Katja - Brigitte Reimann - E-Book

Katja E-Book

Brigitte Reimann

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Beschreibung

»Beim Thema Gleichberechtigung gehe ich auf die Barrikaden.« Brigitte Reimann, 1963.

Eine Schülerin sucht, wie die junge Brigitte Reimann einst selbst, nach einem Weg, eine ungeplante Schwangerschaft zu beenden, und muss erkennen, dass sie in dieser »Reifeprüfung« ganz auf sich allein gestellt ist. Katja muss sich entscheiden, ob sie den Mann, den sie liebt, heiratet, obwohl er von ihr verlangt, sich seiner Karriere unterzuordnen und ihren Traumjob aufzugeben. Wie schwer sich Selbstbestimmtheit und Care-Arbeit unter einen Hut bringen lassen, erleben die Bewohnerinnen eines Mietshauses einen Abend vor Weihnachten. Mit ihrem Erzählzyklus wollte die Autorin der Stellung der Frau in der Gesellschaft literarisch nachspüren – so massiv empfand sie die Beschränkungen, gegen die sie ständig anzukämpfen hatte, und die Vorurteile, denen sie sich aufgrund ihrer selbstbewussten Lebensentscheidungen immer wieder ausgesetzt sah.

Unbekannte, noch nie in Buchform veröffentlichte Erzählungen über Frauen.

»Die komplizierten Liebesgeschichten, die Brigitte Reimann beschreibt oder selbst erlebt hat, treffen die Gefühle oder zumindest die Sehnsüchte der Leserinnen, die sich ermutigt fühlen durch die Kühnheit, mit der diese Autorin sich ihnen öffnet.« CHRISTA WOLF.

»Brigitte Reimann gelingt es, die berauschende, unmögliche Verlockung Wirklichkeit werden zu lassen: die eigenen Ideale zu leben.« THE NEW YORKER.


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Über das Buch

Schon als 14-Jährige schrieb Brigitte Reimann in dem Brief an eine Freundin: »ich will gerne Schriftsteller werden, aber nicht nur nebenbei, sondern als Hauptberuf. […] Hoffentlich wirds was!« Die in diesem Band enthaltenen Texte sind bislang unveröffentlicht oder wurden nur in Zeitungen abgedruckt. Sie zeigen den frühen Blick der Autorin für überkommene Rollenbilder und Geschlechterklischees – und wie sie sich ihnen verweigerte: Katja muss sich entscheiden, ob sie den Mann, den sie liebt, heiratet, obwohl er von ihr verlangt, sich seiner Karriere unterzuordnen und ihren Traumjob aufzugeben. Eine Schülerin sucht, wie die junge Brigitte einst selbst, nach einem Weg, eine ungeplante Schwangerschaft zu beenden ... Die Texte erzählen von den Träumen, die junge Menschen in den Anfangsjahren der DDR hatten, wie von der Kompromisslosigkeit der Autorin, wenn es darum ging, Ungerechtigkeiten anzuprangern und mit Tabus zu brechen.

Über Brigitte Reimann

Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. Ihr Roman »Die Geschwister« (1963) über die gerade vollzogene deutsche Teilung war eines der meistdiskutierten Bücher jener Zeit. Mit nur 39 Jahren starb die Autorin an den Folgen ihrer Krebserkrankung in Berlin. Ihre postum erschienenen Tagebücher »Ich bedaure nichts« und »Alles schmeckt nach Abschied« (Neuausgabe 2023) sorgten dank des unverstellten, auch gegen sich selbst unerbittlichen Blicks für Aufsehen. Ihr letztes Werk, »Franziska Linkerhand« (ungekürzte Neuausgabe 1998), gilt als einer der bedeutendsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur.

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Brigitte Reimann

Katja

Erzählungen über Frauen

Herausgegeben von Carsten Gansel

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

»Das übliche Schicksal« der Frauen

Reifeprüfung — (um 1952)

I

II

III

IV

V

VI

VII

Claudia Serva — Erzählung aus der Zeit der Sklavenaufstände in Rom – um 80 v. u. Z. – (um 1952)

Katja — Eine Liebesgeschichte aus unseren Tagen – (1953)

Zwei schreiben eine Geschichte — (1955)

Ein Stern fällt aus der Nacht — (um 1956)

Ich werde in dieser Nacht allein sein — (1956)

Bei der halben Nacht — (1961)

Von »Purzel« bis »Franziska«

Die Probe — Laienspiel in drei Aufzügen – (1948)

ERSTER AUFZUG

1. Szene

2. Szene

3. Szene

4. Szene

ZWEITER AUFZUG

1. Szene

2. Szene

3. Szene

4. Szene

DRITTER AUFZUG

1. Szene

2. Szene

3. Szene

Sonntag, den … — Briefe aus einer Stadt – (1970)

Anhang

Carsten Gansel – »Beim Thema Gleichberechtigung gehe ich auf die Barrikaden« — Brigitte Reimanns frühe Erzählungen

I

II

III

IV

Anmerkungen

Textnachweis

Impressum

»Das übliche Schicksal« der Frauen

Reifeprüfung

(um 1952)

I

Wenn die beiden, Jonas und Karla, in den Pausen über den Hof spazieren, weiß jeder, dass sie zusammengehören, obgleich sie sich nicht einmal bei den Händen halten. Nein, sie gehen ganz gelassen, in einem braven Schritt Abstand voneinander, sie kauen ihre Frühstücksbrote und unterhalten sich über Schularbeiten und Zensuren; wenn sie an der Hofmauer mit dem aufgekreideten Fußballtor angelangt sind und umkehren, erspäht der Aufmerksamste nicht den Blick aus den Augenwinkeln, zärtlicher als ein Händedruck, ein Kuss, den die beiden mit Herzklopfen in die nächste Schulstunde tragen.

Da gehen die beiden, und sie haben in zwei Jahren des Zusammengehörens den gleichen Schritt angenommen, ganz aufeinander abgestimmt, obgleich sie sich so wenig ähneln wie eine Pappel einem Brombeerstrauch.

Und dies ist Jonas: Ein drahtiger Bursche, lang und schlank wie eine Pappel, und er hat Augen wie der Teufel; wenn er lacht, werden den Mädchen die Knie weich, und sie möchten Karla die Augen auskratzen. Er lacht oft und gern und nicht nur, weil er weiß, dass er ein prachtvolles Gebiss hat, über dem man seine eingedrückte Nase vergisst. Mit seiner Nase kann er keinen Staat machen: Beim Boxen hat ihm ein rabiater Gegner das Nasenbein zerschlagen.

Karla stört das nicht, ja eigentlich hat sie sich damals gerade wegen dieser Verletzung in Jonas verliebt. Sie ist ein weichherziges Ding: als Kind hat sie Puppen mit ausgerenkten Armen und Teddybären ohne Ohren am liebsten gemocht, und Jonas, der Hunde und Katzen und anderes Kroppzeug nicht leiden kann, ärgert sich bei jedem Spaziergang mit Karla, die alle winselnden Köter streichelt und jeder auf einer Schwelle miauenden Katze die Haustür öffnet.

Wirklich, sie sind ein putziges Paar: Karla ist mindestens einen Kopf kleiner als der Freund, sie ist mollig – wohlverstanden, wo ein sechzehnjähriges Mädchen mollig sein muss –, und ihre sanften Augen schimmern schwarz wie reife Brombeeren.

Die Mädchen in der Oberschule jedenfalls finden es unbegreiflich, dass Jonas sich so treu an Karla klettet, dass er, der gesteigerten Wert legt auf Eleganz und modische Linie, nicht einmal gegen die unzeitgemäße Frisur seiner Freundin etwas einzuwenden hat; sie trägt ihre lichtbraunen Haare noch immer in zwei dicken Baumelzöpfen. Die anderen wissen ja nicht, wie stolz der Junge den hüftlangen Haarmantel Karlas bewundert, wenn er sie, bevor sie ins Theater oder zum Tanzen gehen, kämmen darf. Für solche festlichen Gelegenheiten muss sie allerdings die Zöpfe zum Knoten aufstecken, und sie sieht dann beinahe erwachsen aus.

Dies also sind die beiden, Karla Mewes und Jonas Kampe, genannt Karlchen und Jonny, die die elfte und zwölfte Klasse der Oberschule in der Stadt G. besuchen.

G. ist keine bedeutende Stadt, das muss gesagt werden; Fremde nennen sie sogar ein Nest: Sie hat knapp dreitausend Einwohner, einen verrußten Bahnhof und einen prächtigen Bahnhofspark, fünf Schulen und einen Marktplatz, auf dem früher irgendein Kaiser Wilhelm hoch zu Ross prangte; sie hat zwei romanische Kirchen und eine romantische Stadtmauer, ein halbes Dutzend Schuhfabriken, verwinkelte Gassen und einen modernen Stadtteil, der früher ›Millionenviertel‹ hieß, und – nicht zu vergessen – ein Fußballmannschaft, die in der Bezirksliga spielt und »im Kommen« ist. Kultur und Zerstreuung bieten zwei Kinos, die man andernorts bestenfalls als ›Flohkisten‹ bezeichnen würde, ein baufälliges Theaterchen, in dem einmal im Monat die Schauspieler der benachbarten großen Stadt auftreten, drei HO‑Gaststätten und eine Unzahl winziger Kneipen. –

Die Abschweifung war notwendig. In engen Straßen wachsen oft enge Anschauungen, und der Gesichtskreis mancher Menschen umschließt nur das eigene Fenster und das des Nachbarn. Die Meinung der Leute ist wichtiger Faktor bei Entscheidungen, mag es sich nun um einen modischen Sommerhut oder um eine unpassende Liebschaft handeln.

Das Oberste Gebot lautet: ›Du sollst nicht aus der Reihe tanzen!‹

Und wenn zwei junge Menschen, wie beispielsweise Jonas und Karla, unangenehm auffallen, so müssen sie den Kopf sehr hoch tragen und ihre Ellenbogen kräftig gebrauchen können, um nicht von den Klatschmäulern verschluckt zu werden …

II

Karla sitzt auf dem Fensterbrett und seufzt.

Neulich hat sie in ihr Tagebuch geschrieben: »Ich fühle mich oft so schrecklich allein. Mit Vati und Mutti ist kein Auskommen mehr, mal behandeln sie mich wie ein kleines Kind und mal wie eine Erwachsene. Man ist nicht Fisch noch Fleisch, man hängt richtig in der Luft, und sie verstehen einen gar nicht. Wenn ich allein sein will, dann stören sie mich, und wenn ich mal mitreden will, dann schicken sie mich aus dem Zimmer. Mir ist oft, als müsste ich weinen, und ich weiß nicht warum. Wenn Jonas nicht wäre …«

Das ist beileibe kein müßiges Geschwafel, sie empfindet das schmerzhaft deutlich, während sie jetzt in den kraftlosen Schneeregen starrt, der den März unleidlich macht. Der Himmel weint, und seine Trübsal steckt an, man wagt nicht an den nahen Frühling zu glauben, und überhaupt ist das Leben sehr schwer. Gleich wird die Mutter rufen, Karla soll noch Einkäufe besorgen für die blöde Teegesellschaft der Damen, die sich jeden Donnerstag bei den Mewes treffen, um sich über die chronique scandaleuse der Stadt zu verbreiten.

Das ist widerwärtig, und Karla erschrickt bei dem Gedanken, sie werde vielleicht später einmal, wenn sie mit Jonas verheiratet ist, ihre Nachmittage ebenso niederdrückend sinnlos verbringen wie die Mutter.

Die ungeduldige Stimme aus dem Speisezimmer fegt sie vom Fensterbrett, und Karla strafft sich in Erwartung des bösen Streites, der sich Tag für Tag unvermeidlich wiederholt. Wenn man sie doch endlich eigene Wege gehen ließe, ihr nicht ständig vorschriebe, wie sie sich zu benehmen, mit wem sie zu verkehren, was sie zu tun und zu lassen habe …

Widerwillig gehorchend, schlendert Karla ins Speisezimmer hinüber, wo die Mutter den Teetisch schmückt. Sie ist eine schöne, schon etwas füllige Frau mit den gleichen glänzenden, brombeerschwarzen Augen wie ihre Tochter; nur ihre intimsten Freundinnen wissen, dass sie ihr kastanienbraunes Haar sorglich färben lässt.

Sie zählt nervös eine endlose Wunschliste her, immer ist sie nervös, und es ist gefährlich, sie durch Widerspruch zu reizen. Heute wagt Karla zu streiken: Sie ist verabredet, sie denkt nicht daran, jetzt noch in die Stadt zu laufen.

Die Frau fährt auf, ihre Stimme wird scharf: »So, verabredet? Natürlich mit diesem Kampe, wie? Hundertmal habe ich dir schon gesagt, ich wünsche nicht, dass du dich mit dem so einlässt –«

Karla hockt auf einer Sessellehne und kaut auf der Unterlippe; es ist ganz zwecklos, mit der Mutter zu streiten, dennoch fragt sie aufsässig: »Was hast du bloß gegen Jonny?«

»Ich finde es im höchsten Grade unpassend, dass junge Leute derart intim miteinander verkehren. Du bringst dich und mich in schlechten Ruf, wenn ihr ewig zusammensteckt – die ganze Stadt redet schon darüber, das weißt du doch. Außerdem –«

Was es außerdem einzuwenden gibt, erfährt Karla nicht; an dieser Stelle pflegt die Mutter sich zu unterbrechen, und es verbirgt sich in diesem ›außerdem‹ eine Fülle von Andeutungen mysteriöser Gefahren, über die man mit sechzehnjährigen Kindern nicht sprechen kann.

»Wir sind schließlich keine kleinen Kinder mehr«, sagte Karla gekränkt.

»Eben …«, erwidert die Frau bedeutungsvoll, und das Mädchen wendet verlegen den Kopf ab. Wahrhaftig, sie sind, Jonas und Karla, keine kleinen Kinder mehr, das spüren sie manchmal, wenn sie allein sind und plötzlich zwischen ihnen, den Vertrauten, ein Schweigen einfällt, schwer von Heimlichkeit und unbestimmter Furcht, dass sie rascher atmen und unversehens sehr laut und albern sich gebärden.

»Überhaupt passt der junge Mann nicht in unsere Familie«, sagt die Frau abschließend. »Du wirst ja wohl gestatten, dass wir ein Wörtchen mitreden über die Leute, die du uns ins Haus bringst –«

Lieber Himmel, das ist die alte Platte, Karla hört gar nicht mehr zu; mit Herzklopfen lauscht sie zum Vorgarten hin, wo eben das Türchen klickend ins Schloss gefallen ist. Der gellende Pfiff unter den Fenstern ist Jonas’ Signal.

Strahlenden Gesichts stürzt Karla zur Tür, erst in der Diele erwischt die Mutter sie. »Du bleibst hier!«

Die sanften Augen des Mädchens funkeln, sie schreit: »Nein, ich gehe – nun erst recht!« Im gleichen Moment brennt eine Ohrfeige auf ihrer Wange, die Mutter ist selbst erschrocken.

Karla knallt die Tür zu und springt über drei Treppenstufen in den Garten und geradenwegs in Jonas’ Arme. Der lacht mit blinkenden Zähnen und drückt das Mädchen an sich. »Nicht so ungestüm, Karlchen!«

Sie nimmt seine Hand und zieht ihn rasch aus dem Garten, und jetzt entdeckt er auf ihrer linken Wange das rote Mal; er pfeift durch die Zähne. »Du hast wieder Krach gehabt?«

»Ach, Jonny …«, sagt Karla, und nun laufen ihr doch die Tränen übers Gesicht. Jonas stutzt, denn Karla ist, bei aller Empfindsamkeit, keine Heulsuse; auch berührt es ihn peinlich, dass sie auf offener Straße weint. Deshalb führt er sie nach links, wo unmittelbar hinter der Straßenecke ein Gartengelände sich erstreckt und zu dieser Jahreszeit kein Mensch ihnen begegnen wird.

»Wie du dir auch alles zu Herzen nimmst … Ich kriege auch öfter eins hinter die Ohren von meinem alten Herrn – das ist doch kein Grund zum Heulen!«

»Als wenn es bloß die Backpfeife wäre!«, klagt Karla. »Aber nein – jeden Tag dasselbe Theater: Sie wollen nicht, dass wir beide uns treffen, ich soll Schluss machen mit dir, und wenn sie wüssten, dass wir bei euch zu Hause immer allein sind, würden sie mir einen furchtbaren Skandal machen.«

»Komisch, mein Alter findet gar nichts dabei … Er sagt bloß immer: Bengel, mach mich nicht zum Großvater, ehe du mit deinem Studium fertig bist!«

Karla senkt die Lider, und Jonas’ Lachen schrumpft zu einem verlegenen Grinsen zusammen. Das Mädchen sagt leise: »Ich glaube, bei mir zu Hause haben sie auch Angst, wir würden – ich meine: wir könnten auf einmal ein Kind kriegen –«

»Quatsch, vom Küssen kriegt man doch keine Kinder«, sagt Jonas. Er ist ein bisschen heiser und räuspert sich und beobachtet angestrengt eine fette Krähe, die mit plumpem Flügelschlag, krakeelend, abstreicht.

Schweigend stapfen die beiden durch den Schneematsch, die Schrebergärten entlang des ausgefahrenen Weges starren trostlos kahl, die schwarzzackigen Äste der Obstbäume glänzen tropfnass, eine Ahnung von Tauwetter schwebt schon in der diesigen Luft.

»Sie wollen mich in eine Heimoberschule geben«, sagt Karla unvermittelt. Dem Jungen reißt es den Kopf herum. »Nein!«, ruft er, und seine hellen Augen verdunkeln sich vor Schreck und Wut. »Nein«, wiederholt er, »du darfst nicht fortgehen, was soll ich denn ohne dich anfangen?«

Er bleibt stehen, betroffen von der Vorstellung, Karlchen könne plötzlich nicht mehr da sein: Wenn er sie aus seinem Leben streicht, was bleibt dann schon für ein kläglicher Rest? Die Schule, ein paar Freunde, na schön – aber die könnten doch nie und nimmer die große Leere ausfüllen, die des Mädchens Abschied zurückließe … Jonas ist nicht sentimental, und er grübelt nicht gern über Fernliegendes, aber wie er nun das Mädchen vor sich stehen sieht unter dem bleiernen Himmel, mit schwimmenden Augen und zitterndem Kinn, da kratzt ihn etwas in der Kehle, dass er krampfhaft schlucken muss und mit einem Male die Karla umarmt und abküsst.

Als er sie endlich freigibt, sagt sie mit tiefem Atemzug: »Ich würde wegrennen, Jonny, wirklich!« Sie wirft mit energischem Ruck die Zöpfe auf den Rücken, und der Junge weiß, dass seine sanfte, weichherzige Liebste nicht Mühe noch Gefahr scheuen würde, zu ihm zurückzukehren, wo immer man sie auch einsperren möchte.

Hand in Hand wandern sie durch die wartenden Felder, und sie sind sehr einsam in dieser Welt, wo die Erwachsenen ihre eigene Jugend vergessen haben und die staubgraue Wand des Anstands aufrichten wollen zwischen zwei Liebenden, die sich küssen und zusammen Schularbeiten machen und nur zuweilen neugierig hinüberspähen in jenen von den Großen geheimnisvoll dunkel verhangenen Raum.

III

Karla versteckt ihr Buch unter dem Kopfkissen und mimt Schlaftrunkenheit, als behutsam die Zimmertür geöffnet wird.

»Schläfst du schon, Teddy?«

»Nein, Papi.« Erleichtert angelt Karla ihr Buch hervor: Papi drückt ein Auge zu, wenn sie im Bett schmökert.

Der Mann schiebt einen Stuhl heran; das ist ein schlechtes Zeichen, denn sonst setzt er sich zu Karla auf den Bettrand, wenn er abends auf ein Viertelstündchen sie besucht. Die beiden verstehen sich gut, Karla ist nicht minder stolz auf ihren großen, schlanken Vater als er auf seine hübsche Tochter. Früher hat er mit ihr Indianer gespielt und das Herrenzimmer in einen wild bunten Wigwam verwandelt; jetzt lädt er sie hin und wieder ins Café ein zu Torte und Schlagsahne, Karla muss ihr bestes Kleid anziehen, und sie geben mächtig miteinander an.

»Hör mal, ich habe mit dir zu sprechen«, sagt der Mann und zupft an seinem blonden Schnurrbart wie immer, wenn er sich eines unangenehmen Auftrages zu entledigen hat. Offensichtlich fühlt er sich nicht wohl in seiner Haut, er rutscht unruhig auf dem Stuhl herum, vergebens bemüht, den Ausdruck autoritativer Strenge in seine lustigen Blinzelaugen zu zwingen.

Nach einer Weile fragte Karla ganz ruhig: »Mutti schickt dich, stimmt’s?«

»Na ja, Teddy, du musst das doch verstehen –« Und auf einmal wettert er los: »Herrgott, ich habe ja gar nichts gegen deinen Freund, sicher ist er ein tüchtiger Kerl und wird sich schon raufarbeiten, und überhaupt ist es Quatsch, einen Menschen danach einzuschätzen, aus welcher Familie er kommt. Aber trotzdem – so geht das nicht weiter mit euch beiden! Mutti ist ernstlich besorgt, und ich muss schon sagen – also, wirklich, das geht zu weit!«

»Aber was denn nur, Papi?«, fragt Karla mit ihrem unschuldigsten Blick. Der Mann fällt prompt auf diesen Blick herein und wird unsicher, druckst herum und schickt seine Augen ratlos in eine Zimmerecke. »Du verstehst schon, was ich meine, Teddy …«, murmelt er endlich. Wenn Karla jetzt nein sagen, wenn sie beteuern würde, es sei nichts dergleichen zwischen ihr und diesem grünen Jungen – er würde ihr glauben, er wäre ja selbst froh, sie hierbehalten zu dürfen, und überhaupt hätte er dieses alberne Gespräch nicht begonnen, wenn Charlotte ihm nicht ewig in den Ohren läge, er solle nun endgültig die beiden auseinanderbringen.

Aber Karla schweigt, sie dreht den Kopf zur Wand, und der Mann sieht sie erröten bis hinter die Ohren. Er erhebt sich seufzend, es fällt ihm schwer, das Folgende zu sagen: »So leid es mir tut, Teddy – wir müssen dich in eine Heimoberschule schicken, nach W. – eher gibt Mutti doch keine Ruhe.«

Da fährt Karla herum, sie ruft verzweifelt: »Aber Papi – ich kann doch nicht weg von Jonny! Mein Gott, du bist doch auch mal jung gewesen, hast du denn keine Freundin gehabt?«

»Also, weißt du, in dem Alter haben wir uns noch nicht mit Mädchen abgegeben«, knurrt er. »Zu unserer Zeit war alles ganz anders als heute, wir sind viel strenger erzogen worden …« Auf einmal ist ihm ein Argument eingefallen, dem sich ein Mädchen gewiss nicht verschließen kann. »Bei einem jungen Mann ist das sowieso ganz anders«, sagt er. »Der kommt viel leichter über eine Liebe hinweg als ein Mädchen, und wenn wirklich –«, er stockt, räuspert sich und fährt fort, in angestrengt sachlichem Ton: »– wenn wirklich was passiert, dann trägt es dem Mann keiner nach, es heißt, er müsse sich schließlich die Hörner ablaufen. Aber das Mädchen! Die schleppt sich ihr ganzes Leben lang mit der Schande herum, und ihr guter Ruf ist ein für alle Mal hin –«

»Jonny würde mich niemals alleinlassen«, sagt Karla, und der Mann merkt, dass ihre Zuversicht durch die finstersten Drohungen nicht erschüttert werden kann. Trotzdem sagt er: »Du kennst die Männer nicht, Teddy!«

Sachte retiriert er zur Tür, er mag Auseinandersetzungen nicht, schon gar nicht über solche peinlichen Themen, und Karlas Lippen zucken verdächtig, gleich werden Tränen fließen; darum sagt er schnell und beinahe böse: »Ich habe diese Streitereien in meinem Hause satt bis obenhin. Du gehst zum ersten April nach W. –«

»Du bist ja bloß aufgehetzt von Mutti!«, schreit das Mädchen.

Da steht die Frau auf der Schwelle, sicherlich hat sie hinter der Tür gelauscht, denn ihr schönes, fülliges Gesicht glüht vor Zorn. Noch mäßigt sie sich, sie sagt sehr kalt: »Ich begreife deine Toleranz nicht, Hans. Wozu das ganze Herumgerede? Schließlich sind wir als Eltern verantwortlich, und wir dürfen nicht mit sehenden Augen unsere Tochter ins Unglück rennen lassen.«

»Man muss das dem Mädchen doch wenigstens klarmachen«, murmelt der Mann, er wirkt jetzt trotz seiner stattlichen Größe wie ein getadelter Schuljunge.

Karla beißt die Zähne übereinander. Welch ein klägliches Schauspiel! Ihr bewunderter Vater lässt sich abkanzeln – er, der sich im Geschäft abplackt, um Geld genug herbeizuschaffen für seine verwöhnte Frau, die den ihr gemäßen Rahmen braucht … Wie Karla den verweisenden Blick der Mutter auffängt und das resignierte Achselzucken des Vaters, vergisst sie ihre gute Erziehung und vergisst, dass man sie gelehrt hat, man dürfe seine Eltern nicht kritisieren; sie sagt heftig: »Du lässt dir alles gefallen, Papi – dabei ist Mutti abhängig von dir!«

Mit dieser Unverschämtheit hat sie Öl ins Feuer gegossen, und die Mienen der Eltern belehren sie, dass sie nun endgültig verspielt hat.

»Da hast du es! Das ist der Umgang mit diesem Bengel, dem Kampe«, sagt die Mutter. »Er verdirbt Karla in Grund und Boden, sie ist ein richtiger Widerspruchsgeist geworden, wer weiß, was er noch alles mit ihr anstellen wird.« Ihre Empörung schlägt in Jammer um, sie klagt: »Wir sind schon in aller Leute Munde –«

Der Vater zerrt fahrig an seinem Schnurrbart. In seiner Position als Bankleiter hat er schließlich gewisse Rücksichten zu nehmen; er strafft sich und sagt energisch: »Also, es bleibt dabei: Am ersten April verlässt du das Haus.«

Karla liegt mit verpressten Lippen, unter der Bettdecke drückt sie die Fingernägel in die Handfläche, um nicht laut herauszuschreien, aber sie ist tief erblasst. Der Mann tut einen raschen Schritt vorwärts und streicht Karla übers Haar. »Na, Teddy …«, sagt er, und es soll recht munter klingen – da wirft das Mädchen den Kopf herum, und in ihren brombeerschwarzen Augen springt ein Funke Hass auf, dass der Mann hastig die Hand zurückzieht.

Vielleicht spürt er in diesem Moment zum ersten Male die Kluft, die ihn von der Tochter trennt, bislang schwach überbrückt durch wohlwollende Scherze und Café-Einladungen. Er möchte gern noch etwas Tröstendes sagen, doch spiegelt das Gesicht des Mädchens so sichtbar Widerwillen und Ablehnung, dass er sich rasch umdreht und das Zimmer verlässt. Er hält sich nicht so aufrecht wie gewöhnlich, und sein Gang ist ein wenig schwerfälliger, als laste auf seinen Schultern das Bewusstwerden der Stunde, in der Eltern erkennen müssen, dass ihre Kinder einen eigenen Weg einschlagen, sich empörend gegen den gutgemeinten Zwang der ihnen nächsten Menschen.

IV

Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, drückt Karla laut schluchzend den Kopf ins Kissen. Keine drei Wochen gönnen sie ihr mehr – dann muss sie Jonas Lebewohl sagen; sie darf das nicht zu Ende denken: Es ist, als werde ihr das Herz aus der Brust gerissen, sie wird sterben, wenn sie nicht mehr eine Luft atmen darf mit ihm. Sie braucht sich nur seinen Mund vorzustellen und seine tollen Augen, so verdichtet sich ihre Sehnsucht zu einem feinen, ziehenden Schmerz in Brust und Leib.

Und dann wird das Verlangen nach Trost, nach der Wärme von Jonas’ Händen und seinen Küssen so heftig, dass es ihre Furcht besiegt. Sie steigt aus dem Bett, kleidet sich an und schiebt den Fensterriegel zurück. Sie lauscht zum Herrenzimmer hin, wo das Radio lärmt, und springt aus dem Fenster.

Schneidend kalter Wind hat den Himmel von Wolken blankgefegt, der Mond schwimmt in milchigem Dunstkreis. Der Schneematsch ist gefroren, und unsicher tappt das Mädchen über die Gartenbeete. Erst als sie die Tür behutsam aufgeklinkt hat, beginnt ihr Herz zu toben, und sie hetzt die Straße hinab, durch die Stadt, und verschnauft erst vor Jonas’ Haus.

Nun steht sie vor der Haustür, zitternd vor Kälte, und ihr Mut fällt jämmerlich in sich zusammen; was soll Jonnys Vater sagen, wenn sie den Jungen zu so später Abendstunde noch besucht? Er ist ein umgänglicher Mann, gewiss, ein bisschen grob und geradezu; wenn er einen Schwips hat, klappst er sie auf den Popo und bietet ihr Zigaretten an und sagt du zu ihr – kurzum, er mag sie gut leiden. Dennoch, Väter entpuppen sich zuweilen als merkwürdig unberechenbar, und man weiß nie, welcher Laune sie gerade sind.

Wohl eine halbe Stunde trippelt Karla vor der Tür herum und wagt nicht zu klingeln, der Frost kriecht durch ihren Mantel und beißt sie in die Haut, und sie fühlt sich so grenzenlos allein und verlassen, dass sie sich auf die Schwelle kauern und laut weinen möchte.

Zu Hause aber ist es ja noch viel schlimmer, und endlich überwindet sie sich. Das wilde Gepolter auf der Treppe kennt sie, so jagt nur Jonas hinunter, immer gleich drei Stufen auf einmal überspringend.

Es verschlägt ihm die Sprache, als er die Freundin erkennt. Sie fällt ihm um den Hals, aber als er sie ins Haus ziehen will, wehrt sie ab. »Dein Vater –«

»Unsinn«, sagt Jonas. »Der kloppt Skat bei Fetzers, da kommt er vor Mitternacht nicht nach Hause.«

Nun ist es freilich noch unschicklicher, zu dieser Zeit mit dem Jungen allein im Hause zu sein, aber Karla ist jetzt sowieso alles gleichgültig. Im Wohnzimmer hilft Jonas ihr aus Mantel und Handschuhen. »Karlchen, Liebling, du bist ja eiskalt.«

Sie muss sich auf die Couch legen und wird in eine Decke gebündelt, dass nur eben noch die Nasenspitze hervorlugt. Trotzdem klappert sie mit den Zähnen, und Jonas sagt lachend: »Ich werde dich schon wärmen, du Frostkatze.« Er wickelt sie wieder aus und legt sich zu ihr, er schiebt den Arm unter ihren Nacken, und ihre erstarrten Hände schlüpfen unter sein aufgeknöpftes Hemd und wärmen sich an seiner nackten Brust.

Den Kopf an seine Schulter gebettet, erzählt Karla; allein das Dasein des Freundes lässt sie die Szene in ihrem Zimmer in freundlicherem Lichte erscheinen als vorhin, als sie frierend vor der Haustür herumgetrippelt ist. Jonas meint denn auch, freilich eine Spur zu leichtfertig: »Ich glaub’s einfach nicht. Sie haben dich doch lieb, Karlchen!«

»Aber ihre Angst vor den Leuten ist eben doch noch größer als ihre Liebe zu mir«, beharrt Karla. Jonas weiß nur zu gut, dass Karla recht hat, ist ihm doch schon vor geraumer Zeit das Haus der Mewes verboten worden. Trotzdem versucht er seine Sorgen hinwegzulachen, er denkt, man müsse alles an sich herankommen lassen, dann werde sich schon ein Ausweg finden.

Heute indes zeigt sich Karla seinen Trostgründen nicht zugänglich. Sie richtet sich auf und sieht ihm ins Gesicht, und unter ihrem vorwurfsvollen Blick stehlen sich seine frechen grünen Augen verlegen blinzelnd an Karla vorüber. Die fragt: »Würde es dir denn nicht weh tun, wenn wir nicht mehr zusammen sein dürften?«

»Doch, Karlchen«, sagt er leise. »Ich würde niemals ein anderes Mädchen angucken, ich habe dich so lieb wie keinen anderen Menschen auf der Welt …«

Nachdenklich wickelt sie ein Büschel seines krausen blonden Haares um ihren Zeigefinger, sie sagt bedrückt: »Kannst du verstehen, dass ich die zu Hause manchmal richtig hasse? Das ist doch eine Sünde … Aber warum machen sie uns das Leben so schwer? Dabei haben wir doch gar nichts Böses getan …«

Der Junge zieht die Unterlippe zwischen die Zähne. Nach einer Weile sagt er, und er blickt Karla dabei nicht an: »Glaubst du wirklich, dass es etwas Böses ist – wenn man sich lieb hat?«

»Mutti sagt, es ist unmoralisch und unanständig –«

»Aber die Erwachsenen tun es alle, dafür heiraten sie doch bloß, und dann findet es kein Mensch unanständig … Mein Vater hat auch eine Freundin, zu der geht er immer hin, und denkst du, die unterhalten sich bloß über ihren Betrieb? Nein, du, ich weiß schon, was die beiden machen –«

Sie liegen nun wieder nebeneinander, ängstlich bemüht, einander nicht zu berühren; sie starren, Kopf im Nacken, zur Zimmerdecke hinauf und sprechen plötzlich nur noch im Flüsterton, als formten die scheuen Gedanken sich nur widerwillig zu Worten, die selbst für das Ohr des nächsten, vertrautesten Menschen zu gewagt scheinen.

»Hast du dir schon einmal vorgestellt, wie das ist, wenn ich dich – nicht bloß küsse?«

»Nein.« Karla lügt, und sie verbessert sich zögernd: »Doch. Ein bisschen. Ich habe schreckliche Angst davor.«

»Du brauchst keine Angst zu haben, Karla. Es muss sehr schön sein – sonst würden doch die Dichter nicht so viel davon hermachen …«

Stille. Wie sich jetzt ihre Hände zufällig berühren, zucken die beiden scharf zusammen und rücken noch weiter auseinander.

»Ich könnte keinem Menschen mehr in die Augen sehen«, flüstert Karla.

Jonas stützt sich auf den Ellenbogen und blickt auf das Mädchen hinab, er sagt: »Du bist wunderschön. Dein Mund ist rot wie eine Mohnblume.« Er küsst sie. Ihre Gesichter glühen, Karla drängt den Jungen zurück. »Bitte, nicht …«

Seine Hand streift ihre Brust, und sie beginnen beide zu zittern. »Wenn ich dich aber sehr, sehr darum bitte?«, fragt Jonas.

Das Mädchen schüttelt heftig den Kopf und weiß nicht wohin schauen vor Scham. Der Junge ist ihr so nahe, dass sie seinen flatternden Herzschlag spürt, und sie, die in schwärmerischer Liebe ihm niemals einen Wunsch verweigert hat, entsetzt sich vor seinen flimmernd grünen, jäh verdunkelten Augen. Sie weiß ja nicht, dass ihre eigenen Züge sich verwandelt haben und dem Jungen ihre Schwäche verraten, obgleich der noch nicht diesen Ausdruck eines Mädchengesichtes kennt.

Ihre Küsse werden tiefer und glühender. »Soll ich das Licht ausmachen?«, fragt Jonas, und seine Stimme ist verpresst und ohne Atem.

»Nein«, sagt Karla. »Doch.« Und der Junge löscht das Licht.

Sie wissen nichts von der Liebe zwischen Mann und Frau. Sie haben Bücher gelesen, die in romantischer Verklärung ihnen die Reinheit liebender Seelen preisen und das mystisch Wunderbare einer Umarmung; sie haben auch Bücher gelesen, die sehr offen, sehr detailliert ein erotisches Vorspiel schildern und dann, wenn es endlich so weit ist, drei Pünktchen bringen statt des Erwarteten.

Sie haben hier und da bösartige Witze Erwachsener belauscht und dunkle Andeutungen älterer Kameraden. Niemand jedoch hat sie bei der Hand genommen und ihnen verständnisvoll und sachlich, ohne Beschönigung und Umschweife, erklärt: So und so ist das, dies dürft ihr tun, und vor jenem müsst ihr euch hüten; ihr seid gesunde junge Menschen, und die Natur kennt keine Sünde.

Nein, es hat sich niemand gefunden, ihnen dies zu sagen, weder Eltern noch Lehrer. So lassen die beiden sich willig leiten von ihrem natürlichen Empfinden, und sie werden, was man ihnen zaghaft verschwieg, später erst erkennen und begreifen lernen. Dann ist es freilich für manchen jungen Menschen schon zu spät.

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