Das Grauen der Abyss-Arkaden - Marshall Flynn - E-Book

Das Grauen der Abyss-Arkaden E-Book

Marshall Flynn

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Beschreibung

Wraithfield – einst eine stolze Industriestadt an der Ostküste, heute ein Ort ohne Zukunft. Hoffnung versprach ein gigantisches Projekt: die Abyss-Arkaden, ein unterirdisches Einkaufsparadies. Doch am Tag der Eröffnung geschieht das Unfassbare: Durch Explosionen werden Tausende von Menschen darin eingeschlossen. Die Behörden blockieren jede Rettung, die Justiz schweigt, und Investor Ambrose Virell zieht sich zurück. Für Bob Clark ist es mehr als eine Katastrophe – er hat Laura verloren, die Liebe seines Lebens. Getrieben von Schmerz und Zorn kämpft er für Gerechtigkeit und wagt gegen jeden Widerstand den Abstieg in die Arkaden. Doch was ihn dort erwartet, ist ein Albtraum, der besser begraben geblieben wäre. Und manchmal, so begreift er, ist die Wahrheit das Grausamste überhaupt.

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Seitenzahl: 352

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Marshall Flynn
Das Grauen der
Abyss-Arkaden
Impressum
Autor:
© 2025 Marshall Flynn
Kontaktadresse:
c/o Manuel Enders
Oberdörnen 56, 42283 Wuppertal
E-Mail/Social Media:
www.facebook.com/autormarshallflynn und
www.instagram.com/autormarshallflynn
Lektorat:
www.fehlerjaegerin.de
Buchcover:
Das Cover wurde mit DALL·E über www.chatgpt.com erstellt
und bei www.canva.com nachbearbeitet.
Autorenportrait:
Jennifer Enders
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Für den wilden Bruce.
Wir sehen uns wieder.
The belief in a supernatural source of evil
is not necessary;
men alone are quite capable of every wickedness.
Joseph Conrad
Gequälte Seelen, vom Tode entzweit,
fliehen in Träume, in denen kein Schmerz mehr weilt.
Marshall Flynn
Vorwort
Liebe Fans des Horrorgenres,
mich faszinierten schon immer geheime Gänge, abgeriegelte Unterführungen und leere Kaufhäuser. Orte, die man der Öffentlichkeit durch Bauzäune oder Beton vorenthält. Dort, wo einst das Leben pulsierte – und wo Energien der Vergangenheit gefangen blieben, wie der Dschinn aus der Lampe.
Im Jahr 2022 hatte ich Gelegenheit, in meiner Heimatstadt Wuppertal eine verschlossene Geschäftsmeile zu betreten. Eine private Führung unterhalb eines ehemaligen Kaufhauses. Ich sah verblasste Werbeplakate, mindestens zwanzig Jahre alt. Staubige Läden, sie waren nur noch Schatten ihrer selbst – und doch standen ihre Namen noch immer stolz über den Türen, als warteten sie nur darauf, dass jemand zurückkehrte und den Betrieb wieder aufnehmen würde.
Es war eine Reise zwischen bröckelndem Beton und dem Aufflackern eines Funkens meiner Kindheit. Ein wehmütiges Gefühl, das mich seither nicht mehr loslässt. Ich glaube fest daran: Verlassene Orte bergen Geheimnisse. Dinge, die manchmal besser im Dunkeln bleiben sollten.
Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis ich meinen Roman »Das Grauen der Abyss-Arkaden« schrieb. Wer meine anderen Werke aufmerksam gelesen hat, weiß, dass diese Geschichte angekündigt wurde. Seid gespannt, welche Charaktere aus »Der Fluch von Everly Falls« und »Tod über Magnolia Springs« darin vorkommen.
In diesem Sinne wünsche ich euch gute Unterhaltung!
Euer
Marshall Flynn
Inhalt
Prolog
Eine Stadt und ihre Vision
Tag der Eröffnung
Die Katastrophe
Sehnsucht
Ein unfairer Prozess
Der dritte Notausgang
Western Heritage Bank
Sie kamen über das Wasser
Du bist verrückt!
Der Plan
Ein klarer Schnitt
Zwielichtige Übergabe
Eliza’s General Hospital
Alles oder nichts
Das große Fest von Wraithfield
Buddy und die Vampirwesen
Trauriger Abschied
Letzter Widerstand
Das Grauen der Abyss-Arkaden
Verlorene Kinder
Schmerzhafte Wahrheit
Was zur Hölle ist hier los?
Die Menschenindustrie
Bobs Hinrichtung
Auf der Flucht
Die Rache des Schlächters
Zurück zur Oberfläche
Ein neues Kapitel
Epilog
Prolog
Im finsteren Mittelalter brach eine Seuche über Europa herein. Sie forderte Leben wie ein unersättlicher Wolf, ließ ganze Dörfer verstummen. Der Wind trug den Geruch von Rauch und Fäulnis, Glocken läuteten nur noch für die Toten.
Unter den Überlebenden war ein Mann namens Vladomir Nocturian. Er war in den Wäldern Rumäniens zu Hause, in einer Hütte aus groben Balken und Lehm. Doch auch er verlor alles. Seine Frau. Seine Kinder. Die Hoffnung. Den Glauben an Gott. Alles war dahin. Sein Herz wurde schwärzer als die Nacht, und in dieser Schwärze erlosch jeglicher Funke des Guten. Jeder Versuch, sich das Leben zu nehmen, scheiterte – als würde eine fremde, uralte Macht ihm beistehen. Eine Macht, die ihn wertvoller erachtete als der Herr im Himmel.
Also veränderte er seine Gedanken. Er begann, nach dem Unaussprechlichen zu streben, während seine Haut langsam, aber unaufhaltsam Falten warf. Unsterblichkeit war fortan sein Ziel. Weder das nahrhafteste Brot noch das reinste Wasser konnten seinen Verfall – innerlich wie äußerlich – aufhalten. Also begann er zu experimentieren. Er aß jedes Insekt, jedes Tier, das er finden konnte. Doch alles, was daraus resultierte, waren schwere Vergiftungen, die ihn tagelang ans Bett fesselten.
Es musste etwas anderes sein. Etwas … Verbotenes. Etwas, das im offenen Widerspruch zu den immer wieder gepredigten Zehn Geboten stand. Grenzenloses Leben würde bedeuten, grenzenlos zu leben.
Eines Nachts, als der Wind durch die Fenster seiner Hütte pfiff, hörte er es: ein Flüstern – leise, beharrlich. Er wusste, es war nur für ihn bestimmt. Blut bedeutet Leben.Blut von Deinesgleichen, dass du töten musst.
Sein erstes Opfer war ein Bettler. Für ein Stück Brot lockte er ihn in den Wald, schlug ihm hinterrücks einen Stein gegen den Kopf, schnitt ihm die Kehle auf … und trank gierig sein Blut, als hätte er seit Anbeginn der Zeit nichts anderes getan. Mit jedem Schluck spürte er, wie das Leben in ihm aufflammte – heller, brennender als je zuvor. Und doch: Tief aus seiner christlichen Prägung brach Reue hervor. Sie stieg in seinem Magen auf … und er übergab sich.
Nachdem er die Leiche vergraben hatte, kehrte er blutverschmiert und von Erde verdreckt in seine Hütte zurück, der Geruch des Todes in seinen Kleidern. Er schwor sich, dass es nie wieder geschehen würde und dass niemand davon erfahren durfte. Dabei drehte sich das Holzkreuz an der Wand, als hätte es eine unsichtbare Hand bewegt.
Wenige Tage später verspürte er wieder den Drang – und er tötete erneut. Bei einem Blick in ein poliertes Metallschild wirkte sein Antlitz plötzlich blass, als könnte er durch sich hindurchschauen. Und an seinem Gebiss waren Eckzähne gewachsen. Es war der Anfang von etwas Neuem, Unbekanntem.
Am Morgen begann das Sonnenlicht auf seiner Haut zu brennen, es hinterließ wütende Brandmale. Von da an jagte er nur noch in der Nacht – aber nicht mehr mit dem Messer, sondern mit seinen Zähnen, woraufhin seine Wunden innerhalb eines Wimpernschlages heilten. Doch eines war Gewissheit: Den Alterungsprozess konnte er nicht aufhalten.
Eines Nachts, als er sein Spiegelbild nicht mehr wahrnahm, klopfte es an seine Pforte. Er erstarrte. Vor ihm standen die Toten, die er gerissen hatte – mit rot funkelnden Augen und spitzen Zähnen. Sie waren ihm treu ergeben. Von nun an ruhten sie gemeinsam in der Hütte, verborgen vor der Sonne.
In den folgenden Wochen wurde er übermütig. Mit seinen neuen Verbündeten machte er immer mehr Fehler – bis die Menschen erkannten, dass er das absolut Böse war. In der Abenddämmerung steckten sie seine Hütte in Brand. Rauch und Flammen fraßen sich durch Holz und Stroh, während die Menschen mit wütenden Stimmen die mitgebrachten Heugabeln erhoben.
Er floh. Verlor nicht nur seine Unterkunft, sondern auch seine Gefolgschaft. Im Gebirge fand er Zuflucht in einer verlassenen Kapelle. Deren Mauern waren feucht, ihr Dach halb eingestürzt. Das wuchtige Kreuz über dem Altar, das ihn beinahe getötet hätte, riss er zu Boden und deckte es mit einem alten, fleckigen Leinentuch zu. Er richtete den Blick auf eine holzgeschnitzte Statue, die Maria darstellte. In ihrem Arm lag das Jesuskind. Und wieder war es da, dieses Flüstern. Worte, süß wie Honig und scharf wie Klingen, schnitten sich in seine verlorene Seele. Dann kam aus dem Schatten die Antwort. Sie verhieß die einzige Möglichkeit einer physischen Unsterblichkeit: Das Blut von Kindern ist rein.
Und in jener Nacht schwor Vladomir Nocturian, der von diesem Moment an nur noch »Dracula« genannt werden wollte, der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Einer Welt, die ihn betrachtete, als wäre er nichts weiter als ein Geschwür. Nicht durch Gnade. Nicht durch Recht. Sondern durch seinen unstillbaren Durst nach Blut.
Eine Stadt und ihre Vision
Kapitel I
Wraithfield war eine unscheinbare Stadt an der Ostküste, knapp anderthalb Stunden mit dem Auto von New York City entfernt. Im Osten lag ein toter Industriebezirk, einst erfüllt vom Kreischen der Maschinen und dem metallischen Herzschlag der Eisenwarenproduktion. Doch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren die Lichter erloschen. Die Arbeit – verlagert, verschifft, verramscht – war dorthin gegangen, wo Hände billiger arbeiteten. Vor allem nach Asien. Zurückgeblieben waren Rost und zerborstene Fenster leerer Hallen, in denen jahrzehntelang Tag und Nacht geschuftet worden war.
Doch Wraithfield hatte überlebt. Die Leute hier waren freundlich, zäh, ihre Wurzeln tief wie die einer alten Eiche. Viele Familien wohnten bereits in zehnter Generation an diesem Ort. Und die, die irgendwann zugezogen waren, blieben – nicht weil es bequem war, sondern weil sie dazugehören wollten. Trotz Wirtschaftskrise und fehlender Jobs hielten die meisten durch. Mehr schlecht als recht. Aber sie gaben ihr Bestes – jeden einzelnen Tag. Viele pendelten. Morgen für Morgen. Raus aus der Stadt. Mit dem Zug oder mit dem Wagen.
An einem Dienstag im Jahr 2022, dem Jahr, in dem die Stadt wirtschaftlich endlich wieder erblühen würde, öffnete am Tag der Sommersonnenwende tief unter ihren Straßen ein gigantisches Einkaufszentrum seine Tore – eine Aussicht auf Arbeit, Geld und eine bessere Zukunft.
Diese Vision erfüllte die Menschen mit Hoffnung. Das Pilotprojekt »Abyss-Arkaden« sollte zum Vorbild für weite Teile Amerikas werden. Das Konzept war so simpel wie kühn: oben wohnen, unten arbeiten und einkaufen.
Unter dem Old-Mill Square, einem weitläufig gepflasterten Platz im Herzen der Stadt, gruben sie sechs Etagen in die Tiefe. Darüber spannte sich ein offener, gläserner Kuppelbau aus Stahl und Glas, der im Sonnenlicht glänzte wie ein neues Zeitalter. Von hier führten Rolltreppen und ein barrierefreier Aufzug hinab zum Eingang des Einkaufsparadieses.
Doch niemand ahnte, was hinter diesen Toren geschehen würde. Es sollte das dunkelste Kapitel von Wraithfield werden.
Tag der Eröffnung
Kapitel II
»Atme tief ein – und wieder aus, ja, Liebling! Tu es für mich!«, rief meine Mom Reagan an diesem heißen Sommertag. Ihre Stimme klang dumpf, bebte vor Panik. Sie meinte es gut, doch ich fühlte ihre Angst so deutlich wie meine eigene – und sie wirkte wie ein Gift, das alles nur schlimmer machte. Bei ihr waren Feuerwehrleute und einer gab ihr Ratschläge: »Bleiben Sie ruhig. Immer weiter gut zureden! Lenken Sie ihn ab. Fragen Sie, was er heute Abend essen möchte oder so. Wir holen ihn so schnell wie möglich da raus.« Ich hörte jedes Wort. Und mein Dad, John? Der war gerade bei der Arbeit.
Hier drin war es dämmrig und die Luft stickig. Zwischen meiner Mom und mir lagen dicker Stahl und fast eine Etage Beton – genug, um zwei Welten in Stock dreizehn und vierzehn zu trennen. Ich kauerte mich zusammen, den Rücken gegen die kalte, verspiegelte Wand gepresst. Vor mir die halb geöffneten Türen des Aufzugs. Ich weinte. Weil ich vorgelaufen war. Nicht weil ich Angst vorm Sterben hatte. Trotzdem begriff ich nicht, einfach nicht, was hier gerade geschehen war.
Von Earl Hargrove, dem Hausmeister – in Latzhose, mit fransigem Schnurrbart –, den alle nur »Buddy« nannten, hing der halbe Körper schlaff unter der Decke. Er wurde nicht nur deshalb so genannt, weil er jedem mit einem Lächeln half, sondern weil es in schwarzen Buchstaben auf seinem Hemd stand. Seine dünnen Haare trug er sonst immer sorgfältig über die kahlen Stellen gekämmt – ein Schleier gegen das Altern. Jetzt baumelten sie, ebenso wie er, leblos in der Kabine. Sein Gesicht. Seine Hände. Angeschwollen. Die Augen blutunterlaufen, leer. Aus seinem Mund tropfte Blut. Dieses hatte er zuvor mit seinem Mageninhalt erbrochen. Es stank. Sein Geist? War fort gewesen, noch bevor die Sirenen der Einsatzfahrzeuge aufgeheult hatten. Buddy hatte versucht, mich zu retten. Mit einem dreikantigen Metallschlüssel hatte er die klemmenden Türen über der kleinen Notöffnung am Rahmen entriegelt. Der Aufzug war berüchtigt für Stromausfälle, die die Türen blockierten – doch diesmal war er auch noch gnadenlos abgesackt, als Buddy gerade die Kabine betrat. Ich hatte es gehört: ein Knacken. Unter dem Gewicht des Stahls war Buddys Wirbelsäule gebrochen. Als wollte er der Physik trotzen. Als wäre er mein Schutzengel.
Wäre sein Körper zur Hälfte abgetrennt worden, hätte es mich mit in die Tiefe gerissen. Stattdessen war er der Grund, weshalb ich nicht in den Tod stürzte.
G.I. Joe war mein Held. Er konnte alles – kämpfen, klettern, die Bösen besiegen. Ich dachte, er würde mich immer beschützen. Doch in diesem Moment war er plötzlich ganz klein, so weit weg. Gegen Buddy kam er nicht an. Auch wenn ich noch immer in dieser Hölle steckte – ich war acht, und ich war ab diesem Zeitpunkt, Ende der Sechziger, nicht mehr derselbe.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Feuerwehrleute Holzkeile zwischen den Betonboden und die abgesackte Kabine trieben. Zur Sicherheit setzten sie noch einen quietschenden Wagenheber darunter und einer drehte wie besessen an der Kurbel, bis ihm Schweißperlen auf der Stirn standen. Die Konstruktion hielt – gerade so.
Dann gingen sie an die Türen. Mit einer schweren Brechstange stemmten sie das Metall auseinander, Zoll für Zoll, begleitet von einem gellenden Kreischen. Kaum war die Öffnung groß genug, sicherten zwei Männer Buddy mit Gurten, damit er nicht wegrutschte. Währenddessen griffen andere kräftige Hände nach mir und zogen mich als Ersten ins Freie. Erst danach hievten sie Buddy vorsichtig hinaus. Im nächsten Atemzug lag ich in den Armen meiner schluchzenden Mom. Ihre Umarmung war das Erste, das sich wieder wie Sicherheit anfühlte.
Jahre später, beim Entrümpeln der alten Wohnung meiner Eltern, fand ich eine vergilbte Ausgabe der Wraithfield Chronicles. Mom hatte das Tageblatt aufgehoben – vielleicht in der Hoffnung, ich würde mich irgendwann meinem Trauma stellen. Laut dem Artikel waren Buddys Gedärme beim Herumdrehen seiner Leiche durch die geplatzte Bauchdecke gerutscht. Ein grausames Detail, das mir bis heute im Kopf herumspukte. Und was war die Ursache des Unglücks? Kein gerissener Riemen, keine Materialermüdung – und schon gar kein Hydraulikleck. Schuld war die alte Seilzuganlage mit verschlissenen Bremsen. Das Getriebe hatte über Monate Öl auf die Treibscheibe gespuckt, die Beläge waren glasig. Als der Strom weg war, griff zwar die Federbremse, doch sie hielt nicht. Genau dieser Vorfall führte landesweit zu strengeren Sicherheitsauflagen für alte Aufzüge.
»Bob?«
Die Stimme hatte etwas Singendes, wirkte fast zu weich – nur eine Silbe, rasch gesprochen, dringlich, und sie rettete mich aus der entsetzlichen Kindheitserinnerung.
»Was?« Meine eigene Stimme klang fremd, als ich auf meine Frau hinabblickte. Schlank, beinahe modelhaft, ohne Schmuck. Ein buntes, wadenlanges Wickelkleid mit floralem Muster umspielte Lauras Beine, sie trug schlichte Sandalen. Zwischen kinnlangen Haaren kämpfte sich immer wieder eine Strähne nach vorn, fiel ihr ins Gesicht, wenn sie sprach. Das satte Rot darin – ihr letztes Aufbäumen gegen das Verblassen der Jugend.
Laura stand eine Stufe unter mir, während die Rolltreppe uns gemächlich in die scheinbar endlosen Tiefen beförderte – begleitet vom gleichmäßigen metallischen Brummen und dem vielstimmigen Murmeln der Menge. Auf der gegenüberliegenden Seite brachte eine weitere Rolltreppe zahlreiche Menschen nach oben. Dazwischen eine breite, saubere Treppe für all jene, die es eilig hatten.
Unter meinen Schuhsohlen vibrierte das Metall, meine Rechte krampfte sich um den schwarzen, gummierten Handlauf. Ich fühlte mich noch immer, als wäre ich gerade aus einem tiefen Schlaf gerissen worden.
Ich richtete meinen Blick auf den bunten Flyer der Abyss-Arkaden. Oben, auf dem Old-Mill Square, hatte ihn mir ein Ordner in neongelber Weste in die Hand gedrückt. Die Überschrift schrie mir in fetten Lettern entgegen: »Spaß auf dreihunderttausend Quadratmetern!«
»Du hast gerade wieder an die Geschichte mit dem Aufzug gedacht, nicht wahr?«
»Müssen wir das wirklich hier besprechen? Zwischen all den Leuten?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Nein. Aber ich glaube, der gläserne Aufzug da drüben, halb in den Wänden verborgen, hat das verursacht. Löse das Trauma doch endlich auf! Es gibt genügend Experten für so etwas.« Lauras Worte klangen sanft, fast zärtlich, und doch lag Mitleid darin. Sie lächelte und strich mir über das nackte Bein unter den knielangen, kakifarbenen Cargo-Shorts.
Ich nickte, die Lippen fest zusammengepresst. Mit einundsechzig Jahren war ich immer noch nicht darüber hinweg.
Also zwang ich mich, mich wieder auf das zu konzentrieren, was vor uns lag: das »einmalige Shoppingerlebnis«, von dem alle sprachen. Zwei Jahre lang hatten sie uns heiß gemacht – mit Marketing im Netz, im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung, auf Plakaten an jeder noch so belanglosen Straßenecke.
Und ja, dieses Bauwerk beeindruckte mich bereits jetzt, bevor wir überhaupt einen Fuß hineingesetzt hatten. Ich vermutete, Laura hatte es längst an meinem offenen Mund erkannt.
»Du denkst an das ganze technische Zeug, stimmt’s?« Sie grinste. »Genieße doch einfach mal den Tag – selbst als Bauleiter darfst du das.«
Wie gern hätte ich an diesem Mammutprojekt mitgearbeitet – oder wenigstens an dem mehrstöckigen Parkhaus nebenan in der Bedford Street. Und sei es nur, um die Arbeitssicherheit zu überwachen. Einmal durch den Rohbau schlendern … Ich stellte es mir vor und wollte Laura meine Gedanken mitteilen, doch aus meiner Kehle kam nur ein tiefes Grummeln. Es ärgerte mich einfach. Dieser seltsam verschrobene Investor und Direktor der Western Heritage Bank namens Ambrose Virell meinte es zwar gut mit uns Bürgern, keine Frage, aber offenbar traute er den hart arbeitenden Jungs hier in Wraithfield nicht allzu viel zu. Stattdessen hatte er Fachkräfte aus aller Herren Länder einfliegen lassen – insbesondere aus Europa –, um diese stählerne Perfektion zu realisieren.
Und doch … Bei derart großen Aktionen blieb immer ein Restzweifel. Ob Virell wirklich der gute Samariter war, für den er sich ausgab? Man gab keine Unsummen aus, nur um den Menschen einen Gefallen zu tun. Solche langfristigen Pläne wurden von Mächtigen gemacht, damit sie noch mächtiger wurden. Natürlich war es Virell vergönnt, sein Vermögen zu vermehren. Aber das hier … das war nicht nur aus Selbstlosigkeit geboren. Auch wenn uns die Reichen das immer gerne so verkaufen wollten.
»Erinnerst du dich an die Achtziger?« Lauras Stimme hatte diesen Ton angenommen, der Ärger wie Nebel vertrieb. »Als wir Teenager waren und in der Mall von Poughkeepsie rumhingen, bis es ins Kino ging. Als wir ›Blues Brothers‹ mit Dan Aykroyd und John Belushi gesehen haben und danach im ›Neon Mirage‹ tanzen waren?« Auf eine äußerst charmante Weise lenkte sie meine Aufmerksamkeit auf angenehme Erinnerungen und erwärmte damit mein Herz.
»Jetzt fühl ich mich steinalt. Aber du hast recht. Es war toll. Und ja, ich sollte wirklich mal abschalten.« Aber genau das war der Haken: Abschalten war leichter gesagt als getan – besonders wenn man lieber auf tragende Strukturen starrte, als sich für die Geschäfte zu interessieren. Ich konnte nicht anders, ich sah das Skelett, nicht das Make-up. »Hier steht, dass in der untersten Ebene E eine Art Club ist. Da können wir die Hüften schwingen«, witzelte ich und wedelte mit dem Flyer.
Laura lächelte verschmitzt. »In Gegenwart junger Leute ist dir deine Figur doch peinlich, gib’s zu! So gut kenne ich meinen Schmusebären mittlerweile.«
Ich beugte mich zu ihr vor. Meine Mundwinkel krochen nach oben – zu weit, zu schmal, zu schief. Wie das Grinsen des Grinch, den Jim Carrey mit überzogener Boshaftigkeit in diesem Weihnachtsstreifen gespielt hatte. Ich setzte noch ein Augenbrauenzucken obendrauf. »Dann erst recht. Der Schmusebär legt den legendären Moonwalk von Michael Jackson hin. Da können die Leute noch was lernen.«
Laura lachte, schlug sich die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Hey! … Hey! Hey! Ihr macht auf der Stelle Platz! Die älteren Herrschaften wollen aussteigen!« Die Stimme gehörte einem jungen, breitschultrigen Polizisten mit Schirmmütze, dessen schiefergraue Uniform im Licht fast leuchtete. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, war Ende zwanzig, Anfang dreißig. Einer, der seinen Job ernst nahm – vielleicht zu ernst. Vermutlich war er extra für den großen Tag abgestellt worden. Der Mann stand am unteren Ende der Rolltreppe nahe dem gläsernen Aufzug. Mit ausgestrecktem Arm winkte er, klatschte die Finger immer wieder in die offene Handfläche – ein stummes Zeichen an die Kindergruppe, kaum älter als zehn, die den Ausgang blockierte und unablässig den Rufknopf malträtierte. In der offenen Kabine standen sie schon bereit: Rentner mit grauen Schiebermützen, sorgfältig toupierte Damen, alle mit Gehstock oder Rollator unterwegs. Ich entdeckte auch einen Rollstuhlfahrer. Doch was nützte Barrierefreiheit, wenn die Herrschaften nicht aussteigen konnten?
Als Laura und ich an diesem unfreiwilligen Theater vorbeihuschten, musterte ich den Ordnungshüter. Seine kalten, ozeangrauen Augen standen eng beieinander und waren nahezu unbeweglich. Er schien nicht einmal zu blinzeln.
»Bleiben Sie ruhig. Es sind bloß Kinder, und Sie waren doch selbst mal eins.« Ich sprach mit einem Anflug von Humor, in der Hoffnung, ihn etwas von seiner Strenge herunterzuholen.
Augenblicklich verfinsterte sich seine Miene – als würde ein Unwetter über uns hinwegziehen. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Nicht einmal ich hätte auf einer Baustelle, auf der die Luft vor Hitze flimmerte und die Betonpumpe ausfiel, so dreingeschaut. »Halten Sie sich da raus, Sir, und gehen Sie einfach weiter!« Er betonte das »Sir«, als hätte ich ihm nicht nur in die Suppe gespuckt, sondern auch noch meinen nackten Hintern darübergehalten und mein Geschäft darin verrichtet.
»Ich mein ja nur …«, sagte ich beschwichtigend.
Da packte er mich. Seine rechte Hand krallte sich in meine Schulter, während die linke gefährlich nah am Schlagstock ruhte, der an seiner Hüfte baumelte, halb verdeckt vom Funkgerät.
Für einen Moment fragte ich mich, was in diesen Mann gefahren war. Das hier war kein Gespräch mehr. Es war der Anfang von etwas anderem. Etwas, das nur einen Wimpernschlag brauchte, um aus dem Ruder zu laufen.
»Alles gut«, sagte ich so ruhig, wie ich es eben hinbekam. Ich hob eine Hand, offen, friedlich, damit er sah: Ich war keine Bedrohung. Als junger Erwachsener wäre das anders gewesen. Damals hätte eine solche Anmaßung locker gereicht, um meine Fäuste sprechen zu lassen. Jugendsünden, die ich lange abgelegt hatte. Glaubte ich zumindest.
Er ließ mich los. Und doch blieb ich stehen, wie festgefroren. Wut stieg in mir hoch – unbändig, heiß. Ich starrte auf die Stelle an meiner Schulter, in die seine Finger sich hineingebohrt hatten, dann in sein Gesicht. Ein letztes Mal. Fassungslos. Mein Respekt vor Gesetzeshütern? Schrumpfte in diesem Moment auf null.
»Einen schönen Tag noch, Officer!« Lauras Stimme klang betont freundlich. Sie hakte sich bei mir unter, zog mich weg, als wüsste sie genau, wie knapp ich davorstand, etwas Dummes zu tun. Wahrscheinlich hatte sie recht. Es gab eben doch noch Situationen, in denen ich mich schwer im Griff hatte. Dennoch musste ich mir eingestehen: Knochen heilten in meinem Alter langsamer. Aber den Namen dieses Dreckskerls merkte ich mir. »Officer Logan Fletcher«. Sauber eingraviert in ein glänzendes Metallschild, das auf der Brust seines Baumwollhemds funkelte.
Im Galopp traten wir über die Schwelle – sie wirkte heilig, fast kultisch, gehalten von zwei gewaltigen Stahlbetonträgern. Für einen Moment kam es mir vor wie ein Portal. Kein gewöhnlicher Durchgang, sondern etwas wie bei »Stargate« – der Anfang einer anderen Welt. Voller knallbunter Ballons. Voller dichter Energie.
Die Luft war aufgeladen – irgendwo zwischen kindlicher Aufgeregtheit und roher Neugier. Das Sonnenlicht, das eben noch durch die Glaskuppel gefallen war, verschwand von einer Sekunde auf die andere. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Drinnen übernahm das flimmernde Kunstlicht die Regie. Die Schwüle des Dienstagmittags? Mit einem Atemzug vergessen.
Vor uns, eingelassen in den hellen Marmorboden, lag ein riesiges Emblem – wie eine zweite Haut. Nicht gemalt. Nicht geklebt. Tief eingemeißelt: ein A und gleich danach noch ein A. Schlicht, aber prägnant.
Noch bevor wir den Blick heben konnten, traten zwei Ordner auf uns zu, gekleidet in die allzu vertrauten, neongelben Westen. Das Verstörende: Sie trugen Sonnenbrillen, genau wie man sie an der Oberfläche trug. Nicht einfach irgendwelche, sondern ein Modell mit breiten, mattschwarzen Seiten, sodass kein Licht ungehindert auf die Augen fiel. Ihre Haut war fahl wie Kreide. Als hätte man gezielt Leute eingestellt, denen Vitamin D fehlte.
Ich wusste nicht, wie es Laura ging, aber mir war bei dieser Art von Belagerung unwohl. Als wären wir plötzlich das Licht, das die Mücken anzog. So mussten sich auch die anderen Besucher fühlen, die jetzt ebenfalls von Ordnern angesprochen wurden.
»Herzlich willkommen in den Abyss-Arkaden! Tragen Sie bitte dieses hautfarbene Armband. Damit bekommen Sie bis zu dreißig Prozent Rabatt in jedem Geschäft – ausschließlich heute, am Eröffnungstag!« Die Stimme desjenigen, der gerade sprach, hatte einen deutlichen osteuropäischen Akzent. Der Mann trug graubraune Dreadlocks, die er zu einem Zopf gebunden hatte.
»Super«, kam es eher genervt als begeistert aus meinem Mund.
Der Mann griff nach Lauras linkem Arm, den sie ihm bereitwillig entgegenstreckte. Das gummiartige, an »Black Friday« erinnernde Band zog er breit, bevor er es ihr überstreifte.
»Aua!« Laura zuckte zusammen.
»Was ist los?«, fragte ich irritiert.
»Wahrscheinlich ’ne kleine Unebenheit. Alles gut.«
»Und Sie, Sir?«, fragte der Ordner.
»Nein, danke.«
»Ach, nehmen Sie’s ruhig. Jeder will doch sparen!« Der zweite Typ, kurzrasierter Schädel, machte einen Schritt auf mich zu. Meine Wut auf den übergriffigen Polizisten war noch nicht runtergeschluckt, da flammte sie wieder auf.
Des lieben Friedens willen nickte ich. »Werd’s mir gleich selbst umlegen!«, knurrte ich und riss ihm das Armband aus den Fingern. Es war robuster als Gummi, eher wie hochwertiges Silikon.
»Und nicht vergessen«, schob er hinterher, »das Band bitte beim Verlassen der Arkaden an einen unserer Mitarbeiter zurückgeben.«
Jetzt nickten Laura und ich einstimmig, da klammerten sich die Ordner bereits an die nächsten Besucher. Sie schienen zufrieden zu sein. Doch ich? Ich steuerte auf den nächsten Mülleimer zu und warf das Teil hinein.
Mein Blick glitt über die Brüstung: massives Sicherheitsglas, rahmenlos eingefasst in gebürsteten Stahl, bis zur Hüfte reichend. Der Handlauf bestand aus dunklem, matt lackiertem Holz, damit die Fingerabdrücke der Besucher nicht sichtbar wurden.
Es ging gut achtzig Fuß in die Tiefe – wie ein mehrstöckiges Haus, nur eben verkehrtherum in die Erde gegraben. Ich konnte von hier die unteren Ebenen B, C, D und E sehen. Nur eine nicht: die verborgene sechste Ebene. Dabei handelte es sich um »Level null«, den Servicebunker. Tiefer gelegen, für Besucher unzugänglich. Aus meinem Beruf auf dem Bau wusste ich, dass man dorthin nur über Personalaufzüge oder Treppenhäuser mit gesichertem Zahlencode gelangte. Und wozu? Um den Herzschlag des Einkaufszentrums zu kontrollieren – Lüftung, Temperatur, Notstromaggregate, Wasseraufbereitung, Serverräume, Sicherheitsüberwachung. Doch besaßen auch solche Megabauten auf jeder Ebene ihren eigenen Stromkreislauf, Separat geführt, abgeschottet, als wollte man dafür sorgen, dass selbst im völligen Blackout noch irgendwo Licht brennen konnte. Sehr vernünftig, wie ich fand.
»Das war aber ziemlich brummig von dir. Ist doch schön, so eine Rabattaktion!« Laura riss mich mit ihrem Kommentar aus meinen Gedanken.
»Tut mir leid. Und ja, du hast recht! Mir geht es aber ums Prinzip: Ich mag es nicht, wenn man mich von der Seite anquatscht. Keine Ahnung, was die Leute heute in ihren Seminaren lernen, bevor man sie auf Kunden loslässt, aber Taktgefühl gehört offenbar nicht mehr dazu.«
Laura lächelte. »Konzentrieren wir uns also auf das Positive. Wir haben heute frei und können uns in aller Seelenruhe den Geschäften widmen!«
Mit einem knappen »Richtig!« gab ich meine Hitzigkeit endgültig auf.
Wir blickten in den endlos wirkenden Raum. Über uns steckten Dutzende runde LED-Lampen in der Decke, funkelnd wie Sterne. Der sterile Geruch der Klimaanlage vermischte sich mit einem süßlich-künstlichen Vanillearoma, das aus dem ersten dunkelgrünen Ladenlokal zu unserer Rechten drang. Über dem ausladenden, bogenförmigen Schaufenster leuchtete in elegant geschwungener Schrift – feurige Gelb- und Orangetöne – der Name »LuminousWick Company«. Ein Kerzenimperium, das sich hier im Einkaufszentrum ganz offensichtlich einen Platz erkämpft hatte. Hinter der Glasfront stand ein dekorativer Tisch aus dunklem Eichenholz. Darauf lagen handgegossene Duftkerzen, marmorgeäderte Seifen, gebündelt mit goldenen Satinbändern, und Tiegel voller Body Butter. Daneben glitzerten Kristallflakons mit ätherischen Ölen. Die Firma hatte ihr Sortiment deutlich auf »Bath & Body« erweitert – mit einer Spur zu viel Perfektion, die wohl eher Frauen gefiel als Männern wie mir. Ich war auch mit Kernseife glücklich.
Trotz der erdrückenden Atmosphäre erkannte ich einige vertraute Gesichter. Ganz sicher würde ich hier unten keine Verwandten finden – die konnte ich an einer Hand abzählen. Ich hatte nur noch meine Cousine Holly, die letztes Jahr mit ihrem Mann nach Kanada ausgewandert war, weil Präsident Isaac Wallace das Land mit seiner Politik gespalten hatte. In Lauras Familie weilte niemand mehr unter den Lebenden. Aber hier waren vereinzelt Freunde. Bekannte. Besucher, die zur Eröffnung gekommen waren, oder Verkäufer in einem der Geschäfte. Nur schien keiner von ihnen Laura und mich zwischen den Fremden, die größtenteils aus den umliegenden Städten kamen, wahrzunehmen. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich mit ihren Familien durch das Gedränge zu manövrieren. Sie bemerkten uns nicht einmal, als ich zu ihnen herüberrief und wie ein Wahnsinniger winkte.
Mein Magen knurrte. »Sollen wir was essen, bevor wir uns die Läden vorknöpfen?«
»Wir haben nicht gefrühstückt, es ist schon nach elf – und bevor du wieder knatschig wirst: gern.« Lauras Stimme klang oberlehrerhaft, aber auf diese süße, entwaffnende Art. Nach jahrelanger Feldforschung kannte sie mich eben.
»Vielleicht Pizza? Pasta? Oder doch was Exquisiteres?«, murmelte ich und warf erneut einen Blick auf den Flyer, während wir uns im Schneckentempo vorwärtsschoben. Sich zu konzentrieren, war schwer, wenn man von so vielen Schultern umgeben war.
Laura hatte ihre eigene Taktik: Sie streckte den Hals und wippte auf Zehenspitzen auf und ab, um über die Köpfe der Menschen hinweg die Namen der Läden entlang der Flaniermeile zu entziffern. »Mein Dicker, wir finden schon was!« Damit versuchte sie, mich in dem Trubel zu beruhigen.
Ich senkte den Blick auf meinen Bauch, der sich unter dem weißen T-Shirt unübersehbar wölbte. Das Teil kaschierte gar nichts. Der Bauch quoll über den Bund meiner Cargo-Shorts. Mit einem demonstrativen Ruck, als wäre ich beleidigt, zog ich mein Lieblingshawaiihemd in Türkis zu – bequemer Stoff, bedruckt mit orangefarbenen Blüten. Man hätte meinen können, ich sei ein Tourist oder modisch komplett durchgedreht.
Vor uns stand ein digitales Terminal mit großem Display. Per Touchfunktion ließ sich das Shopverzeichnis aufrufen, das den Benutzer darüber informierte, in welche Ebene er musste. Ein Wegeleitsystem für Menschen, die Beschilderungen lästig fanden und – wie ich – nach schnellen Antworten suchten.
Wir mussten noch warten. Zuerst war ein junges Pärchen an der Reihe. Dass ihr Baby im Kinderwagen weinte, überraschte mich nicht. Der Lärm, der uns umgab, war kaum zu ertragen. Meine gut gemeinten Grimassen machten es nur schlimmer – als würde ich das Elend noch anstacheln. Die Familie quietschte mit dem Kinderwagen davon.
Laura trat vor. Ich faltete den Flyer zusammen, steckte ihn in die Gesäßtasche und gesellte mich zu ihr. Sie wischte mit dem Finger über die Restaurantliste auf dem Display. Prompt spuckte der Bildschirm alle nötigen Informationen aus – und ungefragt auch die Notausgänge der Ebene A.
Es gab zwei. Der eine lag westlich, mittig im Komplex, der andere im Norden, am Ende der Arkaden. Der erste Ausgang führte direkt in den Stonebrook Reserve – den Park, in dem Laura und ich uns am Springbrunnen zum ersten Mal geküsst hatten. Und der zweite? Der führte hoch zum Shadymoor-Wasserreservoir.
Wir konnten dem Display sogar Fragen stellen – die KI antwortete mit einer weiblichen Stimme. Freundlich. Fast zu nett. Als wollte sie uns einlullen.
»Also«, begann Laura, »alle Restaurants haben von zehn bis dreiundzwanzig Uhr geöffnet. Hier auf Ebene A hätten wir Wok’King – authentisch asiatisch. Klingt das nach was?«
»Ich liebäugle eher mit La Rostana. Mexikanisches Street Food auf Ebene C.«
»Meist zu scharf. Und es brennt zweimal.« Lauras Stimme klang trocken. Kein Wunder – beim letzten Mal hatte sie nach dem Essen einen Großteil der Nacht auf der Toilette verbracht.
Ich suchte nach einer Alternative. »Wie wär’s mit der goldenen Mitte? Ebene B. Pizzeria San Leone.« Ich sprach mit übertrieben italienischem Akzent und fuchtelte dabei mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger, eng zusammengedrückt – genau so, wie man es von temperamentvollen Südeuropäern kannte. Ich dachte dabei an die netten Leute vom Caffè Senatore – dieser kleinen, inhabergeführten Rösterei am Stadtrand, die wir fast jeden Samstag besuchten. Ein Ritual, das unseren Wochenenden einen festen, warmen Anker gab.
»Okidoki, aber nur, wenn …«
»… wenn du einen anständigen Nachtisch bekommst. Schon klar!« Ich unterbrach sie mit gespielter Strenge. Hauptsache, das Thema »mexikanisches Essen und seine Nachwirkungen« war vom Tisch.
»Den kulinarischen Abschluss erleben wir dann wohl auf Ebene E. Dort, wo auch dieser Tanzclub ist, von dem du gesprochen hast.«
Ich folgte ihrem Fingerzeig. »Du meinst Crème & Bean – Spezialitätenkaffee, Tartes und Macarons?«
»So ist es!« Ihre Stimme klang mehr als zufrieden, als wir uns weiter durch die brodelnde Menschenmenge bewegten. Hin und wieder verloren wir uns für ein paar Sekunden aus den Augen. Mal zögerte Laura, mal ich, weil ständig jemand gegen uns stieß und uns aus dem Takt brachte. Die Masse war gnadenloser als wir. Wer nicht mitging, wurde mitgeschoben. Oder zur Seite gedrängt. Der Höhepunkt der Rushhour schien erreicht zu sein. Wären wir bloß nicht eine Stunde nach der Eröffnung hierhergekommen.
Die Katastrophe
Kapitel III
Als wir uns mühsam zur nächsten Rolltreppe vorgekämpft hatten – das Benutzen eines Aufzugs kam für mich nicht in Frage; allein die viel zu lange Schlange davor hätte gereicht, um mich davon abzuhalten –, bemerkten wir, dass die Ordner die Menschen zählten. Niemand sollte sich eingeengt fühlen, vor allem aber sollte die Tragfähigkeit nicht überschritten werden.
Endlich, auf Ebene B, fanden wir die Pizzeria San Leone im Westflügel. Eingeklemmt zwischen einem Bubble-Tea-Laden und einem Geschäft für Smartphone-Zubehör. Ein paar Yards weiter, nördlich von uns, wummerte düstere Musik. Ein balladenartiges Orgelgeklimper, so schief, als würde eine Nadel über eine gewellte Schallplatte kratzen. Dazu ein verstörender, aber modern wirkender Technobeat, der die Fassade aus groben Steinen, durchzogen von einem blutigen Kratzer, erbeben ließ. Dazwischen ein kehliges Lachen. Eines, das Passanten das Fürchten lehren sollte.
Die Geräusche drangen aus einer nach innen geöffneten, nietenbeschlagenen Eisentür in der Form eines Sargdeckels, halb verdeckt von einem schweren, purpurfarbenen Samtvorhang. Der Eingang wurde von zwei rostig wirkenden Wandfackeln flankiert. Ihre schmiedeeisernen Sockel warfen zitternde Schatten auf das Mauerwerk, denn an dieser Stelle hatten die Arkaden das Licht gedimmt. Natürlich war es kein echtes Feuer. Stattdessen handelte es sich um ein kleines, verstecktes LED-Modul unter geschwärztem Glas und Kunststoff, das ein unregelmäßig pulsierendes orangerotes Licht ausstrahlte. Die Illusion, die zu Halloween passte wie die Faust aufs Auge, wurde untermalt von der blutverschmierten Schrift, die sich über den dunklen Hintergrund eines aufgeklappten Reklameschilds mitten in der Passage zog. Die Botschaft war unmissverständlich: »Dracula schläft nie. Schaffst du’s, ihn in unter sechzig Minuten zu besiegen?«
Der Fokus auf den Escape Room verlief sich. Der Geruch von frisch gebackenem Teig, Knoblauch, Käse und der leichten Schärfe geschnittener Peperoni ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
In der brütenden Hitze des Ladens, angefacht vom Steinbackofen hinter der Theke, wirbelten zwei freundlich wirkende Pizzabäcker mittleren Alters – eine blonde Frau und ein dunkelhaariger Mann – umher. Beide trugen rot-weiß karierte Schürzen und schwarze Poloshirts. Mit kraftvollen Bewegungen bearbeitete der Mann einen Teig, während die Frau eine bereits mit Tomatensoße bestrichene Pizza mit Oliven, Salami und Mozzarella belegte. Ein letzter prüfender Blick, bevor das Ganze in die Flammen geschoben wurde.
Aus schwarzen Lautsprechern, unauffällig zwischen Lüftungsgittern und Halogenleuchten eingelassen, strömten sanfte Mandolinenklänge. Sie verliehen dem Ort ein elegantes Ambiente, genau richtig, um das Murmeln der Stimmen und das Klirren der Gläser zu begleiten.
Dass heute alles länger dauerte, hätten wir uns denken können. Bei diesem Andrang wäre es kein Unterschied gewesen, wenn David Copperfield persönlich erschienen wäre, um uns mit seinen Tricks den Verstand zu rauben.
Als wir endlich einen Sitzplatz ergattert hatten und durchatmen konnten, glitt mein Blick auf den frisch gedruckten Kassenbon, der ausgebreitet auf dem runden Tisch lag. Nur zwanzig Dollar – dank Lauras schwarzem Armband – für eine Caprese mit einer Extraportion Käse im Rand. Frisch gebacken. So groß wie ein verdammtes Wagenrad, serviert auf einem Keramikteller, der kaum mithalten konnte. Die Stücke: handlich, mundgerecht, messerscharf geschnitten.
»Wer soll das alles essen?« Laura sah mich zweifelnd an. Ich war verfressen, keine Frage – aber das hier? Selbst für mich war das eine Hausnummer.
An der gegenüberliegenden Wand hing eine riesige, dreidimensionale Pizza aus Kunststoff. Ein Werk, das ein begabter Künstler geschaffen haben musste – so detailverliebt, dass es fast echt wirkte. Wahnsinn!
»Was übrig bleibt, lassen wir einpacken«, sagte ich und biss in ein Stück Pizza. Heiß wie die Hölle, der Käse klebrig und langgezogen.
Bwwwt! Bwwwt!
Mein Smartphone vibrierte in der Hosentasche. Ich schnaubte.
»Was ist los?«, wollte Laura wissen.
»Moment.« Ich leckte meine Hände sauber, wischte die Finger an einer Serviette ab und zog das Smartphone heraus. Das Display leuchtete auf.
»Vom Bau?«
Ich nickte. »Hey, Mike. Was gibt’s?«
Als ich die unerfreuliche Nachricht hörte, stand ich bereits kerzengerade am Tisch. »Ist okay. Ich komm vorbei.«
»Och menno …« Laura verzog das Gesicht. »Ein Mr. Clark muss immer ran. Selbst wenn er frei hat.« Sie legte ihr angebissenes Stück Pizza zurück auf den Teller, stützte die Wange auf ihre geballte Faust und blies stoßweise Luft aus.
»Solange Mrs. Clark auf mich wartet.«
»Natürlich.«
Ich brachte sie zum Lächeln, beugte mich über den Tisch und küsste ihren schmalen, rot geschminkten Mund. Dabei strich ich ihr eine Haarsträhne von der zierlichen Nase und sah in ihre braungrünen Augen mit diesem wunderschönen Hauch von Bernstein in den Iriden.
»Ich muss los.« Meine Stimme verriet Bedauern, doch es ließ sich nicht ändern. »An der Zubringerstraße, nordwestlich von Wraithfield, hinter der Stadtgrenze, hat’s Ärger gegeben. Ein unterspülter Abschnitt ist über Nacht eingebrochen. Ein Bagger steckt fest. Wir müssen das Teilstück absichern, die Bauaufsicht informieren und uns mit den Straßenbehörden kurzschließen.«
»Ohne dich hab ich hier sowieso keine Lust mehr.«
»Ist schon okay. Bleib noch eine Weile, schau dich um. Morgen kommen wir nach der Arbeit wieder hierher. Ich kauf dir ein neues Sommerkleid, ein richtig bezauberndes. Versprochen!«
»Wirklich?« Sie runzelte kurz die Stirn, dann hauchte sie mir einen Kuss auf die Glatze – diese kahle Stelle, auf der seit Jahren kein Haar mehr wachsen wollte. Wie immer, wenn sie das tat, legte ich den Zeigefinger an den Nasensteg, damit meine Brille mit schwarzem, schmalem Gestell nicht vom Kopf rutschte.
»Ja! Und iss bloß nicht die ganze Pizza allein!«, rief ich ihr grinsend zu, während ich hungrig den Laden verließ und mich im Strom der Menge verlor.
Im Gedränge stieß ich fast mit Ambrose Virell zusammen, der eben noch für Wraithfield Today, unseren regionalen TV-Sender, ein Interview gegeben hatte. Als Bauleiter ließ ich es mir nicht nehmen, ihm die Hand zu schütteln, um ihm meine Glückwünsche auszusprechen.
»Ein Wahnsinnsbau!«, schwärmte ich. »Das muss doch ein Vermögen verschlungen haben.«
»Danke. Das hat es!«
Sein Händedruck war warm, fest – zu fest. Sein Gesicht: makellos, glatt wie das einer Puppe. Kein Muskel zuckte, kein Ausdruck, nur diese sterile Perfektion. Ein Mann, der seine Tage hinter einem polierten Schreibtisch verbrachte, hoch oben in der Chefetage seiner Bank. Lippen wie ein verschlossener Tresor – und darin die Art von Geheimnissen, die nur in den engen Kreisen der Macht geteilt wurden, wo Entscheidungen leise fielen, aber laut nachhallten. Er stockte, blinzelte – und legte den Kopf leicht schief.
»Ist das Lippenstift auf Ihrer Stirn?«
»Ähm?« Natürlich!Laura. Der Gedanke schoss mir siedend heiß durch den Kopf. Hastig befeuchtete ich Zeige- und Mittelfinger und wischte den verräterischen Abdruck weg.
Virell musterte mich weiter. »Mr. Clark, richtig?« Er kannte mich vermutlich, weil Laura und ich jahrelang den Kredit für unser Haus abbezahlt und aus dem Grund auch immer mal wieder einen Termin in der Bank gehabt hatten. Virell war das modische Gegenteil von mir, auch wenn wir uns in der Größe kaum unterschieden. Ich, fünf Fuß und neun Zoll, trug meinen ungezügelten Bart wie Unkraut, das nicht ausgerissen werden wollte, und eine Halskette, die eher auf den Bau passte und nicht in eine Vorstandsetage. Neben ihm wirkte ich wie ein Paradiesvogel, während er aussah, als sei er einem Hochglanzmagazin entstiegen: Mitte fünfzig, das weißblonde Haar sauber nach hinten gegelt, was wiederum seine hohe Stirn offenbarte. Die breiten Wangenknochen passten dazu. Er trug einen maßgeschneiderten mitternachtsblauen Dreiteiler, glattgebügelt, darunter eine Weste im selben Farbton und ein elfenbeinfarbenes Hemd. Ob er eine Uhr trug, konnte ich nicht sagen – vielleicht verbarg sie sich in der linken Hosentasche, in der seine Hand steckte. Dieser Mann verstand es, interessant zu wirken. Und er wusste, wie man einen Raum einnahm.
»Ich investiere gern in die Zukunft«, fuhr er fort. »Mein nächstes Projekt ist der alte Industriebezirk. Da steckt eine Menge Potenzial drin.«
»Ja. Genau. Ich finde die Konstruktion der Abyss-Arkaden … äußerst anspruchsvoll.« Ich ließ den Satz bewusst in der Luft hängen, als wollte ich sehen, wie er darauf reagierte. »Wenn Sie gestatten – ich würde bei Gelegenheit gern einen Blick auf die Bauzeichnungen werfen. Im Netz finde ich nur Konzeptbilder. Auf der Website der Stadtverwaltung. Und Ihrer Bank. Sonst nichts. Nirgendwo. Ziemlich ungewöhnlich für ein Projekt dieser Größe.« Ich lächelte höflich. »Falls Sie nichts dagegen haben, Mr. Virell.«
Sein Blick wurde schmal. Skeptisch. Messerscharf. Meine Bitte schien ihm nicht zu schmecken. Ich konnte förmlich sehen, wie etwas in seinem Kopf zu arbeiten begann – wie er mich analysierte. Als versuchte er, die verborgene Agenda hinter meinen Worten zu ertasten … und vermutete, dass sie nicht zu seinen Gunsten ausfiel.
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagte er schließlich. Doch die hochgezogenen Wangen, die Freundlichkeit andeuteten, passten nicht zu seinem Tonfall. Der war kühl. Distanziert.
Ich trat einen Schritt zur Seite, um anzudeuten, dass ich gehen wollte.
»Sie verlassen uns schon? Am feierlichen Eröffnungstag?«
»Ja. Ich habe noch etwas Geschäftliches zu erledigen.«
»Wie bedauerlich!«, sagte er, und sein Mitleid war ungefähr so echt wie die Zähne eines Gebrauchtwagenhändlers. Ich erhielt keine klare Antwort. Keinen Vorschlag, ihn zu Bürozeiten anzurufen. Kein Entgegenkommen. Also verzichtete ich auf weitere Höflichkeiten.
»Machen Sie’s gut.«
Ich zog weiter, suchte im zähfließenden Menschenstrom nach Lücken, durch die ich mich schieben konnte. Bis endlich die künstliche Luft der Arkaden dem ersten frischen Hauch wich, als ich unter der Glaskuppel zur Oberfläche hinauffuhr.
Und dann passierte es.
Boom!
Eine Explosion – knackig, brutal, ohrenbetäubend. Dann das Splittern des gläsernen Aufzugs, gefolgt vom Krachen des Eingangs. All dies riss mich aus den Gedanken an die Baustelle. Das Nachbeben kam wie die Rückhand einer Tsunamiwelle. Plötzlich ruckte es unter meinen Füßen. Die Rolltreppe stotterte – und erstarb. Dann ging alles ganz schnell. Zusammen mit anderen stürzte ich rücklings hinab, wie eine Kette angestoßener Dominosteine. Ich fiel so unglücklich, dass der blanke Knochen meines rechten Beins aus der Haut schoss. Der Aufprall eines Mannes auf meinen Brustkorb ließ mehrere Rippen brechen. Keuchend lag ich auf jemandem, der sich nicht mehr rührte. Halb benommen, halb im Schock nahm ich zunächst diese unnatürliche Stille wahr. Und dann … das kollektive Kreischen. Drinnen wie draußen. Adrenalin rauschte durch mich hindurch, betäubte jeden Winkel in meinem Körper. In der Ferne hörte ich weitere heftige Detonationen. Und ich wusste, ohne jeden Zweifel: Das hier war kein Unfall. Es war ein Anschlag!
Und als ich kopfüber hing und durch den Staubnebel in meinem Rachen ein verzweifeltes »Laura« hauchte, da sah ich ihn – Officer Fletcher. Halb von Trümmern begraben … ohnmächtig und das Gesicht blutüberströmt, die Lippen wie Papier von oben nach unten aufgerissen. Doch das war nicht das Ende. Hoch oben knackte etwas, erst leise, dann lauter. Ein hässliches Knirschen. Ein unheilvolles Pfeifen folgte. Glas. Scharf wie Rasierklingen. Es prasselte aus dem zerborstenen Dach wie tödlicher Regen. Ich wusste, dass einige hier unten das nicht überleben würden. Und für einen flüchtigen Augenblick war mir klar: Ich könnte einer von ihnen sein.