Die Frau am Pranger - Brigitte Reimann - E-Book

Die Frau am Pranger E-Book

Brigitte Reimann

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Beschreibung

Im Ringen um einen geliebten Menschen wächst die jungen Bäuerin Kathrin über sich hinaus. Von ihrem Mann und den Verwandten wird sie wie ein Stück Inventar behandelt. Erst in einer tiefen Liebesbeziehung zu dem russischen Kriegsgefangenen Alexej erkennt sie ihren eigenen Wert. Auch blinder Hass der Menschen, die sie an den Pranger stellen, kann ihr nichts mehr anhaben. Mit dieser Erzählung von 1956 packte Brigitte Reiman ein "heißes Eisen" der deutschen Nachkriegsliteratur an, dass noch heute Fragen nach Schuld und Verdrängung aufwirft.

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Über Brigitte Reimann

Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964–1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973.

Informationen zum Buch

Im Ringen um einen geliebten Menschen wächst die jungen Bäuerin Kathrin über sich hinaus. Von ihrem Mann und den Verwandten wird sie wie ein Stück Inventar behandelt. Erst in einer tiefen Liebesbeziehung zu dem russischen Kriegsgefangenen Alexej erkennt sie ihren eigenen Wert. Auch blinder Hass der Menschen, die sie an den Pranger stellen, kann ihr nichts mehr anhaben.

Mit dieser Erzählung von 1956 packte Brigitte Reiman ein »heißes Eisen« der deutschen Nachkriegsliteratur an, dass noch heute Fragen nach Schuld und Verdrängung aufwirft.

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Brigitte Reimann

Die Frau am Pranger

Erzählung

Inhaltsübersicht

Über Brigitte Reimann

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Impressum

1

Wenn sie über die Dorfstraße ging, schien es, als liefe sie unter dünnfädig-kaltem Herbstregen: den Kopf gesenkt, mit gewölbtem Rücken, fröstelnd und schmal. Sie war Ende der Zwanzig und verheiratet seit mehr als fünf Jahren; Fremde hätten sie für ein neunzehnjähriges Mädchen gehalten.

Sie stand unter dem Tor und starrte auf das Telegramm: »… drei Tage Heimaturlaub …« Drei Tage. Sie fröstelte stärker, wurde noch schmaler, noch geduckter. Sie ging ins Haus, mit ihren klebenden Schritten, und legte das Telegramm auf den Küchentisch. »Heinrich kommt.«

Die Schwägerin saß, Ellbogen aufgestemmt, vor dem Teller mit Pellkartoffeln. Sie blickte auf und sagte mit tiefem Atemzug: »Zeit wird’s. Er kann nach dem Rechten sehen, gerade jetzt. Wir kommen mit der Frühjahrsbestellung nicht zurecht ohne Mann.«

»Drei Tage nur«, sagte die junge Frau. Drei Tage, dachte sie angstvoll, drei unendlich lange Tage und Nächte …

Die Ältere am Tisch schob sich eine Kartoffel in den Mund. »So.« Sie erhob sich, ein strammes Weibsbild mit breiten Hüften und festen Armen. Sie war fast einen Kopf größer als die Frau ihres Bruders. Sie wischte die Hände an der Schürze ab. »Er wird schon helfen, der Heinrich. Irgendwie. Er bestimmt.« Sie hob die vollen Milchkannen von der Bank, so leicht, als sei es ein Kinderspiel. Im Hinausgehen sagte sie noch: »Schaff, dass was Gutes auf dem Tisch steht heute abend. Wenn der Heinrich kommt -«

Er kam. Er stand auf der Schwelle, und er schien den Türrahmen zu sprengen, der riesige, schwere Mann. Feldgraue Uniform, Gefreitenwinkel.

Die Schwester hing ihm am Halse. »Gefreiter bist du geworden!« Sie strich über den silbernen Winkel. »Stolz kann man auf dich sein …«

Er sah über ihre Schulter hinweg in die Küche.

»Kathrin!«

Die junge Frau stand am Tisch, mit hängenden Schultern. Sie weinte, als er sie umarmte.

»Nun, nun …« Er tätschelte ihr den Rücken. »Schon gut …«

Die Frau schluchzte. Er brummte begütigend, dann ungeduldig, schob sie zurück. Seine Feldbluse war feucht von ihren Tränen.

»Warum heulst du? Ist was passiert? Freust du dich nicht?«

Die Frau wischte mit dem Ärmel über das Gesicht, sie schluckte. »Doch, Heinrich …«

Der Mann saß am Tisch, die Beine gespreizt, und hieb ein wie ein Verhungernder.

»Zu Hause schmeckt’s doch am besten.«

Kleine Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

Kathrin hockte zwischen Bruder und Schwester, erdrückt vom warmen, massigen, schwitzenden Fleisch der beiden, von lauter Rede und Gegenrede, vom polternden Lachen des Mannes.

Ihre Blicke hingen an seinem Gesicht. Es war gut geschnitten, breit, mit vollem Mund und fleischiger Nase, mit braunen Augen unter dem dunklen Haar. Im Dorf nannten sie ihn den schönen Heinrich; die Frauen hatten Kathrin Laws scheel angesehen, damals, als Marten ihr auf Schritt und Tritt nachgelaufen war. Keiner begriff, was er an ihr fand, sie selbst am wenigsten. Ein farbloses, lächerlich dünnes Ding war sie, und hellblond alles an ihr: die Haare und das Gesicht und sogar die Augen. Nichts war in ihr an Saft und Kraft wie in den anderen Mädchen seines Dorfes. Dennoch hatte er sie genommen und dazu die Ackerbreiten vom alten Laws, die seinen Grund um mehr als ein Drittel vergrößerten.

Jetzt saß er am Tisch, in feldgrauer Uniform, und sein Mund kaute und schmatzte und lachte und sprach.

»Ein lausiges Pack, die Russen«, sagte er, »heimtückisch und gefährlich. Da marschieren wir neulich in ein Dorf ein …«

Wie hatte sie sich einbilden können, er sei anders geworden in den sechs, sieben Monaten seit seinem letzten Urlaub? Hatte sie erwartet, er werde weniger laut sein, weniger groß, weniger stark?

»… da knallt es aus einem Bauernhaus«, erzählte der Mann. »Und – peng! Unser Leutnant ist hin. Partisanen natürlich.«

»Mein Gott, die sind ja wie die Tiere«, sagte Frieda. »Die sind ja gar nicht wie richtige Menschen. Aufhängen müsste man die ganze Bande.«

»Haben wir auch«, sagte der Mann. »Aber zäh sind sie, stur – die geben keinen Mucks von sich. Die spucken dir noch ins Gesicht, wenn sie die Schlinge schon um den Hals haben.«

Die junge Frau hörte zu, die Augen weit aufgerissen, sie war noch bleicher als sonst.

Gutmütig klopfte er ihre Hand.

»Das ist nun mal nicht anders im Krieg. Man muss hart durchgreifen. Und die Russen sind eben anders als wir, bloß halbe Menschen, verstehst du?«

Kathrin schwieg, wie sie seit Jahren geschwiegen hatte zu allem, was die beiden, Bruder und Schwester, dachten und sprachen.

In der Nacht, endlich erlöst aus seiner gewalttätigen Umarmung, weinte sie vor Scham und Furcht. Er lag auf dem Rücken, mit halboffenem Mund, schnarchend, satt und gesund. Sie sah ihn an, und zum ersten Male in den fünf Jahren geduckten Gehorsams glomm neben Widerwillen und Demut ein winziges Fünkchen Hass.

Am nächsten Tag ging sie ihm aus dem Weg. Es wäre nicht nötig gewesen, er sah und sprach über sie hin wie in all den Jahren, bevor er Soldat geworden war. Seine derben Späße erfüllten Haus und Hof, umspült vom beifälligen Gelächter der Schwester. Durch Stall und Scheune gingen die Geschwister. Er schlug ihr klatschend auf den Hintern. Eine tüchtige Frau, sie hat die Wirtschaft zusammengehalten, wie es sich gehört.

Frieda, obgleich glücklich über sein Lob, lamentierte: Ein Mann müsse her, sie schaffe die Frühjahrsbestellung nicht. Sie sei nicht mehr die Jüngste – »… ich mache mich kaputt hinterm Pflug, und die Kathrin kann man ja kaum rechnen, diese Handvoll.«

Heinrich nahm die Frau in Schutz. »Sie ist nicht kräftig. Sie kann nichts dafür. Ein Mann muss her, da hast du schon recht.« Er überlegte. »Vielleicht kann ich euch einen Kriegsgefangenen besorgen.«

Frieda hob die Hände. »Bloß keinen Russen auf den Hof!«

»Du wirst doch keine Angst haben?« fragte er lachend. »Er kommt nicht ins Haus rein, schläft in der Scheune, und das Essen kostet nicht die Welt. Aber ein Mann muss her, Frieda.« Er ging, ungeachtet ihrer Abwehr, zum Ortsbauernführer; er kam wieder mit zufriedenem Gesicht. »Nächste Woche kriegt ihr einen Russen zugeteilt.«

Die beiden Frauen saßen schweigend: die junge mit gewölbtem Rücken, Hände im Schoß; die ältere, mit massigen Hüften, Hilflosigkeit über den derben Zügen.

Der Mann redete ihnen zu: »Was ist schon so ein Iwan? Mit dem werdet ihr alle Tage fertig. Kostet nichts, und die Arbeit wird geschafft. Das ist doch die Hauptsache.«

»Dass man so was ins Haus nehmen muss«, jammerte Frieda. »Der verfluchte Krieg!«

Sie erschrak vor den Augen des Bruders.

»Das sagst du, eine deutsche Frau?« Er stand vor ihr, die Beine gespreizt. »Wir wissen, wofür wir unseren Krieg führen, und du jammerst wegen einem dreckigen Russen! Mach dich nicht lächerlich, Frieda! So ein Mordsweib wie du – und hat Angst vor einem Iwan. Mir dreht es das Herz um, wenn ich sehe, wie meine schönen Feldern verludern …«

Sie war ganz Reue, ganz Zerknirschung, schnupfte und versprach, ihm keine Schande zu machen. Sie versuchte sich selbst zu trösten: »Das sind doch bloß halbe Menschen, nicht wahr, Heinrich? Und wir könnten dann endlich mit dem Feld am Hornberg anfangen …« Sie schwatzte, hastig und betulich, um den Bruder zu versöhnen: Drei, vier andere im Dorf hätten auch schon Kriegsgefangene. Man könne mit ihnen auskommen, sie seien ruhig und verstünden zu arbeiten. »Aufgemuckt hat noch keiner, und wenn man sie fest anpackt, sind sie schon zu gebrauchen.«

So war es beschlossene Sache.

Am dritten Tag fuhr Heinrich Marten zurück an die Front. Die Frauen begleiteten ihn bis in die Kreisstadt, zum Bahnhof. Als der Zug einlief, hing die Schwester ihm am Halse, schnupfend und schluchzend. Seine Frau stand fröstelnd unter dem grauen Märzhimmel und starrte zum Abteilfenster hinauf. Sie hob die Hand, zögernd und wie gezwungen, während Frieda neben ihr mit einem mächtigen weißen Taschentuch wedelte.

So blieben sie dem Mann in Erinnerung: die junge Frau, noch schmaler und blasser neben seiner breiten, rotgesichtigen Schwester; die eine mit halb erhobener Hand, die andere mit wedelndem Tuch.

Die beiden gingen, während der Zug gegen Osten fuhr, die wenigen Kilometer ins Dorf zurück; sie sprachen kein Wort miteinander.

2

Der Ortsbauernführer brachte ihnen wenige Tage später den Kriegsgefangenen. Während Frieda Marten mit Lange in der Küche verhandelte, stand der Gefangene auf dem Hof, reglos, sein Bündel in der Hand, mit stumpfem Blick zur Erde schauend.

Kathrin presste das Gesicht an die Fensterscheibe und beobachtete ihn, furchtsam und neugierig.

Der Russe war groß und breitschultrig, er hatte ein einfaches, kräftiges Bauerngesicht mit vorspringenden Backenknochen und flachen dunklen Brauenbögen. Kathrin hatte hier und da Russen gesehen. Einer war darunter mit Schlitzaugen und gelbem Mongolengesicht, und sie fürchtete sich vor ihm. Als sie neulich bei Meinhardts gewesen war, hatte sie an ihm vorübergehen müssen. Er lud Mist, und er blickte auf, als sie mit klappernden Holzpantoffeln an ihm vorüberlief, und er sah sie an mit seinen schrägen schwarzen Augen, einen Moment nur. Aber sie war tief erschrocken, und tagelang war eine unverständliche, quälende Unruhe in ihr geblieben. Sie dachte, der mit dem gelben Gesicht sei gewiss einer von denen, die Frauen schändeten und Kinder umbrachten und aus dem Hinterhalt auf deutsche Soldaten schossen.

Der Gefangene im Hofe hob den Kopf, als fühlte er den Blick der Frau. Sie fuhr zurück vom Fenster, aber für Sekunden hatte sie die Augen in seinem Gesicht gesehen, das, mit Bartstoppeln bedeckt, unsauber und wüst genug war. Seine Augen, von einem fast schwärzlichen Blau, standen weit auseinander in dem grauen Gesicht, und die Frau am Fenster merkte, dass der Fremde, den sie auf vierzig geschätzt hatte, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt war.

Frieda hatte sich indes mit dem Ortsbauernführer geeinigt. »Heil Hitler!« Er ging, und die Marten führte den Gefangenen zur Scheune, wo sie ihm seinen Platz auf dem Heuboden anwies, durch dessen winzige Luke er nicht würde entweichen können. Sie solle die Scheune abends gut verschließen, hatte der Ortsbauernführer gesagt. Freilich würde der Russe, wollte er wirklich entfliehen, nicht weit kommen: Er spreche keine drei Worte Deutsch.

Kathrin war in der Küche geblieben, sie hantierte am Herd, schob Töpfe und Kessel, als Frieda hereinkam. Sie wandte sich nicht um, als die Schwägerin sagte. »Er heißt Alexej, er spricht keine drei Worte Deutsch.« Sie zeigte auf den Schein, den der Ortsbauernführer ihr gegeben hatte, und buchstabierte: »Alexej Iwanowitsch Lunjew … Komisch, dass alle Russen Iwan heißen.«

»Wo schläft er?« fragte Kathrin.

»Nu, auf dem Heuboden.«

Sie aßen schweigend.

Unvermittelt sagte die Junge: »Es ist nachts noch so kalt. Vielleicht sollten wir ihm eine Decke geben.«

Die Ältere blickte auf und prüfte verwundert das Gesicht der anderen. »Bist du verrückt geworden?«

»Ich dachte bloß – ich meine, er wird frieren«, murmelte Kathrin.

»Dann soll er sich ins Heu einwühlen.« Und plötzlich sehr laut und scharf, sagte sie: »Das sind doch unsere Feinde. Denen kann man doch nicht unsere Decken und wer weiß was alles nachschmeißen. Die haben auf deinen Mann geschossen! Wenn du unbedingt noch eine Wolldecke loswerden willst, dann schick sie unseren Soldaten an die Front, aber gib sie nicht einem Russen. Manchmal kann man denken, du bist nicht ganz bei Trost!«

Kathrin hatte den Kopf geduckt und ließ widerspruchslos Schelte und Vorwürfe über sich ergehen.

»Na so was!« Friedas Hand fiel schwer auf den Tisch. »Du scheinst nicht zu wissen, was du dir als deutsche Frau schuldig bist!«

Kein Wort wagte Kathrin gegen die andere, wagte nicht zu erinnern, dass man dem Gefangenen Abendessen bringen müsse.

Sie aßen, rasch und stumm, während der Russe im Heu lag, frierend und hungrig, und auf den Abendwind lauschte, der um das Gebälk strich. Er war nicht traurig und nicht zornig, er nahm gleichgültig diesen Hof als eine der vielen Stationen auf dem Weg zum endlichen Ziel, das Russland hieß und Sieg und Heimkehr.

So hielt im März des Jahres 1943 der Kriegsgefangene Alexej Iwanowitsch Lunjew seinen Einzug auf dem Hofe der Martens, gleichmütig, schmutzig, unrasiert, mit armseligem Bündel – nicht ahnend, wann und wie er zum letzten Male aus dem Tor gehen würde.

3

»Das flutscht«, sagte Frieda, »dem geht’s von der Hand.« Sie spähte durchs Küchenfenster hinaus in den Hof, wo der Gefangene Mist lud: Eins, zwei – die Forke in den Misthaufen gestoßen; eins zwei – die Gabelvoll auf den Wagen geworfen, eins, zwei – im Takt mit federnden Knien, und die Muskeln sprangen an Arm und Nacken.

Der Russe ließ die Forke sinken, nahm die Mütze ab und wischte sich mit der Hand über Stirn und Schädel.

Ein Schreckenslaut entfuhr der jungen Frau am Fenster: Über den kahlgeschorenen Schädel lief eine fingerlange blutrote Narbe.

»Ein Streifschuss, denke ich«, erläuterte sachlich die Schwägerin und schrie in den Hof hinaus: »He, du -pascholl!« Aus einer Lesebuchgeschichte kannte sie das Wort, und zehnmal am Tag rief sie es dem Russen zu. »Vorwärts, du – ran, pascholl!«

Zum ersten male arbeitete auf dem Martenhofe ein Knecht, ein Russe zudem, den man fest anpacken musste und zehnmal am Tage anstacheln: »Vorwärts, du -pascholl!«, dass er arbeitete – hopp, hopp! – und Mist lud und den Pflug führte und die Kühe molk und die Schweine fütterte und hier sein musste und dort und an zehn anderen Stellen zugleich.

Der Mann stülpte die Mütze auf den geschorenen Schädel, griff zur Forke und belud den Ackerwagen, den er morgen früh aufs Feld fahren sollte.

»Ein fleißiger Bursche«, sagte Frieda. »Und geschickt und anstellig, das muss man ihm lassen.«

»Vielleicht ist der Bauer«, sagte Kathrin.

»Kann schon sein.« Schwerfällig erhob sich die Schwägerin und krempelte die Ärmel auf. »Die sollen ja hausen wie das Vieh, mit Hühnern und Schweinen in einem Raum. Und keine Dielen wie bei uns, bloß festgestampfter Lehm.« Sie nahm die Melkeimer von der Bank. »Und auf dem Ofen schlafen sie – stell dir vor: auf dem Ofen!« Sie schlurfte in ihren Holzpantinen aus der Küche und über den Hof hinüber zum Stall und schrie, schon in der Tür, zurück: »Weich die Wäsche noch ein, hörst du, Kathrin?«

»Ja, ja!« rief die Junge und rückte, Blick auf den Gefangenen, den Waschzuber aus der Ecke unter dem Fensterbrett.

Gleichmütig gabelte der Russe.

Eine Woche schon war er bei den Martens, und sie hatte noch kein Wort mit ihm gesprochen, hatte ihn nur von ferne, heimlich aus dem Fenster spähend, auf dem Hof arbeiten sehen. Das Regiment im Hause führte ohnehin die Schwägerin, und die kommandierte den Russen genauso wie die Frau, glücklich, herrschen zu können für den Bruder an der Front, der bei seiner Heimkehr alles ordentlich finden sollte. Haus und Stall und Felder und Frau und Schwester dazu.

Kathrin Marten war froh darüber. Sie hätte es nicht über sich gebracht, den fremden Menschen zu scheuchen, wie die Schwägerin es tat, und um alles in der Welt hätte sie es nicht vermocht, »pascholl!« zu rufen und »he, du – vorwärts!« Sie schlug einen weiten Bogen um den Fremden.

Kathrin nahm den Waschzuber und schleppte ihn unter die Pumpe im Hof. Das Wasser schoss in den Bottich. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben und ins Haus zu tragen.

Der Zuber rührte sich nicht. Hilflos stand sie da, gebückt, und mühte sich vergeblich. Sie richtete sich auf, rot und erhitzt. Auf einmal war der Russe neben ihr, schob sie zur Seite, hob ohne Mühe den schweren Bottich und trug ihn ins Haus.

Die junge Frau folgte ihm, sie stand am Türpfosten, während der Mann den Waschzuber niedersetzte, und sagte, als er sich umwandte, leise: »Vielen Dank, Alexej.«

Er sah sie an, und für einen Augenblick waren Stumpfheit und Gleichmut von seinem Gesicht gelöscht. Er lächelte.

Die Frau, verwirrt, erschreckt, wusste nicht, wohin schauen, und wandte hastig den Kopf ab. Er ging. Sie hörte seine Schritte auf den Steinfliesen im Flur, und ihr Herz klopfte. Ihre Schultern fielen nach vorn.

Sie lehnte am Türpfosten und horchte in den Abend. Der Russe sang. Kathrin hatte lange nicht mehr gesungen, als Kind wohl, als Mädchen noch, aber seitdem sie in diesem Hause lebte, war sie verstummt.

Im Hof sang der Fremde; es war eine dunkle, schwermütige Melodie, die der lauschenden Frau fremd und dabei vertraut erschien.

Wie er gelächelt hatte … Für wenige Augenblicke war sein Gesicht ganz jung geworden … »Vielen Dank, Alexej.« Was hatte sie denn Großes gesagt? Worte, die man fünfmal, zehnmal am Tage sprach, gleichgültig hingeworfen für eine Handreichung, eine gefällige Geste. Was hatte sie denn Gutes gesagt? Ein belangloses Wort, das er nur ungefähr dem Sinne nach verstanden haben konnte, und seinen Namen.

»Vielen Dank, Alexej.« Jetzt erst fiel ihr ein, dass in all den sieben Tagen der Woche, seit der Gefangene auf dem Hofe war, die Schwägerin niemals anders von ihm gesprochen hatte als von dem »Iwan«, dem »Russen« bestenfalls. Nie nannte sie ihn beim Namen, sprach nur mit Gebärden zu ihm – und mit ihrem »pascholl«, als riefe sie einem Pferd »hü!« zu und »hott!«

Plötzlich zerriss die Melodie. Holzschuhe klapperten über die Steine, und nichts blieb im abendlichen Dämmer als das Brummen der Kühe und das Rasseln ihrer Ketten.

Hastig strich die Frau eine Haarsträhne unter das dunkle Kopftuch, bückte sich und stopfte die bereitliegenden Wäschestücke in den Zuber. Der prüfende Blick der Schwägerin fand sie still und geschäftig.

Frieda häufte Kartoffeln auf einen Teller und goss sparsam Speckstippe darüber.

Kathrin sagte, ohne aufzublicken: »Er hat tüchtig geschafft heute.«

»No, no«, brummte Frieda; sie wollte den Teller hinausbringen.

Noch immer mit gesenktem Kopf beharrte Kathrin: »Er ist doch sehr fleißig. Der Mensch muss doch auch anständig essen, wenn er arbeiten soll.«

»No, no«, brummte Frieda, etwas lauter, blieb aber in der Tür stehen.

Kathrin, mit ungewohnter Zähigkeit, sagte: »Ein Schmalzbrot macht uns auch nicht ärmer. Wir können’s uns doch leisten.«

Mochten die letzten Worte nun den Ausschlag gegeben haben – »der Martenhof kann es sich leisten, seinen Knechten satt zu essen zu geben, ja, das kann er noch immer!« -, mochte Friedas Gutmütigkeit im Grunde doch stärker sein als ihre zur Schau getragene Strenge - »nu, freilich, verdient hat er es schon« -, kurz, sie ließ sich noch ein Schmalzbrot abpressen. Und die junge Frau, die nicht ernsthaft an einen solchen Erfolg geglaubt hatte, war, als die Schwägerin zur Scheune ging, stolz auf dieses Schmalzbrot wie auf einen großen Sieg.

4

Zwei Tage später brachte Kathrin, als Frieda auf ein Stündchen zu den Weckerlings gegangen war, dem Russen eine Wolldecke. Sie hatte die Dämmerung abgewartet, und sie ging, eng an die Mauer gepresst, mit klopfendem Herzen zur Scheune. Die Schwägerin hatte heute das Tor früher als gewöhnlich abgeschlossen.

Alexej richtete sich auf, als er den Schlüssel im Schloss drehen hörte. Zaghaft wurde das Tor geöffnet, einen Spalt nur, gerade bereit genug, dass die Frau hindurchschlüpfen konnte. Nun stand sie in der Scheune, die nur schwach erhellt war vom scheidenden Tageslicht, das durch die Ritzen im Gebälk sickerte und durch die winzige Luke im Dach. Zögernd sah sie sich um, erschreckt vom eigenen Mut.

In der Ecke raschelte Heu; Alexej hatte sich erhoben und trat zu ihr. Er klopfte Heuhalme von seiner Feldbluse.

Die Frau wich zurück, sie streckte ihm die Decke entgegen und sagte: »Bitte!«

Groß und dunkel stand der Russe im Raum, er sah sie an, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos; er schien nicht zu begreifen.

»Kalt«, sagte Kathrin, und lauter, als könne er sie dann besser verstehen, »frieren«, und sie schlug die Arme um den Leib, um Kälte und Frieren anzudeuten.

Da nahm er die Decke. »Spassibo«, sagte er, »spassibo.« Und die Frau, die die weichen Laute seiner Heimatsprache zum ersten Male hörte, verstand und war seltsam berührt von dem Klang seiner Stimme; sie glaubte jetzt in seinen Zügen einen Anflug von Freude und gleichzeitig von Bedauern zu finden. Sie blickte verlegen zu Boden.

Die Hoftür fiel krachend ins Schloss. Kathrin fuhr zusammen, sie stand erstarrt, mit weißem Gesicht.

In ihren aufgerissenen Augen las der Mann mehr, als sie ihm mit tausend Worten zu sagen vermocht hätte: ihre Demut, ihre Ratlosigkeit und grenzenlose Angst.

Und sie, Kathrin, ahnte in diesen Sekunden, als sie in die weit auseinanderstehenden Augen des Fremden sah, dass er all dies wusste.