und man das Leben positiver sieht. So ein Mensch war Naz. Und es hat mich ziemlich verletzt, als sie einfach so abgehauen ist.«

Lockyer beugte sich ein wenig zu ihr vor. »Miss Billingham, bitte seien Sie ehrlich zu uns. Wussten Sie, warum sie abgehauen ist?«

»Nicht direkt. Das habe ich auch schon damals gesagt … Sie meinte irgendwann mal zu mir, dass sie nach der Ausgrabung vielleicht nach London fahren werde. Nur für ein paar Wochen, sie brauche mal einen Tapetenwechsel. Mehr nicht. Es war nur ein vager Plan. Einige ihrer Cousinen lebten in London, glaube ich, aber …« Sie verstummte und zog ihre Maske herunter, um sich die Nase zu putzen. »Tut mir leid. Ich bin völlig durch den Wind. Das ist nur der Stress. Das alles hier.« Sie machte eine unbestimmte Geste mit der Hand.

»Schon gut. Und Sie haben das alles damals der Polizei erzählt, auch von den Nachrichten an Sie? Ist das richtig?«

»Ja. Die erste habe ich am Abend nach ihrem Verschwinden bekommen und eine weitere am Tag darauf. Dann war erst mal Funkstille, und ich glaube, etwa drei oder vier Tage später habe ich die letzte bekommen. Also, ich selbst habe ihr sehr viel mehr Nachrichten geschickt und versucht, sie anzurufen – vor allem nachdem Liz mit mir telefoniert hatte.«

»Liz Kirmani?«

»Ja. Sie waren verrückt vor Sorge. Ich habe Naz daraufhin gebeten, ihre Eltern anzurufen, und als sie das nicht tat, fragte ich sie nach dem Grund. Sogar mehrmals.«

»Hat sie es Ihnen erklärt?«

»Nein. Sie schrieb nur, dass es Sachen gebe, von denen ich nichts wisse, so was in der Art. Was mich überraschte. Denn wir haben uns immer alles erzählt. Zumindest dachte ich das.« Sie holte tief Luft. »Wir hatten uns in dem Sommer weniger gesehen als sonst. Sie verbrachte so viel Zeit auf Trueslow Hall.«

»Bei der Ausgrabung?«

»Genau. Sie gehörte zu einem Team, das die Grabung auf dem Grundstück von Trueslow Hall durchgeführt hat, das ist das große alte Haus dort. Die Besitzerin hatte ihnen eine Scheune als Unterkunft zur Verfügung gestellt, und sie haben sie in eine Art Schlafsaal verwandelt. Naz blieb immer die ganze Woche über dort und kam nur an den Wochenenden in unsere Wohnung. Also, an manchen Wochenenden.«

»Hatte sie Spaß?«

»Sie hatte die beste Zeit ihres Lebens.« Emma zuckte mit den Achseln. »Es war ein ziemlich heißer Sommer, sie verstand sich gut mit ihrem Team, und sie wurde für das bezahlt, was sie liebte.«

»Hört sich romantisch an«, sagte Broad.

»Ja. Aber …«

Emma blickte von Broad zu Lockyer und dann zur Seite, und plötzlich bemerkte Lockyer bei ihr einen Ausdruck von Schuld. Was erklären würde, warum sie, zwei Jahrzehnte später, immer noch so aufgewühlt war.

»Irgendetwas stimmte nicht«, sagte sie.

»Warum sagen Sie das?«, fragte Lockyer.

»Ich wusste es einfach. Sie … sie war mit einem der Männer von Brittonic zusammen.«

»Von der Archäologie-Firma?«

»Genau.«

»Können Sie uns sagen, mit wem?«

»Mit dem Chef der Firma. Edward Chapman. Allerdings hatte sie ihren Eltern nichts davon erzählt, weil er sehr viel älter war als sie. Außerdem war er verheiratet und hatte Kinder. Unglücklich verheiratet, zumindest hat er das behauptet.« Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Wir waren damals noch so jung. Naz war schwer in ihn verliebt und nahm alles, was er sagte, für bare Münze.«

»Haben Sie der Polizei damals davon erzählt?«

»Nein, aber ich wusste, dass die Polizei mit Nazmas Kollegen sprechen würde, und ich wusste, dass sie alle im Bilde waren und einer von ihnen es bestimmt ausplaudern würde. Ich … Ich kannte die Kirmanis sehr gut – sie sollten nicht erfahren, dass ich Bescheid wusste.«

»Die Beziehung war allgemein bekannt? Sind Sie da sicher?«

»Naz meinte, dass auf der Arbeit alle davon wussten. Allerdings haben sie und Edward das niemandem unter die Nase gerieben – sie haben in der Öffentlichkeit keine Zärtlichkeiten ausgetauscht, zumal sie für diese Sendung gefilmt wurden. Überall waren Kameras. Er bestand darauf, dass seine Frau erst davon erfahren durfte, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, weil sie sehr krank war oder so, und Naz wollte keinen Ärger machen.«

Broad kritzelte eifrig in ihr Notizbuch.

»Wie lange waren die beiden zusammen?«, fragte sie.

»Ich glaube, es fing an, als Naz bei Brittonic ihr Praktikum begonnen hatte. Etwa ein Jahr.«

»Und warum glaubten Sie, dass mit ihr etwas nicht stimmte?«, fragte Lockyer.

»Na ja … sie hörte irgendwann auf, von ihm zu schwärmen. Von Edward. Sie erzählte immer weniger von ihm und lächelte immer weniger, wenn sie es tat. Ich meine, sie hat ihn stets bis zum Äußersten verteidigt, wenn ich sagte, sie solle die Beziehung beenden, oder er werde seine Frau auf keinen Fall verlassen. Sie hatte an der Uni zwar auch schon ein paar Freunde gehabt, aber mit ihm hatte sie ihre erste ernsthafte Beziehung. Als ich sie fragte, ob sie aufgehört habe, ihn zu lieben, hat sie das zwar geleugnet, aber … ich hatte trotzdem diesen Eindruck. Außerdem wirkte sie oft abwesend. Wenn ich mich mit ihr unterhielt, merkte ich, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Und nicht zuhörte.«

»Und sie hat nie erzählt, was sie so beschäftigt hat?«

»Nein. Ich dachte schon, dass es an mir lag, dass ich ihr auf die Nerven ging und sie ausziehen wollte. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie, das sei nicht der Grund, sondern irgendwas auf der Arbeit.«

»Was genau?«

»Sie ist darauf nicht weiter eingegangen und meinte bloß, dass sie sich wahrscheinlich irre oder einfach paranoid sei. Ich kann mich nicht genau erinnern … Sie hat oft von dieser Frau erzählt, die in dem großen Haus wohnte, davon, wie großartig sie sei und was für ein großartiges Leben sie führe. Die Frau glaubte, dass Picasso ihr Vater sei, das weiß ich noch. Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern, es war irgendwas Südländisches. Vielleicht hatten die beiden sich gestritten. Aber das weiß ich nicht.«

»Hat Nazma sich mit ihrer Familie gut verstanden?«

»Ja. Also, soweit ich weiß, schon. Mr. und Mrs. Kirmani sind wirklich reizend. Und ihr Bruder Andrew auch.«

»Trotzdem hat Nazma ihnen nicht von der Beziehung erzählt, die ihr so wichtig war?«, sagte Broad.

»Nein. Aber nicht etwa, weil sie sich nicht nahestanden. Wir waren beide erst Anfang zwanzig. In dem Alter wollen die Eltern etwas von netten jungen Männern hören, die man vielleicht irgendwann heiraten wird. Nicht von einem verheirateten Liebhaber, der zwanzig Jahre älter ist und bereits eine Familie hat. Und der dazu noch der Chef ist.«

»Okay. Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Broad.

»Als wir eben gekommen sind, dachten Sie, dass wir vielleicht Nazmas Leiche gefunden hätten«, sagte Lockyer. »Dachten Sie das aufgrund ihres Verhaltens?«

»Ja, und weil ich … weil ich nie ganz geglaubt habe, dass sie einfach so abgehauen ist und den Kontakt zu mir abgebrochen hat. Und zu ihrer Familie. Ich weiß, dass es Leute gibt, die einfach ihr altes Leben hinter sich lassen, und meistens ist das für die Menschen, die zurückbleiben, ein riesiger Schock. Sie sagen dann, dass das der Person gar nicht ähnlich sieht … Aber in Nazmas Fall traf das tatsächlich zu. Voll und ganz.«

»Sie hat Ihnen doch Nachrichten geschickt.«

»Sicher.« Emma hielt inne. »Allerdings … hat sie das? Die Nachrichten kamen zwar von ihrem Telefon, aber …«

»Sie sind nicht überzeugt, dass Nazma sie geschickt hat?«

Emmas Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Nein. Das war ich nie.«

»Warum nicht?«

»Weil ich eben nicht wusste, warum sie verschwunden war. Und weshalb sie nicht wollte, dass jemand den Grund dafür erfuhr. Außerdem nannte sie mich in den Nachrichten Emma.« Sie bemerkte Lockyers und Broads verwirrte Blicke. »Naz hat mich nie so genannt. Sie hat mir im ersten Jahr an der Uni diesen bescheuerten Spitznamen verpasst – Moonie –, und der ist dann hängen geblieben. Sie hat mich immer Moonie genannt.«

»Sie glauben also, dass jemand anders im Besitz ihres Telefons war und damit die Nachrichten verschickt hat?«

Emma nickte. »Damals gab es noch keine Gesichtserkennung und keinen Fingerabdrucksensor, nur einen vierstelligen Code, und man galt als ziemlich paranoid, wenn man ihn benutzt hat. Ich habe mein Telefon nie gesperrt, und Naz ihres auch nicht.«

»Haben Sie das damals der Polizei erzählt?«, fragte Broad angespannt.

Da waren wieder diese Schuldgefühle, die Selbstvorwürfe. »Das ist mir alles nicht sofort aufgefallen. Ich fand es zwar seltsam, dass sie mich nicht zurückrief und nicht mit ihrer Familie telefoniert hatte, aber als mir das mit dem Spitznamen klar wurde, hatte die Polizei ihren Eltern schon mitgeteilt, dass Naz eine Polizeiwache aufgesucht hatte und es ihr gut geht. Dass sie nicht kontaktiert werden wollte.«

»Und das hat Sie beruhigt?«

»Nun, ich habe versucht, es zu akzeptieren. Und das war sehr schmerzhaft. Ich dachte, sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben, also habe ich die Angelegenheit auf sich beruhen belassen. Und versucht, mir keinen Kopf zu machen. Ihr Anteil an der Miete wurde für weitere drei Monate von ihrem Konto abgebucht, bis der Vertrag auslief. Ich habe sie dann noch mal angerufen, aber sie ging immer noch nicht dran. Also musste ich mir eine neue Mitbewohnerin suchen. Scheiße.«

Sie ließ ihr Gesicht in die Hände sinken.

»Ich habe dann hier in Bath die Polizeiwache aufgesucht und einer Beamtin erzählt, dass ich mir Sorgen um sie mache, dass sie auf meine Anrufe, Mails oder sonst irgendwas nicht reagieren würde. Die Frau hat sich alles aufgeschrieben und versprochen, der Sache nachzugehen, aber ich habe nie wieder etwas gehört. Ich habe dann im Internet nach ihr gesucht, immer und immer wieder. Doch ich habe nichts gefunden, und, ehrlich gesagt, habe ich damit auch nicht gerechnet.«

»Sie glaubten, dass ihr etwas zugestoßen sei?«