Die Geschwister - Brigitte Reimann - E-Book
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Die Geschwister E-Book

Brigitte Reimann

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Beschreibung

Die große Neuausgabe eines der meistdiskutierten Bücher der DDR-Literatur.

Das Sensationsbuch erstmals so, wie die Autorin es schrieb.

Dank eines Glücksfundes können wir diesen Roman, der aufgrund seiner verblüffenden Modernität derzeit international für Begeisterung sorgt, in einer ungekürzten, politisch ungeschönten Fassung auch hier neu entdecken.

Ostern 1961 erfährt Elisabeth, dass ihr über alles geliebter Bruder in den Westen gehen will, weil er in der DDR keine Zukunft sieht. Was wird bleiben von ihrer Gemeinsamkeit, wenn jeder seinen Idealen folgt? Wenige Tage hat sie noch Zeit, mit Uli zu reden. 

Die freiherzigere und mutigere, zugleich reifere und klarsichtigere Neuausgabe steht symbolhaft für das viel zu kurze Leben dieser faszinierenden Schriftstellerin, die sich selbst stets treu blieb. 

»Wer etwas über Mut und Hingabe erfahren möchte, muss Reimann lesen. Sie zeigt uns, wie man es krachen lässt, scheitert, wieder aufsteht und neu beginnt. Brigitte Reimann ist eine Ikone – eine Pionierin weiblicher Befreiung!« CAROLIN WÜRFEL.

 

 

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Seitenzahl: 243

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Über das Buch

„Lutz ist mit Gretchen und dem Krümel in den Westen gegangen. Spüre zum erstenmal schmerzlich – und nicht nur mit dem Verstand – die Tragödie unser zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester – welch ein literarisches Thema! Warum wird es von keinem gestaltet?“ notierte Brigitte Reimann im April 1960. Ein Jahr später begann sie, die Geschichte zu schreiben, die ihr seitdem im Kopf herumspukte, und Anfang 1963 erschien schließlich die Erzählung „Die Geschwister“. Sie wurde sofort eines der meistdiskutierten Bücher, weil vor allem viele junge Menschen in den dort endlich ausgesprochenen Konflikten ihre eigenen wiedererkannten. Fritz J. Raddatz schrieb, dass der Wert dieser Erzählung vor allem im Seismographischen liege, weil sie authentisch über die „politische Moral, über die Hoffnungen und Verzweiflungen, die Vorstellungen und Klischees“ im anderen Deutschland informiere.

Über Brigitte Reimann

Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Veröffentlichungen: "Die Frau am Pranger" (1956), "Ankunft im Alltag" (1961) und "Die Geschwister" (1963), „Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise“ (1965) sowie den unvollendeten Roman "Franziska Linkerhand" (1974, vollständige Neuausgabe 1998). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, "Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973" (1993), mit Hermann Henselmann, „Mit Respekt und Vergnügen“ (1994), „Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen“ (1995), und mit Irmgard Weinhofen, "Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973", sowie "Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963" (1997) und "Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970" (1998). Aus dem Nachlaß: „Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane“ (2003).

Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

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Brigitte Reimann

Die Geschwister

Erzählung

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Anhang

Anmerkungen

Arbeiter, deren Verbesserungsvorschläge in den Schubladen ihrer Leitung verstauben, lange Wartelisten für Autos und eine männermordende Taille — Das wiederentdeckte Originalmanuskript von Brigitte Reimanns »Die Geschwister«

Zu dieser Ausgabe

Erläuterungen

Impressum

1

Als ich zur Tür ging, drehte sich alles in mir.

Er sagte: »Das vergesse ich dir nicht.« Er stand gerade und ohne Bewegung mitten im Zimmer, er sagte mit einer kalten, trockenen Stimme: »Das werde ich dir nicht verzeihen.«

Ich fand die Klinke, und draußen im Korridor hielt ich mich eine Weile an der Klinke fest, während ich auf seine Stimme wartete, auf einen Fluch oder darauf, dass er seinen Schuh gegen die Tür warf.

Früher hatte er mit den Schuhen nach mir geworfen, wenn wir uns zankten, oder sogar mit einer Vase, und einmal, als ich ihn auf dem Balkon aussperrte, schlug er mit der Faust in die Glasscheibe. Damals, weit zurück, war er sehr jähzornig, und manchmal fürchtete ich mich vor ihm; jetzt wäre mir sein Jähzorn aber lieber gewesen als diese kalte, trockene Ruhe.

Ein paar Minuten lang blieb ich im Korridor stehen. Durch das offene Fenster sah ich die feuchten Äste des Nussbaums vorm Haus und die krausen Blattspitzen. Im Sommer wölben sich die Zweige dunkelgrün und schwer über die Treppe, und die Blätter ticken ans Fenster, wenn der Wind geht. Heute ist der Dienstag nach Ostern; die Forsythien sind schon verblüht. Morgen wäre Uli abgereist.

Es blieb still im Zimmer, und schließlich ging ich auf Zehenspitzen zur Küche, auf dem roten Kokosläufer – solange ich zurückdenken kann, liegt ein roter Kokosläufer im Korridor, alle vier oder fünf Jahre ein neuer, nur in den Jahren nach dem Krieg war er schäbig und grau und abgetreten. An den Wänden hängen auch immer noch dieselben Drucke, Liebermann und Leibl; die Landschaften van Goghs, die ich meinen Eltern geschenkt habe, liegen in einer Schreibtischschublade unter alten Schulzeugnissen und den säuberlich abgehefteten Briefen und Postkarten, die wir während unserer Studienzeit schrieben.

In der Küche setzte ich mich auf das Schuhschränkchen, und als ich eine Zigarette anzündete, sah ich, wie meine Hände zitterten.

Ich glaube, ich hatte nicht erwartet, dass Uli so reagieren würde, und ich fragte mich, ob ich überhaupt etwas erwartet oder vorausberechnet hatte, als ich heute Morgen zu Joachim hinüberlief, nur über die Straße, über den gepflasterten Hof und die enge, düstere, mit Messingleisten beschlagene Treppe hinauf. Er wohnt schräg gegenüber, in einem hässlichen Mietshaus, das ein kleiner Geschäftsmann hier am Stadtrand gebaut hat, spekulierend darauf, dass die Stadt sich nach dieser Seite hin ausdehnen würde; der Geschäftsmann hatte sich aber geirrt.

Ich fragte mich nun sogar, warum ich zu Joachim hinübergelaufen war, und während ich auf dem niedrigen Schuhschrank saß und rauchte und misstrauisch meine Hände beobachtete, versuchte ich mir darüber klarzuwerden, was ich für Uli empfand, jetzt, ein Viertel nach acht Uhr, in der Küche voll Morgensonne … Die ganze Zeit sah ich sein Gesicht mit dem kräftigen Kinn und mit dicken, schwarzen, flachen Brauenbögen und den hellbraunen Augen, die mit dunkleren Pünktchen wie Rostflecken gesprenkelt sind. Ich bin vierundzwanzig, ein Jahr jünger als er, und durch all die Jahre war mir sein Gesicht nah und vertraut – nur im letzten Jahr, seit den Sommerferien, wenn ich mich recht erinnere, fand ich zuweilen einen Ausdruck von Härte, der mir fremd und quälend unverständlich blieb.

Wenn ich meinen Freunden von ihm erzählte – ach, und sie belächelten meinen zärtlichen Überschwang, ich weiß –, dann sagte ich: Er ist schön, der schönste Junge, den ich kenne. Er ist klug, viel klüger als ich. Er hat sein Abitur mit Auszeichnung gemacht. Er ist der Beste in seiner Seminargruppe. Die Mädchen laufen ihm nach. Er ist stark, ein gewandter Sportler. Er liest viel. Er geht oft ins Konzert. Wir lieben uns.

Sie lachten: Zeig uns mal dein Wunder von einem Bruder.

Uli studierte aber zu der Zeit in R., an der Ostseeküste, und ich besuchte die Kunsthochschule in D., und dazwischen lagen fünfhundert Kilometer Eisenbahnstrecke. Im letzten Jahr prahlte ich nicht mehr so laut mit ihm, ich sagte aber immer noch: Wir lieben uns.

Ich drückte die Zigarette aus. Auf einmal dachte ich, vielleicht liebe ich in Uli nur etwas Vergangenes, halb Vergessenes, Kindheit, die mir die Erinnerung als ein Idyll vorgaukelt, und obgleich ich das Gaukelspiel durchschaue und hundert nüchterne Einwände habe, blicke ich mit einer Art sentimentalen Vergnügens auf den zuckenden Filmstreifen der Erinnerungen, auf diese Folge kolorierter Genrebildchen:

Blühende Kirschbäume im Garten, der Sandkasten, die roten und gelben blechernen Förmchen; eine mit Efeu bewachsene Mauer, an ihrem Fuß zwischen breitblättrigen, violett blühenden Kletterpflanzen sammeln wir Schneckenhäuser im feuchten, schwarzen Mulm; die Laube im Garten eines Spielkameraden, dessen Namen ich vergessen habe, wir hocken im Heu, spröder Duft, wir rauchen getrocknetes Weinlaub in kurzen indianischen Tonpfeifen; der Balkon, Julihitze, ein blau-weiß gestreifter Sonnenschirm, die grünen Blumenkästen überwuchert von Petunien, es ist Mittag, wir warten auf unseren Vater, der mit dem Fahrrad aus seinem Verlag herüberkommt, wir kennen sein Klingelzeichen, wir winken und schreien; eine Zimmerstrecke in der Nachbarschaft, wo roh zusammengeschlagene Loren auf Schienen um den Holzplatz fahren, und es duftet nach frischem Holz, wir spielen Trapper und Indianer und werfen mit Tomahawks; ein Winterabend, meine Mutter, rundlich und schwarzhaarig, sitzt im Korbsessel vor ihrem Nähtischchen und liest Andersens Märchen vor, hinter dem Fenster fällt die Dämmerung, es schneit …

Und immer war Uli dabei. Später konnten wir Andersens Märchen selbst lesen, gemeinsam, auf einer Fußbank dicht aneinandergerückt, und wir sahen die kleine Seejungfrau mit ihrem im Wasser treibenden langen Haar und rosigen Muscheln um den Hals und die chinesische Nachtigall und den Kaiser mit unendlich langen Fingernägeln und einem dünnen gelben Schnurrbart, der ihm bis auf die Brust hängt. Und noch viel später lasen wir »Jimmy Higgins« und weinten, und wir lasen Gladkows »Zement« und das »Siebte Kreuz« und die »Räuber« und Stendhals »Rot und Schwarz« – immer gemeinsam, immer von den gleichen Gedanken, den gleichen Gefühlen bewegt. Und ganz zuletzt, es war im Jahre 1956, stritten wir erbittert über die »Sonnenfinsternis« des Renegaten Koestler, und danach schien es mir zuweilen, als sei Uli nicht wieder aus dem Schatten der Sonnenfinsternis herausgetreten, während ich längst zu Gleb Tschumalow zurückgekehrt war und zu Dascha und Tschibis.

Vom Krieg weiß ich nichts mehr außer dem dumpfen Brummen der Bomberpulks und weißen Scheinwerferbahnen vor dem Nachthimmel. Wir schliefen oft im Keller, Uli und ich auf einer Pritsche, und morgens sammelten wir die Silberpapierstreifen, die von den Amerikanern abgeworfen wurden. Manchmal war der Himmel rot. Zu den Kindergeburtstagen gab es nicht mehr Erdbeeren und Schlagsahne und nicht einmal die ulkigen schokoladebraunen Puddingfische.

Der Kunstverlag, in dem mein Vater arbeitete, wurde als kriegsunwichtiger Betrieb geschlossen. Irgendwann brachten wir Vater zum Bahnhof, meine Mutter weinte. Einmal kam eine Jüdin zu uns, um sich zu verabschieden. Sie trug einen gelben Stern auf dem Mantel und hatte krauses Haar, ganz grau, obgleich sie Mutters ehemalige Schulfreundin und noch jung war. Sie sagte, sie sollte nun auch verschickt werden, und sie stand unten an der Treppe und weinte.

Meine Mutter ist die Tochter eines Schuhfabrikanten, sie verkehrte in den Häusern der reichen jüdischen Familien in unserer Stadt, auch während der Nazizeit, auch als die Fabriken dieser Familien arisiert wurden und als es eine Schande war, in die Wohnung eines Juden zu gehen. Meine Mutter war ganz unpolitisch. Auch mein Vater war unpolitisch, er ging aber nicht mehr zu den jüdischen Bekannten; er verachtete die Nazis und nannte Hitler einen Emporkömmling, jedoch war er ein vorsichtiger Mann und hatte Familie … Das alles habe ich erst lange nach dem Krieg erfahren oder aus Bruchstücken von Gesprächen zusammengesetzt. Wir waren ja noch klein; nur der Älteste, Konrad, trug mittwochs und sonnabends das braune Hemd der Hitlerjugend; er ging dann zum Dienst.

An einem Abend – es muss Anfang 1945 gewesen sein – ist nebenan ein fremder Soldat. Uli äugt durchs Schlüsselloch, er sagt: Bloß Gefreiter. Wir kauern in unseren Kinderbetten. Drüben spielt das Radio, und plötzlich ist die Musik weg, und wir hören die vier dumpfen Paukenschläge (man kennt das, und man kennt das Getue der Erwachsenen: Warum stehen die Kinder hier noch rum? Bringt doch die Kinder ins Bett!), die vier Paukenschläge und »Germany calling …« Uli, der dem Ältesten öfter Vokabeln abhören darf, sagt: Germany heißt Deutschland.

Endlich geht der fremde Soldat weg. Er ist aber kein Soldat mehr, er trägt einen Anzug von unserem Vater. (Und ich bin nicht sicher, dass meine gutherzige, unvorsichtige Mutter damals wusste, was sie tat. Ich habe sie nie danach gefragt. Wahrscheinlich hat sie selbst den fremden Soldaten vergessen, der bloß Gefreiter war.)

Ein sonniger Nachmittag: Wir fangen flinke, langgeschwänzte Kaulquappen in einem Tümpel nahe der Bahnlinie. Ein Eisenbahner hastet vorbei. Schert euch nach Haus, die Russen kommen. Wir rennen. Im Fenster vom Kinderzimmer hängt schon ein weißes Bettlaken.

Uli und ich hocken auf der Treppe, eng umschlungen. Wir werden zusammen sterben.

Kein Schuss fällt. Durch die Straßen rasseln Panzer, T 34, sagt der Älteste; er hat im Garten einen Dolch vergraben, auf dem steht: BLUT UND EHRE. Die ganze Nacht jagen Panjewagen vorbei, die Pferde traben in hochbogigen hölzernen Geschirren. Am nächsten Tag werden russische Offiziere bei uns einquartiert. Konrad geht stumm und finster durchs Haus. Mutter schläft bei uns im Kinderzimmer. Die Offiziere bleiben Wochen, Monate, ein halbes Jahr …

Am liebsten mögen wir den Oberleutnant Wassili Iwanowitsch. Er ist blond und mager, und wenn er lacht, fallen ihm die Haarsträhnen ins Gesicht. Er lernt bei uns Deutsch, und dafür bringt er Speck und Weißbrot in die Küche. Manchmal zündet er auf dem Wäscheplatz ein Holzfeuer an und brät Schaschlik – Hammelfleisch und Tomaten und Zwiebelscheiben am Spieß –, und wir sitzen mit tränenden Augen im Rauch und werfen die heißen Fleischstücke von einer hohlen Hand in die andere. Wassili hat jeden Abend Gäste. Irgendjemand spielt Ziehharmonika, stundenlang dieselbe eintönige Melodie. Wenn Wassili betrunken ist, tanzt er Hopak, und die Dielenbretter dröhnen.

Vor Grischa, der in Vaters Arbeitszimmer wohnt, haben wir Angst. Sonntags sitzt er, nur mit seiner olivgrünen Stiefelhose bekleidet, auf dem umgestürzten Kleiderschrank, den Gott weiß wer auf das Stiefmütterchenbeet im Vorgarten geschleppt hat. Grischa hat einen schwarzen Schnauzbart und schwere Augenlider, er sitzt da, raucht Pfeife, schweigt, raucht und starrt uns feindselig an. Einmal, in der Küche, erzählt Wassili: Die Faschisten haben Grigoris Frau erschossen. Sie haben seinen kleinen Sohn erschossen … Meine Mutter wird blass, wenn sie Grischa begegnet.

Im Winter fährt Wassili fort, zurück nach Kiew. Er wird wieder als Ingenieur arbeiten.

Wir haben Hunger. Meine Mutter verkauft Schmuck und Bettwäsche und die Porzellanfigürchen aus dem Glasschrank. Sie zeigt uns die gekreuzten blauen Schwerter: Meißener. Das hat euer Großvater gesammelt. Wenn er wüsste … Sie hat kein Talent zum Geschäftemachen; sie bringt ein Beutelchen Korn mit, ein Brot, einen Rucksack voll Kartoffeln.

Sommerferien. Ein Stoppelfeld, über dem die Luft zittert, Sonne, Staub, der strohige Geruch. Wir lesen Ähren, barfuß und gebückt, und wenn niemand ringsum zu sehen ist, rupfen wir Halme aus den aufgestellten Mandeln … Zu Haus, im Speisezimmer, ist es kühl, durch die Spalten der Jalousie fließt rotes Abendlicht. Auf dem Tisch liegt ein Damasttuch, wir essen mit silbernen Löffeln: grobe braune Pferdebohnen. Uli sagt: Mach mal die Augen zu. Er hat mir rasch ein paar Löffel voll Bohnen auf den Teller geschaufelt. Du bist ein Mädchen, du bist doch schwächer. Später lege ich eine Scheibe trocken Brot unter sein Kopfkissen. Du bist ein Junge, Jungs essen mehr.

Wenn Schnee fällt, tragen wir, einen über den anderen Tag abwechselnd, dasselbe Paar Schistiefel.

Eine Nacht im Juni: Wir warten im Bahnhofspark, die Büsche glänzen lackgrün unter einer im Wind schaukelnden Lampe. Ich halte Ulis Hand fest, als der dünne, schüchterne Mann auf uns zukommt. Er umarmt uns, über sein Gesicht laufen Tränen. Ein Fremder in zerlumpter Uniform, der beim Sprechen mit der Zunge anstößt; nun soll man also »Vati« zu ihm sagen – er hat aber nichts zu tun mit dem jungen Mann, der uns früher Schokoladenzigarren mitbrachte und aus seinen Klubsesseln einen Wigwam für Winnetou und Mine-Haha baute.

Wir gehen Hand in Hand hinter den Erwachsenen her, wir müssen jetzt zusammenhalten gegen den Heimkehrer. Mutter sagt: Die Kinder wachsen mir einfach über den Kopf. Der Heimkehrer wird sich nun wieder um unsere Erziehung kümmern, er hat vier Jahre lang nur unsere Fotogesichter gekannt, was weiß der schon …

Neulich fand ich auf dem Boden, in unserer alten Spielzeugtruhe, die Heimkehrerstiefel aus Segeltuch, mit einer dicken Holzsohle, und es fiel mir schwer aufs Herz, dass wir Vater die Jahre nach der Gefangenschaft vergällt haben. Wir waren unserer armen Mutter wirklich über den Kopf gewachsen und fühlten uns nun in unserer dreisten Selbständigkeit bedroht, und der Älteste konnte lange Zeit seinen Blut-und-Ehre-Dolch und den Dienst in der Hitlerjugend nicht vergessen. Vater aber, ein Schreibtischmann, hatte in den Wäldern um Jaroslawl Bäume gefällt und in Kolchosen Kartoffeln gerodet, er hatte in Antifa-Zirkeln gelernt und war Tausende Kilometer durch die Sowjetunion gefahren, und er sagte: Wir haben so viel wiedergutzumachen.

Später wendete sich das Blatt, wir stritten Abend für Abend: Deine Generation ist schuld, ihr habt Hitler gewählt. Du bist schuld.

Ich habe Hitler nicht gewählt, ich war immer gegen die Nazis.

Du hast aber nichts gegen sie getan.

Was konnte ich allein denn tun? Ich musste eben mitmachen.

Es gibt andere, die nicht mitgemacht haben. Aber ihr: die Stellung, die Familie, die Existenz … Und da soll man noch Respekt vor seinen Eltern haben!

Wir waren unversöhnlich und ohne Mitleid, und schließlich gab es mein Vater auf, sich zu verteidigen. Wir gingen damals in die Oberschule, und die ganze Zeit ernährten und kleideten uns unsere Eltern von ihren lächerlich geringen Löhnen, sie arbeiteten schwer, sie lernten, sie jammerten nicht; über Geld wurde, Gewohnheit aus vergangenen Zeiten, nicht gesprochen.

Meine Mutter, die es früher nicht nötig gehabt hatte, lernte Stenographie und Schreibmaschine und wurde Sekretärin. Sie ist heute Sachbearbeiterin beim Rat des Kreises, eine muntere, immer noch schwarzhaarige Frau; man gibt ihr vierzig Jahre, sie ist aber schon fünfzig. Ich habe sie in den letzten Jahren niemals kopfhängerisch oder übellaunig gesehen, befreit von der herdwarmen Beschränkung auf ihren Haushalt.

Der Verlag existierte nicht mehr, für den mein Vater Aufsätze über deutsche Bauten geschrieben und Bildbände zusammengestellt hatte: Tizian und Raffael, Goya, Rembrandt und Frans Hals, ich argwöhne, dass spätestens bei Frans Hals die Malerei für ihn aufhörte. In den wirren, allerlei zweifelhaften Unternehmen so günstigen Nachkriegsjahren war er Vertreter bei einer Firma mit klingendem Namen und ohne Kapital. Nach der Währungsreform ging er als Arbeiter in ein Textilwerk, nahm ein Fernstudium auf, das er als Ingenieur-Ökonom abschloss, und ist heute Planungsleiter in eben jenem Textilbetrieb. Er ist ein umsichtiger, beweglicher kleiner Herr, der keinen Feierabend kennt und ein halbdutzendmal für seine Verbesserungsvorschläge ausgezeichnet worden ist; er hat häufig Rückenschmerzen und vegetative Störungen und noch ein paar der Krankheiten, die man heute Managerkrankheiten nennt.

Wenn ich abzuwägen versuche, ob wir in den fünfzehn Jahren nach dem Krieg unser Teil geleistet haben, dann scheint es mir, als seien eigentlich Vater und Mutter uns über den Kopf gewachsen. Wir haben gegen sie rebelliert, wir haben sie als Kleinbürger und Mitläufer beschimpft – aber was wissen wir schon von unseren Eltern?

2

Die Küche ist weiß gekachelt und versucht sachlich auszusehen. Aber da hängt ein altmodisches Eierschränkchen aus blaubemalten Delfter Kacheln, über dem Stuhl liegt eine rote Schürze, Uli hat seine Hausschuhe in eine Ecke geworfen, es gibt einen bunten Kalender und Stapel von Zeitungen auf dem Schrank, und die Küchenuhr hat ein freundliches Porzellangesicht …

Von der Uhr konnte ich meine Unruhe ablesen; ich hatte eine Viertelstunde hier gesessen, die mir sehr lang erschien in der überdehnten, aufdringlichen Stille. Ich horchte, sogar mit den Augen, mit dem Mund, mit den gespannten Schultern. Ich hörte ihre Stimmen nicht, und in einem Gefühl von Niedergeschlagenheit und Ungeduld dachte ich, dass die beiden noch kein Wort gesprochen und sich nicht einmal angesehen oder nur einander zugewandt hatten: Uli steht mitten im Zimmer und am Fenster Joachim, mager, sehr groß, in seiner schlechten Haltung. Als ich vorhin aus dem Zimmer ging, hat er das Gesicht weggedreht, zur Straße hin, die ungepflastert und mit Pfützen gesprenkelt ist. Obgleich ich sein Gesicht nicht sah, wusste ich, dass er rot geworden war. Er war auch an dem Abend, als er uns in der Bar fand, rot geworden; ich glaube, er fühlte sich verantwortlich für unsere Ausschreitungen. Das war vorgestern, am Ostersonntag.

Uli hatte mich in die Tanzbar eingeladen, die einzige in unserer kleinen Stadt, er hatte gesagt: »Aber deinen Apostel nehmen wir nicht mit.« Er verbesserte sich gleich: »Sicher, er ist ein fabelhafter Bursche. Er ist genehmigt, das weißt du. Aber heute will ich mit dir allein ausgehn, ohne den dritten Mann. Vielleicht«, setzte er hinzu und lachte dabei, »vielleicht ist es das letzte Mal.«

»Du willst doch nicht etwa heiraten?«, fragte ich und lachte auch, und dabei war ich schon eifersüchtig.

Er sah mich an. »Ich habe immer noch die blödsinnige Hoffnung, ich würde ein Mädchen finden, das dir ähnlich ist.«

»Vorläufig heirate ich ja auch nicht«, sagte ich schnell.

»Ihr seid ein komisches Liebespaar. Ihr seht euch alle Vierteljahre einmal, und schon auf dem Bahnhof fangt ihr an, euch zu zanken«, sagte Uli.

»Aber wir zanken uns doch nicht.«

»Nenn’s, wie du willst. Ihr diskutiert. Noch schlimmer.«

Wir gingen also ohne Joachim.

Die Barfrau war jetzt hellblond, sie hatte zugenommen, und um die Augen und unterm Kinn war das Fleisch bleifarben und gedunsen. Sie trug Korallenknöpfe im Ohr, und während sie Gläser spülte, erzählte sie uns Stadtklatsch, vergnügt und ohne Bosheit. Ich mag die Barfrau gut leiden, sie war immer nett zu uns, auch damals während unserer Studentenzeit, wenn wir manchmal kein Geld mehr hatten und den ganzen Abend bei Selters und einem Wodka an der Bar saßen.

Zuerst fand ich es ganz amüsant, die getuschelten Geschichten über Leute zu hören, mit denen wir zur Schule gegangen sind oder die wir auf der Straße und im Kino gegrüßt haben oder einfach so kannten, wie man eben Leute in einer Kleinstadt kennt. Aber sie berührten mich nicht; es waren Geschichten aus einer fremd gewordenen Welt, die mir jetzt kleinlich und eng erschien; wenn ich mir diese Welt in Farben umgesetzt vorstellte, schwamm Grau neben Violett und ein paar Flecken Rosa.

In einem Anfall von Hoffart dachte ich: Sorgen haben die Leute … Wir beginnen die zweite Baustufe. Wir schlagen uns mit tausend kniffligen Fragen herum, mit Planerfüllung und Verlustzeiten und mit Materialschwierigkeiten. Ich sagte das dann auch Uli, weil ich dachte, er stünde ja in seiner Werft vor den gleichen Fragen, und ich erzählte ihm von den Sorgen meiner Brigade: Wir schweißen hochlegierte Stähle, die wir aus Westdeutschland beziehen; wir mussten bis jetzt auch die Elektroden in Westdeutschland kaufen.

Uli sagte: »Solange man auf Hoesch und Mannesmann angewiesen ist, darf man eben kein Kombinat bauen. Wenn die Konzerne aussteigen, seid ihr erledigt.«

»Wart mal, wart mal«, sagte ich. »Der Dicke hat Versuche mit unseren Elektroden gemacht. Es klappt, er spart uns Hunderttausende.«

Die Barfrau starrte mich verwundert an. »Und ich dachte, Sie sind Malerin geworden …«

»Wenn die Konzerne aussteigen«, wiederholte Uli, »dann geht ihr pleite. Frag doch mal deinen schlauen dicken Meister, ob er eine Stahlsorte für extrem hohe Drücke entwickeln kann.« Er tätschelte meine Hand. »Red lieber nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst.«

An einem Seitenblick, einem Lächeln merkten wir, dass andere uns für ein Liebespaar hielten, obgleich wir uns sehr ähnlich sehen. Manche der jungen Männer und Mädchen aber, die sich auf der winzigen Tanzfläche drängten, in dem goldbraun getönten Halblicht, kannten uns – Ingenieure, eine Dramaturgin, Ärzte, die Schulfreunde von einst, die ihre Osterferien zu Hause verlebten. Ein blonder Junge mit schweren Augenlidern stellte sich neben mich, er stützte die Ellbogen auf die schwarze Glasplatte.

»Hans«, sagte ich.

Seine Lider schoben sich langsam über blassblauen Augen auf. »Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt«, sagte er mit einer Stimme, die mir das Empfinden gab, seine Haut müsste sich trocken und kühl anfühlen; sogar seine Augen sehen desinfiziert aus, dachte ich.

»Früher trug ich langes Haar, den Rücken runter.«

»Du hast dich vorteilhaft verändert«, sagte er mit seiner Lysolstimme.

Uli drehte sich um, er sagte: »Mach’s nicht so billig, Doktor.« Sie gaben sich die Hand. Sie hatten zusammen das Abitur gemacht, und Hans war so lange zu uns ins Haus gekommen, bis Uli merkte, dass wir uns verliebt hatten. Ich glaube, er lauerte uns auf, und richtig kam er dazu, wie wir uns küssten, an der Treppe, unter dem Nussbaum. Er schwieg, er fasste Hans im Genick und schob ihn vor sich her, durch den Garten und zur Tür. Dann drehte er sich zu mir um, und ich sah durch das Dunkel seine Zähne und das Weiße in seinen Augen. Er sagte: »Schluss. Nichts für dich, Elisabeth. Morgen Abend küsst er ’ne andere.« Ich weinte ein bisschen. »Nicht genehmigt«, sagte Uli, und das war unsere vereinbarte Formel, der Spruch, dem ich mich fügen musste. Ich stand hinter der Gardine, wenn Hans auf der Straße pfiff, aber ich machte das Fenster nicht auf. Er pfiff noch ziemlich oft.

Hans bestellte Gin. Er blickte, das linke blasse Auge eingekniffen, durch sein Glas zu Uli hoch, er fragte: »Endlich fertig mit dem Studium?«

»Wir haben paar Semester mehr als die Herren Mediziner«, sagte Uli gereizt.

»Seit Weihnachten ist er Diplomingenieur«, sagte ich.

»Gute Stellung?«

»Scheiße«, sagte Uli. Seine Hände lagen auf der Glasplatte; die Nägel, sehr kurz geschnitten, sind mit vielen weißen Pünktchen gesprenkelt. (… ich habe seine Hände geliebt, und die kindlich kurzgeschnittenen Nägel, und manchmal habe ich die Narben und Kratzer auf dem Handrücken geküsst, und jetzt, als ich daran denke, fühle ich mein Herz als einen genau bestimmbaren Punkt, in dem sich der Schmerz zusammengezogen hat …) Er trank schnell sein Glas aus. Er spähte zur Tür, die hin und her schwang und den graublauen Dunst teilte.

Er stand plötzlich auf, und wir sahen ihm nach, wie er über das Parkett ging, durch die tanzenden Paare. Er ging gerade, die Schultern zurückgedrückt, und ohne jemandem auszuweichen. Die anderen machten ihm Platz, und ich beneidete ihn um seine Sicherheit, die ich für ein glückliches Merkmal von Kraft hielt.

Hans berührte mein Knie. »Muss man immer noch den Bruder fragen, wenn man mit der Schwester tanzen will?«

Ich dachte: Früher hatte er so eine Art, mit dem kleinen Finger meine Schulter zu streicheln, wenn wir aus dem Kino kamen … Jetzt fand ich in seiner Berührung die Vorsicht wieder, mit der unser Hausarzt Lichtschalter und Türklinken anfasst. Hans war mir plötzlich zuwider, auch wegen der Miene vornehmen Missfallens, mit der er meinem Bruder nachgesehen hatte; auch wegen seiner breiten, etwas hängenden Augenlider, die seinem Gesicht einen Ausdruck von Sattheit gaben. Ich sagte: »Immer noch.« Ich lachte. »Die Faust im Nacken …« Es schien ihm peinlich zu sein, und nun erst recht erinnerte ich ihn an seine Niederlage in dem dunklen, juniwarmen Garten.

Dann kam Uli zurück und setzte sich wieder auf den Barhocker, er sagte obenhin: »Hab mir eingebildet, Jochen wär an der Tür gewesen.«

Wir tranken noch einen Gin, er duftete nach Kiefernwald und Wacholderbüschen. Die Barfrau war sehr höflich zu Hans, von einer beflissenen Höflichkeit, die ich unterwürfig fand; Hans schien daran gewöhnt zu sein. »Der Nimbus des Medizinmannes«, sagte ich.

Als die Musik wieder begann, verbeugte sich Hans: »Tanzt du mit mir?«

Uli sagte schnell: »Die Dame tanzt nicht. Die Dame ist verlobt.« Ich kannte diesen groben Ton noch nicht. Hans rückte an seinem silbergrauen Binder. Ich beugte mich zu ihm hinab und sagte ohne Bedauern: »Tut mir leid, Teuerster, nichts zu machen.« Auf einmal entdeckte ich die grauen Spuren einer wochenalten Müdigkeit in seinem Gesicht, ich dachte verwundert: Er ist doch nicht älter als wir. Er blieb neben mir stehen, und nach einer Weile fingen sie an über Autotypen zu fachsimpeln. Ich hörte nicht mehr zu, Autogespräche langweilten mich. Ich habe endlich gelernt, einen Dumper von einem Kipper zu unterscheiden; von Personenwagen weiß ich nur, dass man mit ihnen angenehmer reist als mit der Eisenbahn.

Schließlich sagte Uli: »Ach was, wozu so viel reden? Zwei, drei Jahre, eher bekomme ich doch keinen Wagen.«

Hans sagte, vielleicht um Uli zu ärgern, er werde im Sommer den Opel Kapitän eines Kollegen kaufen.

»Sicher, unter Opel tun wir’s nicht«, sagte Uli. »Immer mit den Vorderbeinen in den Trog. Westwagen, natürlich, und fette Gehälter, Nebenverdienst garantiert. Und auf den Staat spucken, wie?« Seine Stimme klang jetzt feindselig. »Ihr seid die einzige Sorte von Intelligenzlern, die es sich leisten kann, keine Gesinnung zu haben.«

»Hör schon auf, Uli«, sagte ich. »Du hast heute deinen linksradikalen Tag.«

Hans zuckte die Schultern, er legte einen Geldschein auf die Bar und winkte ab, als die Barfrau ihm herausgeben wollte.

Uli rief: »Sieh zu, dass du Land gewinnst, Herr Medizinalrat.« Er war nicht mehr nüchtern. Er winkelte die Arme an und zwinkerte rüde, und auch das kannte ich noch nicht, und ich frage mich nun, warum ich nicht schon an diesem Abend gespürt habe, was sich hier vorbereitete. In Wirklichkeit galt seine Wut nicht dem müden jungen Mann, und die Rauflust kam aus der trüben Quelle einer Niedergeschlagenheit, gegen die er sich nicht mehr wehrte und die ihn so beschämend verwandelte.

Hans gab mir die Hand, sie war kühl und trocken. »Schade.« Einen Augenblick glich er wieder dem Jungen, der mich unter dem Nussbaum geküsst hatte. »Ich hätte mich sowieso verabschieden müssen«, sagte er. »Ich hatte letzte Woche Nachtdienst.«

»Lass es dir gut gehen.« Ich dachte, ich sollte mich eigentlich für meinen Bruder entschuldigen.

»Gut gehen …«, wiederholte Hans und versuchte unbekümmert auszusehen. Er nickte zu Uli hinüber; sein Haar wurde schon dünn, und die blonden Strähnen rechts und links vom Scheitel waren sorgfältig nebeneinandergelegt.

Nachher sagte die Barfrau, die uns zugehört hatte: »Vor vierzehn Tagen ist er mit seinem Škoda gegen einen Baum gefahren. Er war am Steuer eingeschlafen. Zwanzig Stunden auf den Beinen … Es ist nicht alles Gold, was glänzt, Herr Arendt.« Uli schwieg. Sie fügte noch hinzu: »Er soll ja sehr beliebt sein im Krankenhaus.«

»Komm, wir tanzen«, sagte Uli. Das Parkett war überfüllt, und wir bewegten uns die ganze Zeit auf einer Stelle. Uli ist einen Kopf größer als ich; er hielt sich gerade beim Tanzen, und manchmal legte er mir tadelnd die Hand auf den Arm und mahnte: »Beweg dich manierlich, Betsy, du bist in Mitteleuropa. Du hast eine Art rumzuhüpfen, als ob deine Großeltern noch Ritualtänze im Urwald getanzt hätten.«