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Eine Geschichte rund um Liebe, Spannung, Politik und kulinarische Entdeckungen. Wie in einem Kaleidoskop spiegeln sich deutsche Zustände, gesellschaftliche Spannungen und politische Entwicklungen, angereichert mit philosophischen Gesprächen über Heimat und Globalisierung, über Freundschaften und allzu menschliche Eigenschaften. Gewürzt mit Lokalkolorit aus Düsseldorf und Berlin, westfälischem Humor und weltoffenem Herzen. Und einem Grünen Kleid als Camouflage. Denn grün ist zwar die Farbe der Natur und Erneuerung; ein Grünes Kleid kann aber auch für etwas ganz anderes stehen. Als Sepp (eigentlich Josef Kofi) Wurzbacher, Café-Bar-Betreiber in Düsseldorf, eines Morgens von ihr förmlich überrumpelt wird, ahnt er nicht, wie sehr sich sein Leben durch Loretta Da Rosa verändern wird. Es ist Liebe auf den ersten Blick – aber Loretta und Sepp verlieren sich wieder aus den Augen. Mit Hilfe von Sepps Freund Hagemann finden sie jedoch schließlich zusammen. Durch Zufall werden sie dabei auf die kriminellen Machenschaften eines dubiosen konservativen Politikers aufmerksam, den sie zusammen mit ihrem Kumpel Bergmann schließlich zum Rücktritt bringen. Zwischenzeitlich sind kritische Situationen, wie Schmierereien und ein Überfall, zu überstehen. Nach den Aufregungen treffen sie sich zu einer überraschungsvollen Urlaubswoche. Durch die Erlebnisse festigt sich ihre Freundschaft. Die politische Situation im Lande hat sie jedoch nachdenklich gemacht, so dass sich Gespräche auch um Themen wie Bodenständigkeit, Weltoffenheit und Anderssein drehen. Gemeinsame Ausflüge beflügeln ihre Ideen für ein gutes Leben. Ihre Offenheit für Veränderungen führt Loretta und Sepp schließlich zusammen an einen neuen Ort. Ihre Freundschaft ist nicht alltäglich, aber unerschütterlich. Und mindestens so ausgeprägt wie ihre Lust am Genuss und am guten Essen. Daher als Zugabe: die Rezepte der im Text angesprochenen Gerichte.
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2019
Gerhard Sauer
Geboren 1957 in Altenhundem im Sauerland/NRW, lebt in Düsseldorf und Berlin, ist seit langem im Politikbetrieb unterwegs, war mal Journalist, Redenschreiber, Organisator, Ideenentwickler, Veranstaltungsleiter u.v.m., und ist zurzeit in einer Verwaltung beschäftigt. Er schreibt mit Freude alltägliche Texte, Reiseberichte und hin und wieder (bisher unveröffentlichte) Gedichte.
„Das Grüne Kleid – Ein Heimatroman“ ist der erste Roman.
Gerhard Sauer
Das Grüne Kleid
Ein Heimatroman
© 2019 Gerhard Sauer
Umschlag: tredition, Gerhard Sauer
Fotos: Gerhard Sauer (Titel), Arno Bauermeister (S. 1) Korrektorat: Guido von Wiecken
Verlag & Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
978-3-7482-6183-4
(Paperback)
978-3-7482-6184-1
(Hardcover)
978-3-7482-6185-8
(e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Volltreffer
Jupp, Chäläne und viele Fragen
Am Deich
Hagemanns Hauptsätze
Unruhe
Plan Sonnenbad
Bolognese
Tagträume
Quälende Tage
Bergmanns Beobachtung
Unterwegs im ICE
Im Tempel
Detektiv Hagemann
Trödelmarkt
Grüne Freude
Zwischenspiel
Aushilfe
Zipfel
Paradies
Erkenntnisse
Dunkle Wolken
Hängepartie
Glück
Alte Verbindungen
Im Visier
Nix wie weg
Durchschnaufen
Das Netz zieht sich zu
Knockout
Schauer-Geschichten
Einladung
Genussvolles Wiedersehen
Auszeit
Drei Monate später
Ahnung
Alltag
Verabredung
Bergmanns Geschichten
Linie
RvK
Weihnachten
Schnee
Verdacht
Wendungen
Anfang
Anhang: Rezepte zum Nachkochen
Volltreffer
Sepp Wurzbacher, Café-Bar-Besitzer togolesisch-bajuwarischer Abstammung, blickt erstaunt auf. Die Kaffeemaschine zischt und spritzt, doch diese Stimme, dieses fröhliche "Guten Morgen!" schlängelt sich sofort und intensiv durch die Geräuschkulisse von Kaffeemaschinen, vorbeifahrenden Autos, Gesprächen und Handyklingeln. Das Timbre versetzt sein Trommelfell in Schwingungen, verursacht so ein inneres Flimmern. Ein Stromschlag trifft ihn. So glaubt Sepp jedenfalls. Er kennt sie nicht. Doch ihm bleibt der Mund offenstehen. Groß, blond, mit einem Stich ins rötliche, mit einem breiten Lächeln und wehendem bunten Sommerkleid kommt sie direkt auf ihn zu. Bleibt vor der Theke stehen, schaut ihm in die Augen.
"Guten Morgen mein Schoko-Prinz, machste mir ne heiße Schokolade?"
Ihr Augenaufschlag gibt Sepp den Rest.
Die Frau schaut sich nach einem freien Platz um und setzt sich in die Nähe des großen Fensters mit Blick auf die Straße. Omis zockeln dort mit ihren Einkaufs-Trolleys über den Gehweg, Handwerker verstopfen mit ihren Werkstattwagen die enge Straße, Muttis zwängen genervt Kinderwagen daran vorbei, Kinder toben Richtung Spielplatz – und in ihrem Kopf tobt ein Hormonsturm. Sie atmet tief durch und wartet auf…, ja auf was wartet sie eigentlich?
Seit über dreißig Jahren, quasi seit Geburt, wehrt Sepp sich nun schon gegen Bemerkungen zu seiner Hautfarbe. Togo ist seine zweite Heimat, da sich dort sein Vater damals Hals über Kopf verliebt und Sepp das Ergebnis dieser heißen Liebesnacht geworden war. Seit zehn Jahren betreibt er jetzt schon seine Café Bar „Sepps“, serviert Frühstück, eher französisch angehaucht, Kaffee und Kuchen und abends auch manchmal mediterrane Kleinigkeiten. Freundlich, aber bestimmt hatte er bisher jedem, der eine blöde oder unbedachte Bemerkung gemacht hatte, eine heftige Diskussion aufgezwängt, über Weiß und Schwarz und Farbig, über Gut und Böse, über Geschmack und Geschmäckle.
Doch diesmal bleibt er wie vom Donner gerührt stehen, nimmt die Tasse, füllt heiße Milch ein, fügt ein Stückchen Schokolade hinzu, um sie langsam schmelzen zu lassen. Untertasse, Löffel, ein Keks. Sepp funktioniert. Wie in Trance. Langsam schmilzt die Schokolade. Und ganz langsam schmilzt Sepp dahin.
Hagemann beobachtet seinen Freund Sepp. Wie so häufig ist er heute Morgen auf seinem Weg ins Büro kurz für Croissant und Café au lait hereingekommen. Manchmal kommt er auch später am Nachmittag zum Buch oder Zeitung lesen und Leute treffen. Und für ein Schwätzchen. Über Fußball, Politik, Wetter. Über Frauen, zum Beispiel. Nie hatte er Sepp bisher in einer festen Beziehung erlebt. Mal dies und mal das. Ein freies Vögelchen nannte Sepp sich immer. Bisher. Und jetzt das. Hagemann lächelt. Legt das Geld auf den Tisch und schlendert in den Tag.
Sepp Wurzbacher, eigentlich Josef Kofi Wurzbacher, Café Bar Besitzer, einmeterfünfundachtzig groß, ist mit achtzig Kilo nicht durchtrainiert, aber sportlich; ein begeisterter Radfahrer, wenn auch mit zu wenig Zeit für lange Ausfahrten; gelegentlicher Jogger und Läufer; engagierter politischer Zeitgenosse und Mitorganisator für Feste und Treffpunkte im Viertel, Liebhaber schwarzer T-Shirts und gebügelter Jeans, Anhänger eines rot-weißen und eines schwarz-gelben Fußballvereins und in der Regel immer mit einem flotten Spruch am Start. Dieser Sepp Wurzbacher nimmt die heiße Schokolade und bringt sie zum Tisch. Wieder dieser Blick. Dann dieses zart dahingehauchte „Danke!“. Wieder dieses Lächeln.
Sepp kann nicht sprechen, er schnuppert, fast ein wenig auffällig. Das ist ihm egal. Er möchte ihren Duft aufnehmen, genießen, für immer speichern.
„Hey, Bedienung! Sepp, wo bleibst du?“
Sepp ist im Moment in einer anderen Welt, für ihn fühlt es sich an, wie eingesperrt zu sein hinter Glasscheiben, oder wie in Watte eingepackt zu sein. Da geht das Leben weiter, andere Gäste warten auf Kaffee und Brötchen, wollen zahlen, noch einen Kaffee. Sepp schüttelt sich.
„Komme!“
Sie schaut ihn an, grün-blaue Augen strahlen mit dem sonnigen Morgen um die Wette, eine leichte Spur der Schokolade umrandet ihren vollen Mund. „Schoko-Schnute und Schoko-Prinz“, denkt Sepp und dreht sich um. Hatte sie gerade etwas sagen wollen? Er ist sich unsicher, geht aber zum Tresen, kümmert sich.
Die Sprecherin im Radio erklärt neun Uhr zur aktuellen Zeit und verliest dann die täglichen Weltverrücktheiten, draußen bellt ein Hund, ein Handy brummt, die Welt scheint stehen zu bleiben und dreht sich trotzdem weiter.
Jupp, Chäläne und viele Fragen
Ein Foto von Jupp Beuys, eine Wagnerbüste mit schwarzer Filzkappe, Jazzmusik im Hintergrund, Gespräche an der Theke und den Nachbartischen. Schrille Frauenstimmen, offensichtlich bereits am Nachmittag mit einem Pilschen zu viel unterfüttert. Hagemann schaut sich um, ihm gefällt die Kneipe. Schon ein paar Mal hatte er sich, seit er in diesem Viertel in der Nähe seines Arbeitsplatzes wohnt, zu einem Bier die paar Meter von seiner Wohnung hierher bewegt. Meist zum Tagesabschluss. Heute ist er mal früher dran, hatte kurz nach der Mittagspause das Handtuch geworfen und auf zukünftigen Überstundenausgleich vertraut. Bewegen, bewegen war der dringende Wünsch gewesen, als er nach seinem frühen Dienstschluss zu Hause angekommen war. Ergebnis: halbe Stunde in die Stadt laufen und Besorgungen machen. Halbe Stunde zurücklaufen. Immerhin.
Hier ist es völlig unaufgeregt. Man kann sich einfach auf einen freien Platz setzen und hat seine Ruhe. Frisches Bier wird ihm unaufgefordert gebracht, man kennt ihn mittlerweile schon. Kurzer Plausch.
„Wie geht's? Alles gut?“
„Jau Jau.“
Kühlschranktüren klappen auf und zu, Gläser werden gespült. Essen nach draußen getragen. Leider waren alle Plätze unter den Sonnenschirmen besetzt gewesen, so dass er sich am Ede der Theke platzieren musste. Hier ist wenigstens Leben, denkt Hagemann. Im Gegensatz zum täglichen Büro-Einerlei.
Zwei Meter entfernt fragt eine Schrille, warum sie sich eigentlich eine Kreditkarte zulegen solle. Was denn der Unterschied zur ECKarte sei. Jemand erklärt‘s ihr. Nochmals. Erläuterungen. Hoffnungslos.
Daneben ein etwa Siebzigjähriger, blaue Weste mit rotem, abgewetztem Kragen, weißem Vollbart, zwingt seinem zufälligen Thekennachbarn ein Gespräch auf. Endlich hat er ein Opfer gefunden. Radebrechen auf Englisch. Dann ein Erinnerungs-Selfie mit zwei Thekenschlampen.
Einen Barhocker weiter ist „Chäläne“, die Fischer, das Thema. Und der andere Schlagerfuzzi.
„Wie hieß der noch gleich?“
„Mach uns mal noch nen Ouzo.“
Jetzt wird's laut. Widerspruch gegen das Schlagersternchen? Wird nicht geduldet.
„Datt Publikum ist doch nicht komplett doof, oder? Alle wollen datt doch hören! Oder willste etwa sagen, dass ich doof bin?“
„Nee, aber ich finde datt einfach Banane. Und jetzt trink deinen Ouzo.“
„Jamas.“
„Aber die Blödheit ist doch unbeschreiblich, oder?“
Helene geht rauchen. Entspannung.
Hagemann hört zu, schaut, nippt an seinem Glas, wundert sich, dass er sich wundert über das Publikum. Wundert sich noch mehr und freut sich gleichzeitig, seinen Freund Sepp zu sehen.
„Was machst du denn hier? Heute ist doch gar nicht Montag?“
Sepp kommt angeschlurft, setzt sich wortlos neben Hagemann, bestellt Schnaps und Rotwein.
„Oh, oh!“ Hagemann runzelt die Stirn und sich will gerade nach dem Befinden erkundigen, da dringt ein Stöhnen aus Sepp heraus.
„Mich hat’s erwischt.“
„Krank?“
„Nee, schlimmer! Und das Schlimme ist, ich weiß weder ihren Namen noch sonst etwas. Das kann man mir doch nicht antun!“
Sepp kippt den Schnaps und schlürft am Rotwein, bestellt nochmal das gleiche. So hat Hagemann ihn noch nie erlebt, eigentlich trinkt Sepp selten Alkohol, außer mal guten Rotwein zum Essen. Und schon gar nicht so früh am Tag.
„Seit gestern Morgen bin ich total durch den Wind! Sie hat mir das Geld für die Schokolade auf den Tresen gelegt, gelächelt, und ‚Bis bald, mein Schokoprinz gehaucht‘, und fort war sie. Leichtfüßig, fast tänzelnd, ist sie zur Tür hinaus, über die Straße und in ein Taxi geschwebt. Hast du mich schon mal wortlos erlebt, mein Hagefreund? Ich sag dir, das ist der Tag, der alles durcheinanderbringt. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Kaffee, Cappuccino, Espresso, Schokolade, Brötchen oder was auch immer – ich hab alles durcheinandergebracht. Bestimmt zwanzigmal musste ich die Bestellung revidieren. Und heute Morgen war es nicht besser. Da hab‘ ich nach dem Mittagsgeschäft den Laden zugemacht. Ein Schild in die Tür gehängt. ‚Wegen Unwohlsein heute ausnahmsweise mal geschlossen‘. Bringt heute eh nix mehr. Seit zwei Stunden laufe ich durch den Park, wie ein Tiger im Käfig. Wie soll das weitergehen?“, sprudelt es aus ihm heraus.
Sepp Wurzbacher, Café-Bar-Betreiber togolesisch-bajuwarischer Abstammung, seufzt so tief und herzzerreißend, dass seine Oma, die unter dem Baum am Rande des Dorfes ihrer Vorfahren im Westen Togos begraben liegt, fast diesem Grab entstiegen wäre, um zu schauen, warum ihr einzigartiger Enkelsohn solche Seelenqual mit sich herumträgt.
„Wo kam sie her, wo ist sie hin? Los mach was, Hagemann. Mach was. Du musst mir helfen!!!“ Drei Ausrufzeichen.
Sepp, oder auch „Sekou-Sepp“ wie er von seinen afrikanischen Freunden auch genannt wird, schnauft und schüttelt sich. Er schaut in Hagemanns grüne-braune Augen, vermutet etwas Unverständnis hinter dem fragenden Blick und steht auf.
„Ich zähl‘ auf Dich! Lass Dir etwas einfallen. Ich habe auch schon so oft über deine kleinen Liebeleien mein schützendes Händchen gehalten. Jetzt kannst du zeigen, was du kannst. Ich aber brauch erstmal frische Luft!“
Hagemann schaut seinem Freund hinterher. „Den hat’s ja wohl heftig erwischt“, murmelt er vor sich hin. Grübelnd bestellt er sich noch ein Bier, lässt sich Zettel und Stift geben, und fängt an, Fragen und Ideen zu notieren.
„Eigentlich hab‘ ich ja anderes zu tun – aber watt mutt, datt mutt!“
Wieder so ein Murmeln, leise vor sich hin Brabbeln. Micha, Hansdampf am Zapfhahn hinter der Theke, schaut schon ganz irritiert, zieht die Augenbrauen fragend hoch, hält sich aber mit Fragen zum Gesundheits- und Geisteszustand zurück.
Wann kam Sie? Woher? Wer kennt sie? Wo ging sie hin? Foto? Wege nachgehen? Skizze anfertigen? Warten auf ein erneutes Erscheinen? Alter? Name? Wohnt sie weit entfernt (kann nicht sein, es schien mir, als wenn sie das Café gekannt hat)?
Scheinbar zusammenhanglose Fragen notiert Hagemann auf seinem Zettel, bestellt noch ein Bier, setzt sich ans Fenster, um den Blick schweifen zu lassen und versenkt sich in Gedanken. Die Musik, das Gelaber und Geschwalle, der Lärmteppich um ihn herum ist jetzt weit weg, irgendwo zu erahnen, aber nicht mehr störend. Fast eine Meditation über Schokoprinzen und Schönheiten und Fragen und Wege und das Leben und die Liebe.
„Noch ein Bier…!“
Am Deich
Sepp strampelt. Das Rad ist sicherlich eine Nummer zu klein, aber ein anderes war gerade nicht greifbar gewesen. Er hatte keine Lust, erst nach Hause zu laufen und sich so an der Radstation unter der Stadtautobahn ein Gefährt gemietet. Vorbei an den Touristenströmen, den Kneipen am Flussufer, war er stadtauswärts geradelt. Es ist früher Abend, mehr als die zweite Hälfte der Woche liegt noch vor ihm, wartet noch auf ihre Gestaltung. Das Radeln tut gut – der Wind in den Haaren und im Gesicht, die Sonne auf der Stirn, der Geruch von frisch gemähtem Gras in der Nase. Links sieht er Schiffe vorbeiziehen Richtung Meer, das leise Tuckern der großen Dieselmotoren hat einen beruhigenden Klang. Gemächlich ziehen die Transportschiffe dahin, gemächlich rollt er auf dem Asphalt des Fahrradwegs, langsam kommt Ruhe in Herz und Hirn.
Sepp hält an, stellt das Rad ab, legt sich an der Böschung ins Gras. Die Sonne steht jetzt am frühen Abend im Westen nicht mehr ganz so hoch, ist aber immer noch kräftig. Irgendwann später wird sie hinter den Wiesen am anderen Ufer untergehen.
Der Radweg ist auf der Krone des Flussdeiches angelegt, die recht steil abfallende Böschung geht am Deichfuß in eine Wiese über, auf der mehrere Weiden mit Zäunen abgeteilt sind. Diese Wiesen erstrecken sich links und rechts von ihm so weit, wie er schauen kann, bestimmt über mehrere Kilometer, unterbrochen von schmalen Fußwegen, einzelnen Baumgruppen und vielen Büschen in Ufernähe. Die Wiesen fallen Richtung Flussufer leicht ab, um auf der anderen Uferseite unvermittelt wieder aufzusteigen.
Dort ist der Deich ein paar hundert Meter nach hinten versetzt, wird aber auch von Radfahrern und Spaziergängerinnen bevölkert. Hinter dem gegenüberliegenden Deich erstrecken sich kleine Wälder und Ackerflächen. Noch weiter in der Ferne meint Sepp, den Himmel den Boden berühren und aus der Berührung kleine weiße Wölkchen entstehen zu sehen. Kleine Wölkchen, die aufsteigen, auseinanderstieben und dann ihren Weg übers Land antreten.
Er schließt wieder die Augen. Immer wieder läuft die gleiche Szene auf der inneren Leinwand, immer wieder klingt die gleiche Stimme in seinem inneren Ohr, immer wieder beginnt das gleiche Herzflimmern.
Ein Schatten huscht über Sepps Gesicht. Er blinzelt, sieht nichts gegen die Sonne – aber das Dröhnen der Triebwerke eines Jets kündigt von einer Landung auf dem nahegelegenen Flughafen. Dann wieder Stille.
Schafe grasen etwas entfernt nahe dem Flussufer; leises Blöken schallt herüber. Einfach so an einem normalen Wochentag langgestreckt in der Sonne zu liegen, das hat er so lange nicht mehr getan. Ihm wird warm, er zieht sein T-Shirt aus, rollt es zusammen und legt es unter seinen Kopf. Hinter sich hört er immer wieder Schritte, Spaziergänger sind hier häufig unterwegs. Rollschuhfahrer, Radfahrer auch. Aber ohne großes Getöse. Das ist so wohltuend.
Ob sie wohl auch Rad fährt, geht ihm durch den Kopf, oder Inline-Skates? Vielleicht mag sie laufen, joggen, walken – und kommt hier gleich vorbei?
Sepp richtet sich auf. Schaut sich um. Kein Mensch in der Nähe. Nein, auch nicht der eine, bestimmte, erwartete Mensch in der Nähe.
„Ob ich einfach mal hier liegen bleibe und warte?“
„Quatsch, geh an deine Arbeit, mach hinne. Sonst ist bald gar nix mehr mit Schokoprinz!“
Die zwei Stimmen im Ohr – eine verliebte, eine vernünftige - verunsichern ihn.
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, bedauert er sich mit Goethe-Zitat. „Warum kann ich nicht einfach mal einfach sein?“
Sepp rafft sich auf. Den restlichen Abend hier auf der Lauer liegen? Quatsch, es gibt noch mindestens einhundertfuffzig andere angenehme Plätze in der Stadt, an denen die Schöne auftauchen kann – das bringt‘s doch auch nicht.
„Wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll! Was ich nur mit mir jetzt anfangen soll! „Plötzlich elektrisiert ihn ein Gedanke. Wie heißt es immer in den Krimis, die er sich hin und wieder abends nach Feierabend reinzieht? „Die Täter kommen immer zum Tatort zurück!“ Das ist es!
„Sie hat einmal den Weg zu mir gefunden und wird ihn auch wiederfinden…“.
Sepp springt aufs Rad, zurück in die Stadt.
Hagemanns Hauptsätze
Hagemann hatte sich nach dem vierten Bier erstmal Kaffee bestellt, um einen halbwegs klaren Kopf zu behalten, und versucht, sich weitere offene Fragen zum Verbleib der Schokoprinzen-Kopfverdreherin auszudenken; anschließend hatte er mit Micha noch ein wenig über Sepps Seelenqual gefrotzelt, seinen Deckel bezahlt und war anschließend eher ziellos umher gestreift. Um irgendwann im Stadtgarten zu landen und dort seine übliche Runde – konzentrisch von außen nach innen – zu laufen. Sozusagen: das Problem einkreisen.
Schon oft hat er festgestellt, dass er beim Gehen oder Laufen besser nachdenken kann. Sozusagen: alles im Fluss. Festsitzen in beschränkten Räumen beschränkt eher den Gedankenfluss und lässt keine Kreativität aufkommen, davon ist Hagemann überzeugt. Und diese Überzeugung hatte schon vor einigen Jahren er in seinen „Ersten Hagemannschen Hauptsatz“ destilliert: “Bewegen hilft beim Denken!“ Auch diesmal hatte es wieder „Bling“ gemacht und seine Füße hatten ihn unvermittelt in das Lebensmittelgeschäft seines Vertrauens geführt.
Zwiebeln, Knoblauch, Möhren, Sellerie, Hackfleisch, Tomaten, Tomatenmark, Hühnerleber, Speck. Hagemann legt nun seine Einkäufe auf den Küchentisch, die gleich beim „Zweiten Hagemannschen Hauptsatz“ – „Kochen ist Kontemplation“ -die Hauptrolle spielen sollen.
Ein Griff in diese hauseigene Philosophie-Apotheke hatte bisher immer geholfen. Wenn Probleme gewälzt, Lösungen gefunden, Gedankennüsse geknackt werden mussten – oder bei der Bewältigung von Lebenskrisen geholfen werden konnte. Und Hagemann ist auch schon ein wenig stolz darauf, denn so manchem seiner Freundinnen und Freunde hat er schon mit stoischer Ruhe, einem gemächlichen Gang durch Wald und Flur oder einem guten Essen wieder zu neuem Lebensmut verholfen.
Hagemann holt eine Flasche Weißwein aus dem Vorrat. Eine Bolognese ohne Wein wäre doch wie…, wie ein Prinz ohne Schokolade. Hagemann muss lachen. Natürlich, er würde Sepp gleich anrufen, nein, besser noch, die Bolognese aufsetzen, die Hitze runterstellen und die paar Straßen bis zum „Sepps“ laufen, um seinen liebesverwirrten Freund zum späten Abendessen abzuholen. Die Sauce kann, oder besser: Sie muss einige Zeit vor sich hin köcheln, um den richtigen vollen Geschmack zu entfalten. Nun steht erstmal die Vorbereitung an: Gedankensammeln beim Kleinschneiden des Gemüses, anbraten, rühren, aufgießen, abschmecken.
Er stellt einen großen, gusseisernen Topf und eine Sautierpfanne auf den Herd. Zuerst Möhren und Sellerie würfeln, die Zwiebeln klein hacken, ebenso den Pancetta. Nachdem Hagemann den Speck in der Pfanne ausgelassen und dann das Hackfleisch darin angebraten hat, gibt er die zuvor kleingehackte Hähnchenleber hinzu, die schnell ihre Form verliert, eher zähflüssig wird, schmilzt, im Fleisch-Lebergemisch aufgeht, aber zum unverwechselbaren Geschmacksaroma beiträgt. Dann löscht er mit Weißwein ab. Nun gibt er Olivenöl in den Topf und dünstet zuerst die Zwiebeln an, gibt nach einer Weile das gewürfelte Gemüse hinzu, lässt dies ebenso andünsten, fügt Lorbeerblätter hinzu. Sobald das Gemüse etwas trockener wird, gibt er Tomatenmark in den Topf und röstet ihn mit an, dann folgen zerkleinerte Tomaten, denn die bringen die notwendige Flüssigkeit. Sobald der Alkohol verdunstet ist, fügt er das Fleisch aus der Pfanne hinzu und füllt mit Hühnerbrühe auf. Nun noch den Deckel drauf und ein bis zwei Stunden auf kleiner Flamme Geschmack und Konsistenz annehmen lassen.
Auf dem Weg zu Sepp will Hagemann beim Feinkostgeschäft an der Ecke auch noch ein frisches Stück Parmesan mitnehmen und sich für einen dazu passenden italienischen Rotwein beraten lassen. Hagemann summt einen italienischen Schlager der 50er Jahre vor sich hin.
„Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…“.
Das passt jetzt zwar gar nicht zur Bolognese aus Bologna – aber irgendwie ist das doch alles Italien. Hagemann schmunzelt und schlürft am Weißwein.
„Es könnte uns schlechter gehen“, stellt er zufrieden fest und beschließt: „Schoko-Prinzessin – wir finden Dich! Das bin ich meinem Freundchen Sepp schuldig. Solche Herzschmerzen sind nicht gut für ihn. Wenn es sein muss, werden wir die Stadt auf den Kopf stellen.“
Unruhe
In Windeseile war Sepp zur Radstation gefahren, flugs das Rad abgegeben und war in ein Taxi eingestiegen, um möglichst schnell ins Café zu kommen. Besondere Zeiten erfordern eben besondere Maßnahmen, versuchte er sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber es kam, wie es kommen musste – Stau ohne Ende. Mit dem Taxi brauchte er fast doppelt so lange, als wenn er mit der Straßenbahn gefahren wäre.
Endlich angekommen holte er sich den Autoschlüssel vom Nachbarn, mit dem er sich einen Kombi für Einkäufe und Transporte teilt, und sauste in den Großmarkt. Zuerst die üblichen Besorgungen für sein Café erledigend, das geht wie von selbst, wenn man weiß, wo die Ware steht, taucht er nun ein in die Genussmittelabteilung.
Schokolade, Schokolade. Vierzig, sechzig, fünfundachtzig Prozent Kakaoanteil. Aus Afrika und Indonesien, aus Süd- und Mittelamerika. Mit Vanille, mit Chili, mit Koriander. Als Instantpulver oder in Tablettenform auf Grundlage gerösteter ganzer Kakaobohnen.
„Mjamjam! Das wird ein Fest, da wird sie staunen, wenn ich ihr nächstes Mal meine neue Schokoladenpalette anbiete.“ Sepp freut sich wie Weihnachten. Er nimmt von jeder Sorte eine Packung und macht, dass er schleunigst ins „Sepps“ zurückkommt. In seine Café Bar mit togolesisch-bajuwarischem Esprit – und jetzt mit neuer Schokoladenabteilung.
Mit dem Staubwedel schwingend fegt Sepp über die Lampen, klettert die Treppenleiter rauf und runter, um auch die obersten Regalbretter zu erreichen, nimmt jedes Glas aus dem Regal, jede Flasche wird nochmal abgewischt, hinter jedem Döschen der letzte Krümel entfernt.
Sepp hat das Licht ausgelassen, damit er nicht gesehen und dann gestört werden kann. Putzen ist zwar in einem Café jeden Tag angesagt, doch besondere Tage erfordern besondere Leistungen. Und heute ist ein solcher Tag. Oder vielleicht morgen? Wer weiß schon, wann sie wieder vorbeischaut. Sepp will alles blinken sehen, ihre Augen sollen im Spiegel und auf den blitzeblanken Flächen spiegeln und leuchten können. Und die Schokoladenneuheiten sollen sie in Verzückung setzen. So zumindest stellt er sich das vor.
„Was ein einziger Augenblick so alles verändern kann.“ Sepp lacht laut auf. Er lacht über sich, schüttelt sich vor Vergnügen.
„Ist ja schon bekloppt, oder? Aber schön. Und wenn sie nie wiederkommen sollte, hat das doch alles irgendwie Sinn. Hoffe ich!“
Er packt die Mülltüten zusammen und stellt sie an den Hinterausgang. Dabei fällt sein Blick auf die alte Stereoanlage, die tagein tagaus mit dem gleichen lokalen Radiosender die Gäste bedudelt. Da könnte auch mal etwas Neues her. Musik, die Spaß macht. Und nicht nur als Geräuschkulisse dient. Sepp überlegt. Ja natürlich: französische Chansons, italienischer Pop, afrikanischer Jazz aus Mali und Ghana und Togo und Senegal.
„Da möchte ich sie tanzen sehen, im Takte wiegen und sich drehen, die Kleider und die Haare fliegen sehen.“
Schon wieder muss Sepp schmunzeln. „Ich werd ja noch ganz poetisch. Sachen gibt’s!“
Ein Klopfen an der Tür. Sepp blickt auf die Uhr. Es ist schon nach zehn. „Häh?
Sepp bleibt das Herz fast stehen. Ein Kloß im Hals, ein Summen im Bauch. „Äh, Moment!“ Er streicht sich über die Haare, wäscht schnell die Hände und geht zur Tür.
Hagemann grinst durch die Glasscheibe. „Nu mach schon, Bruder!“
Plan Sonnenbad
Braungebrannte Bartträger, tätowierte Titten, tranige Teenies, mampfende Muttis, plärrende Babys, entspannte Engelchen, lärmende Lümmel, hibbelige Hipster. Das ganze Programm. Loretta schaut sich um und gähnt. Die Wiese hier nahe dem alten Teil der Stadt liegt jetzt in der Sonne. Links hört man den Verkehr über die Stadtautobahnbrücke brausen. Im Hintergrund brummt und quietscht eine Straßenbahn, etwas weiter rechts, vielleicht fünfhundert Meter, sind die ersten Kneipen direkt am Flussufer geöffnet. Leise schallt die übliche Partymusik herüber, hin und wieder übertönt von Gangster-Rap und Techno-Verschnitt aus den neuerdings in Mode gekommenen portablen Lautsprechern der Kids. Pizza-Düfte wabern, Papierschnipsel und Pappbecher liegen verstreut herum.
Könnte schön sein hier, wenn das nicht so voll und müllig wäre, geht ihr durch den Kopf.
Loretta streckt sich, der Rücken schmerzt ein wenig. Sie hatte sich frühzeitig aus dem Dienst verabschiedet, um das Wetter an einem der wärmsten Tage des Jahres noch zu genießen und sich kurzerhand hier mitten ins Getümmel gelegt. Aber, so ganz ohne Unterlage, drücken sich dann doch Grasbüschelchen, kleine Steinchen, Kronkorken und was sonst noch so alles auf diesem eigentlich gesegneten Stückchen Stadtgrün herumliegt, in den Rücken.
Sie hatte ihre sommersprossenbesprenkelte, empfindliche Haut reichlich eingecremt, sich lang gemacht und war wirklich in der warmen Nachmittagssonne eingenickt. Und sich Träumen hingegeben. Träumen mit Prinzen. Träumen mit Schokoladeneis.
Loretta streift sich ihr Kleid über den Bikini, den sie bereits morgens angezogen hatte. Ihren „Plan Sonnenbad“ hatte sie sich schon nach dem Aufstehen im Bad zurechtgelegt. Nur die Aussicht auf einen frühen Feierabend ließ sie heute überhaupt den Weg ins Büro ertragen. Denn der gestrige Tag hatte sie vollkommen geschafft. Fix und fertig war sie abends mit Gefühlsdurcheinander ins Bett gefallen. Die Arbeiten, die ihr im Büro sonst leichtfallen, hatte sie gestern immer und immer wieder vertagt, zerrissen, gelöscht.
Dabei war sie morgens, ein Liedchen trällernd, aus dem Haus geeilt. Mal ohne Frühstück. Denn dafür gibt’s ja Cafés. Warme Winde, ein glasklarer Morgen, Vogelgezwitscher aus dem nahen Park, ein Gute-Laune-Lied aus dem Radio als Ohrwurm dabei. Ein perfekter Morgen. Kurzfristig hatte sie sich entschlossen, nicht die üblichen ausgetreten Pfade und Wege zu laufen, um dann die Straßen- und S-Bahn zu nehmen, sondern unbekanntes Terrain zu erobern, war nach rechts in die nächste Straße eingebogen und hatte ein jeder Straßenecke und -kreuzung neu entschieden, ob rechts oder links oder geradeaus.
„Ich mach mir die Welt, widiwidi wie sie mir gefällt!“ Pippilotta Rollgardina Langstrumpf war ihr eingefallen. Mit ihrem Äffchen und dem Pferd. „Wie hieß das Pferd noch gleich?“ Und wie hieß nochmal der Pippi-Vater, Kapitän und Negerkönig? (Darf ich ja eigentlich nicht mehr sagen, schalt sie sich. Will ich ja auch nicht. Aber Pippi durfte das noch.) Also: Kapitän und Stammeskönig.
Langsam hatte sich dann das frühmorgendliche Frühstücksbedürfnisgefühl doch bemerkbar gemacht. Da traf es sich gut, in dieser offensichtlich sehr netten, mit vielen Bäumen und bunten Blumenrabatten bewachsenen Straße, ein Café zu erspähen. Immerhin schien schon viel los zu sein. Sie war darauf zugesteuert, angezogen von Kaffee- und Croissant Duft, der ihr schon auf dem Gehweg entgegen schwebte, war kurz vor dem Schaufenster stehen geblieben, hatte die Bedienung, den Mann hinter der Theke gesehen und nur Sekundenbruchteile später gemerkt, wie ihr Hormonspiegel verrücktspielte, wie ihr Blut in den Schläfen pochte, wie der Puls beschleunigte. Sie hatte den Blick nicht mehr abwenden können, war mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ eingetreten und zur Theke gegangen.
War sie fast gesprungen oder gehüpft? Sie wusste es nicht mehr. Die kurzen lockigen Haare, die strahlenden braunen Augen, der dunkle Teint, die fließenden Bewegungen – ein Traumprinz. Direkt vor ihr. Und, warum auch immer, genau in dem Moment war ihr wieder Pippi Langstrumpf in den Sinn gekommen. Und die frechen Scherze, die die Autorin ihr immer zugeschrieben hatte.
"Guten Morgen, mein Schoko-Prinz, machste mir ne heiße Schokolade?", hatte sie dahin gehaucht, und ihm direkt in die Augen geschaut. Eigentlich hatte sie noch ein Brötchen oder Croissant essen wollen, aber vor Aufregung ganz vergessen.
Loretta hatte die Schokolade bekommen, schnell ausgetrunken und war fast geflüchtet. Sie war sich nicht sicher. War das zu frech gewesen? Hatte sie ihn beleidigt? Immerhin hatte sie das Gefühl gehabt, als wenn er sie noch einmal hatte ansprechen wollen. Also nix wie weg.
„Oh Fuck! Ich hab‘s vermasselt“, flucht Loretta vor sich hin. Die Wiesen-Nachbarn, ansonsten sicherlich nicht zimperlich in ihren Umgangsformen, schauen irritiert. Ach, sollen sie doch.
„Aber wie finde ich den Laden wieder?“
Ihre Synapsen laufen jetzt auf Hochtouren. Im Gegensatz zu gestern Morgen. Da hatten die Schaltzentralen vollkommen ausgesetzt. Kopflos war sie rausgerannt, war in ein Taxi gestiegen für ein paar hundert Meter, hatte dann die U-Bahn genommen und war fast zwei Stunden später als sonst im Büro angekommen. Nach Büroalltag war ihr gar nicht zumute gewesen. Trotzdem hatte sie zwei lange Redetexte überarbeitet und an einem Meeting teilgenommen. Und ohne richtig zuzuhören, das Protokoll geschrieben. Der Kopf war leer und voll zugleich gewesen. Eigenartig. Auch deshalb der Entschluss, heute mal früher frei zu machen.
Loretta holt tief Luft, kratzt sich am Kopf unter ihrer rotblonden Mähne, überlegt kurz und springt auf. Hinter ihr surren Fahrräder vorbei, sie blickt über die Schulter und ist kurz irritiert. Kann das sein? War das nicht der Prinz von gestern Morgen? Nee, der muss doch seinen Laden offenhalten, oder?
Sie schaut dem Radfahrer hinterher, der schon an den Touristenmagneten am Flussufer vorbei stadtauswärts verschwindet. Loretta packt ihre Tasche, zupft Kleid und Frisur zurecht, und geht zum Kiosk um die Ecke. Hassan schaut sie erwartungsvoll an.
„Was los, Lolo?“, fragt er besorgt.
„Brauch isch Schnaps oder Wasser, Bro!“, entgegnet sie im besten Straßenslang.
Er grinst. „Kein Schnaps, weißt du doch. Aber Wasser, hab isch. Zum Trinken oder Gesicht, Aische?“
Sie grinst zurück. „Beides, mein Hase!“
Loretta umkurvt die Theke in den winzigen Hinterraum, lässt sich eiskaltes Wasser über die Handgelenke laufen, spritzt sich Wasser ins Gesicht, trocknet sich ab, geht wieder nach vorne, nimmt eine kleine Wasserflasche aus dem Kühlschrank, legt einen Euro auf den Tresen, wirft einen Luftkuss über Kaugummi, Zigaretten und Lottoscheine hinweg und haucht „Danke, mein Berber!“
Draußen trinkt sie einen großen Schluck. Und murmelt: „Ich finde Dich.“
Bolognese
Komm rein.“ Sepp öffnet Hagemann und die Tür und schließt wieder hinter ihm ab.
"Was machst du? Geht's dir besser?" Hagemann schaut seinen Kumpel an. "Wo hast du dich rumgetrieben?"
Sepp legt mehr oder wenig unauffällig den Putzlappen hinter die Stereoanlage, mit dem Fuß schiebt er den Eimer unter die Theke. Plötzlich fällt Hagemanns Blick auf die Ansammlung zahlreicher Schokoladen- und Kakaopackungen.
"Nee, ne. Ich glaub‘s ja nicht!" Hagemann tritt hinter den Tresen und staunt. Ein breites Grinsen huscht über sein Gesicht.
"Mein Schoko-Prinz wird auch noch zum Putzteufel. Wann kommt sie denn?"
"Ach, hör auf," wehrt sich Sepp. "Keine Ahnung. Aber wenn, dann, dann ähh…", fängt er an zu stottern. "Ich musste etwas tun. Was Sinnvolles. Und da hab ich eingekauft, hier mal saubergemacht, muss ja auch manchmal sein, und…"
Hagemann unterbricht ihn und nimmt Sepp in den Arm. "Und und und… jetzt gehen wir beide erstmal lecker Essen. Bei mir".
Mit diesen Worten bückt er sich und nimmt zwei Flaschen 2010er Chianti aus einer Kiste, die etwas versteckt hinter der Tür steht. Ein Tropfen, den Sepp sehr mag. Soweit Hagemann weiß, waren die zwölf Flaschen ein Geburtstagsgeschenk von Freunden gewesen. Also jetzt genau das Richtige.
Und zwei mal zwei Flaschen Wein können ja auch nicht schaden, denkt Hagemann an seine kurz zuvor erworbenen Fläschchen vom Italiener an der Ecke. Wer weiß schon, wie lang und kompliziert der Abend wird.
"Mit Bolognese und Rotwein im Bauch wird unser Köpfchen ganz beschwingt und kreativ werden, das versprech‘ ich dir. Und dann machen wir einen Plan,“ macht Hagemann seinem Freund den Restabend schmackhaft.
Sepp startet noch einen zaghaften, letztlich aber erfolglosen Versuch, sich zu wehren. Also verloren. Licht aus, Tasche gepackt und Tür zu.
Zwei Stunden später leckt Sepp sich die Lippen. "Wenn du auch sonst nix kannst, kochen kannste, du Lümmel."
Beide grinsen sich an, die zweite Flasche Rotwein ist auch bereits zu dreiviertel geleert. Sie hatten wenig über ihren aktuellen Fall geredet, eher über Fußball, die bevorstehende Wahl oder den neuen Film der Cohen Brüder gesprochen und waren wie um den heißen Brei herumgeschlichen.
"Nu aber mal Schluss mit lustig", nimmt Hagemann den Faden wieder auf. "Ich hab mir da mal ein paar Gedanken gemacht."
Sie stecken die Köpfe zusammen. Hagemann breitet die Nachmittagszettel auf dem Tisch aus und erläutert Sepp seine Fragestellungen.
„Man muss sie einkreisen, weißt du! Wege, Gewohnheiten, mögliche Bekannte unter den Stammgästen. Die Bus- und U-Bahn-Linien morgens und abends mal zu fahren wird wohl viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber wir können ja alle Fragen mal in eine Liste schreiben und nach und nach die Antworten dazu. Ich denke so kommen wir weiter.“
„Ok, kann man machen. Ich habe mir überlegt, dass sie vielleicht einfach mal wieder hereinschneien wird. Dann sollte man vorbereitet sein.“
„Na klar, aber man kann das eine machen, ohne das andere zu lassen. Erhöht die Chancen, weißt du, Bro!“
Beide müssen lachen. Über den Slang, über die Situation, über ihre kleinen Verrücktheiten.
„Gecheckt, Alter“, macht Sepp einen Punkt. „Ich liege in meinem Laden auf der Lauer und rüste mich mental, und du findest die Antworten auf die Fragen deiner Liste. Und wenn uns gar nichts mehr einfällt, dann machen wir mal wieder einen Jungs-Abend zusammen mit Bergmann, du weißt schon, meinem Kumpel aus den Bergen. Der hat oft einen ganz anderen Blick aufs Leben und ihm fallen oft so wunderbare neue Wege ein!“
Sie stoßen mit ihren Gläsern an. Es ist schon nach Mitternacht. Eine erhebliche Bettschwere überfällt die zukünftigen Helden und Prinzessinnenfinder. Sepp packt seinen Beutel, verabschiedet sich und macht sich, den Kopf voller Ideen und Flausen und erotischer Gedanken auf den Heimweg.
In den folgenden Tagen tut sich nichts. Sepp ist hibbelig wie ein Teenie. Doch donnerstags und freitags ist das Café immer sehr gut besucht, und da eine seiner Mitarbeiterinnen mit Herzschmerzen abgesagt hatte, bleibt ihm nichts anderes übrig, als von morgens um acht bis abends um elf hinter dem Tresen zu stehen. Also wenig Zeit zum Grübeln – und anschließend übermannt ihn der gerechte Schlaf. Da träumt er dann unruhig, wird hin und wieder wach und erinnert sich nur dunkel an Kaffee und Schokolade, an Blumenkleider und Schafe am Flussufer, die ihm im Traum begegnet sind.
Tagträume
Hagemann muss sich Morgen für Morgen bei seinem Arbeitgeber in die elektronische Erfassung einloggen – und ist dort dann die nächsten acht bis zehn Stunden sozusagen gefangen, obwohl er kaum eine echte Aufgabe in dieser Kreisverwaltung hat. Ihn hat es hierher verschlagen. Unfreiwillig. Gut bezahlt, aber eben unfreiwillig. Umsetzungen kommen vor, sind aber Bürokraten-Dreck, so der allgemeine Tenor der davon Betroffenen. Hier kann er sich zwar weitestgehend ungestört Gedanken machen, aber weder seinem Hobby als „ganz privater Privatdetektiv und Hobby-Dichter“ frönen noch die Straßen nach der Schoko-Dame absuchen – und schon überhaupt nicht „Sepps“ Stammgäste interviewen. Für ihn ist das zwar alles nicht so dringend, aber wenn der junge Freund doch leidet – und er, Hagemann, ihm doch helfen könnte…
Hagemann spielt auf seiner Computertastatur. Er lehnt sich zurück und verdaut. In der hauseigenen Kantine hatte er zu Mittag gegessen.
„Das ist zwar keine eine kulinarische Offenbarung“, hatte er das Pizza-ähnliche Stück in seiner Hand kritisch begutachtet, „aber immerhin lässt sich so der Tag strukturieren. Ein Wässerchen dazu trinken, ein wenig auf dem Smartphone herumglotzen, und schon ist immerhin wieder eine halbe Stunde der Anwesenheitspflicht vergangen. Auch nicht schlecht“, resümiert er