Das grüne Licht der Steppen - Brigitte Reimann - E-Book

Das grüne Licht der Steppen E-Book

Brigitte Reimann

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Beschreibung

Das Sibirien-Tagebuch der Brigitte Reimann. Dieses literarische Tagebuch berichtet über eines der eindrücklichsten Erlebnisse Brigitte Reimanns: ihre Reise nach Sibirien im Sommer 1964 mit einer Delegation des FDJ-Zentralrates. Mit all ihrer Begeisterungsfähigkeit und sinnlichen Beschreibungskunst schildert sie Menschen voller Elan unter widrigsten Bedingungen und die grandiose Landschaft. Gleichzeitig entsteht eine Reportage über das Reisen schlechthin und ein weiteres Selbstporträt Brigitte Reimanns.

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Über Brigitte Reimann

Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973.

Informationen zum Buch

Das Sibirien-Tagebuch der Brigitte Reimann.

Dieses literarische Tagebuch berichtet über eines der eindrücklichsten Erlebnisse Brigitte Reimanns: ihre Reise nach Sibirien im Sommer 1964 mit einer Delegation des FDJ-Zentralrates. Mit all ihrer Begeisterungsfähigkeit und sinnlichen Beschreibungskunst schildert sie Menschen voller Elan unter widrigsten Bedingungen und die grandiose Landschaft. Gleichzeitig entsteht eine Reportage über das Reisen schlechthin und ein weiteres Selbstporträt Brigitte Reimanns.

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Brigitte Reimann

Das grüne Lichtder Steppen

Tagebucheiner Sibirienreise

Mit einem Auszugaus dem privaten Tagebuch

Ich aber wandre frei

und verliebt,

hinter mir Plüsch, Komfort,

vor mir

das grüne Licht der Steppen:

Hier ist der Weg für mich

Inhaltsübersicht

Über Brigitte Reimann

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Hoyerswerda

Zelinograd

Nowosibirsk

Irkutsk

Bratsk

Anhang

Aus dem privaten Tagebuchvon Brigitte Reimann

Impressum

Hoyerswerda

Hoyerswerda, 4. 7. 64

Gestern abend rief Kurt an: Pack deinen Koffer, Dienstag fliegen wir nach Sibirien. Eine Delegation vom Zentralrat, du wirst schreiben. Keine Ausreden, keine Bedenkzeit. Route: Moskau, Zelinograd, Nowosibirsk, Irkutsk, Bratsk, Moskau. Nimm ein paar Pullover mit, in Sibirien kann es kalt sein. (Bei Sibirien fällt mir ohnehin zuerst Kälte ein.) Und damit du es gleich weißt: Du mußt arbeiten bis zum Umfallen …

Dieser Mensch ist wahnsinnig. In Gottes Namen – ja, sagte ich. Eine halbe Stunde war ich ziemlich niedergeschlagen, unsere Ferienpläne sind wieder mal geplatzt. Hans trug es mit guter Haltung. Nächste Woche wollten wir trampen, die kleine Schwester wartet mit dem Segelboot am Schweriner See. Stille, bewaldete Ufer … wir hatten uns auf ein Leben in freier Wildbahn gefreut, ohne Terminkalender und Radio und Telefon, auf Krebsjagden und geklaute Fische und die bedenklichen Schnecken-Menüs, die Dorli uns vorsetzen wollte.

Versuche zusammenzuschleppen, was ich über Sibirien weiß. Aus irgendeinem Grunde bin ich auf Nowosibirsk besonders neugierig. Kisch schreibt in »China geheim«, daß die Russen diese Stadt, stolz auf ihr rapides Wachstum, Sib-Chicago nennen; aber das war 1932, Hans erzählte mir von Professor Lawrentjew und seinen Mathematik-Olympiaden. Im ND fand ich eine Menge Zahlen, aber ich kann nicht mehr den Respekt vor Zahlen aufbringen, seit das Wort Mega zu meinem Sprachschatz gehört, und ich sehe auch nicht das Bratsker Meer, wenn ich lese, daß es jetzt schon 75 Milliarden Kubikmeter Wasser faßt. Ich muß mir das immer umrechnen, um einen Begriff von groß, schnell, modern zu bekommen (modernes Reisen: von Berlin nach Moskau – 2 000 Kilometer – sind wir zwei Stunden unterwegs; von Hoyerswerda nach Berlin – 200 Kilometer – fahre ich vier Stunden). Ich erinnere mich an Dostojewskis »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«, an die »Auferstehung« von Tolstoi … Kolonnen von Sträflingen, die schielende Maslowa … das Lied vom herrlichen Baikalsee, den ein Verbannter auf einer Lachstonne zwingen will … Kusnezow habe ich gelesen. Axjonow, Arbusows »Irkutsker Geschichte«. Irgendwo sah ich ein Foto – vielleicht war es auch ein Ölgemälde – von der Angara, an deren Ufer junge Leute sitzen und Akkordeon spielen … Lieber Himmel, ich habe Vorstellungen von der Güteklasse: Alle Franzosen sind unmoralisch. Alle Italiener essen Makkaroni und fahren immerzu Gondel.

Vorhin im Conversations-Lexikon von 1864 nachgelesen: »Sibirien, ein 262 746 Q.-M. großes, dem Kaiser von Rußland gehöriges Land, welches, im Süden vom Altai und den damit zusammenhängenden Bergketten, im W. vom Ural umgürtet, seine Hauptabdachung nordwärts nach dem arktischen Ocean, nordöstl. nach den nördl. Teilen des Stillen Oceans hat und somit den ganzen Norden Asiens begreift. Während die nördl. Gebiete in stetem Eise starren, sind die südlichsten Teile mit den üppigsten Laubwaldungen geschmückt. Ackerbau und Viehzucht wird bis zu 60 Grad betrieben. Unter den Riesenströmen des Landes zeichnen sich Ob, Jenissei und Lena aus, sowie der für das östl. S. wichtige Amur, unter zahlreichen Seen der Baikalsee. Die Gebirge liefern außer reichen Erzen auch schönes Holz; Wild und kostbares Pelzwerk (Zobel, Hermeline, schwarze Füchse usw.) gehören zu den wichtigsten Producten S.s. Fischfang und Jagd sind im höheren Norden die einzigen Erwerbszweige. Doch auch im Süden ist die Fabrikbeschäftigung von keiner großen Bedeutung …« Na, und so weiter. Das ist alles nicht sehr ergiebig. Vielleicht gibt es auch keine Bären und Wölfe mehr, bloß noch so ein paar erschrockene alte Dekorationsstücke.

Berlin, 7. 7.

Heute mittag startet unsere Maschine.

Seit gestern in Berlin. Zuerst bei Kurt, der mir allerhand gute Ratschläge gab – das ist ja meine erste Delegationsreise – und forderte: exakt arbeiten; fragen, fragen, fragen; nichts mit den Maßstäben von Hoyerswerda und Berlin W 8 messen (aber das habe ich mir schon letztes Jahr in Moskau abgewöhnt); zusammennehmen, durchhalten, fleißig sein, nicht jammern … kurzum: bester FORUM-Stil, und ich schrumpfte ordentlich zusammen.

Mittags, bei Horst Schumann, sah ich die anderen: Mitarbeiter beim Zentralrat, die Sekretäre von Leuna und Gera, den Siggi Lorenz von Berlin und Thomas Billhardt (in der letzten FORUM-Nummer fielen mir seine charmanten und intelligenten Bilder vom Deutschlandtreffen auf); ich kannte nur – vom Titelblatt einer Illustrierten – die junge Ingenieurin aus Schwedt. Den Dieter K. fand ich gleich heraus, obgleich ich ihn vorher nie gesehen habe; aufregendes Wiedererkennen: die gleiche Kopfhaltung wie Hans, wenn er gesammelt zuhört, der gleiche Stimmklang …

Sonntag war Bergmannstag. Unter dem Fenster lärmte ein Jahrmarkt, auf dem Platz, wo 1970 unser Theater gebaut werden soll. Neulich sagte der Professor, daß ein Wettbewerb um die Projektierung des Zentrums ausgeschrieben werde. Aber müßte ein Architekt nicht sehr genau die geistige und soziale Struktur einer Stadt kennen, bevor er ihr die Räume für Erholung und Begegnung entwirft? Möglich, daß ein anspruchsvolles Theater leer stehen würde; wahrscheinlich brauchten wir etwas in der Art zwischen Theater, Kino und Konzertcafé. Wir träumen immer noch von einem unbestechlich arbeitenden Forscherteam: Soziologen, Ökonomen, Künstlern und Kybernetikern … Hoffentlich finde ich drüben ein bißchen Zeit, mich in den neuen Städten umzutun.

Seit ich den Roman angefangen habe, verbringe ich, statt zu schreiben, die meiste Zeit damit, die Wege zu laufen, die uferlosen Diskussionen zu führen, die meiner Franziska bevorstehen. Das arme Mädchen … ich kenne schon genug Leute, die ein vernünftiges Vorhaben mit der stolzen Perspektive erschlagen werden. Die laute, taube Geschäftigkeit macht mich verrückt, mehr als die müde Resignation des Architekten R., der, als ich ihm von Franziskas leidenschaftlichen Entwürfen erzählte, die Schultern zuckte und sagte: »Ach ja, die jungen Leute haben immer große Rosinen im Kopf … aber die Praxis sieht ganz anders aus, und sie laufen uns weg, weil sie Bauelemente zählen müssen.« Wie, sollte es denn nicht möglich sein, Ehrgeiz und Feuer und alle strahlenden Pläne der Jugend zu bewahren und zu verwirklichen, später, im Leben, in der Praxis, im Alltag?

… Nachmittags liefen wir auf dem Rummel herum, zwischen Waffelbuden und Schimmel und Schwan, und das war noch lustiger, als aus einem Fenster im 7. Stock zuzuschauen: wir hörten hundertmal denselben Schlager aus der »Westside-Story« und amüsierten uns vor einer Schaubude, aber dann gingen wir doch nicht rein, weil ich Angst hatte, wir würden etwas niederdrückend Fatales sehen, alt gewordene Artisten und sächsische Inder und zotige Clownerien. Es gab Zuckerwatte und Karussells und einen Fotografen mit einem ausgestopften Löwen, und wir fühlten uns ein bißchen wie früher auf den lauten, bunten, reißerischen Jahrmärkten unserer Kindheit.

Ich war ganz erstaunt zu sehen, wie viele hübsche Mädchen und Jungen herangewachsen sind (diese beschmierten Knirpse, über die man vor fünf Jahren in allen Straßenecken stolperte), wie viele Autos und Motorräder in der Magistrale parkten, und daß es weniger schwangere Frauen gibt als in den ersten Jahren – damals erfanden wir Witzserien über die Luft in Hoy – und bloß drei oder vier Betrunkene. In der Milchbar fing ich auf einmal an zu heulen, vorweggenommenes Heimweh …

Unterwegs nach Moskau

Vorhin Abschied auf dem Flugplatz Schönefeld: ein Spalier von Mädchen in blauen Blusen, Jungen Pionieren mit Blumensträußen, Fotografen, Kameraleuten vom Fernsehen … großer Bahnhof. Ich war ganz bestürzt, weil ich jetzt erst merkte, zu welch einem festlichen und gewichtigen Unternehmen wir aufgebrochen sind.

Dann rollte die TU zur Startbahn, und nun war mir sehr unfeierlich zumute: Ich habe teuflische Angst vorm Fliegen. Ich spürte bis in die Haarwurzeln das Zittern der Maschine und das hohe, heulende Pfeifen, das an die Musik zu utopischen Filmen erinnert … Schließlich zwang ich mich, nur aus Produktionsethos, auf die Erde runterzusehen: eine planvolle Zeichnung mit geraden Straßen, geometrisch geteilten Feldern, schwarzgrünem Wald, einer sternförmig geordneten Stadt.

Der Höhenmesser zeigt jetzt auf 9 000 Meter, wir fliegen über den Wolken. Manchmal sieht man durch einen blauen Riß die Erde, bräunlich und entrückt, aber die meiste Zeit schwimmen wir über wildem Weiß, aus dem sich grelle Hügel erheben wie Eisberge, eine Polarlandschaft unter einem Himmel von dunklem, violett-grauem Blau, das Weltraum ahnen läßt, ein Blau, das ich auf der Erde nie gesehen habe, nicht einmal an hohen reinen Herbsttagen. Die Tragfläche scheint unbeweglich in der Luft zu stehen. Ein paarmal dreht sich das Flugzeug, und dann dreht sich das ganze Himmelsgewölbe, Riesenradfahrt, ein ziehendes Gefühl wie im Auto auf glatter Betonstraße, wenn der Fahrer das Gaspedal durchtritt.

Wir stellen die Uhr zwei Stunden vor, auf Moskauer Zeit.

Peredjelkino bei Moskau, 8. 7.

Im Gästehaus des Komsomol. Unmittelbar neben dem Garten läuft der Schienenstrang der elektrischen Vorortbahn. Peredjelkino ist eine Sommersiedlung, berühmt, sagt man uns, durch die vielen Schriftsteller und Dichter, die hier ihre Datsche haben.

Empfang auf dem Flugplatz Scheremetjewo: Blumen, Umarmungen. Für die meisten von uns ist es eine Wiederbegegnung mit Moskau. Aber auch der Neuling hat nicht das vertrackte Gefühl von Ausland und Fremde – unbeschadet heftiger Neugier –, und er verdankt seine Sicherheit nicht nur dem Nelkenstrauß und dem freundlichen Händedruck, den das Protokoll in jedem beliebigen Lande vorschreibt.

Vergangenen Herbst, als ich das erstemal in Moskau war (in einem anderen Kreis freilich, bei Schriftstellern, Übersetzern, Redakteuren), verlor ich sehr schnell eine gewisse Befangenheit: Wir konnten uns ohne geistige Vorbehalte und nationale Ressentiments begegnen. Sicher, ich hatte es gewußt, Freundschaft war ein geläufiges Wort, und im Kopf war das alles gespeichert, Kenntnis durch Literatur, Unterricht, Argument – aber Wissen ist eines, und Erleben ein anderes, selber hören, sehen, schmecken … Vielleicht, denke ich mir, sind wir, die heute Dreißigjährigen, weniger belastet als die Generation vor uns. Ein Bekannter rief mich vor der Abreise an: »Ich bin bloß bis kurz vor Moskau gekommen … ich beneide Sie – vor allem darum, weil Sie jetzt in dieses Land fahren, unter diesen Umständen.« Und einer erzählte von seiner Reise in die Ukraine, man habe ihn oft gefragt, wie alt er sei, und zurückgerechnet: Nein, er kann nicht dabeigewesen sein. Beim Abschied umarmte ihn eine Frau, deren Kind ein Landser mit dem Koppel erschlagen hat …

Von Moskau sahen wir nur ein paar Vorortstraßen, Kräne, Neubaublocks, dazwischen zerfallende Hütten, ein Motel – die Stadt dehnt sich nach allen Richtungen, atemlos schnell; Tscherjomuschki, nur eine unter vielen Vorstädten, hat schon eine Million Einwohner –, von den Lenin-Bergen leuchteten weiß die Geschosse der Lomonossow-Universität. Wir fuhren gleich vom Flugplatz nach Peredjelkino, auf der Landstraße nach Minsk, durch hohe Fichtenwälder und die Siedlungen bunter Sommerhäuschen.

In der Nachbarschaft des Komsomol wohnt der Patriarch Alexej; hinter Büschen und Bäumen erblickten wir zierliche Zwiebeltürme und ein Haus wie aus einem russischen Märchenbuch. Auf dem Friedhof von Peredjelkino ist Pasternak begraben, und ich erinnerte mich an den Nachmittag bei Kostja, der – krank, mit flatternden Händen, leidenschaftlich bewegt – von seinem toten Freund erzählte, seine Gedichte rezitierte und Fotos zeigte, mit Majakowski und Lilli, Ehrenburg, der schönen Achmatowa, Professor Neuhaus, und schließlich einen Band der Shakespeare-Übersetzung, den Pasternak ihm in das Straflager von Workuta geschickt hat. »… sie mögen von Dir sagen, was sie wollen … ich umarme und küsse Dich … Dein Boris.«

In einer halben Stunde fahren wir nach Moskau, zum ZK des Komsomol, wo wir unser Reiseprogramm erfahren werden. Gestern abend fiel kein Wort über Arbeit. Im Speiseraum war eine richtige Hochzeitstafel gedeckt, mit Lachs, Huhn, Kaviar, Obst und Salaten – und das waren nur die Vorspeisen, ich kenne schon diese ausschweifenden russischen Gastmähler, die Lust, stundenlang zu Tisch zu sitzen, Trinksprüche auszubringen und den deutschen Gast, der gewöhnt ist, eilig sein Schnitzel oder eine Bockwurst runterzuschlingen, mit der liebenswürdigsten Hartnäckigkeit zu mästen. (Der mitleidige Blick auf die Taille: »Essen Sie, meine Liebe, Sie sehen nicht sehr überzeugend aus.«)

Mir gefällt dieses kräftige Vergnügen in Gastereien, am Wodka, an heiterer Geselligkeit … Im Restaurant sitzt du keine zwei Minuten allein am Tisch. Am Flugplatz setzt du dich auf eine Bank, und schon beugt sich deine Nachbarin herüber und fragt, woher du kommst, wohin du gehst. Die Straßen sind bis tief in die Nacht belebt, ganz Moskau scheint unterwegs zu sein, immer wieder triffst du auf Ketten von jungen Leuten, die Arm in Arm, schwatzend und singend herumziehen. Im »Kiewskaja«, wo wir damals wohnten, wurde abends moderne Tanzmusik gespielt, auf einmal löste sich die Ordnung von Paar und Paar, die Tänzer schlossen einen Kreis, klatschten und stampften, ein Mädchen tänzelte über das Parkett, die Hand auf der Hüfte, den Kopf kokett zur Seite geneigt …

Moskau, vormittags

Im Haus des Komsomol-ZK. Kein Pförtner an der Tür, keine wächterlichen Polizisten … Wir sitzen in einem dunkel getäfelten Zimmer, ein Ventilator schnurrt, es ist heiß, auf dem Tisch stehen die unvermeidlichen Flaschen mit Mineralwasser. Es wäre lustig, jetzt durch Moskau zu laufen … Sitzungen habe ich zu Haus genug (und, ach, wie viele, die man ebensogut schwänzen könnte). Horror vor langen Reden. Die Sonne scheint, unter den Fenstern summt die Großstadtstraße, auf dem Dach gegenüber turnen Dachdecker herum – lauter Ablenkungen.

Billi, bestückt mit einem Arsenal von Kameras, arbeitet schon. Erst gestern abend im Billardraum kam ich hinter seinen Trick mit dem Winkelsucher: Er blickt in eine andere Richtung als seine Kamera, und der Fotografierte, gewöhnt an die unverblümte Korrespondenz zwischen Auge und Linse, bleibt ahnungslos und unbefangen. Während der Fahrt durch Moskau hing der verrückte Mensch mit halbem Leib aus dem Wagenfenster, immer in Gefahr, von einem anderen Auto zerquetscht oder geköpft zu werden.

Jetzt streicht er um den Tisch herum und beobachtet Pawlow, dessen Gesicht uns fesselt, ein sehr russisches Gesicht, breit, lebendig, mit erheiternd aufgestülpter Nase und dunklen Brauen unter blondem Haar. Pawlow ist 33 Jahre alt, ein erfahrener und scharfsichtiger Politiker. Gestern abend beim Essen saß ich neben ihm, in blödester Verlegenheit und aufgeregt wie immer in einem neuen Kreis, aber er war so aufmerksam, von einer ungezwungenen Galanterie, daß ich mich bald beherzter fühlte. Mir fiel auf, daß er sich sofort die Namen unserer Delegierten eingeprägt hat, mit jedem sprach und scherzte und seine Augen überall hatte. (Ich weiß nicht, ob es das ist, was man unter der Kunst zu leiten versteht … und wenn es schon eine Kunst ist, jedem das Gefühl von Teilnahme und Einbezogensein zu geben – ist sie auf dem Weg über den Intellekt erlernbar?) Wir konnten uns nur in unbeholfenem Englisch verständigen. Er hat mein Buch gelesen und sagte mir, welche Gestalten ihm gefallen haben, und dann zog er eine rote Nelke aus dem Tischstrauß und überreichte sie mir – spätestens an dieser Stelle, wenn ich ihm davon erzähle, wird Hans aufschreien: Wie, bezaubert von einer charmanten Geste? Der pure Subjektivismus! Meinetwegen, dann bin ich eben subjektivistisch, ich mag Leute, die gern und ausgelassen lachen (»aus Herzensgrund«, sagen die alten Autoren), die nicht mit sich geizen; ich habe meist gefunden, daß die Verschwender mehr Reserven haben als die Krämer, die ihr Gesicht ängstlich hüten, ihre Kraft und Empfindung rationieren.

Von den ZK-Sekretären am Tisch kenne ich nur die zwei, Sascha und Jurij, die uns auf der Reise begleiten werden. Jurij ist älter als die anderen, er sieht lehrerhaft aus, wie ein Kaderentwickler, falls es so was gibt. Sascha spricht kein Wort Deutsch. Ich schätze ihn auf Mitte Zwanzig, sein Gesicht ist streng und empfindsam zugleich –, man könnte sein Bild auf das Titelblatt eines Buches über die moderne Jugend in der SU setzen. Vorhin flüsterte Kurt: »Sieh zu, daß du mit dem Sascha unterwegs ins Gespräch kommen kannst.« Ja, gern – aber wie denn? In der 12. Klasse haben wir Stalins Reden zum Fünfjahrplan auswendig gelernt, und dann kann ich noch die erste Zeile einer Fabel von Krylow hersagen …

Eben haben die beiden Ersten Sekretäre ihre offiziellen Begrüßungsansprachen gehalten, kurz, sehr sachlich, ohne Proklamationen und blumenreiche Beteuerungen.

Moskau, mittags

Bloß gut, daß ich nicht geschwänzt habe … Sergej Pawlow sprach mehr als zwei Stunden: über die Arbeit des Komsomol auf dem Lande, in wissenschaftlichen Instituten, beim Aufbau der chemischen Industrie (der Zustrom in den Komsomol ist gewachsen, seit er den Jungen Verantwortung und faßliche Aufgaben gibt) und über die ideologische Arbeit nach dem XX. Parteitag: »Die Jugend hungerte nach einer wahren Darstellung des Menschen … Sie stürzte sich auf die Philosophie, auf die Quellen … Wir haben Schluß gemacht mit formaler Arbeit und Entpersönlichung. Wir brauchen neue, unorthodoxe Formen, und die Grundlagen der Arbeit sind Vertrauen und Aufrichtigkeit. Keine großen Kundgebungen mehr, sondern interessante Gespräche, auch im kleinen Kreis, Zusammenkünfte beim Tee im Jugendcafé und in Studentenheimen.«

Ich hatte, während er sprach, niemals das beklemmende Bild einer gigantischen Kulisse aus Produktionsziffern, vor der winzig und nebensächlich ein paar Menschen agieren. Er verband genaue Information immer mit Geschichten und Schicksalen, und hinter der engagierten Nüchternheit eines Arbeitsberichtes leuchtete die Begeisterung dieser Jugend, die in die unwirtlichen Steppen zieht, aus der Bequemlichkeit westlicher Städte nach Sibirien, an den Polarkreis, wo sechs Monate lang Nacht ist, wo sie in Zelten und Wagen wohnen und sich in Schneesturm und Eiswind nur kriechend oder an einem Seil entlangtastend vorwärts bewegen können. »Sibirien ist eine Schule der Erziehung«, sagte er. »Hier werden Patrioten geboren, und für den, der Bratsk mit seinen eigenen Händen gebaut hat, bekommt das Wort Heimat einen neuen Sinn. Er nimmt nicht einfach vom Tisch, was ihm geboten wird; er begreift: Nichts fällt vom Himmel, und niemand wird für dich arbeiten.«

In Bratsk werden wir Alexej Martschuk kennenlernen – »ein fähiger Ingenieur und ein zarter Mensch« – und Boris Gainulin, einen Brigadier, der bei der Arbeit am Felsen abgestürzt und an beiden Füßen gelähmt ist. »Seht in die Augen dieses Menschen, er ist kein Krüppel«, sagte Pawlow.

Auf einmal scheint mir, als ob ich schon zuviel Freude und Bewunderung vorwegnehme, und ich möchte mich mahnen, gerecht zu sein und während der Reise nicht zu vergessen, was in den Betrieben und Projektierungsbüros und in den Dörfern westlich vom Ural geschieht, wo die Aufgaben sehr unromantische Namen tragen: Rentabilität, Steigerung der Arbeitsproduktivität, Intensivierung … Das Leben in der Taiga, trotz seiner Unbilden und Härten, kommt einem Bedürfnis nach Romantik und handfester Bewährung entgegen, und es gibt Berufe, denen ein Ruch von Abenteuer anhaftet. Über den Montagearbeiter, der Stromleitungen durch die Taiga zieht, werden Bücher geschrieben: wer schreibt schon über den Bäcker, der ihm sein Brot bäckt? Der Kampf gegen Bürokratismus kostet soviel Mut und Zähigkeit wie der Kampf mit der wilden Angara, Instanzenwege kann man nicht wegbaggern, die Trägheit hat kein Gesicht. Die Fronten zwischen dir und einem hungrigen Bären sind jedenfalls klar …

Einmal habe ich Protestkreuze an den Heftrand gemalt, allergisch gegen derlei Ermahnungen, die ich zur Genüge von zu Haus kenne. Pawlow sagte: »Die Revolutionäre wußten, wofür sie kämpften, weil sie die Ausbeuter mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Die heutige Generation empfängt das Geschaffene, als ob es so sein sollte … Wir müssen die Jugend ständig ermahnen, daran zu denken, in welchem Sinn die Revolution gemacht wurde und was es unsere Väter kostete, das zu schaffen, was wir heute genießen …«

In welchem Sinne werden denn Bratsk oder Schwedt gebaut, wenn nicht im Sinne der Revolution? Und Lernen ist nicht nur ein Vorrecht, sondern auch harte Arbeit. Ja, wir empfangen, was die Generation vor uns geschaffen hat, und genießen es, »als ob es so sein sollte«, denn wirklich, es soll so sein, darin vollendet sich der Sinn ihrer Mühen. Jede Generation, glaube ich, empfindet ihre eigene Arbeit als Fortsetzung und Vorbereitung, und während sie nimmt, gibt sie schon weiter …

Wir fuhren über die Minsker Chaussee; ich wollte im Wagen noch ein paar Zeilen schreiben, blätterte im Notizbuch und fand einen anderen Absatz aus der Pawlow-Rede, und statt mich zu ereifern, sollte ich besser diese Sätze eines Mannes mitteilen, der am Polarkreis arbeitet; er heißt Igor Kusnezow.

»Alle zwei Monate sehe ich meine Frau. Wir wohnen im Wagen. Wir bauen Stromleitungen und arbeiten auch bei Nacht. Wir haben zwei Wagen mit Büchern und Schallplatten … Wenn mein Mädchen groß ist, wird es mich vielleicht fragen: Bereust du nichts? … Wir werden Schulen und Schwimmbecken bauen, überdachte Gärten mit Quarzlampen und Straßen unter Plastezelten … Ich werde meinem Mädchen sagen: Lebe du so, wie ich gelebt habe. Meine größte Genugtuung ist, daß ich für dich gebaut habe. Ergötze dich daran und denke an uns …«

Peredjelkino, nachmittags

Wir kennen jetzt das detaillierte Reiseprogramm; Zeit zum Schlafen ist nicht eingeplant. Heute nacht starten wir zum Flug nach Kasachstan; die erste Etappe ist Zelinograd im Neuland. Gestern, vor der üppigen Tafel, examinierte mich Kurt: »Was ist das kostbarste auf dem Tisch?« – »Kaviar«, sagte ich schnell, und er: »Falsch. Das Brot. Es ist mit Gold bezahlt worden.« Geantwortet wie Klein Moritz … Dabei habe ich damals das politische Spektakel verfolgt: Parteichef gibt Gold für Weizen.