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Die schönsten Erzählungen aus der alpenländischen Anderswelt Die Sagenreihe des Tyrolia-Verlages hat in den letzten Jahren die altüberlieferten Schätze der verschiedenen Bundesländer gesammelt, gesichtet und von Kennern der Region nacherzählen lassen, die schaurig-schönen Illustrationen dazu stammen vom Künstler Jakob Kirchmayr. Als krönenden Abschluss fasst nun Sagenfachmann Helmut Wittmann die spannendsten, berühmtesten und wichtigsten Erzählungen in einem Österreichband zusammen und erzählt ganz neu die besten Sagen aus dem Burgenland. Entstanden ist ein grandioser Fundus an Geschichten über das zutiefst Menschliche, über Tapferkeit und Verrat, Gier und Großmut, Mitleid und Missgunst, Gewitztheit und Schicksal – der bis heute fasziniert, weil er von Uraltem und doch so Vertrautem spricht. Da begegnet man unheimlichen Wesen wie dem Schabbock oder dem Haselwurm, Drachen und Basilisken, weisen Frauen und Donauweibchen, Venedigermandln und Butzen, Teufeln und Riesen. Denkwürdige Begebenheiten ranken sich um historische Figuren wie Margarethe Maultasch, Dr. Paracelsus, Neidhart von Reuental oder Richard Löwenherz, die davon zeugen, welche Spuren geschichtliche Ereignisse oder landschaftliche Besonderheiten in der volkstümlichen Erinnerungskultur Österreichs hinterlassen haben. Und nicht zuletzt verweben sich bekannte und weniger bekannte Gestalten, Mythen und Motive, Schrecken und Sehnsüchte, Schönes und Tragisches, Gestern und heute zu spannenden Erzählungen für die ganze Familie, die sich herrlich lesen und vorlesen lassen!
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Seitenzahl: 346
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Herausgegeben von
Helmut Wittmann
Mit Texten von
Wilhelm Kuehs, Bernhard Lins, Folke Tegetthoff, Robert Preis, Brigitte Weninger, Helmut Wittmann,
und Zeichnungen von
Jakob Kirchmayr
Wien
Das Donauweibchen
Der Stock im Eisen und der Teufelsschlosser
Der liebe Augustin
König Richard Löwenherz in Wien
Graf Neidhart und das Veilchenfest
Das erste Wiener Kaffeehaus
Meister Martin Eisenarm und die vier Groschen
Der sprechende Fisch
Der Basilisk
Wo die Bognerin mit dem Teufel raufte
Die Spinnerin am Kreuz
Niederösterreich
Wie die Weinstöcke ins Weinviertel kamen
Der vierblättrige Glücksklee
Die Fettaugen auf der Suppe
Das Spiel am Kollmitzberg
Vom Zeichenstein am Sonntagberg
Vom Donaufürsten
Die Rose vom Wassermandl
Im Rosengärtlein am Felsaltan
Vom Wassermann zu Kreuzenstein
Vergelt’s Gott, Wetterliesl!
Vom Lindwurm am Schneeberg
Wer wird in den Sack gesteckt?
Ein Bach voll goldener Haare
Burgenland
Wie der Neusiedler See entstand
Willkommen, lieber Totenvogel!
Die weiße Frau von Bernstein
Sieben Fische, sieben Söhne, eine Mutter und ein Foto!
Die Frage von Frauenhaid
Schwein gehabt, mit der Quelle!
Tanz, Vila! Komm, tanz!
Was Neusonntagskinder sehen
Der Schrecken von Güssing
Vom Bohnen-Hansl
Steiermark
Wie der Erzberg entstand
Dunkle Mächte
Der Schatz der Stubenberger
Der Drachentöter von Mixnitz
Der Schabbock
Die Törin
Der Bauer und der Teufel
Vom Grimmingtor
Gnade Gott, wenn’s oniweigt!
Der Wassermann hat einen Rat!
Der Schatz der Lechner-Bäuerin
Oberösterreich
’s Geld gehört in d’ Welt
Ein Turnier, das in die Geschichte einging
Vom Ritter, der seinen Herrn in den Dreck stieß
Wundersames vom Inn
Teufelsturm, Mönch und Kaiser
Der Riese, die Nixe und die übergroße Einsamkeit
Der Schatz der Wildsau
Die Lichter des heiligen Florian
Der Pfeifer zu Haslach
Die verhängnisvolle Hatz
Die weise Frau hilft
Salzburg
Beim Bart des Kaisers
Der Haselwurm des Dr. Paracelsus
Am rußigen Bach
Die übergossene Alm
Das Loferer Fräulein
Der Ritt durch den Turm zu Babel
Wahrlich eine schöne Leich’!
Zum Teufel mit dem warmen Wasser
Grechen auf und nirgends an!
Auf – und der weißen Gämse nach!
Die Nixe vom Wallersee
Kärnten
Wie die Kärntner das Singen lernten
Der Lindwurm zu Klagenfurt
Der schwarze Felsen vom Wörthersee
Die guaten Leutlan
Der Schatz auf Landskron
Die Kirche von Maria Gail
Das Kirchlein von Tauern und die schöne Frau vom See
Margarethe Maultasch
Die Quittung aus der Hölle
Wie das Lavanttal entstand
Tirol
Frau Hitt
Die Riesen Haymon und Thyrsus
Die tapferen Frauen von Kitzbühel
Die Pest im Stubaital
Der Schatz vom Arlberg
Der Fritzl von Kals
Die Eroberung der Festung Kufstein
Die Erdhenne vom Gerlostal
Der Weerberger Zwider-Wichtel
Die Kröte als Wöchnerin
Vorarlberg
Ehre Guta
Das kluge Hirtenbüblein
Der jähe Schrecken des Meisters Hans Sturn
Auf Burg Schönberg geht’s um!
Das nächtliche Gelage
Die schöne Doggi-Magd
Die verwechselten Särge
Ein Drache zum Geschenk!
Das Mütterlein mit dem Spinnrad
Der Schmittenbutz
Ein Vorwort von Helmut Wittmann
Wer Österreich so richtig kennenlernen will, tut gut daran, seine Sagen zu lesen. Besser als jede psychologische Untersuchung veranschaulichen Sagen die Mentalität eines Landes und seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Anschaulich zeigen sie, welche Gedanken sich die Menschen zu historischen Ereignissen und landschaftlichen Gegebenheiten gemacht haben – und wohl immer noch machen. Das ist keine Auflistung historischer und wissenschaftlicher Fakten. Nein, da spielt das zutiefst Menschliche die wesentliche Rolle. Neid, Missgunst, Gier, Herrschsucht, Verrat und Hinterlist, aber auch Großzügigkeit, Warmherzigkeit, Gerechtigkeitssinn, Tapferkeit und Großmut werden da geschildert. Und weil uns all diese Eigenschaften auch in der Gegenwart nur zu vertraut sind, faszinieren diese meist uralten Geschichten auch heute noch.
Nebenbei erfährt man auch einiges über die Geister, die diese Landschaft beseelen: Vom Donaufürsten und seinem Reich tief unterm Wasser, von den segenbringenden Donanadeln auf den Salzburger Almen, vom Wassermann im Grundlsee und von den wilden Fenggen der Vorarlberger und Tiroler Alpen.
Die Geschichten in diesem Band sind ein Best-of der Sagensammlungen aus den einzelnen Bundesländern Österreichs.
Obendrein werden sie von unterschiedlichen Menschen erzählt: Brigitte Weninger, Folke Tegetthoff, Robert Preis, Wilhelm Kuehs, Bernhard Lins und schließlich mir, Helmut Wittmann, als dem Herausgeber dieser ganz Österreich umfassenden Sagensammlung.
Durch die unterschiedlichen Autoren entsteht neben der inhaltlichen Vielfalt der Geschichten auch eine reizvolle Vielfalt der Erzählstile. Das Ergebnis ist eine abwechslungsreiche und spannende Anthologie der alpenländischen Anderswelt.
Ein anregendes, fantasievolles Vergnügen beim Lesen wünscht,
Helmut Wittmann
Grünau im Almtal, Frühjahr 2022
Brigitte Weninger erzählt
20. Bezirk – Brigittenau
In einer Hütte am Donauufer bei der Brigittenau saß einst ein alter Fischer mit seinem Sohn. Im Ofen flackerte ein Feuer, denn es war kalt und der Frühling noch fern. Der Alte erzählte gerade vom Donaufürsten, der tief unten in den Donaufluten in einem grünen Glaspalast wohnte und eifersüchtig über seine schönen Töchter, die Nixen wachte. »Ja, ja, wunderschön sind s’, die Donauweiberl«, sagte der Vater. »Ich hab sie selber schon gesehen. Aber sie sind auch heimtückisch, weil sie gern junge Männer betören und zu sich in den Strom hinunterlocken …«
Während der Fischersohn seinem alten Vater ungläubig lächelnd zuhörte, öffnete sich mit leisem Knarren die Tür. In der dunklen Scheinung stand ein traumschönes Mädchen mit wallendem Haar und seerosengeschmücktem Gewand, aus dessen Saum unablässig das Wasser tropfte. »Habt keine Angst«, sagte die lichte Erscheinung mit sanfter Stimme. »Ich komme, um euch vor großer Gefahr zu warnen. Nehmt rasch eure Habe und flieht, denn heute Nacht bricht der Eisstoß, und das Wasser wird euer Dorf mit sich reißen. Rettet euch – solange noch Zeit ist!«
Nach diesen Worten verschwand das Mädchen, und nur ein paar Wassertropfen und eine Seerose auf der Schwelle bewiesen, dass es wirklich da gewesen war.
»Komm, Bua!«, schrie der Alte, der sofort aufgesprungen war. »Lauf und warn die anderen im Dorf, während ich unsere Sachen und die teuren Netze zusammenpacke!« Aber der Vater musste den jungen Fischer erst an der Schulter rütteln, weil der noch immer wie verzaubert zur Tür hin starrte.
In höchster Eile wurde das kleine Fischerdorf geräumt. In der Ferne hörte man schon das Krachen des Eises. Als sich wenig später die schmutzigen Wasserfluten in die Hütten ergossen, waren dank der Warnung des Donauweibchens alle in Sicherheit.
Nach wenigen Wochen kam der Frühling. Die Auen wurden wieder grün und die Donau floss ruhig in ihrem alten Bett. Da kehrten die Fischer zurück und bauten ihre Hütten neu auf. Sie waren heilfroh, dass kein Mensch zu Schaden gekommen war und dass ihnen die Flut so viele Fische beschert hatte wie schon lange nicht mehr.
Alle waren fröhlich und zuversichtlich.
Nur der Sohn des alten Fischers blieb blass und still und schien sich an nichts mehr freuen zu können. Der Vater ahnte, was mit ihm geschehen war: Er hatte sich rettungslos in das schöne Donauweibchen verliebt und war nun krank vor Sehnsucht nach ihm.
Immer wieder versuchte der Alte, seinen Sohn auf andere Gedanken zu bringen, aber es nützte nichts. In einer hellen Vollmondnacht schlich sich der junge Fischer aus der Hütte und ruderte in die Mitte des Stroms hinaus. Ein nächtlicher Spaziergänger sah noch, wie ein Mann mit sehnsüchtig ausgestreckten Armen einfach ins Wasser stieg.
Am nächsten Morgen wurde das leere Boot ans Ufer getrieben, aber vom Fischersohn und dem Donauweibchen fehlte von Stund an jede Spur.
Vielleicht wohnt der junge Fischer seither mit seiner schönen Nixenfrau im Glaspalast des Donaufürsten, vielleicht aber ruht er auch auf dem Friedhof der Namenlosen. An diesem verwunschenen Ort beim Alberner Hafen wurden hunderte Ertrunkene bestattet, deren Herkunft und Leben für immer im Dunkeln bleiben werden.
Aber bis heute kommen am ersten Sonntag nach Allerheiligen die Fischer hierher, um ein kleines Floß mit Kerzen und Blumen aufs Wasser zu setzen. Es soll an all die armen Seelen erinnern, die in den Donaufluten den Nassen Tod gefunden haben – auch an die des verschollenen Brigittenauers.
Brigitte Weninger erzählt
Stock-im-Eisen-Platz, 1. Bezirk – Innere Stadt
Eines Nachmittags schickte der Schlossermeister vom Kienmarkt bei St. Ruprecht seinen Lehrbuben Martin Mux vor die Stadt, um Lehm zu holen. Dort aber sah Martin etliche Kinder beim Letzerlspiel:
Oanichi, boanichi,
fiarichi, fairichi,
ripadi, bipadi,
Knoll!
Hei, das versprach lustig zu werden! »Ich will auch mitspielen«, rief der Lehrbub. Und so vergnügten sich die Kinder, bis es dunkel wurde. Erst als alle heimliefen, fiel Martin siedend heiß wieder ein, was ihm der Meister aufgetragen hatte. Hastig füllte er seinen Lehmtrog, doch als der Bub zum Stadttor zurückkam, war es schon geschlossen, und er hatte keinen Sperrkreuzer eingesteckt, um es wieder öffnen zu lassen. Voller Angst und Zorn stampfte Martin mit dem Fuß: »Zum Teufel! – Was mach i denn jetzt?«
Da stand plötzlich ein Manderl mit einem brennroten Mantel und drei schwarzen Hutfedern neben dem Buben und sagte: »Tja – ich könnt dir das Sperrkreuzerl schenken und dich obendrein zum besten Schlosser der Stadt machen. Was meinst dazu? Du wirst ein gar herrliches Leben haben, aber wenn du einmal die Sonntagsmess versäumst, gehört deine Seel mir!« Ohne lange nachzudenken, schlug Martin in diesen Handel ein.
Am nächsten Morgen erschien der fremde kleine Mann in der Schlosserwerkstatt und sagte: »Ich möcht ein Schloss für den benagelten Stock nahe der Stephanskirche bestellen. Es darf aber von keinem anderen außer mir zu öffnen sein.«
Weil der Schlossermeister und seine Gesellen zögerten, spottete das Manderl: »Was zaudert ihr? Ich glaub, sogar euer Lehrbub brächte das zustande!«
Und weil ihm der Höllenfürst unsichtbar die Hände führte, schmiedete Martin Mux vor den Augen seines staunenden Meisters ein überaus kunstvolles Schloss, worauf er sofort in den Rang eines Gesellen erhoben wurde.
Danach spazierte der unheimliche Fremde zu jenem geheimnisvollen Baumstock, der noch heute an diesem Platz steht, legte das neue Schloss um den Stamm, sperrte ab, steckte den Schlüssel ein – und verschwand danach.
Der frischgebackene Schlossergeselle Martin packte sein Bündel und ging ebenfalls auf die Wanderschaft. Unterwegs lehrte ihn der Teufel das Schlosserhandwerk so gut, dass Martin überall, wo er hinkam, neidvolle Bewunderung erntete. Dennoch wollte kein Meister den seltsamen »Teufelsschlosser« für längere Zeit behalten.
So kehrte Martin Mux wieder nach Wien zurück. Hier hörte er, dass die Stadtoberen jeden zum Meister machen würden, dem es gelänge, einen Schlüssel für den Stock im Eisen zu machen.
»Wann i des net kann, wer dann?«, dachte der Geselle vergnügt und schürte gleich das Feuer. Doch in der heißen Esse saß auch der finstere Höllenfürst, der sich von Martin nicht dreinpfuschen lassen wollte. Der Teufel drehte ganz einfach den glühenden Schlüsselbart um, sodass der fertige Schlüssel gänzlich unbrauchbar wurde.
»Na hearst – so was«, wunderte sich der junge Schlosser. Doch dann dämmerte ihm, wer für diesen Streich verantwortlich sein könnte. »Na, wart, Bürscherl!«, meinte Martin Mux und legte den Schlüssel unverändert zurück ins Feuer, worauf der Teufel neuerlich den Schlüsselbart abriss und verkehrt herum ansetzte. Nun aber passte er haargenau ins Schloss am »Stock im Eisen«.
Die Stadtregierung verlieh dem tüchtigen Gesellen den Meistertitel und gab ihm noch eine schöne Summe Geld dazu, sodass er sich eine eigene Werkstatt einrichten konnte.
Schon bald gehörte der frischgebackene Schlossermeister zu den angesehensten Handwerkern der Stadt. Er arbeitete fleißig und ging am Sonntag immer pünktlich zur Messe. Doch Glück und Zufriedenheit verspürte Martin Mux nicht, denn bei Tag und Nacht saß ihm die Angst vor seinem teuflischen Lehrmeister im Nacken. In seiner Seelennot begann der Schlossermeister zu trinken. So saß er auch an einem hellen Sonntagvormittag mit anderen Zechbrüdern in einer Schankstube nahe dem Dom, als es zur Zehn-Uhr-Messe läutete.
»Auf, auf, i muss in die Kirch!«, lallte Martin und wollte sich erheben, aber seine Kumpane hielten ihn zurück.
»Komm, bleib da. Mir trinken noch a Vierterl. Um elfe erzählt der Pfarrer eh noch einmal das Gleiche!«
So zechten und spielten sie munter weiter, bis der Schlossermeister kurz nach halb zwölf Uhr erneut hochschreckte: »Lasst’s mi aus – ich muss sofort in die Kirchn!«
Angstvoll stolperte er aus dem Gasthaus und dem Stephansdom zu. Der Platz vor der Kirche war menschenleer. Nur ein verhutzeltes kleines Mütterchen war zu sehen, das Martin Mux schon von weitem zurief: »Z’ spät! Viel z’ spät! Die letzte heilige Mess ist schon g’lesen!«
Das war gelogen, denn die Gläubigen saßen in Wahrheit alle noch in der Kirche, aber der Schlossermeister kehrte verzweifelt schluchzend um und rannte ins Gasthaus zurück.
Dort riss er sich die silbernen Knöpfe vom Sonntagsrock, schenkte sie seinen verwunderten Zechkumpanen und flehte sie inständig an, nach seinem Tod für ihn zu beten.
In diesem Moment trat das alte, rot und schwarz gekleidete Mütterchen in die Stube, das niemand anderer gewesen war als der Teufel selbst. Er packte Martin Mux, drehte ihm den Hals um und lachte höhnisch: »So, Meister Schlosser – zwölfe ist’s, und wir zwei gehen heim!« Dann fuhr der Höllische mit seiner Beute zum Rauchfang hinaus.
Seither schlugen fahrende Schlossergesellen jahrhundertelang zum Andenken an den irregeführten Meister Mux einen Ziernagel in den Stock im Eisen. Der Stamm wurde ja erst nach dem Wiener U-Bahn-Bau restauriert und mit einem schützenden Glas umgeben. Doch alle wissenschaftlichen Untersuchungen konnten das Geheimnis um den rätselhaften Stock im Eisen nicht lüften, und so weiß man bis heute nicht, woher er eigentlich stammt und wozu er ursprünglich diente. Zum Teufel! – Was soll man da machen?
Brigitte Weninger erzählt
Griechengasse, 1. Bezirk – Innere Stadt
Jahrhundertelang gab es in Wien immer wieder Pestepidemien, aber noch nie hatte die Seuche derart gewütet wie im Jahr 1679.
Weil niemand wusste, wie der »Schwarze Tod« übertragen wurde, konnte man sich auch nicht davor schützen, und so starben mehr als 100.000 Menschen.
In der Stadt herrschten entsetzliche Zustände. Wer genügend Geld hatte, floh aufs Land, aber die Armen und Schwachen mussten bleiben. Verwaiste Kinder irrten durch die Straßen, und die wenigen verbliebenen Ärzte mussten oft mit Gewalt dazu gebracht werden, sich um die todgeweihten Pestkranken zu kümmern. Räuber und Plünderer trieben sich herum, und schleunigst entlassene Häftlinge wurden gezwungen, die herumliegenden Pestleichen einzusammeln und in die Massengräber vor den Stadtmauern zu werfen.
So war es kein Wunder, dass die Wiener Wirtshäuser in dieser schlimmen Zeit gähnend leer blieben – und genauso leer waren auch die Taschen des beliebten Volkssängers und Dudelsackpfeifers Augustin, der früher jeden Abend in der Stadt aufgespielt und durch seine lustigen Lieder und Geschichten viele Freunde gefunden hatte.
Der »liebe Augustin«, wie er wegen seines Humors überall genannt wurde, stammte aus einer bettelarmen Familie und war schon als Bub der Gehilfe eines fahrenden Sängers. Von ihm hatte er das Musizieren gelernt, und alles andere, was Augustin konnte, lehrte ihn das harte Leben in der Fremde.
»Oba a richtiger Weaner geht net unter!«, lachte Augustin oft. »Und auf die Goschn falln dearf ma ja, wann man nachher wieder aufsteht und weidageht …«
In diesen Tagen aber war sogar dem fröhlichen Musikanten das Lachen vergangen. »Herr Wirt – bring mir noch ein Krügel!«, verlangte Augustin missmutig.
»Ja, und wann zahlst es?«, fragte der Wirt misstrauisch.
»So schreib’s halt auf«, grantelte Augustin. »Irgendwann is’ der Wahnsinn da vorbei, dann kriegst dein Geld!«
Der Wirt musste wider Willen lachen: »Mit der Aufschreiberei hupf ich aber nicht weit, wenn mir die Leut jedes Mal innert drei Tag wegsterben wie die Fliegen. Aber du, lieber Augustin, hast mir früher die Stub’n mit Gästen g’füllt, jetzt füll ich dir dafür dein Krügel!«
So schenkte der Wirt dem trübsinnigen Volkssänger immer wieder Bier nach, bis Augustin beschloss: »Jetzt geh i haam!« Er klemmte seinen ledernen Dudelsack unter den Arm, wackelte zur Tür hinaus und schwankte dann Richtung St. Ulrich hinunter, wobei er sein neu komponiertes Lied sang:
Oh, du lieber Augustin,
Augustin, Augustin,
oh, du lieber Augustin,
alles ist hin.
Rock ist weg, Stock ist weg,
Augustin liegt im Dreck.
Oh, du lieber Augustin,
alles ist hin!
In diesem Moment stolperte Augustin und fiel wirklich der Länge nach in die Gosse. Seufzend umarmte er seinen quietschenden Dudelsack, bettete den Kopf darauf und schlief ein.
Wenig später kamen die Pestknechte vorbei. »Hei, da liegt ja schon wieder a Leich«, sagten sie.
Sie hoben den betrunkenen Musikanten auf ihren Karren, führten ihn vors Burgtor und warfen ihn in die Grube. Augustin wachte kurz auf, aber da er jetzt wunderbar weich und recht warm gebettet war, schlummerte er gleich wieder ein.
Erst im Morgengrauen entdeckte der Sänger voller Schrecken, dass er in einem tiefen Pestgrab inmitten von Leichen lag. Bald merkte er auch, dass er sich selbst nicht mehr befreien konnte. »Oh, du liebes Radieserl!«, sagte er zu sich selber. »Hoffentlich schmeißen’s mir nicht noch einen Toten oder eine Fuhr Erde auf den Kopf!« Augustin pfiff und rief, aber weil niemand antwortete, blies er schließlich seinen Dudelsack auf und sang die nächste Strophe seines Liedes: »Oh, du lieber Augustin …«
Da steckte ein Totengräber seinen Kopf in die Grube: »Was ist denn da unten los?«, fragte er verwundert. »Alles, was net anbunden is’«, lachte Augustin. »Komm, Brüderl, hilf mir heraus. Mich habts a bisserl z’ früh ins Grab g’legt. Jetzt leb ich bestimmt ewig!«
Diese Annahme war zwar falsch, aber der liebe Augustin überstand sein Abenteuer in der Pestgrube tatsächlich, ohne krank zu werden, obwohl »die große Sterb« ringsum weiterging.
So konnte der Volkssänger seinen erstaunten Zuhörern noch viele Jahre lang lustige Schnurren erzählen und das Augustinlied vorsingen, das bis auf den heutigen Tag überliefert ist. Erhalten sind auch der steinerne Augustinbrunnen an der Ecke Kellermanngasse und Neustiftgasse und das eherne Hauszeichen am Griechenbeisl in der Griechengasse. Sie alle künden noch heute davon, dass ein echter Wiener trotz aller Widrigkeiten nicht untergeht, sondern wieder aufsteht und weitergeht.
Brigitte Weninger erzählt
Erdberg, 3. Bezirk – Landstraße
Im Frühling des Jahres 1189 kam Kaiser Friedrich Barbarossa nach Wien. Er war mit seinem Kreuzritterheer auf der Reise ins Heilige Land, um Jerusalem und die Festung Akkon zurückzuerobern. Herzog Leopold V. und viele weitere österreichische Edelleute und Soldaten schlossen sich dem kaiserlichen Heerzug an.
Im Heiligen Land trafen sie sich mit dem französischen König Philipp II. und dem jungen englischen König Richard I., genannt Löwenherz. Und weil Kaiser Barbarossa auf der beschwerlichen Reise in einem Fluss ertrunken war, erhielt nun Herzog Leopold den Oberbefehl über alle Kreuzfahrertruppen.
Es folgten entsetzliche Schlachten, in denen viele Soldaten und noch mehr Unschuldige ihr Leben verloren. Bei der Eroberung der Festung Akkon floss so viel Blut, dass Leopolds weißer Waffenrock über und über rot war. Nur um die Mitte, wo sein breiter Ledergürtel saß, blieb ein weißer Streifen – so soll die rot-weiß-rote Fahne von Österreich entstanden sein.
Auch Richard Löwenherz und seine Männer schlugen sich tapfer. Als Burg Akkon nach schweren Kämpfen endlich erobert wurde, hängten die Engländer ihre Flaggen an die Mauern und Leopold die österreichische Babenbergerfahne auf den höchsten Turm.
Als Richard Löwenherz das sah, riss er Leopolds Fahne zornbebend herunter, trat sie in den Schmutz und schrie: »Diese Ehre gebührt uns ganz allein! Mein Heer hat tapferer gekämpft als Eures, und Ihr seid bloß ein kleiner Herzog – ich aber bin König!«
»Diese Beleidigung werdet Ihr mir büßen!«, drohte Leopold. »Irgendwann schlägt die Stunde der Rache!« Der Herzog löste unverzüglich sein Heerlager auf und kehrte zurück nach Wien.
Viele Monate später machte sich auch Richard Löwenherz auf die Heimreise, doch sein Schiff kenterte in einem Sturm, und nur er und einige Getreue überlebten das Unglück. Nun blieb den Engländern nichts anderes übrig, als fortan auf dem Landweg nach Hause zu reisen, der allerdings auch durch Österreich führte.
Löwenherz und seine Männer verkleideten sich als einfache Pilger und hofften, nicht erkannt zu werden. Sie aßen und schliefen äußerst bescheiden und versuchten immer, abseits der viel begangenen Wege zu bleiben. Doch kurz vor Weihnachten, am 22. Dezember 1192, wurden Löwenherz und sein Trupp durch die eisige Kälte zu einer kleinen Herberge in Erdberg getrieben, wo der einzige deutsch sprechende Knappe des Königs um Essen und Unterkunft bat.
»Scho wieder Pülcher«, murrte der Wirt in seinen Bart. »De haben eh koa Göd. Du da! Geh her und drah wenigstens den Bratspieß.«
Mit einer herrischen Geste winkte der Wirt Richard Löwenherz zu sich ans Küchenfeuer und wies ihn an, den großen Spieß weiterzubewegen.
Der König gehorchte sofort, um keinen Verdacht zu erregen, zog aber seinen durchnässten Handschuh aus und enthüllte dabei seinen goldenen Siegelring.
Ein aufmerksamer Gast, ein früherer Kreuzfahrer, bemerkte das kostbare Stück sofort. Er schaute dem frommen Pilger verwundert ins Gesicht und erkannte ihn. Der alte Soldat ließ sich aber nichts anmerken, sondern bezahlte seine Zeche und ritt sofort zu Herzog Leopold, um ihm Bericht zu erstatten und Verstärkung zu holen.
Als Leopold und seine Mannen im Erdberger Gasthof einritten, erhob sich König Richard und übergab dem Herzog widerstandslos sein Schwert, das er unter der schäbigen Pilgerkutte versteckt gehalten hatte.
Löwenherz wurde erst in der Wiener Hofburg gefangen gehalten und dann zur Burg Dürnstein in der Wachau gebracht, wo er angeblich von seinem Freund, dem Minnesänger Blondel, gefunden und gerettet wurde. In Wahrheit aber wurde Richard Löwenherz an den römisch-deutschen Kaiser Heinrich VI. ausgeliefert und durfte erst nach der Zahlung einer ungeheuerlichen Summe von 25 Tonnen Silber nach England zurückkehren. Vom österreichischen Anteil des Lösegeldes wurden später die Wiener Münze, die Wiener Ringmauer mit dem Roten Turm und Wiener Neustadt gebaut. Herzog Leopold allerdings starb wenig später an den Folgen seines Sturzes vom Pferd.
Der tapfere König Richard Löwenherz überlebte ihn nur um wenige Jahre und starb als 42-Jähriger an Wundbrand, nachdem er sich ungeduldig einen feindlichen Pfeil aus der Schulter gerissen hatte.
Brigitte Weninger erzählt
Heiligenstadt, 19. Bezirk – Döbling
In alter Zeit war der Winter eine harte Zeit voll Entbehrung und Not. Umso mehr freute man sich, wenn endlich wieder der Frühling ins Land kam.
In Wien war ein besonders hübscher Brauch entstanden: Wer das erste Veilchen fand, bedeckte es mit seinem Hut und meldete es dem Herzog.
Dann zogen der Hofstaat und die reichen Wiener Bürger mit Musik und gutem Essen auf die Wiesen vor den Stadttoren von Wien, um dort ein fröhliches Fest zu feiern. Und dem glücklichen Finder winkte neben Lob und Ehre auch noch eine ansehnliche Belohnung.
So streifte an einem hellen Märztag auch der Minnesänger Neidhart von Reuenthal durch die lichten Wälder am Kahlenberg und hielt nach den violetten Frühlingsboten Ausschau. Endlich fand Neidhart eines der begehrten Veilchen. »Oh, wie schön es ist und wie süß es duftet!«, freute er sich. »Ich muss sofort Herzog Otto III. unterrichten!« Neidhart stülpte sorgfältig seinen Hut über das Blümlein und lief zurück in die Stadt.
In seiner Eile übersah Neidhart allerdings, dass ihn ein neugieriger Bauer beobachtet hatte. »Hearst, was treibt denn des depperte Lockerl da drüben?«, wunderte sich der Bauer und ging nachsehen. Und weil er alle Stadtleute aus tiefstem Herzen verachtete, beschloss er, der feinen Gesellschaft einen Streich zu spielen.
Der Bauer pflückte das zarte Veilchen, ließ dann seine Hosen hinunter und ging in die Hocke, um sich genau über dem Fundplatz zu erleichtern. Danach deckte er fein säuberlich Neidharts Hut über den übel riechenden Haufen und wanderte fröhlich pfeifend nach Heiligenstadt.
Nach etlichen Stunden erreichte ein langer, bunter Festzug die Minnewiese. Zwischen Soldaten und Trompetern ritten Herzog Otto und seine holde Gemahlin, knapp dahinter formierten sich die Damen und Herren des Hofstaates. Aber auch viele Burschen und Mädchen aus den umliegenden Dörfern hatten sich angeschlossen, und lustige Musikanten spielten auf. Mittendrin marschierte Neidhart von Reuenthal. Er strahlte übers ganze Gesicht, denn dieser herrliche Frühlingstag würde ihm sicher für immer unvergesslich bleiben.
Endlich kam der große Augenblick. Die edle Herzogin wurde von ihrem Ross gehoben und schritt, von Neidhart geführt, über die Wiese. Dann lüpfte sie mit ihrer zarten Hand den Hut des Sängers – und hielt entsetzt inne, bevor sie angeekelt zurückwich.
Auch Neidhart konnte nur erschrocken die Arme heben und »O Schande, Schande, Schande!« stottern. Dann brach auch noch das Donnerwetter des Herzogs über ihn herein: »Wie konntet Ihr es wagen, uns auf so derbe und niederträchtige Weise zum Narren zu halten? Schämt Euch, Neidhart, und tretet uns nie wieder unter die Augen!« Zornig ließ der Herzog kehrtmachen und galoppierte mit seinem Gefolge davon.
Der arme Neidhart blieb allein zurück. Er konnte das Ausmaß seines Unglücks noch gar nicht fassen und wankte wie betäubt dem Dörfchen Heiligenstadt zu. Doch als sich der verwirrte Minnesänger dem Dorfwirtshaus näherte, entdeckte er einige Bauernburschen, die übermütig um eine hohe Stange tanzten, an deren Ende ein – nein, sein! – Veilchen befestigt war. Dazu sang ein Bauer aus vollem Hals:
»Ritter Neidhart, sollst es wissen:
Ich hab dir untern Hut geschissen!«
Neidhart hatte genug gehört. Wutentbrannt zog er sein Schwert und stürzte sich mit einem wilden Schrei auf die verdutzten Männer, die entsetzt in alle Richtungen davonliefen. Dennoch wurden etliche von ihnen verletzt. Der gedemütigte Minnesänger riss sein geschändetes Veilchen von der Stange und marschierte damit schnurstracks an den Hof nach Wien, um seine Unschuld zu beweisen.
Herzog Otto lachte herzlich über den Streich und meinte: »Lassen wir es gut sein, Graf Neidhart. Ich verzeihe Euch. Aber ob es zwischen Euch und den Bauern eine Versöhnung geben wird, wage ich zu bezweifeln.«
Damit sollte der Herzog Recht behalten, denn Neidharts Hass war von diesem Tag an so groß, dass er den Beinamen »der Bauernfeind« erhielt. Aber auch die Szenen rund um dieses Veilchenfest blieben unvergessen und wurden 1407 in einem schönen mittelalterlichen Fresko im Haus Tuchlauben 19 an die Wände gemalt.
Minnesänger Neidhart von Reuenthal und ein viel später lebender Dichter und Musiker namens Neithart Fuchs wurden gemeinsam im sogenannten Neithart-Grab an der nördlichen Außenmauer des Stephansdoms bestattet. Wer allerdings diese eigenartige Zusammenlegung veranlasst hat und wie ein Schafsknochen zwischen die Gebeine der beiden Männer geraten konnte, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben.
Brigitte Weninger erzählt
Kolschitzkygasse, 4. Bezirk – Wieden
Im August 1683 war Wien in größter Bedrängnis, denn die Stadt wurde erneut vom osmanischen Heer belagert; Leopoldstadt war ihnen bereits in die Hände gefallen. Die Türken brachten dort sofort schwere Geschütze in Stellung, um die Stadtmauern auch von dieser Seite her angreifen zu können.
In dieser Not suchten die österreichischen Heerführer einen zuverlässigen, türkisch sprechenden Boten, der den Belagerungsring durchbrechen und den verbündeten Herzog von Lothringen und seine Armee um Hilfe bitten sollte.
Da meldete sich Georg Franz Kolschitzky, ein gebürtiger Pole, der schon mehrfach als Kurier und Dolmetscher zwischen Wien und Konstantinopel unterwegs gewesen war.
In einer gewittrigen Augustnacht legten Kolschitzky und sein Diener Michalovits türkische Kleidung an. Sie schlüpften heimlich durchs Schottentor hinaus und erreichten bei Tagesanbruch das Heerlager der Osmanen.
Kolschitzky stimmte ein türkisches Volkslied an und schlenderte auf die Wache zu. »Ach – dieses schöne Lied habe ich schon lange nicht mehr gehört!«, sagte der Wachkommandant wehmütig. »Wir sind sehr weit weg von zu Hause … Komm in mein Zelt, Bruder, trink einen Becher Khave mit mir und erzähle: Wer bist du? Und woher kommst du?«
»Ich bin ein Kaufmann aus Belgrad und soll eure Truppen mit Lebensmitteln beliefern«, schwindelte Kolschitzky und nippte an seinem brennheißen Khave. Er hatte das köstliche dunkle Getränk schon bei seinen früheren Besuchen in Konstantinopel kennen und schätzen gelernt. Nach dieser Stärkung zogen Kolschitzky und sein Diener weiter, wobei ihnen der türkische Aga noch besorgte Ratschläge mitgab: »Allah sei mit euch! Gebt gut acht, dass ihr nicht den bösen Christen in die Hände fallt!«
Als Nächstes konnten die beiden Abenteurer die Bewohner von Kahlenbergdorf überreden, ihnen ein kleines Schinakel zu verschaffen, mit dem sie anderntags über die Donau setzten. Dabei wurden sie aber von den Österreichern beschossen, die sie wegen ihrer Kleidung für Osmanen hielten.
»Hearts auf schießen, es Packlrass!«, brüllte Michalovits wütend zum Ufer hinüber, und Kolschitzky setzte nach. »Seids ihr schaasaugert, oder was? Wir gehören doch zu euch!« Durch diese klaren Worte war ihre Herkunft auch ohne Papiere eindeutig bewiesen, und die beiden Boten wurden umgehend zum Herzog geleitet.
»Ich werde sofort den König von Polen alarmieren, ein Entsatzheer zusammenrufen und Wien zu Hilfe kommen!«, versprach der Herzog von Lothringen und gab den Kurieren entsprechende Briefe an den Grafen von Starhemberg mit.
Mit dieser frohen Nachricht in der Tasche machten sich Kolschitzky und Michalovits auf den schwierigen und abenteuerlichen Rückweg nach Wien. Eines Nachts aber gelangten sie unversehrt wieder ans Schottentor und wurden eingelassen.
Graf Starhemberg teilte den verbündeten Lothringern durch ein schwarzes Rauchzeichen zur Mittagszeit und drei Raketen um Mitternacht mit, dass die Boten ihre Briefe überbracht hatten – danach mussten die bedrängten Wiener nur noch ausharren, bis Hilfe kam.
Am 11. September konnte das österreichisch-polnische Entsatzheer die osmanische Armee überwältigen. Wer nicht gleich getötet wurde, floh, um sein nacktes Leben zu retten – das riesige osmanische Feldlager mit all seinen Kostbarkeiten wurde zurückgelassen.
Später bat König Jan III. Sobieski von Polen seinen tapferen Landsmann Georg Franz Kolschitzky zu sich und lobte: »Euer Botengang war eine außergewöhnlich mutige Tat, die eine große Belohnung verdient. Sprecht frei heraus: Was kann ich Euch geben?«
Der Dolmetscher verbeugte sich tief und sagte: »Mein König – ich wünsche mir nur die Säcke mit den dicken grünen Körnern, die im türkischen Lager zurückgeblieben sind.«
»Was, das Kamelfutter wollt Ihr haben?«, fragte König Jan verblüfft. Denn er hatte noch nie Kaffee gesehen geschweige denn getrunken. Und kopfschüttelnd gab er den Befehl: »Aller Kaffee gehört Kolschitzky!«
Aber Georg Kolschitzky konnte seinem König schon sehr bald zeigen, welche Köstlichkeiten man aus den »Kamelfutter«-Bohnen brauen konnte, sobald sie erst zartbraun geröstet, fein gerieben und mit kochendem Wasser aufgegossen wurden. Der Retter der Stadt erhielt auch die Erlaubnis, das erste Wiener Kaffeehaus, die »Blaue Flasche« in der späteren Domgasse, zu eröffnen und dort ein neuartiges, morgenländisches Gebräu namens »Khave« ausschenken zu dürfen.
So wurde Kolschitzky zum ersten Kaffeesieder, Kaffeehausbesitzer und auch zum ersten Ober Wiens, denn anfangs bewältigte er alle Aufgaben allein. Die vornehme Wiener Gesellschaft begeisterte sich allerdings sehr rasch für das köstlich belebende Getränk, sodass Kolschitzky Helfer einstellen und sich selbst mehr um seine illustren Stammgäste kümmern konnte, die er stets mit »Bruderherz« zu begrüßen pflegte – denn Frauen war der Zutritt in Kaffeehäuser vorerst nicht gestattet.
Andere Überlieferungen berichten hingegen, dass der armenische Kaufmann Johannes Diotato das erste Wiener Kaffeehaus eröffnet hätte – aber den Kaffeehaus-Besuchern war und ist das im Grunde herzlich egal. Sie interessieren sich nur für die erstklassige Qualität ihres Kaffees, ihre Zeitung und ihr Semmerl – und vielleicht noch für die aktuelle Laune des Herrn Ober in ihrem Stammcafé, die ja oft auch die eigene Tagesverfassung bestimmt.
Gesichert ist auch, dass die Kolschitzkygasse im vierten Bezirk – vielleicht zu Unrecht, aber doch – nach dem tapferen Kriegsboten benannt wurde, dass an der Gassenecke bis heute ein steinernes Kolschitzky-Standbild steht und dass Wien bis heute eine riesige Zahl von innig geliebten Kaffeehäusern hat, in denen man zu Hause und doch nicht an der frischen Luft ist.
Brigitte Weninger erzählt
1. Bezirk – Innere Stadt
Vor langer Zeit lebte in Wien ein Schmied, der so unbändig stark war, dass man ihn nur »Meister Eisenarm« nannte. Dieser Schmied arbeitete jeden Tag – auch an den Sonn- und Feiertagen – aber immer nur so lange, bis er vier Groschen verdient hatte. Dann hängte er seine schwere Lederschürze an den Haken, sperrte die Werkstatt zu und ließ sich weder durch Geld noch durch Bitten dazu bewegen, auch nur eine Minute länger zu bleiben.
Von dieser eigenartigen Gewohnheit hörte auch Kaiser Friedrich II., als er 1237 in Wien weilte und sich nach den Besonderheiten der Stadt erkundigte. Der Kaiser ließ Meister Eisenarm zu sich rufen und fragte ihn streng: »Weshalb missachtest du die heilige Sonntagsruhe? Und wozu verwendest du die vier Groschen?«
Der Schmied schaute den Herrscher furchtlos an und antwortete: »Ich hab mir selber geschworen, mein Leben lang jeden Tag genau so viel zu verdienen, wie ich brauch. Das sind genau vier Groschen. Einen davon verschenk ich, einen erstatt ich, einen schmeiß ich weg und einen brauch ich für mich selber.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte der Kaiser, der nun doch neugierig geworden war.
Also, einen Groschen schenk ich den Armen«, antwortete Martin Eisenarm, »einen erstatt ich meinem alten Vater zurück, der früher für meine Ausbildung gesorgt hat. Einen geb ich meiner Frau, die ihn für allerlei Unsinn ausgibt, und einen Groschen brauch ich für mich selber. Damit hab ich genug.«
»Nicht übel!«, meinte der Kaiser wohlwollend. »Meister Eisenarm, du kannst gehen und weiterarbeiten wie bisher. Du darfst aber niemandem verraten, worüber wir beide hier gesprochen haben, bevor du nicht hundertmal mein Gesicht gesehen hast!«
Der Schmied verbeugte sich und ging heim.
Nun aber wollte der Kaiser die Klugheit seiner weisen Räte prüfen und stellte ihnen eine schwierige Frage: »Sagt, wofür würdet ihr vier Groschen verwenden, von denen der erste verschenkt, der zweite erstattet, der dritte weggeworfen und der vierte verbraucht wird? Ihr habt für die Antwort drei Tage Zeit.«
Die Weisen machten erst dumme Gesichter, aber weil sie doch recht klug waren, kamen sie rasch auf die Idee, dass die sonderbare Frage mit dem Besuch des sonderbaren Schmiedes zusammenhängen könnte.
So gingen die Räte in Meister Eisenarms Werkstatt und wollten wissen, worüber er mit dem Kaiser gesprochen hätte. Der Schmied dachte eine Weile nach und meinte dann: »Wenn ihr mir hundert Gulden gebt, dann kann ich es euch sagen.«
Sofort ließen die Herren das Verlangte herbeischaffen. Martin nahm nun sorgsam eine Münze nach der anderen aus dem Beutel und schaute sie genau an. Nach dem hundertsten Gulden verriet der Schmied die Lösung des Rätsels.
Als nun die weisen Räte nach Ablauf der Frist die richtige Antwort gaben, wusste der Kaiser sofort, dass diese Worte nur von Meister Eisenarm selbst stammen konnten. Zornig ließ er den Schmied erneut rufen und fuhr ihn an: »Habe ich dir nicht gesagt, dass du niemandem von unserem Gespräch erzählen darfst, bevor du nicht hundertmal mein Gesicht gesehen hast?«
»Aber das habe ich ja!«, erwiderte Martin Eisenarm mit großem Ernst.
»Die Herren haben mir hundert Gulden gegeben, und auf jedem war das Gesicht vom Kaiser eingeprägt. Erst als ich alle hundert ganz genau angeschaut hab, hab ich die Deutung verraten!«
Kaiser Friedrich musste über diese kluge Auslegung seines strengen Gebotes herzlich lachen und entließ den Schmied mit einem reichen Geschenk.
Meister Martin Eisenarm aber kehrte unbehelligt zurück in seine alte Schmiede und blieb trotz seines neuen Reichtums bei seiner Gewohnheit, genau so viel zu verdienen wie unbedingt nötig und keinen einzigen Groschen mehr.
Brigitte Weninger erzählt
Seegasse, Rossau, 9. Bezirk – Alsergrund
In einer jener raren Zeiten, als die Juden in Wien einigermaßen unbedroht leben konnten, ging ein armer Mann namens Simeon ans Donauufer. Dort hängte er seine Angel ins Wasser und hoffte auf ein kleines Zubrot für den Familientisch.
Mit einem Mal straffte sich die Schnur, und Simeon zog mit großer Mühe einen Fisch an Land. »Was für ein Glück!«, freute sich der arme Jude. »Dieser Riesenfisch wird uns tagelang satt machen!« Simeon packte seinen zappelnden Fang in einen Korb und rannte schnurstracks nach Hause. Wenn er sich beeilte, würde es noch ein wunderbares Mittagessen geben!
Auch Simeons Frau Chava freute sich über den unerwarteten Segen und legte den Fisch auf den Küchentisch, um ihn zuzubereiten. In diesem Moment hob das Tier seinen dicken Kopf, schnappte ein letztes Mal nach Luft und sprach laut und deutlich die Worte: »Schema Jisrael!« Dann war es tot.
Chava fiel vor Schreck das Messer aus der Hand. »Habt ihr das auch gehört?«, fragte sie ihre Familie. Alle nickten. Der Fisch hatte ohne Zweifel »Höre, Israel!« gerufen, die ersten Worte des jüdischen Glaubensbekenntnisses. Somit konnte er keinesfalls ein gewöhnliches Tier sein.
Verstört liefen Chava und Simeon zum Rabbi und baten um Rat. »Wahrscheinlich wohnte ein Dibbuk, eine verwirrt umherwandernde Seele, in diesem Fisch«, meinte der Rabbi. »Die Kabbala erzählt uns viele solcher Fälle. Also müssen wir dieses Wesen in allen Ehren begraben, so wie es sich in unserer Religion gehört.«
Simeon und Chava bestatteten den Fisch auf dem alten jüdischen Friedhof im Oberen Wörth in der Rossau und ließen ihm einen Grabstein in Form eines sprechenden Fisches setzen, der bis heute dort zu sehen ist. Doch wer diesen Ort besucht, sollte nach uraltem jüdischem Brauch ein kleines Steinchen auf ein Grab legen und still über die Vergänglichkeit des Lebens nachdenken.
Brigitte Weninger erzählt
Schönlaterngasse, 1. Bezirk – Innere Stadt
Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gab es in der Schönlaterngasse 7 eine Bäckerei. Bäckermeister Garhiebl war ein jähzorniger Mann, dem die Gesellen gleich scharenweise davonliefen. Nur Hans Gelbhaar blieb – aber nicht, weil er seinen Meister so gern mochte, sondern weil er sich in dessen Tochter Plonchen verliebt hatte.
Doch als Hans es endlich wagte, um Apollonias Hand anzuhalten, brüllte Garhiebl ihn an: »Erst wenn der Gockel da ein Ei legt, sollst du mein Plonerl haben! Schleich di!«
Der Bäcker gab dem unschuldigen Gockelhahn einen Tritt und warf Hans aus dem Dienst.
Wenige Tage später, am Morgen des 26. Juni, gellten so wilde Schreckensschreie über den Hof, dass alle Leute zusammenliefen. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«, ärgerte sich der Bäckermeister. Er stellte den Backtrog hin, ging nachsehen und fand seine Magd halb tot neben dem Brunnen liegen. »Da is’ a grausliches Viech im Brunnen!«, schluchzte sie. »I wollt nur Wasser schöpfen, da hat mich so ein riesiges Aug angeglotzt. Und der Gestank von dem Viech ist so zum Speiben, dass i umg’fallen bin!«
Ungläubig äugte Meister Garhiebl in den Brunnenschacht und fuhr erschrocken zurück. Auch er hatte das unheilvolle Glitzern in der Tiefe und den grauenhaften Geruch bemerkt.
»Peterl, komm her da!«, befahl der Meister dem Lehrbuben. »Wir hängen dich ans Seil und du schaust nach, was da unten ist!« Der Bub wagte nicht aufzumucken und nickte, doch kaum hatte man ihn ein Stück weit in den Brunnen gelassen, begann auch er so herzzerreißend zu schreien, dass man ihn rasch wieder heraufbeförderte.
Als man den Buben so weit wiederbelebt hatte, dass er sprechen konnte, keuchte er: »Da unten ist ein grässliches Viech! Es schaut aus, als wär’s eine Schlange, ein Gockel und eine Krot zugleich. Es hat einen zackigen Schuppenschwanz, warzige Füß und Stacheln auf ’m Kopf. Und wie’s mich ang’schaut hat, wär i fast gstorben!«
Inzwischen waren immer mehr Menschen im Hof zusammengekommen, darunter auch der Stadtrichter und ein gelehrter Arzt aus der Nachbarschaft. Dieser Doktor rief: »Jetzt weiß ich, wer da im Brunnen sitzt – ein Basilisk! Dieses grässliche Untier entspringt einem Ei, das von einem Hahn gelegt und von einer Kröte ausgebrütet wird. Sein Atem ist giftig, doch auch sein Blick allein kann töten. Der Basilisk selbst kann aber nur getötet werden, wenn man ihm einen blanken Spiegel vorhält. Sobald er darin sein eigenes Bild erblickt, muss er sterben.«
Nach diesen Worten machte sich betretenes Schweigen breit. Niemand wollte dieses Wagnis eingehen. Da trat plötzlich der entlassene Bäckergeselle Hans Gelbhaar vor. Er hatte von der Aufregung in der Schönlaterngasse gehört und wollte nachsehen, ob sein geliebtes Plonchen wohlauf war.
Doch nun sah der junge Bäcker seine Stunde gekommen.
»Ah so – ein Gockel hat also ein Ei gelegt?«, fragte Hans. »Dann gebt’s mir einen Spiegel. Ich steig in den Schacht!«
Der Geselle band sich ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase, um die giftigen Dämpfe fernzuhalten, und ließ sich vorsichtig in den Brunnen hinab. Dabei achtete er darauf, dem Ungeheuer ja nicht in die Augen zu schauen.
Dafür sah der grässliche Basilisk sein eigenes Bild im Spiegel. Er brüllte qualvoll, wand sich wütend zuckend im Wasser und zersprang dann mit ohrenbetäubendem Krachen in Stücke.
Hans wurde unter lautem Jubel wieder an die Oberwelt geholt, und Meister Garhiebl blieb vor so vielen Zeugen nichts anderes übrig, als sein früheres Versprechen einzulösen. Glücklich fielen sich Plonchen und Hans in die Arme.
Der verseuchte Brunnen mit dem toten Untier darin wurde auf Befehl des Stadtrichters mit Steinen und Erde gefüllt und versiegelt.
Ein späterer Besitzer des alten Bäckerhauses ließ 1577 zur Erinnerung an das ungeheuerliche Vorkommnis ein Standbild des Basilisken in Stein schneiden. Es wurde samt einer Inschrift in einer Mauernische des Hauses angebracht, wo man es auch heute noch bewundern kann.
Brigitte Weninger erzählt
Bognergasse, 1. Bezirk – Innere Stadt
Wien ist besonders reich an wunderlichen und humorvollen Hausschildern, die bis heute an besondere Begebenheiten erinnern. So soll in der Bognergasse 3 neben etlichen anderen Bogen- und Pfeilmachern auch der Bogenmacher Caspar Pergauer gelebt haben. Er war ein sehr tüchtiger und angesehener Mann, bis – ja, bis er seine Frau Kordula ehelichte …
Aus dem hübschen, kecken und schlagfertigen Mädchen wurde nach der Hochzeit im Handumdrehen ein zänkisches Weib, eine wahre Bissgurn, die ihren Mann vom Aufstehen bis zum Schlafengehen beschimpfte und ihn manchmal sogar schlug.
Eines Abends musste der arme Pergauer wieder einmal vor ein paar fliegenden Unter- und Obertassen flüchten, die ihm seine Gattin in völlig unberechtigtem Zorn nachgeworfen hatte. Der Bogner rettete sich auf den nahen Petersfriedhof. Dort ließ er sich weinend auf einen alten Grabstein sinken und beklagte sein schweres Schicksal: »Was soll i nur tun? Mein Leben is’ die reinste Höll, aber der Himmel kommt mir aa net z’ Hilf. Da möcht man ja fast den Teufel herwünschen, damit er mein Eheweib endlich zur Vernunft bringt!«
Im nächsten Moment wehte ein stinkendes Schwefelwolkerl vorbei, und der schwarze Gottseibeiuns selber stand neben dem Bogner: »Gschamster Diener!«, grinste er. »Ich könnt dein Weib im Handumdrehen in ein braves Lamperl verwandeln, aber du weißt ja, was meine Hilf üblicherweise kostet …« Der Pergauer schluckte erschrocken, aber dann überkam ihn wieder ein verzweifelter Zorn: »Ja, das weiß i – aber dann hätt’ ich vor der ewigen Höll wenigstens noch ein paar gute Jahr!« Da hielt ihm der Teufel Pergament und Feder hin und der Bognermeister unterschrieb mit einem Blutstropfen. Danach bekam er vom Teufel genaue Instruktionen: »Geh jetzt ein Achterl trinken. Ich marschier derweil in deiner Gestalt heim, mach dein Weiberl wieder handzahm und komm dich dann holen.«