Das große Glück, ein kleines bisschen verrückt zu sein - Sina Blackwood - E-Book

Das große Glück, ein kleines bisschen verrückt zu sein E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Der Abend scheint gelaufen zu sein, als Anabelle in Verona nur noch die Rücklichter ihres Reisebusses sieht. Da tippt ihr jemand auf die Schulter. Sie erkennt den gutaussehenden Fremden wieder, der ihr schon den ganzen Tag auffällig durch die historische Altstadt gefolgt ist. Er bietet Hilfe an und führt sie auf erschreckend engen, verschlungenen Pfaden zu seinem Motorrad. Anabelle beginnt zu fürchten, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, steigt aber trotzdem auf.

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Seitenzahl: 204

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Inhaltsverzeichnis

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

I.

Anabelles erster richtiger Urlaubstag in Italien führte mit der Busreisegruppe nach Verona. Am Abend zuvor hatten sie ein Hotel in Bardolino am Gardasee bezogen, das der Stützpunkt für die kommenden Tagesausflüge werden sollte.

„Wir dürfen hier nur ganz kurz halten“, gab die Reiseleiterin bekannt. „Also bitte beim Aussteigen beeilen. 17 Uhr müssen wir alle wieder hier sein. Wir dürfen auf niemanden warten. Wer zu spät kommt, muss zusehen, wie er das Hotel erreicht.“

Weil ein wirklich warmer Tag war, ließ Anabelle ihre Jacke gleich im Bus. Das Aussteigen klappte perfekt und der Fahrer zog zu den öffentlichen Parkplätzen weiter. Die Gruppe überquerte die Etsch über die Ponte Nuovo, um in die in die Altstadt zu gelangen. Anabelle hatte den gefalteten A3 Plan des historischen Kerns in der Hosentasche stecken, um jederzeit einen Blick darauf werfen zu können. Die Reiseleiterin hatte vorgegeben, in welcher Reihenfolge man sich bis zum Highlight, Julias Haus, vorarbeiten wolle. Bei den Menschenmassen genau der richtige Ausdruck, wie Anabelle amüsiert feststellte, wenn sie versuchte, Detailaufnahmen mit Pocketkamera oder Smartphone zu machen.

Zuerst kamen sie an jenem Haus vorbei, in dem Romeo gelebt haben sollte, erfuhren auf dem weiteren Weg einiges zur Geschichte der Scaligeri, die 1262 bis 1387 Verona beherrscht hatten und erreichten schließlich den Markt.

Unter dem Arco della Costa, dem Bogen der Küste, mit dem markanten Walknochen, fühlte sich Anabelle plötzlich beobachtet. Forschend schaute sie sich um und entdeckte einen sportlich elegant aussehenden Mann, der vom kleinen Markt direkt zu ihr herübersah. Die Blicke begegneten sich, er lächelte kaum merklich und tauchte im Gewimmel der Marktbesucher unter.

Auf dem Weg zu Julias Haus gewahrte sie ihn auf der anderen Straßenseite, in die gleiche Richtung gehend, die auch die Reisegruppe eingeschlagen hatte. Und wieder schien er zu lächeln, als sie ihm ins Gesicht schaute.

Anabelle maß dem keine Bedeutung bei. Die Touristen folgten offenbar alle demselben Weg. Möglicherweise suchte er ja ein bekanntes Gesicht aus seiner eigenen Gruppe, denn hier wimmelten alle wild durcheinander. Manche Reiseleiter hielten einen Schirm als Erkennungszeichen hoch, andere einen Stab mit Bändern in den Landesfarben der Reisenden. Sie widmete sich stets dem Fotografieren, um später immer wieder in wundervollen Erinnerungen schwelgen zu können. Dabei ging sie ziemlich kreativ zu Werke, weil immer irgendjemand genau durchs Bild lief.

Nachdem sie reichlich enttäuscht aus dem Hof mit Julias berühmtem Balkon gekommen war, kreuzte der Fremde wieder ihren Weg. Diesmal so nah, dass sie sogar die Farbe seiner Augen erkennen konnte – ein interessantes Haselnussbraun, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Und wahrscheinlich hatte sie zu intensiv hingeschaut, denn diesmal blinzelte er vergnügt. Über Anabelles Gesicht huschte ein kaum merkliches Lächeln, ehe sie rasch eines der Kaufhäuser in unmittelbarer Nähe betrat.

Es konnte kein Zufall mehr sein, dass sie ihn auf dem Weg zur Arena erneut auf der anderen Straßenseite entdeckte. Vor dem imposanten Bauwerk herrschte Trubel, als wären sämtliche Reisebusse dieser Welt zur gleichen Zeit angekommen. Sie fotografierte es von allen Seiten und entdeckte eine Magnolie mit leuchtendroten reifen Früchten.

Natürlich wollte sie auch hiervon gestochen scharfe Bilder haben. Nur reichte der Handyzoom nicht aus, sodass sie sich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme, so hoch es irgendwie ging, ausstreckte.

„Soll ich Sie hochheben?“, fragte jemand schmunzelnd auf Englisch.

„Wenn Sie sich einen Bruch heben wollen, können Sie es gern versuchen“, lachte Anabelle, den Mann erkennend, der ihr schon seit über einer halben Stunde auf Schritt und Tritt folgte. „Ich denke, ich komme allein klar. Danke für das Angebot.“ Sie stieg auf eine kleine Mauer, um das Objekt ihrer Begierde im Bild festhalten zu können.

Der Fremde ging zögernd weiter. Offenbar fühlte sich die hübsche Brünette nun endgültig belästigt. Schade, sie hatte etwas an sich, das ihn berührte. Das erlebte er nicht oft und schon gar nicht so intensiv. Ihm entging völlig, dass ihr einen Wimpernschlag später das Smartphone aus der Hand fiel und sie selbst auch nur mit Mühe festen Halt fand.

Ob Schicksal, oder Zufall, er entdeckte sie eine Stunde später in der Schlange eines Eisstands und stellte sich einfach mit an. Vielleicht wurde sie ja beim gemeinsamen Eisessen etwas aufgeschlossener.

Der Blick auf die Uhr des Herrn vor ihr in der Schlange, ließ Anabelle heftig zusammenzucken. Sie spähte nach einer anderen Armbanduhr, um festzustellen, dass tatsächlich nur noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Busses blieben. Sie orientierte sich kurz, um plötzlich los zu spurten, als ginge es um ihr Leben. Die Reiseleiterin hatte extra mehrfach darauf hingewiesen, dass der Bus nur zehn Minuten stehenbleiben durfte. Wer es nicht schaffte, musste die rund 30 Kilometer nach Bardolino zum Übernachtungshotel mit dem Taxi fahren. Anabelle hetzte durch die Straßen, um den Reisebus noch irgendwie zu erreichen, sprang über Absperrketten, flitzte an der roten Ampel zwischen Autos hindurch und sah gerade noch, wie der abfahrende Bus um die Ecke bog. Arrivederci.

Vor Wut hätte sie am liebsten ihr Handy an die Mauer an der Etsch gedroschen. Die Vernunft siegte. Sie ließ es bleiben, weil das Gerät nichts dafür konnte, sie hätte gleich nachsehen müssen, ob es noch funktionierte, nachdem es ihr aus der Hand gefallen war. Sie konnte ja nicht einmal ein Taxi rufen. Völlig verzweifelt und den Tränen nah, lief sie in die kleine Straße an der nächstgelegenen Brücke zurück, um in einem Geschäft zu fragen, ob sie telefonieren dürfe. Diesmal blieb sie stehen, als die Fußgängerampel rot zeigte. Jemand tippte ihr auf die Schulter, worauf sich Anabelle wie in Zeitlupe umwandte.

„Ich glaube, nun brauchen Sie doch Hilfe“, sagte eine männliche Stimme auf Englisch.

Hinter ihr stand der gut aussehende Herr, der sie vor der Arena angesprochen hatte. Anabelle zog die Nase hoch, hob völlig hilflos die Hände, dann nickte sie stumm.

„Was ist geschehen?“, fragte er teilnahmsvoll.

Anabelle schilderte ihr Missgeschick mit wenigen Worten. Er schürzte die Lippen. „Wenn Sie wirklich mit dem Taxi fahren wollen, müssen Sie damit rechnen, eine ganz heftige Flaute im Portmonee zu erleben. Unter 40 Euro ist die Fahrt nicht zu haben und jetzt, in der Hauptsaison müssten Sie mit rund 60 Euro planen. Zudem ist es für Ausländer nicht immer ganz einfach, einen Festpreis auszuhandeln.“

„Ich habe doch gar keine Wahl“, flüsterte Anabelle, verzweifelt die aufsteigenden Tränen niederkämpfend. „Ich kenne mich hier nicht aus, das Handy streikt und ich würde mit einem Überlandbus wohl überall, nur nicht im Hotel ankommen.“

Er kniff die Augen zusammen, taxierte sie von Kopf bis Fuß, betrachtete erfreut ihre Jeans und die Schnürschuhe, überlegte ein paar Sekunden und bot an: „Ich könnte Sie mit dem Motorrad nach Bardolino bringen. Ich kann Ihnen sogar eine Jacke leihen, damit Sie sich nicht den Erkältungstod auf der Fahrt holen. Einen Sturzhelm natürlich auch“, fügte er rasch hinzu.

Anabelle riss die Augen auf. „Das würden Sie tun? Zu welchem Preis?“

„Sie gehen heute Abend mit mir gepflegt Wein trinken“, schmunzelte er. „Und keine Sorge, ich bezahle. Ich habe fünf freie Tage und bin öfter ziemlich spontan, was die Gestaltung meiner Freizeit angeht. Ich heiße übrigens Adriano Mancini.“

„Sehr angenehm. Anabelle Kreher.“ Sie versuchte, in seinen Augen zu lesen. Aber da war ausschließlich wohlwollende Neugier zu sehen. „Ich möchte das Angebot annehmen“, murmelte sie.

„Wirklich?! Ich werde auch vorsichtig fahren“, versprach er sofort. „Kommen Sie! Ich habe die Maschine bei einem Freund in der Garage stehen.“

Anabelle nickte erfreut und folgte ihm auf erschreckend engen, verschlungenen Pfaden durch den Dschungel der mittelalterlichen Häuser. Sie war sich nicht mehr ganz so sicher, dass es eine gute Idee gewesen war, die Offerte anzunehmen.

„Keine Angst, wir sind gleich da“, erklärte Adriano beruhigend. „Da drüben ist der Fluss und dort können Sie das erste alte Stadttor sehen. Wir werden also in Nullkommanichts auf der Fernverkehrsstraße sein. Schauen Sie? Da drüben geht gerade ein Rolltor auf. Dorthinein müssen wir.“ Er winkte, als jemand eine Maschine herausschob. „Perfekt, ich muss nicht mal selbst öffnen.“ Er stellte ihr seinen Freund Gepetto Andreotti vor, der das Visier hochklappte, damit Anabelle sein Gesicht sehen konnte, und erklärte mit wenigen Sätzen die Situation.

Das Lachen seines Freundes kam von Herzen, als er Anabelle anschaute. „Sie haben Glück, dass er ein völlig verrückter Hund ist. Gute Fahrt und viel Spaß!“

Adriano steuerte auf eines der beiden anderen Motorräder zu. „Eine Harley CVO Limited Royal Purple?!“, flüsterte Anabelle völlig verdattert, Maschine und Besitzer mit großen Augen betrachtend.

„Richtig“, sagte Adriano absolut verblüfft. Anabelle war die erste Frau, die Marke, Typ und sogar die Farbgebung auf Anhieb exakt benannt hatte. „Sie kennen die Maschine?“

Anabelle schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich habe die Tourenmaschine zufällig beim Händler stehen sehen, war von Optik und Farbe hin und weg und habe ein wenig im Internet recherchiert. Beim Preis bekam ich schließlich Schnappatmung.“

„Ja, davon könnte man durchaus ein größeres Auto anschaffen“, bestätigte Adriano, aus der Gepäckbox Helm und Jacke hervorzaubernd. „Wenn Sie die Ärmel umkrempeln, sollte es gehen“, blinzelte er.

Der Helm passte besser und Anabelle stellte überrascht fest, dass Mikrofon und Lautsprecher zu Ausstattung gehörten. Sie konnten sich also auf der Fahrt problemlos unterhalten.

„Bereit?“, fragte er, als sie die Jacke und er das Tor fest verschlossen hatte.

„Bereit!“ Anabelle schwang sich hinter ihm auf den Sitz.

„Gut festhalten!“, bat Adriano, den imposanten fahrbaren Untersatz startend.

Anabelle umfasste seine Hüfte und schmiegte sich an. Sie wusste, worauf es ankam: dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten. Der ausgeformte Sitz mit Rücken war genau so bequem, wie ihn sich Anabelle vorgestellt hatte.

„Perfekt“, lobte Adriano, sich in den Verkehr auf der großen Hauptstraße einordnend. Er hatte auch nicht nach der Adresse des Hotels gefragt, um vielleicht das Navi zu programmieren. So, wie es aussah, kannte er sich bestens in Verona und Umgebung aus. Als sie die Stadt verließen, begann er Fragen zu stellen. „Sind Sie wirklich ganz allein auf Bustour gegangen?“, lautete die erste.

„Ja, bin ich“, verriet Anabelle. „Das ist auch der Grund, weshalb ich in der Freizeit nach den Führungen ganz allein unterwegs war. Die anderen sind mindestens zu zweit oder in kleinen Gruppen zur Fahrt angetreten.“

„Interessant. Sind Sie immer allein auf Reisen?“

„Meistens“, gab Anabelle zu. „Ich bin ziemlich spontan, was meine Freizeitgestaltung angeht. Aber damit, was das für Folgen haben kann, dürften Sie sich ja bestens auskennen.“

Adriano lachte herzlich. „Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Frauen einen großen Bogen um mich machen. Sie halten es ein oder zwei Monate mit mir aus, dann ergreifen sie die Flucht.“

„Sind sie wirklich ein so Schlimmer?“, staunte Anabelle.

Adriano überlegte einen Moment. „Ich selber würde mich als romantischen Kuschelbären bezeichnen, der hin und wieder den Hang hat, sich für ein Wochenende den Wind um die Nase wehen zu lassen. Dabei favorisiere ich die Berge. Auch wieder ein Punkt, der den Damen nicht passt. Die stehen offenbar alle auf Strand oder Pool.“

„Ich nicht“, warf Anabelle ein. „Ich bin eher die Gebirgsziege, die Tourengeherin, die Burgeneroberin und Pfadsucherin. Und da will ich dann eben alles ganz genau wissen.“

„Ich hätte Sie wohl doch lieber hochheben sollen. So würde zumindest Ihr Handy noch Lebenszeichen von sich geben und Sie hätten den Bus nicht verpasst.“ Adriano merkte an den Berührungen an seinem Rücken, das Anabelle den Kopf schüttelte.

Da sagte sie auch schon: „Dann würde ich jetzt zwar brav auf meinem Sitz hocken, aber krampfhaft überlegen, wie ich den Abend totschlagen könnte, statt auf einer wundervollen Harley hinter einem gutaussehenden Mann, der ungewöhnlich und geheimnisvoll ist.“

„Oh, danke für die Komplimente! Als geheimnisvoll hat mich noch keine bezeichnet“, rief Adriano ehrlich überrascht. „Ich gebe zu, jetzt bin ich wieder ein bisschen neugieriger, als ich an der Arena schon war.“

„Sie sind mir doch bereits seit dem Haus gefolgt, das Julia gewidmet ist“, erklärte Anabelle. „Zumindest habe ich es dort das erste Mal bemerkt.“

„Oha! Erwischt!“, lachte Adriano. „Ja, auch das gebe ich zu. Sie sahen so einsam und traurig aus, dass ich den festen Plan hatte, Ihnen ganz einfach ein wenig Gesellschaft zu leisten, weil ich auch allein in der Stadt unterwegs war. Da ist es schön, wenigstens ein paar Gedanken austauschen zu können oder nur gemeinsam Eis zu essen und das bunte Treiben an der Arena zu beobachten. Ich stand also auch am Eiswagen in der Schlange hinter Ihnen. Dann sah ich, wie Sie erschraken und losrannten. Weil ich die Gepflogenheiten der Reisegruppen in dieser Stadt ziemlich gut kenne, war ich vor Ihnen am Zustiegsort. Es gibt nämlich nur zwei bevorzugte Möglichkeiten: Diesen Platz und den großen Busparkplatz etwas außerhalb des Zentrums. So kam es, dass ich Sie zu guter Letzt an der Kreuzung abgefangen habe, ehe der Tag für Sie in einer wirklichen Katastrophe endet. Und nun hoffe ich sehr, dass ich Sie mit meiner Offenheit nicht völlig verschreckt habe.“

Anabelle lachte. „Da weiß ich wenigstens, woran ich bin und meine Neugier ist auch ein ganzes Stück gewachsen. Ich freue mich auf den Abend.“

„Super!“ Adriano überholte einige LKW und kicherte: „Na schauen Sie mal, wer drei Fahrzeuge weiter vorn ist! Haben Sie schon im Hotel eingecheckt oder steht das noch aus?“

„Das haben wir gestern getan“, erzählte Anabelle. „Sonst wäre ich vielleicht völlig durchgedreht, als der Bus ohne mich abfuhr. Wir sind im Campagnola.“

„Ein 3-Sterne-Hotel“, sagte Adriano.

Anabelle seufzte: „Teurere Reisen kann ich mir nicht leisten. Ich muss ja immer noch den Einzelzimmerzuschlag einrechnen.“

„Das war auch nur eine Feststellung, keine Abwertung“, erklärte Adriano sofort. „Sind Sie die ganze Zeit hier oder ist es nur Zwischenstation für eine Nacht.“

„Mit heute sind es vier Nächte“, gab Anabelle bekannt.

„Was halten Sie davon, wenn ich im Campagnola oder in der Nähe einchecke und Ihnen jeden Abend ein wenig die Umgebung zeige?“, fragte Adriano und fügte schnell hinzu: „Ich möchte um Gottes willen nicht, dass Sie glauben, ich täte es, um Sie ins Bett zu bekommen!“

Anabelle schmunzelte. „Ich halte viel davon. Wenn es wirklich im Bett enden sollte, haben wir es zumindest beide so gewollt.“

„Und so mich der Teufel richtig reitet, dann folge ich jeden Tag dem Bus und leiste Ihnen Gesellschaft, wenn Sie mein schönes Land erkunden“, gab Adriano bekannt.

Anabelle lachte. „Ich denke, Ihr Freund hat recht. Sie sind ein völlig verrückter Hund. Mir imponiert das.“

„Da vorn ist schon das Hotel! Ich halte direkt neben dem Bus, damit die anderen eine Chance haben, richtig große Augen zu machen“, grinste Adriano.

Schon die der Reiseleiterin wurden wie Wagenräder, als Anabelle den Helm abnahm. „Melde mich wohlbehalten zurück! Herr Mancini war so freundlich, mir einen Transfer zu spendieren.“

„Puhhh, da fallen mir ganze Gebirge vom Herzen!“, rief die Reiseleiterin erfreut. „Herzlichen Dank, Herr Mancini!“

„Gern geschehen!“ Und an Anabelle gewandt: „Wir treffen uns 19:30 Uhr hier vorm Eingang.“

„Geht klar! Ich habe übrigens Zimmer acht.“ Anabelle holte ihre Jacke aus dem Bus.

Adriano stellte die Harley auf den Parkplatz. Er ging ins Hotel, um wegen eines Zimmers zu fragen.

Der Busfahrer saß mit halb geschlossenen Augen auf seinem Sitz. Beide Hände hatte er zu Fäusten geballt.

„Alles in Ordnung?“, fragte Anabelle teilnahmsvoll, als Letzte an ihm vorbei gehend, um den Bus zu verlassen.

„Wird schon wieder. Ich habe mir gestern an einem Koffer irgendwie den Rücken verhoben“, murmelte er.

„Das wundert mich nicht“, erwiderte Anabelle. „Es geht einfach in manche Köpfe nicht rein, dass es für Sie besser ist, viele kleine Koffer zu heben, als einen riesengroßen, extra schweren, mit Klamotten für die ganze Familie. Zumal diese Bitte mit Begründung auch in den Reisepapieren steht. Gute Besserung!“

„Danke. Sie sprechen mir aus der Seele“, seufzte der Fahrer, sich mühsam aus dem Sitz quälend.

Anabelle begab sich zu ihrem Zimmer. Als der Blick das Fenster streifte, konnte sie sehen, dass Adriano soeben vom Parkplatz fuhr. Er hatte wohl kein Zimmer bekommen. Dass er sie nach dem Abendbrot versetzen könnte, verbannte sie weit aus ihren Gedanken. Das traute sie ihm einfach nicht zu. Nicht nach dem, was bisher geschehen war.

Umso mehr staunte sie, als er beim Essen breit lächelnd drei Tische weiter saß.

„Er wohnt auch hier im Hotel?“, fragte die Reiseleiterin überrascht.

„Seit heute“, schmunzelte Anabelle. „Er hat eingecheckt, damit ich abends nicht allein herumwandern muss. So eine Art Beschützerinstinkt, nach der Sache mit dem verpassten Bus. Wie geht es eigentlich unserem Fahrer?“, fragte sie, sich umschauend und ihn vermissend.

„Gar nicht gut. Er hat heiß geduscht und sich sofort ins Bett gelegt. Morgen früh muss ich entscheiden, ob wir einen anderen Fahrer anfordern.“

„Das tut mir so leid“, murmelte Anabelle. Als sie sich vom Tisch erhob, zahlte Adriano und folgte ihr. „Sie sehen sorgenvoll aus.“

„Unserem Fahrer geht schlecht. Er hat schlimme Rückenprobleme.“ Anabelle zog die Augenbrauen zusammen. „Durch die Unvernunft einiger Mitreisender, die mit gigantischen randvoll gepackten Koffern unterwegs sind.“

Adriano schaute auf die Uhr. „Ich muss noch einmal kurz weg. Sobald ich wieder da bin, klopfe ich bei Ihnen, oder wollen wir uns erst 19:30 Uhr treffen?“

„Klopfen Sie!“, bat Anabelle.

Augenblicke später rollte die Harley vom Hof. Weil vom Weintrinken die Rede gewesen war und deshalb das Motorrad stehen bleiben musste, zog Anabelle für den Abend ein Kleid an. Dann nahm sie das Handy hervor und begann, es genau zu untersuchen. Es knackte, als sie auf das Display drückte. Auch beim zweiten Versuch. Nur, dass es diesmal einrastete und keine Geräusche mehr von sich gab. Anabelle öffnete mit einer Büroklammer das Fach der SIM-Karte. Sie war aus der Halterung gesprungen. „Na prima!“, brummte sie und fürchtete sich ein bisschen davor, das Gerät anzuschalten. „Geh bitte an und mach, was du sollst“, flüsterte sie. „Ich kann mir im Augenblick keinen Ersatz leisten.“ Das Handy summte, startete neu und funktionierte, als sei nie etwas geschehen. Einzig der kleine matte Fleck auf der rechten Kante deutete an, dass es einen Absturz erlebt hatte, sowohl körperlich, als auch digital. „Vielleicht wäre es ja doch besser, wieder eine Armbanduhr zu tragen“, seufzte Anabelle.

Als der satte Sound der Harley erklang, trat sie ans Fenster. Adriano trug einen vollen und wie es schien, fabrikneuen Rucksack auf dem Rücken. Ihr fiel siedendheiß ein, dass er ja Kleidung und persönliche Dinge für vier Tage brauchte.

Knapp zehn Minuten später klopfte es und er stand fröhlich lächelnd vor der Tür. Anabelle hängte sich in den angebotenen Arm ein und sie spazierten hinunter zum See und in die Altstadt, wo Adriano eine wundervolle Prosciutteria kannte, in der man ausgezeichnete Weine bekam.

„Wo sind Sie zu Hause?“, fragte sie schließlich, weil ihm nichts unbekannt zu sein schien.

„Derzeit in Nago-Torbole del Garda, also am nördlichsten Zipfel des Sees“, verriet er. „Ich bin aber in Verona geboren, habe meine ganzen Freunde dort und das Haus meiner Eltern, das ich vor vier Jahren geerbt habe.“

„Dann wundere ich mich auch kein bisschen, dass Sie hier und dort jeden Zentimeter Straße kennen“, schmunzelte Anabelle. „Ich habe allerdings ein ganz schlechtes Gewissen, weil sie meinetwegen einen Haufen zusätzlicher Kosten haben. Vom Hotel angefangen, bis zu ihren Einkäufen, um für vier Tage gewappnet zu sein.“

Adriano grinste vergnügt. „Einkaufen hat jedenfalls mehr Spaß gemacht, als nach Hause zu fahren, um etwas zu holen. Die Gardesana ist in der Hochsaison ja buchstäblich vollgestopft. Ich hätte drei Stunden oder länger gebraucht. Die Zeit verbringe ich lieber in Ihrer angenehmen Gesellschaft.“

„Was hätten Sie gemacht, wenn ich Ihnen nicht über den Weg gelaufen wäre?“, fragte Anabelle.

„Hmm. Mal überlegen ... wahrscheinlich wäre ich heute Abend mit Freunden Wein trinken gegangen und morgen nach Venedig gefahren“, sagte Adriano.

„Oh, Venedig steht übermorgen auf unserem Plan!“, rief Anabelle. „Morgen ist Sirmione dran.“

„Prima! Da kann ich Sie ein bisschen herumführen und Pluspunkte mit Geschichtswissen sammeln“, lachte Adriano.

Anabelle lächelte vergnügt. Er war ein brillanter Gesellschafter. Dabei versuchte sie erfolglos, sein Alter zu schätzen. Er konnte Ende dreißig sein, genau wie Mitte vierzig. Er sah wirklich umwerfend aus und seine Hände waren, für einen der auch selbst am Motorrad schraubte, sehr gepflegt. Sie konnte es sich nur schwer vorstellen, dass seine Spontanität alles war, weshalb ihm die Frauen davonliefen, wie er betont hatte.

Er schaute sie fragend an.

„Ich überlege gerade, welche Leiche Sie wirklich im Keller haben, vor der die Damen Reißaus nehmen könnten.“

Ein lustiges Schulterzucken, gepaart mit breitem Grinsen, war die ganze Reaktion.

„Ich werde Sie beobachten!“, drohte Anabelle scherzhaft.

Adriano lachte herzlich. „Ich bitte darum! In der Hoffnung, dass Sie das Exemplar sein mögen, das nicht die Flucht ergreift.“

Anabelle hob neckisch eine Augenbraue. „Schockverliebt?“

„Vielleicht sogar das. Auf alle Fälle erfreut darüber, dass Sie mir mit Worten Paroli bieten, statt entrüstet die Nase zu rümpfen, wenn ich Dinge sehr direkt anspreche“, blinzelte er.

Gegen 23 Uhr schlenderten sie zum Hotel zurück.

II.

An der Rezeption diskutierte die Reiseleiterin völlig aufgelöst mit der Angestellten.

„Gut, dass Sie kommen!“, rief sie bei Anabelles Anblick. „Vielleicht kann Ihr Bekannter erklären, was ich will. Ich brauche dringend einen Arzt für unseren Fahrer. Er hält die Schmerzen nicht mehr aus. Sie erzählen mir hier, wir müssten ihn ins Krankenhaus bringen. Aber wie denn, wenn er sich kaum bewegen kann? Ein Taxi zu rufen, wäre ja kein Problem gewesen!“

Anabelle übersetzte die wichtigsten Teile des Gesprächs ins Englische.

Adriano hörte aufmerksam zu, zog einen scheckkartengroßen Ausweis aus der Brieftasche. „Ich bin Arzt. Ich hole meine Notfallausrüstung und Sie bringen mich sofort zu Ihrem Fahrer.“

Beiden Frauen blieb vor Überraschung der Mund offen stehen, während Adriano im Laufschritt davoneilte. Anabelle wunderte sich nun auch nicht mehr, dass er sich eine derart teure Maschine leisten konnte.

„Bleiben Sie bitte bei uns“, bat die Reiseleiterin Anabelle. „Ich spreche weder ausreichend Italienisch noch Englisch.“

Augenblicke später standen sie im Zimmer des Fahrers, dem vor Schmerz der kalte Schweiß von der Stirn rann. Anabelle übersetzte, so gut sie es vermochte. Das meiste konnte sich Doktor Mancini zusammenreimen, der von Anabelle wusste, wobei sich der Fahrer das Problem zugezogen hatte.

„Ich gebe Ihnen eine schmerzstillende Spritze, dann versuche ich, Ihren Wirbel wieder einzurenken. Und keine Angst, ich bin ausgebildeter Chiropraktiker.“

„Sie schickt der Himmel!“, ächzte der Busfahrer.

Anabelle nickte. „Genau das Gleiche habe ich heute auch schon zu ihm gesagt.“

Das Knacken, mit dem der Wirbel in seine angestammte Lage sprang, konnten sogar die Frauen hören.

„Man sollte die Behandlungskosten den Verursachern in Rechnung stellen“, grollte Anabelle.

„Wir werden keine Handhabe finden“, seufzte die Reiseleiterin.

„Schade, wirklich sehr schade“, brummte Anabelle.

Der Busfahrer konnte Augenblicke später aufstehen, sich sogar bücken und dankte Doktor Mancini mit Freudentränen in den Augen. „Was bekommen Sie von mir?“

„Bis zur endgültigen Abreise der Gruppe den leeren Platz im Bus neben Anabelle“, bat er.

Die Reiseleiterin schaute ihn verdattert an. „Meinen Sie das ernst? Sie wollen keine Rechnung stellen?“

„Ich will nur den Platz im Bus. Wirklich und wahrhaftig. Dann bin ich auch ganz in der Nähe, sollten sich wider Erwarten noch einmal Probleme einstellen.“

„Sie bekommen den Platz!“, waren sich Fahrer und Reiseleiterin einig und dankten Doktor Mancini herzlich für die riesengroße Hilfe.

Auf dem Weg zu Anabelles Zimmer erzählte Adriano: „Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe geahnt, dass er es ohne Hilfe nicht schaffen wird. Ich habe heute beim Einkaufen extra zwei Ampullen Schmerzmittel zusätzlich besorgt. Er nahm den Kassenbon und ein Zusatzblatt aus der Brieftasche. Eine Dosis, Spritzen und Kanülen habe ich immer im Notfallset.“ Er blieb vor der Tür stehen. „Schlafen Sie gut und träumen Sie etwas Schönes.“

„Ich weiß auch schon wovon. Von einem Engel ohne Flügel, der für völlig Verzweifelte zwei Mal aus dem Nichts erschienen ist. Gute Nacht und wundervolle Träume.“ Sie streichelte seinen Handrücken und schloss die Tür.

Ich glaube, ich bin wirklich verliebt, dachte Adriano, mit einem vergnügten Lächeln zu seinem Zimmer trabend. Er wusste die Frühstückszeit, mehr war für den Augenblick nicht vonnöten. Alles andere würde er, wie auch die Gruppe, zeitig genug erfahren. Er stellte seinen Handywecker, dann ging er nach dem Duschen ziemlich zufrieden mit einem turbulenten Tag ins Bett. Er träumte auch ganz wundervoll – von Anabelle, die es geschafft hatte, ihn wirklich für sich zu begeistern.

Das fröhliche „Guten Morgen!“, als er an ihrer Tür klopfte, erwiderte er genau so begeistert. Sie setzten sich, weil von Haus aus genügend freie Plätze an der Tafel der Reisegruppe waren, nebeneinander. Natürlich wurden sie von einigen argwöhnisch beäugt. Das waren auch genau jene, die am Vortag schadenfroh gelacht hatten, als Anabelle den Bus verpasste. Die beiden schienen es nicht zu bemerken.

Die Reiseleiterin und der Busfahrer kamen als Letzte in den Saal, wobei sie sofort Anabelle und Adriano aufsuchten und sich noch einmal überschwänglich bedankten.

„Es geht mir wirklich gut“, beteuerte der Fahrer auf Adrianos gespielt skeptischen Blick.