Das große Glück, ein kleines bisschen anders zu sein - Sina Blackwood - E-Book

Das große Glück, ein kleines bisschen anders zu sein E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Für Renato bricht eine Welt zusammen, als Dauerfreundin Bianca die gemeinsame Tochter, die sie nie wirklich gewollt hatte, zu drangsalieren beginnt. In seiner Not bringt er die Kleine bei Anabelle und Adriano unter, was dieser schon lange vorhergesagt hatte. Sohn Luca avanciert sofort zum großen Bruder und unschlagbaren Beschützer, wobei er plötzlich Fähigkeiten entwickelt, die er gar nicht haben sollte, und sogar seinen hellsichtigen Vater verblüffen.

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Inhaltsverzeichnis

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

I.

Mitten in der Nacht klingelte jemand Sturm an der Villa der Mancini. Alle schreckten aus dem Schlaf, Familienhund Bruno stellte sich schützend vor das Bett des sechsjährigen Luca.

Adriano wechselten einen besorgten Blick mit Anabelle. „Ich vermute einen Notfall der besonderen Art“, seufzte er, die Taste der Wechselsprechanlage drückend. „Ja bitte!“

„Ich bin’s, Renato.“

Das winzige Display der Überwachungskamera zeigte tatsächlich das gut bekannte Gesicht, eines, ihrer besten Freunde.

Adriano drückte den Öffner vom Hoftor, zog sich, wie auch Anabelle, rasch einen Jogginganzug über und entriegelte gleich noch die Haustür. Am oberen Ende der Treppe zu den Wohnräumen warteten sie auf Renato. Der erschien mit seiner kleinen Tochter Laura auf dem Arm, worauf die Mancini einen wissenden, wenn auch überraschten Blick tauschten.

„Komm rein! Leg die Kleine ins Gästezimmer, damit sie weiterschlafen kann!“, schlug Anabelle vor.

Renato nickte mechanisch, strich mit einer Hand Bruno über den Kopf, deckte sein Töchterchen sorgsam zu, als er es ins Bett gelegt hatte, ließ die Tür offen und folgte seinen Freunden in den Wohnraum. „Warum wundere ich mich eigentlich, dass ihr euch nicht wundert?“, flüsterte er, auf die hellseherische Gabe Adrianos anspielend.

„Genau deswegen“, seufzte Anabelle. „Wir sind nur erstaunt, dass die Situation so schnell eingetreten ist.“

Renato hob hilflos die Hände. „Na, wenigstens muss ich keine ellenlangen Erklärungen geben. Ihr kennt ja den Putzzwang von Bianca. Heute hat Laura versehentlich einen Blumentopf umgeworfen, worauf ein Geschrei einsetzte, als habe uns jemand das Haus überm Kopf angezündet. Nur gut, dass gerade keine Klienten in der Kanzlei waren! Ich hätte mich in Grund und Boden geschämt“, berichtete Renato. „Abends ist die Lage dann regelrecht eskaliert, weil Laura der Löffel aus der Hand gefallen ist. Man hat Bianca sicher drei Grundstücke weiter keifen hören. Als Rechtsanwalt kann ich es mir noch weniger leisten, als andere Leute, wegen solcher Probleme ins Gerede zu kommen. Ich will Bianca auch nicht einfach rauswerfen, weil ich nicht weiß, was dann mit Laura geschieht, ehe ich eingreifen kann. Sie hat die Kleine nicht gewollt, nie wirklich geliebt und lässt es sie nun deutlich spüren. Juristisch weiß ich, was ich tun muss, nur menschlich sehe ich kein Licht am Horizont. Ich brauche dringend Rat und Hilfe, denn ich bin mit meinem Latein am Ende.“

„Auch das hat Adriano vorausgesehen“, gab Anabelle Auskunft. „Wir haben bereits mit Luca gesprochen, er wäre nicht abgeneigt, deiner Kleinen als großer Wahlbruder zur Seite zu stehen.“

„Wirklich?!“ Renatos Augen wurden geradezu riesig. „Ich hatte befürchtet, er würde sich vehement wehren, ein dreijähriges Mädchen permanent um sich zu haben.“

Die Mancini schüttelten die Köpfe. „Du weißt ja, wie sehr er sich ein Geschwisterchen wünscht. Seit wir die Familienchronik studiert haben, sind wir aber der Meinung, dass die Seher in allen Jahrhunderten immer nur ein Kind, nämlich einen Sohn, hatten. Keiner von uns vieren, denn Bruno zählt auch mit, ist ungehalten, wenn du Laura für ein paar Tage oder dauerhaft hier unterbringen möchtest, damit sie völlig unbeschwert aufwachsen kann. Du hast Adriano damals in jeder Weise geholfen, seine Unschuld zu beweisen, sodass es uns eine Freude ist, dir auf diese Art Sorgen abnehmen zu können“, erklärte Anabelle. Adriano nickte heftig zu ihren Worten.

Eine Stunde später fuhr Renato beruhigt nach Hause, seine Kleine in den allerbesten Händen wissend. Er versprach, Kleidung und Spielzeug vorbeizubringen, bis sich die Lage entspanne.

Laura wachte auf, als Anabelle mit Bruno von der morgendlichen Gassirunde kam. Erstaunt schaute sie sich in dem ihr nicht völlig fremden Zimmer um. Sie kletterte aus dem Bett und lugte durch den Türspalt. „Bruno!“, entfuhr es ihr in höchster Freude.

„Wuff!“ Der Vierbeiner wartete, bis ihm Anabelle die regennassen Pfoten und das Fell abgetrocknet hatte, dann beeilte er sich, Laura mit einem Nasenstupser mitten ins Gesicht zu begrüßen.

„Ist Papa auch hier?“, fragte Laura.

Anabelle schüttelte den Kopf. „Er musste wieder nach Hause, weil er viel Arbeit hat.“

„Hmm, ich weiß“, erwiderte Laura sehr ernst. „Darf ich heute hierbleiben?“

„Du bleibst bei uns, bis dich dein Papa irgendwann wieder abholt“, sprudelte Luca heraus, der soeben ins Bad flitzte, um sich tagfein zu machen. Er war gerade in die erste Klasse gekommen und Pünktlichkeitsfanatiker.

„Das muss er von der Mutter geerbt haben“, grinste Adriano stets, die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit hervorhebend.

Anabelle drehte ihm dann hin und wieder eine lange Nase, wenn es Luca nicht sehen konnte, worüber beide grinsen mussten.

„Die eiserne Lerndisziplin scheint er aber von beiden zu haben“, staunten dann Claudia und Gepetto stets, deren drei Kinder lieber den ganzen Tag mit Hund Benny, Brunos Bruder, herumtrödeln würden. Wobei auch keines der drei gesteigertes Interesse an der Arbeit in der Spedition der Eltern zeigte.

Luca hingegen brannte für alles, was irgendwie mit Naturwissenschaften zu tun hatte und die Mancini nahmen es sehr ernst, wenn er kundtat, auch ein berühmter Arzt, wie sein Papa, werden zu wollen.

„Berühmt?“, hatte Adriano beim ersten Mal irritiert gefragt.

„Ja, berühmt“, gab Luca fest überzeugt zurück. „Immer wenn die Eltern meiner Schulkameraden Schmerzen im Rücken oder den Beinen haben, sagen sie: Ich muss mal zu Doktor Mancini gehen. Und einer hat erzählt, dass sogar in der Zeitung gestanden hat, dass du supergut bist.“

„Er hat recht, das stand tatsächlich in der Zeitung“, bestätigte Anabelle ihrem Sohn, Adriano verschmitzt zublinzelnd.

Beim gemeinsamen Frühstück strahlten Lauras Augen, dass niemand schimpfte, weil ein Krümel herunterfiel. Anabelle sagte schmunzelnd zu ihr: „Wir beide kehren dann ganz einfach auf, was Bruno liegenlässt.“

Das war am Ende nichts und Laura kraulte den großen Hund hoch erfreut. Zu Hause hätte Mama ganz furchtbar gezetert und Papa sofort Kehrblech und Besen holen müssen. Hier blieben alle völlig entspannt sitzen, Bruno spielte Staubsauger und am Ende trugen alle gemeinsam Geschirr und Besteck in die Küche. Tante Anabelle räumte den Spüler ein, verabschiedete mit Onkel Adriano Luca und dann bereiteten sie sich auf ihre Arbeit vor.

„Du kommst mit in mein Büro“, versprach Anabelle Laura, wobei sie einen großen Beutel Spielzeug und Malstifte einpackte.

Adriano holte Lucas alten kleinen Tisch mit Stühlchen aus der Bodenkammer. „Damit du richtig sitzen kannst“, blinzelte er Laura zu.

Laura beschäftigte sich still mit all den schönen Sachen, freute sich, wenn die Patienten auch ihr einen guten Tag wünschten, und meldete sich nur, als sie auf die Toilette musste. Anabelle hatte ihr einen Teller mit Obststücken und einen Becher Saft auf den Tisch gestellt, woran sich Laura nach Herzenslust bedienen durfte, wie es auch immer Luca gemacht hatte.

In der Mittagspause kam Renato, um eine große Tasche Kleidung zu übergeben, und weil er keine Ruhe hatte, ohne zu wissen, ob alles reibungslos lief.

„Setz dich!“, bat Anabelle. „In wenigen Augenblicken wird das Essen gebracht. Du bist fest im Plan. Luca wird ebenfalls gleich aufkreuzen.“

Laura lachte fröhlich, weil Papa völlig verdattert schaute.

„Warst du schön brav?“, fragte er sie.

„Ja. Und alle sind ganz lieb zu mir“, fügte sie im Brustton der Überzeugung hinzu.

„Wirst du dann fein Mittagsschlaf halten?“, wollte er wissen.

Laura nickte. „Bruno passt da auf mich auf und Luca.“

Renato schmunzelte über so viel Enthusiasmus. Seine Kleine genoss Liebe und Ruhe, die sie hier umgaben. „Ich komme heute Abend noch mal vorbei“, versprach er. „Bis dahin habe ich bestimmt einige Grundsätze des Gesamtproblems geklärt.“ Er brachte Laura zum Mittagsschlummer ins Bett.

Eine viertel Stunde später war sie ganz fest eingeschlafen. Die Tür war offengeblieben, Laura wusste, dass Bruno immer wieder hereinschauen werde und dass Luca seine Zimmertür auch nicht schloss. Er hatte seine beiden Räume genau gegenüber und werde ganz sicher sofort kommen, wenn sie Hilfe bräuchte.

Sie mochte Luca am liebsten von allen Kindern des Freundeskreises ihrer Eltern. Nicht nur, weil er der Jüngste, nach ihr war. Wenn er auf den Treffen mit allen Freunden versprochen hatte, mit ihr zu spielen, dann machte er das, egal welch tolle Sachen die Größeren gerade ausheckten. Er baute für sie im Sandkasten Burgen, steckte ihr heimlich Schokolade zu, damit ihre Mama nicht schimpfte, weil man sich vielleicht beschmieren konnte. Er hatte einmal sogar einen Fleck aus ihrem T-Shirt geschrubbt, damit Tante Bianca nicht schon wieder böse auf Laura war. Gepetto und Claudia hatten es gesehen und achtungsvolle Blicke miteinander gewechselt.

„Er scheint zu spüren, dass es Laura mit ihrer Mama schwer hat“, seufzte Gepetto, als er mit Adriano die Abendrunde mit den Hunden ging.

„Nicht nur das! Er hat schon gefragt, warum Bianca die Kleine ständig wegen fast nichts anraunzt und immer so grimmig guckt“, verriet Adriano.

Also wunderte sich Gepetto, von klein auf Adrianos allerbester Freund, nicht, als dieser ihm auf der heutigen Runde kundtat, dass Laura vorerst bei ihnen wohne. „Das hat Renato richtig gemacht“, lobte er kurz. „Und auch, dass er Bianca nicht geheiratet hat“, fügte er im nächsten Augenblick hinzu.

Adriano wusste, dass Renato Bianca auf einer Ausstellung exotischer Pflanzen kennengelernt hatte. Beide begeisterten sich für dasselbe Hobby. So hatte Renato Bianca zu sich eingeladen, um ihr seinen Wintergarten und die beiden Gewächshäuser zu zeigen. Mit der Zeit war mehr daraus geworden, ohne die ganz große Liebe zu sein. Kinder hatten nie auf dem Plan gestanden, eben weil Bianca psychische Probleme hatte. Laura war praktisch ein, eigentlich nicht möglicher, Verkehrsunfall gewesen. Und so wurde sie von ihrer Mutter behandelt.

Papa Renato kümmerte sich hingegen in jeder freien Minute um sein Töchterchen, das er innig liebte. Er hatte sogar vorgeschlagen, ein Kindermädchen einzustellen. Nur wehrte sich Bianca gegen dieses Ansinnen vehement, weil eine fremde Person noch mehr Schmutz ins Haus bringen und Unordnung stiften werde. Die Mancini waren zu guter Letzt Renatos einzige Hoffnung.

Und er kam mit interessanten Neuigkeiten zum gemeinsamen Abendessen. „Ich habe Bianca erklärt, ihr das Sorgerecht entziehen zu lassen. Sie hat regelrecht erfreut darauf reagiert. Jetzt werde ich ihr eine Wohnung kaufen und dann ganz dicke Schlussstriche ziehen.“

„Mach dir für danach keinen Kopf“, riet Adriano. „Laura bleibt tagsüber hier, bis sie in die Schule geht. Dann ist sie alt genug, bei dir zu Hause zurechtzukommen, wenn du unten in der Kanzlei arbeitest.“

„Nachmittags sind Luca, Bruno und Gepettos Mario für sie da, der ja auch mehr bei uns als zu Hause ist“, lachte Anabelle. „Auf die drei kann man sich felsenfest verlassen.“

Beim nächsten Treffen der Freunde auf dem Anwesen von Zahnarzt Giovanni und Frau Angelina waren die Veränderungen sofort offensichtlich, denn Renato kam allein, Adrianos Familie brachte Laura mit. Das Warum musste nicht diskutiert werden, aber alle freuten sich, wie Laura in den wenigen Tagen aufgelebt war. Selbst hier, wo so viele Erwachsene auf Laura aufpassen konnten, schaute Luca immer wieder nach, ob sie sich auch nicht langweile.

„Ein Bild tiefster Verehrung, wie sie ihn anlächelt“, schmunzelte Vincenzo.

Die stolzen Väter grinsten vergnügt.

„Wirst du dir jetzt einen Hund anschaffen, wie du es dir immer gewünscht hast?“, fragte Marco Renato.

„Nein. Ich denke nicht. Ich verwöhne lieber weiter Bruno mit Leckerli“, antwortete Renato nach kurzem Nachdenken.

„Du hast nur keine Lust, bei Wind und Wetter Gassi zu gehen!“, stichelte Antonio.

„Musst du alles ausplaudern!“, rief Renato in gespielt komischer Verzweiflung, worauf die Freunde herzlich lachten. „Zudem vergleicht Laura jetzt immer alle Hunde mit Bruno – da kommt wohl keiner gleich gut weg. Sie wäre sicher enttäuscht. Da soll sie lieber ihn als besten Spielgefährten auf vier Pfoten in Erinnerung behalten. Sie ist doch völlig hin und weg, wenn sie ihn an der Leine führen darf.“

„Das kann ich bestätigen“, warf Claudia ein. „Mir sind bald die Augen rausgefallen, als sie mir zum ersten Mal mit Bruno an der Etsch entgegenkam. Anabelle lacht sicher heute noch deswegen. Wenn Laura am anderen Ende der Leine hängt, nimmt Bruno keinerlei Spielofferten von Benny an. Er weiß vermutlich genau, was passiert, wenn er losspurten würde.“

Laura für die Wochenenden nach Hause zu holen, verkniff sich Renato, als sich die Kleine vor dem Mittagessen mit Mama Bianca einfach davon gemacht hatte. Sie war über den hohen Zaun geklettert und hatte alle, die sie traf, gefragt, wie sie zu Tante Anabelle und Onkel Adriano Mancini laufen müsse. Ein Nachbar hatte sie erkannt, besorgt auf den Arm genommen und nach Hause getragen. Dort war dann für mehrere Stunden Landunter, weil Laura in Tränen zerfloss. Bianca schrie die Kleine in einem fort an, wie sie es wagen könne, wegzulaufen, sodass Renato in höchster Not seine Tochter zu den Mancini zurückbrachte.

Als Adriano die Tür öffnete, sprang Laura wie der geölte Blitz hinein und kraxelte mit affenartiger Geschwindigkeit auf allen vieren die lange Treppe zu den Wohnräumen hinauf.

„Sonst noch Fragen?“, flüsterte Renato traurig.

Adriano legte ihm den Arm um die Schulter. „Alles wird gut.“

Renato strahlte auf. „Wenn du das sagst, dann glaube ich es.“

Als er nach Hause zurückkam, wandte sich Renato düster an Bianca: „Eines Tages werden sie dich in die geschlossene Anstalt einweisen, wenn du dich nicht bald behandeln lässt! Nächste Woche unterschreibe ich den Kaufvertrag für deine zukünftige Wohnung, damit der Alptraum ein Ende hat. Du kannst jetzt schon mit dem Packen beginnen!“

Bianca zuckte mit den Schultern und schaltete den Fernseher ein, als sei nichts gewesen. Renato schüttelte den Kopf. Er checkte in der Verzweiflung im Internet die Möglichkeiten, an eine gute Haushälterin zu kommen, der ein Kleinkind im zu betreuenden Haus kein Dorn im Auge wäre. Den richtigen Tipp bekam er am Ende von den Mancini, die ihre Villa, und die Außenanlagen, die Wohnung nicht eingeschlossen, über eine bestimmte Agentur pflegen ließen. „Du musst ja niemanden in deine vier Wände aufnehmen, wenn es nur ums Instandhalten geht“, hatten sie erklärt.

„Auch wahr“, murmelte Renato.

Ein paar Tage später wollte er Laura für das Wochenende abholen.

„Sie war doch eben noch auf dem Sofa!“, staunte Anabelle, als die Kleine wie vom Erdboden verschluckt war. „Bruno, suche Laura!“

Der Vierbeiner hatte Laura zwar schnell erschnüffelt, nur weigerte sie sich vehement, ihren Zufluchtsort, die Truhe für die Schmutzwäsche, zu verlassen. Sie zog mit einer derartigen Kraft von innen am Deckel, dass Adriano fürchtete, sie zu verletzen, öffnete er den Behälter mit Gewalt.

„Das schnürt mir regelrecht das Herz ab“, flüsterte Anabelle, den Tränen nah.

Renato zog ebenfalls die Nase hoch, kniete sich neben die Truhe und erklärte: „Laura, Mama wohnt nicht mehr bei uns. Es gibt nur noch uns beide.“

„Wirklich?“, tönte es aus der Truhe, deren Deckel sich langsam hob.

„Wirklich!“, bestätigte Renato. „Komm raus, kleine Maus. Papa ist traurig, weil er das ganze Wochenende alleine sein muss, wenn du nicht mitkommst.“

„Oh ... armer Papa!“ Laura ließ sich aus der Wäschekiste heben und drückte Renato ganz fest. „Ich passe auf dich auf!“

„Das ist sehr gut!“, schmunzelte Anabelle. „Bis Montag, kleiner Schatz!“

„Bis Montag, Tante Anabelle! Gib Luca ein Küsschen von mir!“

„Ich werde es nicht vergessen!“

Renato war gerade vom Hof gefahren, als Gepetto Luca nach Hause brachte. Es war zwar nicht weit, aber es wurde schon zeitig dunkel und die Sicherheit der Kinder hatte höchste Priorität. Während Luca sofort in der Badewanne verschwand, berichtete Adriano seinem besten Freund, wie sich Laura versteckt und dann alles ein gutes Ende genommen hatte.

„Wundert mich nicht, dass Anabelle Lauras Schicksal derart an die Nieren geht. Bianca hätte Laura wohl auch ausgesetzt, wenn die Außenkameras an Renatos Haus nicht gewesen wären“, brummte Gepetto mit zusammengezogenen Augenbrauen. Darauf anspielend, dass Anabelle als Neugeborene bei Eiseskälte von ihrer Mutter wie Abfall an einem Feldrain weggeworfen worden war.

„Ich habe in der Tat manchmal Vergleiche gezogen“, gab Anabelle zu. „Aber Laura hat wenigstens einen Papa, der seine Kleine niemals im Stich lassen würde.“

„Und der wiederum hat Freunde, die immer einen Weg finden“, strahlte Gepetto, ehe er nach Hause eilte.

Luca kam aus dem Bad. „Wo ist Laura?“

„Bei ihrem Papa. Ich soll dir ein Küsschen von ihr geben“, erklärte Anabelle.

„Oh je, arme Laura!“, erschreckte sich Luca.

„Keine Sorge, Bianca ist ausgezogen. Renato wird sich mit Laura ein wunderschönes Wochenende machen.“

„Klasse! Da kann ich mich auch in Ruhe über das Küsschen freuen!“ Luca rieb sich zufrieden die Hände. „Sie kommt doch aber am Montag wieder?!“

„Würde sie dir fehlen, wenn sie nicht käme?“, stellte sich Adriano naiv.

„Ja, sehr. Ich mag Laura.“ Luca knuddelte Bruno und wünschte allen eine gute Nacht.

„Ich werde sie nicht voneinander abhalten, sollte es in dreizehn, vierzehn Jahren noch immer so sein“, grinste Adriano, es sich mit Anabelle vor dem Fernseher gemütlich machend.

Anabelle schaute ihn verschmitzt prüfend von der Seite an. „Du weißt doch schon wieder was!“

„Ich?! Niemals!“, grinste Adriano.

II.

Wenn die Mancini wegen eines Termins außer Haus mussten, brachten sie Laura zu Vincenzo und Gianna, die sich trotz Stress im Lokal, rührend um die Kleine kümmerten. Gewohnt, sich selber zu beschäftigen, saß sie im Büro, malte und schaute Bilderbücher an. Sie freute sich riesig, wenn ihr Onkel Vincenzo ein Schälchen Eis oder Pudding servierte, wobei er meist mit großen Augen einen Finger auf seinen Mund legte. Dann nickte Laura heftig, ließ es sich schmecken und brachte das leere Gefäß ungesehen zum Rollregal, wo das benutzte Geschirr abgestellt wurde.

Klar wusste Gianna Bescheid, sie hätte es Laura aber um nichts in der Welt verraten, weil dann der Zauber des Geheimnisses mit Onkel Vincenzo zerstört worden wäre.

Wenn es noch hell war, holte Luca Laura allein vom Restaurant ab. In der dunkleren Jahreszeit begleiteten ihn Mutti oder Vati mit Bruno, der das Gastronomen-Paar ebenfalls sehr liebte, weil er stets Leckerli erhielt. Manchmal kam Gepetto zufällig mit Familie vorbei. Dann saßen alle gemütlich in der Gaststube zusammen. An solchen Tagen fuhr Renato direkt zum Lokal, um Laura nach dem gemeinsamen Abendbrot mit nach Hause zu nehmen.

So vergingen die drei Jahre, bis Laura eingeschult wurde, fast wie im Flug. Wenn die Männer ihre jährlichen Motorradausfahrten durchführten, kam Claudia mit Kindern und Hund zu Anabelle, Luca und Laura, wo alle im Garten viel Spaß miteinander hatten. Abends zogen sie gemeinsam zu Gianna ins Lokal, um Abendbrot zu essen.

Wenn Laura Sorgen hatte, teilte sie diese mit Luca, der immer einen guten Rat wusste. Er hatte auch stets nützliche Tipps, die sich Laura sehr zu Herzen nahm, für die Schulaufgaben. Wenn sie Fragen hatte, rief sie ihn einfach zu Hause an, wie es ihr Papa erlaubt hatte. Auch mit Adriano und Anabelle war das abgesprochen, damit sich niemand wunderte.

Lucas Begeisterung für die Naturwissenschaften hatte schon auf sie abgefärbt, als sie noch ganz klein gewesen war. Er hatte sie in seine Experimente und Untersuchungen immer einbezogen und so ihren Forscherdrang geweckt. Egal, ob er Bohnensamen in Gips eingoss und ihn ins Wasser legte, als er ausgehärtet war, um die Sprengkraft der Keimlinge zu demonstrieren, oder mit der Lupe im Garten Regenwürmer beobachtete. Laura fand es spannend, auf welche Weise er jegliche Theorie in der Praxis überprüfte. Und sie half Papa im Haushalt, wie sie es bei Anabelle gelernt hatte. Luca saugte und wischte ja auch Staub, deckte den Tisch und putzte selber seine Schuhe. Und Luca war ihr großes Idol in jedweder Weise.

Am heutigen Samstag schlenderten die Mancini mit Sohn und Hund am Fluss entlang, um bei Vincenzo Mittag zu essen. Adriano war schon den ganzen Morgen unruhig gewesen, beteuerte aber, dass dies weder etwas mit der Familie noch den Freunden zu tun habe. Anabelles Vorschlag nach einem langen Spaziergang hatte er mit Freude angenommen, aber gebeten, über die Ponte Nuovo in die Altstadt zu gehen.

„Weil sich heute unser Kennenlernentag zum Runden jährt?“, fragte Anabelle schmunzelnd.

„Das ist einer der Gründe“, blinzelte Adriano vergnügt. „Ich würde auch heute nichts, aber auch gar nichts, anders machen als damals.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

Kurz vor der Brücke fasste Anabelle Adrianos Hand. „Ich glaube, ich habe Halluzinationen!“

„Ich vermutlich ebenso“, staunte er, denn am gut bekannten Platz, stand mit gut bekannter Nummer ein Reisebus mit Warnblinker und zwei genau so gut bekannte Menschen schauten ziemlich ratlos unter die Motorhaube.

Die vier Spaziergänger beschleunigten den Schritt, blieben neben dem Bus stehen und Anabelle fragte: „Können wir helfen?“

Busfahrer und Reiseleiterin kreiselten herum, stutzten kurz, dann jubelten beide, die Familie voller Freude begrüßend.

„Wir haben ein merkwürdiges Geräusch, wenn der Motor läuft, das immer lauter wird“, erklärte der Fahrer.

„Und wir können in Deutschland keinen erreichen“, fügte die Reiseleiterin hinzu. „Mit unseren Italienischkenntnissen, stehen die Chancen auch schlecht, Hilfe zu bekommen.“

Anabelle übersetzte für Adriano.

„Ich rufe Gepetto an. So ein Bus ist doch auch bloß ein Lastauto“, gab er bekannt, was Anabelle ins Deutsche übertrug, wobei sie hinzufügte, dass Gepetto Spediteur sei, der eine ganze Flotte LKW sein Eigen nannte. „Wenn einer helfen kann, dann er.“

„Oh bitte!“, hauchte die Reiseleiterin, während Adriano schon telefonierte.

„Er wird in einer halben Stunde mit einem Mechatroniker hier sein“, lautete die gute Nachricht.

In der Zwischenzeit durfte sich Luca den Bus von innen und außen anschauen, inspizierte Bordküche und Toilette. Für ihn ein grandioses Erlebnis, weil er schon lange wusste, wie sich Mama und Papa das erste Mal begegnet waren. Nun war dies noch ein Stückchen greifbarer geworden, auch wenn dieser hier nur ein Nachfolger des damaligen Busses war.

Die mobile Werkstatt der Spedition Andreotti näherte sich mit eingeschalteter orangefarbener Rundumleuchte.

„Ah, da sind sie ja schon!“, freute sich Anabelle und machte sich zum Übersetzen bereit.

Der Busfahrer überließ seinen Arbeitsplatz Gepetto, der nach den Anweisungen seines Monteurs Gas gab, die Bremse trat oder die Klimaanlage ein und aus schaltete.

„Wann fiel das Geräusch zum ersten Mal auf?“, ließ Gepetto nachfragen, als sein Mechatroniker ein ahnendes Nicken zeigte.

„Nach dem letzten Werkstattbesuch vor drei Wochen“, erinnerte sich der Busfahrer. „Dann war es wieder weg, um heute erneut so komische zu fauchen, nur viel lauter, sodass sogar einige Reisende Angst bekamen.“

Anabelle gab die Worte auf Italienisch weiter. Der Techniker nickte wieder und baute eine Leitung aus, die auf der Unterseite einen langen Riss zeigte. „Das ist was von der Klimaanlage oder Heizung“, sagte Anabelle. „Ich kann es leider nichts anders übersetzen. Aber Gepettos Mitarbeiter kann es reparieren, weil das gleiche Teil in einigen LKW verbaut ist und sie es dabei haben.“

Nach weniger als einer Stunde war der Bus wieder einsatzbereit, der Fahrer um rund 500 Euro ärmer und die Reiseleiterin 1000 Sorgen los. Die geborstene Leitung packte der Fahrer in den Laderaum, um sie seiner „Werkstatt um die Ohren zu schlagen“.

„Eigentlich sollte das heute die geführte Tour werden, wie damals, als Sie uns abhandengekommen sind“, wandte sich die Reiseleiterin lächelnd an Anabelle.

„Es ist auch das gleiche Datum, nur ein paar Jahre später“, lachte die, „wir haben es heute schon entsprechend gewürdigt. Das ist einer der Gründe, warum wir hier entlang spaziert sind. Ein anderer Grund ist, dass mein Mann gefühlt hat, dass heute genau hier jemand in Nöten war.“

„Bringen Sie den Bus zum Parkplatz und kommen Sie dann zu dieser Adresse!“, bat Adriano, ihnen die Daten von Vincenzos Restaurant gebend, ehe sie weiterflanierten. „Ich bin glücklich, dass Gepetto helfen konnte“, freute er sich.

„Hmm, ich auch!“, strahlte Anabelle. „So, wie es aussieht, hat er für sie einen Freundschaftspreis gemacht.“

Die Vermutung sprach wenig später auch der Busfahrer aus, worauf Adriano breit lächelnd zugab: „Ich habe am Telefon gleich SOS gefunkt, dass ‚unser‘ Bus in Nöten ist.“

„Dann ist Herr Andreotti der Spediteur, der Ihre Umzüge koordiniert hat“, rief die Reiseleiterin.

„Richtig! Vincenzo, der Gastwirt, war damals auch mit in Deutschland, um Anabelles Chef zu ärgern“, verriet Adriano kichernd.

Der Wirt war natürlich sofort unterrichtet worden, auf wen die Mancini in seinem Lokal warteten. Entsprechend herzlich war die Begrüßung. Der denkwürdige Tag, der sich heute zufällig zum zehnten Mal jährte, wurde mit alkoholfreiem Sekt begossen.

„Ich habe sogar mein altes Handy aufgehoben, als eine Art Kultgegenstand zur Anbetung“, schmunzelte Anabelle.

„Wir haben es in einer samtgepolsterten Schatulle, zusammen mit den Bild des Hundes, der Anabelle als Baby gerettet hat, bei der jahrhundertealten Familienchronik im Safe liegen. Und ich habe die Annalen handschriftlich zu jenen denkwürdigen Ereignissen ergänzt“, verriet Adriano.

„Da kriecht mich glatt die Ehrfurcht an“, seufzte die Reiseleiterin. „Es kommt nicht oft vor, dass man mit Personen Kontakt hat, deren Familienbande bis ins 13. Jahrhundert nachweisbar sind.“

Adriano lächelte melancholisch. „Meine Altvorderen haben unglaubliche Mühen auf sich genommen, die Chroniken vor allen Häschern zu verstecken. Denn oft gerieten die Menschen ja in Sippenhaft, wenn ein bekanntes Mitglied der Familie in Ungnade fiel. Die Inquisition war nicht zimperlich.“

„Wie alt ist Ihr Sohn jetzt?“, fragte die Reiseleiterin schließlich, weil Luca still und aufmerksam den Gesprächen folgte.

„Ich bin neun Jahre alt“, gab Luca auf Deutsch bekannt.

„Huch! Ich dachte, das müsste übersetzt werden!“, staunte die Reiseleiterin.

Luca schüttelte den Kopf. „Ich wachse zweisprachig auf.“

Adriano lachte herzlich, als die deutschen Gäste völlig verdattert schauten. „Ich liebe es, wenn er plötzlich Trümpfe aus dem Ärmel zieht!“

„Kann ich mir vorstellen“, kicherte der Busfahrer. „Hat er sicher vom Papa, der auch für große Augen sorgte, indem er sich als Arzt zu erkennen gab.“

„Oh ja, die waren bei allen tellergroß“, stimmte Anabelle in das Lachen ein.

„Apropos Augen – er wird doch sicher genau so oft wie Sie wegen der ungewöhnlichen Farbe der Iris angesprochen“, vermutete der Busfahrer.

Adriano nickte mit Leidensmiene. „Allerdings. Es kommt auf die jeweilige Tagesform an, wie wir beide darauf reagieren. Manchmal sind wir regelrecht genervt, weil man uns mit aller Macht Gespräche aufzwingen will. Luca ist da erfreulicherweise sehr souverän, was uns viele Worte erspart. Diese Augenfarbe scheinen alle männlichen Mitglieder der Ahnenreihe gehabt zu haben, denn wir haben in den Chroniken einige Hinweise gefunden, dass sie sich deswegen vor der Inquisition verstecken mussten.“

„Umso erfreulicher, dass sie auch weiterhin fortlebt“, stellte die Reiseleiterin zufrieden fest. Und mit einem Blick auf die Uhr: „Es ist für uns höchste Zeit, aufzubrechen.“

Der Abschied war wie immer äußerst herzlich und die beiden baten, Gepetto Andreotti dankbare Grüße auszurichten. Vincenzo gönnte sich das Vergnügen, den Busfahrer mit seiner knallroten Ape zum großen Parkplatz zu bringen, während die Mancini die Reiseleiterin zur Arena begleiteten, wo Treffpunkt der Gruppe war, ehe sie gemütlich nach Hause spazierten.

Luca schaute seinen Papa mehrmals an, sagte aber nichts.

Adriano strich ihm übers Haar. „Wenn du erwachsen bist, darfst du die Chroniken lesen. Sie werden dich mit großem Stolz erfüllen, Teil dieser Ahnenreihe zu sein. Mich macht glücklich, dass du auch Arzt werden willst, wie unser Ahnherr Pietro d’Abano und Unzählige, die nach ihm lebten.“

An Ende des aufregenden Tages lächelte Luca Mama und Papa beim Gutenachtgruß dankbar an. „Ich glaube, ich weiß, was ein echter Mancini ist.“

„Wirklich?“, staunten beide.

„Hmm!“ Er nahm ihre Hände. „Ein richtiger Mancini wird mit allem fertig, egal was passiert, und der hilft anderen, wenn sie in Not sind, weil er weiß, wie man sich da fühlt. So wie ihr das mit Laura gemacht habt. Oder heute mit dem Bus. Gute Nacht!“