Hanna - Amazone wider Willen - Sina Blackwood - E-Book

Hanna - Amazone wider Willen E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Die Geologin Hanna Tiede, als Kind mit einem Zeitsprung konfrontiert, sucht in Doktor Bernhard Kreller, einem renommierten Physiker, den idealen Partner, um die Existenz von Raum-Zeit-Blasen zu beweisen. Dass Kreller der arroganteste Fatzke des gesamten Instituts ist, stört sie wenig, womit sie ihn beeindruckt und für ihren Plan gewinnen kann. Und bald schon ist der Physiker aus ganzem Herzen dankbar, dass Hanna sehr viel mehr drauf hat, als nur einen Geologenhammer zu schwingen.

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Seitenzahl: 168

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Eine ungewöhnliche Offerte

Gegensätze ziehen sich an

Auf den Pfaden des Botanikers

Zeitsprung

Kampf ums Überleben

Grey

Killerinstinkt

Feinste Küche

Es wird bedrohlich

Besser als ein Sechser mit Zusatzzahl

Ein Wolfshimmel auf Erden

Geheimnisse

Brisante Gespräche

Eine ungewöhnliche Offerte

„Probleme?“, fragte Peter Tiede seine Tochter Hanna kurz. Er hatte gesehen, dass die Journalistin nach dem Interview offiziell Kamera und Mikrofon ausschaltete, bevor sie weitere Fragen stellte.

Hanna rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. „Ja. Sie haben noch immer keine Spur von Andreas Winkler, dem Botaniker aus dem zweiten Team gefunden. Und nun quetschen sie natürlich alle aus, die in irgendeiner Weise in die Datenerhebungen involviert sind. Sie suchen seit vollen zwei Tagen per Hubschrauber mit Wärmebildkameras, lassen Drohnen fliegen und sind mit einer Hundestaffel unterwegs. Tim Meier, der Biologe, der wegen des Beinbruchs ausgeflogen werden musste, weshalb Andreas allein weiterging, ist völlig fertig. Nun geben alle hinter vorgehaltener Hand den beiden von der Einsatzleitung die Schuld, die Andreas die Genehmigung zum solo Weitergehen gegeben haben. Was in meinen Augen völliger Quatsch ist. Dort laufen täglich allein Wanderer herum. Wölfe und Bären hat man bisher auch noch nicht in diesem Gebiet gesehen, sodass es keinen ernsthaften Grund gegeben hätte, ihm das zu verbieten.“

Peter dirigierte Hanna am Arm ins erstbeste Café, um sie aus dem Blickfeld der Presse zu ziehen. „Ich sehe dir an, was du denkst.“

„Ist das ein Wunder?“, murmelte Hanna. „Du beißt dir doch genau so auf die Zunge.“

Dankend nahmen sie Eis und Kaffee entgegen, um eine Weile schweigend in den Tassen zu rühren.

„Du planst doch schon irgendwas?“, stellte Peter leise fest.

Hanna nickte. „Ich werde Dr. Bernhard Kreller fragen, ob er mit mir gemeinsam die Strecke abgeht.“

Peter verschluckte sich glatt. „Du willst was?!“, platzte er mit einigem Entsetzen heraus. Es störte ihn nicht mal, dass sich die Gäste am Nebentisch wegen seines doch recht lauten Ausrufs neugierig umwandten.

„Du hast richtig gehört“, erwiderte Hanna eindringlich. „Ich kann den Kerl als Mensch nicht ausstehen, aber fachlich ist er erste Sahne. Ich will ihn ja nicht heiraten. Ich brauche einen, wie ihn, der auch okkulte Aspekte oder Zeit- und Raum-Krümmungen nicht als Ulk abtut. Er ist Physiker, der Einzige, dem ich diesbezüglich komplett vertrauen würde, und der verrückt genug ist, überhaupt mitzugehen. Ich hoffe, dass ich ihn ködern kann.“

Peter schaute Hanna mit so undefinierbarer Miene an, dass sie glucksend zu lachen begann. „Am besten hältst du Mutter auch aus dieser Sache raus. Die dreht bloß durch.“

„Versprochen.“

Am nächsten Morgen rief Hanna gleich neun Uhr bei Dr. Bernhard Kreller an.

„Was verschafft mir die Ehre, Frau Diplom-Geologin?“, fragte Kreller in seinem üblichen herablassenden Ton, als Hanna nur ihren Familiennamen genannt hatte.

„Ein privates Forschungsprojekt, für das alle anderen nicht qualifiziert genug sind. Ihr angeborener Zynismus, der Sie aus der breiten Masse heraus hebt, macht Sie zu meinem Joker im Spiel.“

Weil einige Sekunden Stille herrschte, glaubte Hanna schon, Dr. Kreller, von Freunden wie Feinden Barny genannt, hätte aufgelegt, da sagte er plötzlich: „Zehn Uhr in meinem Büro.“

„Geht klar, großer Meister. Bis dahin.“ Hanna beendete mit breitem Grinsen das Gespräch, während Dr. Kreller verblüfft sein Telefon betrachtete.

Dass sich Hanna ausgerechnet an ihn wandte?! Das zweite Mal, dass sie ihn beeindruckte. Beim ersten Mal hatte sie einfach nur für alle hörbar „Fatzke“ gesagt, als er ihr die Glastür vor der Nase zuschlug, während sie einen ganzen Stapel Exponate-Kartons durch den Lichthof jonglierte. Der Hall im Lichtschacht hatte das Wort mehrfach verstärkt und einige Mitarbeiter schauten, wem es galt. Barny musste grinsen. Die süße Brünette hatte Stil, während sich andere tagelang keifend über ihn echauffierten.

Er setzte seinen Status kurz vor zehn auf unabkömmlich und drückte die Ruhetaste am Festnetztelefon. Auf die Sekunde genau klopfte Hanna an seiner Tür, er bat sie herein und zeigte auf die gemütliche Sitzecke, statt auf die Stühle am Schreibtisch.

Hanna dankte, nahm Platz und staunte, weil er zwei Tassen mit Espresso füllte und Gebäck auf den Tisch stellte. „Schau an, schau an, er kann also auch anders!“

Barny setzte sich ebenfalls und fragte: „Um welche Art Katastrophe geht es?“

„Um den Beweis einer Zeit-Raum-Anomalie“, brachte es Hanna sehr kurz auf den Punkt.

„Hä?!“, entfuhr es Barny, sie mit völliger Verblüffung musternd.

„Ich meine es ernst, Doktor Kreller. Ich habe so etwas am eigenen Leib erlebt und bin der Überzeugung, dass dem vermissten Botaniker Andreas Winkler Ähnliches widerfahren sein könnte. Ich habe vor, seine Tour mit dem gleichen Marschgepäck abzugehen, und möchte Sie als renommierten Physiker, der sich weder fachlich noch privat um das Gerede anderer schert, dabei haben.“

Barny schaute Hanna stumm forschend in die Augen. Die hielt dem Blick mit stoischer Ruhe stand.

„Ein interessantes Ansinnen, dem ich nicht abgeneigt bin“, murmelte er schließlich. „Sie werden sicher verstehen, wenn ich Hintergrundwissen haben möchte.“

„Voll und ganz“, bestätigte Hanna, ihr Erstaunen nicht zeigend, weil sie fest mit arroganten Sprüchen gerechnet hatte. „Ich erzähle Ihnen am besten die komplette, allerdings recht lange Geschichte, aus der Sicht des Kindes, das ich damals gewesen war.“

„Bitte. Ich bin ganz Ohr und habe Zeit.“

Hanna trank die Tasse leer und berichtete: „Ich ging damals in die zweite Klasse einer Schule auf dem Chemnitzer Sonnenberg, also ziemlich nah am Zeisigwald. Ich durfte stets meinen Vater begleiten, wenn er an den Wochenenden auf den Spuren des alten Vulkans wandelte, der hier in grauer Vorzeit ausgebrochen war. Seit ich selber ein Stückchen versteinerten Holzes gefunden hatte, war dieser feuerspeiende Berg meine große Leidenschaft.“

Über Barnys Gesicht huschte ein kaum merkliches amüsiertes Grinsen.

„Ich hab davon geträumt, wie es wohl sei, durch den Wald der fremdartigen Baumriesen zu schlendern, bevor die Folgen der Katastrophe sie in Stein verwandelte“, fuhr Hanna fort. „Besonders dann, wenn ich im Foyer des Tietz den Kopf in den Nacken legen musste, um die oberen Enden der ausgestellten Stammstücke sehen zu können. Als ich einen eigenen Ausweis für die Stadtbibliothek bekommen hatte, lieh ich mir so beinahe alle Bücher zum Thema Vulkane aus, die im Bestand waren. Soweit zur Vorgeschichte“, erklärte Hanna.

„Eines Tages erhielt ich als Geburtstagsgeschenk eine Eintrittskarte zum Museum für Naturkunde. Den ersten Blick schenkte ich dem riesigen Grizzly gleich neben dem Eingang. Der ist gewaltig groß und ich musste auch seinetwegen den Kopf weit in den Nacken legen, um die Ohren anschauen zu können. Ich stutzte. Der Gigant hatte soeben mit dem rechten Auge geblinzelt. Ich drehte mich sogar noch ein paar Mal nach ihm um.

‚Was hast du?‘, fragte mein Vater, weil ich ziemlich irritiert wirkte. Ich wusste ja, dass der Bär ausgestopft war, und gar nicht blinzeln konnte. Aber er hatte es getan. Nur wollte ich das nicht meinem Vater erzählen.

Als ich den ersten versteinerten Stamm erspähte, war der Bär vergessen und ich meinte, das Rauschen von Farnen und Siegelbäumen im Sommerwind zu hören. Ich las die Begleittexte und Vater berichtete, was es zu jener Zeit an Tieren gegeben hatte. Er lachte, weil ich mehrere Minuten jedes einzelne Stück Achat betrachtete und mit meinem angelesenen Wissen verglich.

Nach zwei Stunden streifte sein Blick die Uhr. ‚Komm, wir ruhen uns ein bisschen aus und schauen uns den Film vom Vulkanausbruch im Zeisigwald an! Gleich geht es wieder los!‘

Wir beeilten uns, um bloß nichts zu verpassen, nahmen Platz, dann waren wir schon ganz im Bann der Geschehnisse auf der Leinwand. Das Grollen des Ausbruchs ließ mich erschauern. Es klang so unglaublich echt und irgendwie ganz anders, als ich es bisher hier im Haus vernommen hatte. Zudem ließ lautes Brummen hinter uns erstaunt die Köpfe heben. Einen Lidschlag später schwirrte ein auffallend großer Käfer vorbei. Verblüfft schauten wir ihm nach und Vater sagte: ‚Der ist bestimmt aus dem Insektarium ausgebüxt.‘

‚Oder auch nicht“, murmelte ich, an den blinzelnden Grizzly denkend. Ich fasste ängstlich die Hand meines Vaters, denn es wurde plötzlich drückend heiß und roch nach Schwefel.

‚Alles in Ordnung? Der Bär ist ausgestopft, du musst keine Angst vor ihm haben‘, erklärte Papa, weil ich mich gerade wieder nach dem Raubtier umdrehte. Er schien Hitze und beißenden Gestank gar nicht zu bemerken.

‚Den gab es im Perm ja noch gar nicht‘, erwiderte ich mit gerunzelter Stirn. ‚Ich habe Angst vor den gigantischen Tausendfüßlern, denn die sind garantiert nicht nur gefräßig, sondern auch giftig.‘

‚Keine Sorge, das sind nur Exponate aus Kunststoff‘, wiegelte Vater ab, als wir wenig später vor einem solchen Tier standen.

‚Da würde ich mich nicht drauf verlassen!‘, rief ich und konnte Papa gerade noch aus der Gefahrenzone reißen, als sich der Arthropleura plötzlich bewegte, um anzugreifen. Sein Platz im Museum und die ganze Ausstellung waren verschwunden. Wir beiden völlig überraschten Menschen standen auf feuchtem Moos unter Siegelbäumen und rannten wie auf Kommando los, um dem hungrigen Räuber zu entkommen. Der riesige Käfer war ebenfalls wieder da, schwirrte um uns herum und verfolgt uns einige Meter.

‚Weißt du, ob das auch ein Fleischfresser ist?‘, hauchte ich.

‚Keine Ahnung‘, flüsterte mein Vater geschockt. ‚Wo sind wir überhaupt?‘

Ich fasste einen der Baumstämme an und dozierte mit erhobenem Zeigefinger: ‚Perm. Irgendwas zwischen 298,9 Millionen Jahren und 251,9 Millionen Jahren und wir sind von fressgierigen Bestien umgeben.‘“

Wieder huschte ein verstecktes Lächeln um Dr. Krellers Mundwinkel. Ja, das kühle Denken passte zu Frau Tiede.

„‚Und wie kommen wir hier wieder weg?‘, fragte Vater.

‚Keine Ahnung‘, sagte diesmal ich. ‚Ich dachte immer, Erwachsene haben für jedes Problem eine Lösung.‘

Grollen, das tief aus der Erde zu kommen schien, ließ mich verstummen. Wir mussten uns sogar an Bäumen festhalten, um nicht von den Füßen gerissen zu werden, weil plötzlich der Boden schwankte.

‚Auf alle Fälle sind wir zu nah am Vulkan‘, stellte Papa besorgt fest. ‚Was, wenn das Inferno direkt über uns hereinbricht? Wohin sollen wir uns wenden?‘

Ihn kroch langsam Panik an, während ich eher neugierig umher spähte. Das war sicher alles Teil einer interaktiven Show und Vater spielte nur den Ratlosen, um meine Reaktionen zu testen. Es hatte doch sogar neulich erst in der Zeitung gestanden, dass das Museum für Naturkunde grandiose Mitmachangebote im Plan hat.

‚Dann schlage ich vor, dass wir versuchen, den nächsten Ausstellungsraum zu erreichen‘, regte ich an, wofür ich verblüffte Blicke meines Vaters erntete. ‚Hast du vorhin nicht selber gesagt, der Bär sei ausgestopft und nicht gefährlich? Dann sind es die Krabbel- und Fliegeviecher ganz bestimmt auch nicht. Das sind Holo ... Holo ... na, eben solche bewegten Bilder, die gar nicht echt sind.‘

‚Du meist Hologramme?‘, staunte mein Vater.

Ich nickte. ‚Genau die! Da springen manchmal Delfine und Wale direkt aus einem Turnhallenboden.‘

Vater hielt mir einen Klumpen Humus unter die Nase. ‚Nur machen die Hologramme weder etwas nass noch hinterlassen sie Erde, und sie riechen auch nicht so eklig, wie die Luft hier.‘

‚Denkst du, das ist echt?!‘, rief ich nun doch etwas erschreckt.

‚Denke ich. Sonst könnten wir ja auch nicht die Bäume anfassen.‘

‚Oh.‘ Ich ließ meine Hand über die schuppige Rinde des Siegelbaumes gleiten. Ja, ich konnte sie wirklich fühlen. Durch ein Trugbild würde ich glatt hindurch fassen. ‚Und was machen wir jetzt?‘

‚Aufpassen, dass uns kein Tier erwischt und nach einem Ausgang suchen‘, schlug Vater vor. ‚Wir beide sind doch ein eingespieltes Team und lassen uns nicht unterkriegen.‘

‚Geht klar! Wenigstens weiß ich jetzt ganz genau, wie man sich in einem urtümlichen Wald fühlt. Und dass das mit dem Schlendern nicht wirklich funktioniert, weil man sofort auf der Speisekarte von irgendwelchen Ungeheuern steht‘, stöhnte ich, mit dem Fuß eine Ameise wegkickend, die groß wie ein Hamster der Neuzeit war.

‚Schnell weg, ehe sie die anderen zu Hilfe ruft!‘ Papa nahm mich auf den Arm und suchte einen Weg durchs Farngewirr. Er bog zwei dünne Stämme auseinander und erstarrte. ‚Du lieber Himmel! Was ist das?!‘

‚Ein Edaphosaurus, wie man an dem riesigen Rückensegel erkennen kann‘, staunte ich, während Papa ganz schnell die Farne losließ und eilig in eine andere Richtung lief. Er wollte sich nicht darauf verlassen, dass das Tier nur Pflanzen fraß. Immerhin war es über zwei Meter lang und konnte sicher auch kräftig zubeißen, wenn es sich bedroht fühlte. Es raschelte im Gebüsch, Papa hielt mir entsetzt den Mund zu und drückte sich an einen Stamm. Die dolchspitzen Reißzähne des fast vier Meter langen Inostrancevia, der an uns vorüber lief, waren sicher nicht dazu gedacht, Pflanzenstängel zu kauen. Das Tier schien aber ein festes Ziel zu haben und ignorierte uns. Als es zwischen den Sigillarien auf der anderen Seite des nahen Baches verschwand, raunte Vater: ‚Was für ein Monster!‘

‚Hat das Fell oder Federn?‘, hauchte ich, von dem urzeitlichen Raubtier völlig fasziniert.

‚Hab nicht darauf geachtet‘, gab Vater wispernd zu, beunruhigt zum anderen Ufer äugend. ‚Wir müssen schleunigst einen sicheren Platz für die Nacht finden, sonst vernascht er uns zum Abendbrot.‘

Ich schaute Papa prüfend an. Er schien sich ernste Sorgen zu machen. Besonders, als es wieder unter unseren Füßen grollte und ein roter Feuerschein durch die Sigillarien leuchtete, gefolgt von Gluthitze, die uns die Luft zum Atmen nahm. Langsam dämmerte es mir, dass hier tatsächlich etwas anderes, als ein interaktives Spiel, lief.

‚Ihm nach!‘, rief ich, als erneut ein dicker Käfer laut brummend vorbeiflog.

‚Warum?‘, staunte mein Vater, während ich verzweifelt an seiner Hand zerrte.

‚Weil wir hier gelandet sind, als so einer im Museum auftauchte!‘, erklärte ich, dem Insekt mit den Augen folgend. ‚Der weiß bestimmt den Weg nach Hause!‘

‚Einen Versuch ist es wert‘, flüsterte Papa, mich wieder auf den Arm nehmend und im Laufschritt dem Käfer nacheilend.“

Diesmal nickte Dr. Kreller deutlich sichtbar. Die absolute Kaltblütigkeit der jungen Geologin war unter Kollegen regelrecht gefürchtet.

„Am Rand des Waldes blieb Vater abrupt stehen, denn der Vulkan erhob sich in gerader Linie wenige hundert Meter vor uns. Entkommen im Fall eines Ausbruchs zwecklos, weil wir beide aus den Aufzeichnungen der Forscher wussten, dass sich ein pyroklastischer Strom zu Tale gewälzt hatte und alles in riesigem Umkreis unter der Glutwolke erstickt und plattgewalzt worden war.

‚Oh nein!‘, hauchten wir zugleich, als der halbe Berg mit einem ohrenbetäubenden Knall in die Luft flog. Die Druckwelle traf uns innerhalb weniger Sekunden, und Vater fiel mit mir im Arm, wie die Baumstämme in großem Rund, einfach um.

‚Haben Sie sich wehgetan?‘

Beide rissen wir die Augen auf und musterten die Frau ungläubig, die uns die Hände reichte, um uns aufzuhelfen.

‚Was ist passiert?‘, fragte Vater völlig orientierungslos, begreifend, dass sie eine Museumsmitarbeiterin sein musste,

‚Sie sind wohl über einen der großen liegenden Baumstämme gestolpert und gestürzt. Nur gut, dass der Kleinen nichts passiert ist.‘

‚Verzeihen Sie bitte, ich werde jetzt bestimmt vorsichtiger sein‘, murmelte Vater und verschwand mit mir im Insektarium, um in Ruhe die völlig chaotischen Gedanken zu ordnen.

‚Ich habe doch gleich gewusst, der Käfer stammt nicht von hier‘, raunte ich verschwörerisch, als wir in jedes Terrarium geschaut hatten.

Vater nickte. Er hockte sich auf die Fersen, um mir direkt in die Augen schauen zu können. ‚Versprich mir, dass alles, was heute geschehen ist, unser Geheimnis bleibt.‘

‚Das schwöre ich, denn das ist so verrückt, dass die uns glatt in die Klapsmühle stecken würden‘, kicherte ich. ‚Und da will ich ganz bestimmt nicht hin. Der Urwald im Perm hat mir gereicht.‘

Vater schüttelte schmunzelnd den Kopf. Er wunderte sich nicht einmal, als ich dem riesigen Grizzly ein vergnügtes Lächeln schenkte, und rief: ‚Mach es gut, Teddy, lass dich nicht vom Inostrancevia anknabbern!‘

Die Dame am Ausgang lachte. ‚Hat wohl Spaß gemacht, stundenlang auf den Spuren des Perms zu wandern?‘

‚Oh ja, riesengroßen‘, erklärten wir. ‚Die Ausstellung ist wundervoll, wir hatten glatt das Gefühl, mitten in diese Welt einzutauchen.‘

‚Und wir hatten Schiss‘, brummte Vater auf der Treppe, einen winzigen frischen Bärlappzweig aus meinem Zopf klaubend.

‚Was wird wohl nachts erst hier, im Museum für Naturkunde, los sein?‘, überlegte ich laut.

‚Hör bloß auf! Das will ich nun wirklich nicht wissen!‘, schüttelte sich mein Vater.

Ich kicherte vergnügt.

‚Wohin gehen wir nächstes Wochenende?‘, fragte Papa, als wir am smac, dem Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz, vorbeifuhren.

‚Nicht da rein!‘, protestierte ich. ‚Zumindest nicht sofort. Sonst erwischt uns vielleicht der Henker! Da drinnen soll nämlich dessen Schwert liegen!‘

Vater blinzelte. ‚Akzeptiert. Hast ja nicht ganz unrecht. Ich muss auch erst mal verarbeiten, was wir heute gesehen haben.‘ Er hatte sich den Satz: Was heute geschehen ist, ziemlich mühsam verkniffen.“

Hanna atmete tief durch und beendete ihren Bericht. „Was sehen Sie in dem Geschehen?“

Gegensätze ziehen sich an

„Ich gebe ungern zu, dass ich fasziniert bin“, brummte Dr. Kreller. „Ihre Gedankengänge bezüglich des Verschwindens des Botanikers reizen mich in der Tat, einen Beweis zu finden. Sie haben doch sicher auch schon weitergehende Vorstellungen.“

„Wenn es Ihren Planungen nicht im Wege steht, möchte ich am Ersten des kommenden Monats mit der Wanderung beginnen. Eine Liste lebenswichtiger Dinge mit genauem Gewicht kann ich Ihnen digital übertragen. Einiges werden wir pro Person mitführen müssen, anderes untereinander aufteilen, wie Zelt und Kochutensilien. Sämtliche Kosten, welche direkt mit der Wanderung zu tun haben, übernehme ich.

Mein Vater wird uns mit dem Auto zum Ausgangpunkt der Exkursion bringen und am Ende vom Zielort wieder abholen, so uns nicht die Zeit verschlingt. Falls Sie aus dem Projekt aussteigen möchten, geben Sie mir bis einen Tag vor Abreisedatum Bescheid.“

Barny winkte ab. „Das wird nicht geschehen. Ihre Herangehensweise an undefinierbare Vorgänge interessiert mich.“ In Gedanken setzte er hinzu: „Darauf, dass ich den Schwanz einkneife, würden 99 Prozent der Belegschaft des Instituts geradezu warten, um mir beruflich den Hals umzudrehen.“

„Dass Sie nie ein gegebenes Wort brechen, ist ein weiterer Punkt, der Sie in meinen Fokus gerückt hat“, verriet Hanna, sich erhebend.

„Ich sehe mir heute noch die Listen an und melde mich morgen telefonisch“, versprach Barny, Hanna bis an die Tür geleitend.

Dann schaute er sich noch einmal die Aufzeichnung des letzten Interviews an, das Hanna gegeben hatte. Er zoomte die Gesichter auf, um das Mienenspiel zu analysieren. Kühle Beherrschung. Doch irgendetwas musste geschehen sein, sonst hätte sich Hanna heute nicht in dieser Weise offenbart. Also durchforstete er sämtliche private Videos von der Pressekonferenz, die in den Kanälen des Instituts kursierten.

Er wurde fündig. Ihn machte genau das stutzig, was auch Hannas Vater bemerkt hatte: Die Reporterin stellte weitere Fragen, obwohl sie nicht mehr auf Sendung waren. Hannas Gesicht war nur im Profil zu sehen, er glaubte aber, ein unwilliges Zucken der Wangenmuskeln zu erkennen, nachdem er es mehrfach auf dem großen Plasmabildschirm, der fast die gesamte Bürowand einnahm, in einzelne Sequenzen zerlegt hatte.

Den Einsatzaufzeichnungen des Instituts entnahm er, dass sich Hanna freiwillig zur Datenauswertung gemeldet, sonst aber nichts mit dem Einsatz zu tun gehabt hatte, weil ausschließlich botanische und zoologische Erhebungen auf dem Plan standen.

Wieder musste Barny schmunzeln, denn sie kannte sich genau so gut in der Tier- und Pflanzenwelt aus. Sie hatte bereits mehrere Ausgrabungen geleitet. „Dass ich wegen einer Frau mehrfach ins Lächeln gerate, ist neu“, murmelte er halblaut und ziemlich belustigt.

„Und?“, fragte Peter Tiede seine Tochter.

„Du kannst das Auto flott machen.“

Tiede schaute genau so verblüfft sein Handy an, wie vorher Barny Kreller.

„Bist du noch da?“, fragte Hanna.

„Ja, mir fehlen nur die Worte“, flüsterte Vater.

Hanna lachte herzlich. „Ging Dr. Kreller genau so. Ich war wohl die Letzte, mit der er gerechnet hätte, ihn um Hilfe zu bitten. Er ist elektrisiert, möchte ich es nennen.“

„Und ich habe gehofft, dass er dir den Plan ausredet“, gab ihr Vater leise zu. „Was, wenn ihr auch im Nirgendwo verschwindet?“

„Es ist das Risiko eines jeden Forschers, auf dem Feld der Wissenschaft sein Leben zu verlieren.“

„Na prima! Du kannst einem ja richtig Mut machen!“, schnaufte Tiede.

Hanna wiegte den Kopf. „Als ich auf dem Pinatubo im Einsatz war, hast du doch auch nicht interveniert, und der hätte buchstäblich jeden Augenblick hochgehen können.“

Ihr Vater hob die Hände. „Mir steckt die völlige Verzweiflung, die ich bei unserem unfreiwilligen Abenteuer gespürt habe, noch immer in den Knochen. Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie hilfloser gefühlt.“