Das Haus am Walchensee - Sophie Oliver - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Haus am Walchensee E-Book

Sophie Oliver

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seen-Sucht: ein idyllisches Fleckchen am Wasser und das Glück der Familie  Es ist viele Jahre her, seitdem Freya Siebert zuletzt am Walchensee war. Es überrascht sie, wie der Anblick des türkisfarbenen Gewässers und der Berge ihr Herz freudig höherschlagen lässt. Denn die Erinnerung an das malerische Voralpenland in Oberbayern ist auch schmerzlich. Das alte Gasthaus der Familie mit eigener Fischerei war der ganze Stolz ihres Vaters. Jetzt steht sie gemeinsam mit ihrem Bruder Niklas an seinem Grab. Wenn ihr Traditionshaus am See eine Zukunft haben soll, müssen sie die Vergangenheit loslassen.  Wird Freya hier wirklich wieder eine Heimat finden? Glitzernde Wellen und die Sehnsucht nach Glück: der erste Band der Walchensee-Reihe von Sophie Oliver

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 420

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophie Oliver

Das Haus am Walchensee

Neuanfang in Traumlage

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Als ihr Vater stirbt, kehrt Freya Siebert nach vielen Jahren zurück an den Walchensee. Mit dem See verbindet sie gemischte Gefühle. Die frühe Trennung der Eltern führte dazu, dass ihre Mutter mit ihr nach Stockholm zog. Ihren Halbbruder Niklas kennt sie kaum. Es überrascht sie, wie der Anblick des türkisfarbenen Gewässers und der Berge ihr Herz freudig höherschlagen lässt. 

Doch die Testamentseröffnung ist ein Schock. Nur wenn Niklas und sie gemeinsam das Familienunternehmen führen, geht es mit dem Gasthaus und der Fischräucherei weiter. Sonst entfällt ihr Erbe.

Will Freya ihr Leben in Schweden wirklich aufgeben? Und kann Niklas ihr vertrauen? Schließlich flirtet seine Schwester schon bald unbefangen mit Jonas Hirschberg, dem Sohn der Besitzer des protzigen Sporthotels. Wenn ihr Traditionshaus am See eine Zukunft haben soll, müssen die Geschwister die Vergangenheit loslassen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Geboren und aufgewachsen in Bayern, verließ Sophie Oliver nach dem Abitur ihre Heimat, um zu studieren und die Welt zu erkunden. Mittlerweile ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und lebt mit Familie und Hund auf dem Land. Ihre Neugierde auf das Leben drückt sie in ihren Romanen aus. Die Autorin ist auf Facebook und Instagram aktiv (booksandzuckerl).

Bereits in vorchristlicher Zeit galt der Walchensee als Schicksalssee, als ebenso wunderschön wie unerbittlich. Bis in die Neuzeit glaubten die Menschen, er wäre bodenlos und stünde mit den Weltmeeren in Verbindung. Vermeintlich bewiesen wurde dies durch das schwere Erdbeben von Lissabon am Allerheiligentag des Jahres 1755, denn zeitgleich begann der Walchensee hohe Wellen zu werfen, zu tosen und zu brodeln und brachte manch einen Fischer in Not.

Lange wurde erzählt, dass im Walchensee eine Sintflut entstünde, falls die Bayern ihre Gottesfürchtigkeit verlören. Und diese Welle würde sich über das ganze Land ergießen, auch München mit sich fortreißen und am Fuße der Alpen bliebe an Stelle des Bayernlandes nichts als eine riesige Wasserfläche zurück.

Weil sogar die Münchner davor Angst hatten, wurden viele Jahre lang in der Gruftkirche Messen gelesen, um diesen grausigen Untergang zu verhindern.

Quellen: Sagen und Legenden um Tölzer Land und Isarwinkel, Gisela Schinzel-Penth, Ambro Lacus Buch- und Bildverlag 2016 sowie Sagen aus dem Isarwinkel, Willibald Schmidt, Bad Tölz, 1936, 1979.

1Freya

»Wieso will er alles der Kirche hinterlassen? Die hat ihn doch überhaupt nicht interessiert! Und den Pfarrer konnte er nicht mal leiden.«

Die aufgebrachte Stimme ihres Bruders drang laut an Freya Sieberts Ohr. Niklas saß neben ihr an einem Besprechungstisch im Büro des Anwalts, der das Testament ihres Vaters verlas. Zuvor hatte eine Sekretärin Kaffee gebracht und die Tassen mit einem derart lauten Klirren auf der gläsernen Tischplatte abgestellt, dass es sich anfühlte, als würden Freya Dolche ins Hirn gestoßen. Ihre Kopfschmerzen waren unerträglich. Erst am Vortag war sie aus Stockholm angereist und hatte eine schlaflose Nacht in einem Elternhaus verbracht, das ihr völlig fremd geworden war.

»Du verstehst das falsch, Niklas«, erklärte Dr. Hubert Schneider, Rechtsanwalt und Freund der Familie Siebert, in geduldigem Tonfall. »Schau, euer Vater hat lediglich verfügt, dass sein Erbe dann an die Kirche fällt, wenn du und deine Schwester das Geschäft nicht gemeinsam weiterführt und es innerhalb der nächsten zwei Jahre verkauft. Er möchte also, dass alles in der Familie bleibt. Somit gehört es selbstverständlich euch beiden – vorausgesetzt, ihr betreibt es in seinem Sinne.«

»Das ist unmöglich«, protestierte Niklas. »Freya ist vor fast zwanzig Jahren weggezogen, sie hat keine Ahnung, was es heißt, einen Gasthof zu leiten. Von der Fischerei auf dem Walchensee fange ich gar nicht erst an.«

»Können Sie mir die Bedingungen bitte noch einmal im Detail erklären, Herr Doktor Schneider?«, bat Freya ruhig. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war sie mit dem Anwalt nicht per Du. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, dass er ein Freund ihres Vaters gewesen war. Allerdings hatte sie Walchensee bereits als Neunjährige verlassen, und so war es ihr kaum möglich, Gesichter von damals wiederzuerkennen.

Im Ort am Ufer des gleichnamigen Sees kannte jeder jeden und bei ihrer Ankunft tags zuvor – über die offenbar alle Bescheid wussten –, hatten sie zahlreiche Leute begrüßt, an die sie keinerlei Erinnerung besaß. Sogar der eigene Bruder erschien ihr fremd. Überhaupt kam sie sich in der Kulisse der überwältigend malerischen Bergwelt vor wie eine Statistin in einem kitschigen Heimatfilm. Der Kontrast zum gewohnten schwedischen Minimalismus konnte nicht größer sein. Alles am und in Walchensee war üppig. Das türkise Wasser des Sees, die blühenden Wiesen, das satte Grün der Bäume, die prächtigen Berge, die Lüftlmalereien an den Häusern samt ihren überquellenden Blumenkästen. Freya fühlte sich überfordert. Vielleicht lag es auch an den Kopfschmerzen, dass die bunte Pracht sie derart mitnahm. Oder an der Testamentseröffnung.

Doktor Schneider kam Freyas Bitte um Erklärung nach, und als sie sich nun mit aller Anstrengung auf seine Worte konzentrierte, begriff sie, weshalb Niklas sich aufregte. Über seinen Tod hinaus verlangte der Vater Unmögliches von ihnen. Nicht alles, was zerbrochen war, ließ sich wieder kitten. Wollte der verstorbene Johannes Siebert seine Kinder tatsächlich mit aller Macht jetzt wieder zusammenführen? Weshalb hatte er sich zu Lebzeiten nicht darum bemüht? Freya straffte die Schultern, das mussten sie nicht vor dem Anwalt diskutieren.

Als er mit seinen Ausführungen fertig war, stand Freya auf. »Danke, wir werden alles besprechen und geben Ihnen dann Bescheid. Wir brauchen ein wenig Zeit.«

»Natürlich, das verstehe ich. Überlegt es euch in Ruhe.«

»Da wird es nicht viel zu überlegen geben«, brummte Niklas und erhob sich ebenfalls. »Danke Hubert, wir melden uns wieder bei dir. Den Schock müssen wir erst mal verdauen.«

Draußen sahen sich die Geschwister unschlüssig an.

»Willst du auf den Friedhof?«, fragte Niklas. Die Kanzlei befand sich in einem Haus an der Hauptstraße, die durch den langgestreckten Ort hindurchführte. Ganz in der Nähe jener Sankt-Jakob-Kirche, von der im Testament die Rede war.

»Ja«, sagte Freya. »Es gibt keinen Grund, es noch länger hinauszuschieben. Irgendwann muss ich es hinter mich bringen. Nachdem ich es nicht rechtzeitig zur Beerdigung geschafft habe …«

»Sei froh, dass dir das erspart geblieben ist. Es hat geregnet wie aus Kübeln, trotzdem ist das ganze Dorf aufmarschiert.«

»Tut mir leid, dass du da allein durchmusstest.«

Er zuckte mit den Schultern.

Die ringsum steil aufragenden Berge erlaubten keine große Ausdehnung der Siedlungen vom Ufer weg, daher lag das Dorf Walchensee lang und schmal entlang des Wassers. Getrennt durch die Uferstraße, lagen zur einen Seite Bootshäuser und Badestrände, zur anderen Gasthöfe, Läden, Pensionen und, leicht erhöht, die alte Ortskirche mit ihrem kleinen Friedhof.

Längst gab es eine neue Kirche etwas außerhalb. Aber die alteingesessenen Familien wurden nach wie vor hier beigesetzt, so wie es immer schon gewesen war. Das schmiedeeiserne Tor quietschte in den Angeln und der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als die Geschwister den Friedhof betraten und vorbei an Granitplatten und Holzkreuzen den Weg bis zum Ende entlangliefen. Die Sieberts hatten ihr Familiengrab an der Friedhofsmauer. Ein schlichter, ins Mauerwerk eingelassener Stein, auf dem die frisch angebrachten Lettern golden schimmerten. Johannes Siebert. Freya schluckte. Den Namen des Vaters dort zu lesen, bedeutete eine Endgültigkeit, die schmerzte. Sie blinzelte und betrachtete die Blumenkränze auf der frisch aufgeschütteten Erde. Unserem langjährigen Mitglied,in stillem Gedenken und Abschied in Dankbarkeit, las sie die letzten Grüße von Feuerwehr, Stockschützen und Blaskapelle auf den Trauerschleifen. Wie die meisten Männer im Ort war der Vater in mehreren Vereinen gewesen. Deine Kinder, stand auf der von Niklas und Freya.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich zu spät gekommen bin«, murmelte sie mit erstickter Stimme.

»Dein Flug wurde gecancelt. Da kann man eben nichts machen. Ich glaube, es hat sowieso keiner wirklich mit dir gerechnet.«

Diese Spitze tat weh.

»Wie war Papa in seinen letzten Tagen? Ging es ihm schlecht?«

»Überhaupt nicht, das ist ja das Seltsame. Er war aktiv wie immer, ist zum Fischen auf den See rausgefahren und hat sich sogar im Stand-up-Paddling versucht, was bei den Touristen momentan der Renner ist. Der Arzt hat gesagt, es war ein heftiger Herzinfarkt, mitten in der Nacht. Papa ist wohl nicht mal aufgewacht und hat nichts gemerkt. Das rede ich mir jedenfalls ein.«

Niklas, ihr großer, breitschultriger Bruder, der ihr als Kind immer vorgekommen war wie der stärkste Junge der Welt, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Auch Freya konnte die Tränen nicht zurückhalten, was sie überraschte. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr das so nahegehen würde, und überhaupt hatte sie sich vorgenommen, der Situation erwachsen und distanziert zu begegnen. Aber der Tod des Vaters berührte sie in diesem Augenblick zutiefst. Entfremdet oder nicht, sie war seine Tochter, und er würde immer ein Teil von ihr sein. Zumindest die Erinnerungen an ihn, die sie aus Kindertagen herübergerettet hatte. Die wichtigen. Wie er in der Küche stand, ihr etwas kochte und dabei Geschichten erzählte. Oder wie er sie auf seinen Schultern trug, weil sie nicht mehr laufen wollte – was in den Bergen oftmals der Fall gewesen war. Nie war er bei Wanderungen ungeduldig geworden, er hatte sie einfach hochgehoben und getragen. Ganz bestimmt hatte er sie geliebt. So wie sie ihn auch, vor langer Zeit.

Als ein frischer Wind aufkam, räusperte sie sich und kramte ein Taschentuch hervor.

»Der hatte anscheinend drei Frauen«, konstatierte Freya und deutete auf das Grab daneben, um das Thema zu wechseln.

»Stimmt. Der Rossbauer und seine drei Bäuerinnen. Das ist interessant.« Niklas richtete seinen Blick auf den Namen des Mannes. »Eine alte Familie, mit einem großen Hof. Die erste Frau ist im Kindbett gestorben, ihre Nachfolgerin auch, sogar zusammen mit dem Kind, und die dritte hat den Bauern um zwanzig Jahre überlebt.«

»Wie unberechenbar das Leben ist«, sinnierte Freya.

 

Freyas Elternhaus befand sich auf halbem Weg zwischen dem Ortsrand von Walchensee und der weit in den See hineinragenden Halbinsel Zwergern. Es war ein hübsches altes Holzhaus mit Fensterläden, umlaufendem Balkon, großem Garten, Seezugang sowie einem eigenen Anlegesteg. Schon als sie noch Kinder gewesen waren, hatte der Vater ihnen immer wieder eingeschärft: »Egal was passiert, unser Grundstück wird auf keinen Fall verkauft. So was kriegt man niemals wieder.« Freya war so lange nicht mehr hier gewesen, und nun holten sie all die Erinnerungen ein.

»Die Geier kreisen schon«, bemerkte Niklas, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er parkte den Wagen auf dem Kiesplatz vor dem Haus, der auch für die Gäste bestimmt war. Weiter hinten gab es einen Schuppen, der sowohl als Werkstatt als auch als Garage diente. »Seitdem Papa gestorben ist, habe ich schon acht Anfragen von Investoren bekommen.« Er schnaubte verächtlich. »Hauptsächlich aus München. Wieso die meinen, hier gäbe es was zu holen, ist mir schleierhaft. Aber sogar bei Onkel Georg haben sie schon angeklopft. Dem gehört die Wiese nebenan, wie du weißt. Unangenehm, diese Immobilienhaie.«

»Unser Grundstück kriegen die niemals, darin sind wir uns zumindest einig. An Onkel Georg erinnere ich mich übrigens gut. Wortkarg, aber lieb. Und an unsere Cousine Lena, die ist doch so alt wie ich. Wie geht es ihr?«

»Gut. Sie feiert bald ihren Dreißigsten. Du ja auch.« Vom Parkplatz aus liefen sie über einen mit Steinplatten ausgelegten Weg zum Haus. Er war auf beiden Seiten von niedrigem Buschwerk gesäumt, das dringend getrimmt werden musste.

Früher hatte es die Geschwister nie gestört, dass sich im Erdgeschoss ihres Zuhauses eine Gaststube und eine große Küche befanden. Dass draußen auf dem Rasen an Tischen und Bänken Gäste bewirtet wurden, während sich das Familienleben im ersten Stockwerk abspielte. So war es eben. Oft hatte Freya auf dem Balkon durch die Aussparungen im hölzernen Brüstungsgeländer geschaut und die Leute unten beobachtet, wie sie trinkend, essend und plaudernd in ihrem Garten saßen. In den Sommermonaten hatte der Vater auf einem Grill Würste, Fleisch und Fisch gebraten, was bei den Gästen gut angekommen war. Mutters Waldmeisterbowle war besonders beliebt gewesen.

Freya verschränkte die Arme vor der Brust und sah hinauf zum Balkon. »Hatten wir es als Kinder nicht gut miteinander? Bis …« Sie verstummte.

»Bis es schlagartig vorbei war und deine Mutter dich mit nach Schweden genommen hat.«

»Hat Papa dir erklärt, warum sie sich getrennt haben?«

Kopfschüttelnd zuckte Niklas mit den Schultern. »Du weißt doch, wie er war. Er hat nie darüber geredet, wie es in ihm aussah. Er war verstockt. Ich vermute, sie waren zu verschieden und haben irgendwann aufgehört, einander zu lieben.«

»Meinst du nicht, es war wegen …? Du weißt schon.«

»Nein. Erinnerst du dich nicht daran, wie sie dauernd gestritten haben?«

Doch, natürlich, wie sollte sie das jemals vergessen?

»Am Ende konnten sie kein vernünftiges Wort mehr miteinander wechseln«, fuhr Niklas fort. »Was ich nicht verstehe, ist, warum sie uns auseinandergerissen haben. Wie einen Wurf Hunde, bei dem sich jeder einfach einen Welpen aussucht.«

Die Worte trafen Freya in ihrer schonungslosen Offenheit. Tatsächlich hatte damals niemand die Kinder gefragt, bei wem sie gern bleiben würden. Freyas schwedische Mutter war mit der Tochter zurück in ihre Heimatstadt Stockholm gezogen – mit einer Bitterkeit im Herzen, die dem Mädchen Angst gemacht hatte. Niklas war beim Vater geblieben. Er war Freyas Halbbruder, stammte aus der ersten Ehe von Johannes Siebert. Wahrscheinlich hatten die Eltern deshalb keine Skrupel gehabt, sie aufzuteilen.

»Die haben alles über unsere Köpfe hinweg verfügt. Du warst neun und ich zwölf, niemand hat uns ernst genommen. Von wegen, ›ihr könnt euch ja regelmäßig besuchen‹. Papa war jeden Sommer traurig, wenn deine Mutter wieder in allerletzter Minute angerufen hat, um zu sagen, dass du doch nicht kommst. Immer unter irgendeinem Vorwand. Und wenn ich zu dir nach Schweden fahren wollte, hat auch immer irgendwas nicht gepasst.«

In der Tat konnte Freya die gemeinsam verbrachten Ferien an einer Hand abzählen. Kein Wunder, dass sie einander fremd geworden waren. In manchen Jahren hatten sie sich gar nicht gesehen. Trotzdem war Niklas immer in Freyas Herzen geblieben. Mehr noch als am Vater hing sie an ihm. Die Geschwister hatten sich Briefe geschrieben, später E-Mails und auch über Telefon und WhatsApp hielten sie Kontakt. Doch nichts konnte eine persönliche Begegnung ersetzen. Gemeinsame Mahlzeiten am großen Tisch, Spieleabende, Balgen und Kuscheln auf der Couch. Die Innigkeit, die in einer Familie bestand, fehlte. Im Lauf der Jahre hatten sie einander immer weniger zu sagen gehabt, ihre Gespräche waren kürzer geworden, seltener, bis sie kaum noch stattgefunden hatten.

»Wenn man klein ist, hinterfragt man nichts«, meinte Freya leise. »Das kommt erst später.«

Niklas seufzte. »Erst dann, wenn man eigene Interessen entwickelt und selbständiger wird. Was wiederum dazu führt, dass man sich mit der Situation arrangiert und den Mund hält, um möglichst reibungslos mit den Eltern leben zu können, jedenfalls hab ich das so gemacht. Hätten wir aufmüpfiger sein sollen?«

Möglicherweise hätten sie sich weniger entfremdet, wenn sie mehr gemeinsame Zeit eingefordert hätten. Aber was geschehen war, ließ sich nun nicht mehr ändern. Die getrennt verbrachte Zeit, so weit voneinander entfernt und in so unterschiedlichen Umständen, hatte zwischen den Geschwistern einen Graben aufgerissen, der nicht einfach zu überbrücken war. Niklas hatte nach seinem Schulabschluss einige Jahre in München gewohnt. Seine Schwester hatte ihn nie gefragt, warum er sein BWL-Studium nach vier Semestern abgebrochen hatte und wieder an den Walchensee zurückgekehrt war. Ebenso wenig hatte er Freya gefragt, weshalb sie auch nach Erreichen ihrer Volljährigkeit in Stockholm geblieben war, wo sie doch frei gewesen wäre, dorthin zu gehen, wohin sie wollte. Aber wie hätte sie die Mutter verlassen können, die ihre Tochter immer gebraucht hatte? Zuerst, weil sie sich ohne Freya allein gefühlt hatte, später, weil ihre Gesundheit nachließ. So hatten die Geschwister unabhängig voneinander ihre eigenen Leben geführt. Nun mussten sie gemeinsame Entscheidungen treffen. Zumindest verlangte das der verstorbene Vater von ihnen. Das hatten sie beide so nicht erwartet.

Sie gingen hinunter zum See und auf den Steg, setzten sich an dessen Ende und ließen die Beine baumeln.

»Schau uns an. Jetzt stehen wir da, mit einem Testament, das an eine Auflage gebunden ist, die wir beide nicht erfüllen wollen.«

Freya dachte über die Worte des Bruders nach. Stimmte das? Wollte sie wirklich nicht versuchen, gemeinsam mit ihm das Gasthaus zu führen? Wenn sie ehrlich war, war sie sich da nicht so sicher. Niklas hatte beim Anwalt zwar getan, als wäre es gänzlich undenkbar, aber doch nur, weil sie keine Gastronomieerfahrung hatte. Und wie schwierig konnte es sein, ein paar Gäste zu bewirten? Sie warf einen Blick zurück. Der Garten sah nicht gerade ansprechend aus. Unkraut wucherte in den Blumenbeeten, und der Rasen musste dringend gemäht werden. Die Balkonkästen waren leer, obwohl im Ort schon alles blühte und spross. Und von der alten rot lackierten Bestuhlung blätterte die Farbe.

»Es läuft nicht gut, oder?«

Niklas schüttelte den Kopf. »Papa hat seit Jahren nichts mehr renoviert. Aber an mich übergeben wollte er auch nicht, er hat einfach weiter vor sich hin gewurschtelt. Um alles wieder in Schwung zu bringen, müsste man richtig investieren.«

»Und das geht nicht?«

»Viel Bargeld hat er nicht hinterlassen, um es mal vorsichtig auszudrücken.«

Freya blickte auf den See. Auf der rechten Seite am Ufer der Halbinsel standen die Zelte und Wohnwagen eines Campingplatzes. Zahlreiche Paddleboards lagen auf dem Kiesstrand. War das Wasser warm genug, um sich hinauszuwagen? Oder war der Enthusiasmus der Sportler so groß, dass sie sich von den kühlen Temperaturen nicht abschrecken ließen? Wobei man sich beim Walchensee ohnehin damit abfinden musste, dass das Wasser immer kälter war, als die Luft erwarten ließ. Zur Linken sah Freya bunt dahingetupft die Gebäude des Ortes. Eine Reihe hölzerner Bootshäuschen säumte das Ufer. An die erinnerte sie sich gut. Sie waren dunkelbraun gestrichen, mit einer großen Öffnung zum See hin und roten Dächern, und sie beherbergten schlanke Ruderboote, meist zwei bis vier. Neben den Häuschen lagen kleine Segelboote vertäut. Nichts schien sich verändert zu haben. Über die Weite des türkisfarbenen Wassers, das an die Karibik erinnerte, glitt Freyas Blick bis hinüber zum Herzogstand, dem Hausberg des Walchensees, der ihn mit seinen gut 1700 Metern elegant überragte. Es gab kein schöneres Fleckchen auf der Erde. Dieser Gedanke, der ihr so unvermittelt und mit voller Gewissheit in den Sinn gekommen war, überraschte Freya und erschreckte sie gleichermaßen. Fischerfleck hatte einer ihrer Vorfahren die Stelle genannt, an der das Haus ihres Vaters stand. Der Gasthof hieß bis heute so. War es möglich, dass sie sich trotz ihrer langen Abwesenheit hier zu Hause fühlte? Die Kopfschmerzen waren jedenfalls wie weggeblasen. Ein warmes Prickeln breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie legte die Handflächen auf das raue Holz des Stegs, als müsse sie sich versichern, tatsächlich da zu sein, und nicht in einem Traum.

»Ich persönlich werde alles dafür tun, um den Fischerfleck weiterzuführen«, versicherte Niklas bestimmt.

»Aber wie willst du das machen? Alleine darfst du das laut Testament nicht.«

»Ja, das ist ein Problem.«

 

Vor dem Zubettgehen öffnete Freya beide Flügel des Sprossenfensters in ihrem Zimmer. Es war dasselbe Zimmer, in dem sie als kleines Mädchen gewohnt hatte. Das Bauernbett aus massiver Kiefer mit geschwungenem Kopf- und Fußteil auf ziemlich hohen Beinen stammte von einem Vorfahren der Sieberts. Mit großer Freude hatte sie festgestellt, dass es immer noch da war. Ebenso der bunt bemalte Bauernschrank und die dazu passende Truhe. Sie hatte gar nicht geahnt, wie viel ihr dieses Zimmer bedeutete.

Die Erleichterung war allmählich einem wohligen Gefühl gewichen.

Jetzt stand Freya mit ausgebreiteten Armen da, hielt sich am Fensterrahmen fest und hieß die Stille und die tiefe Dunkelheit willkommen, die es so nur auf dem Land, aber niemals in der Stadt gab. Trotzdem fand sie später wieder nur schwer in den Schlaf. Zuerst grübelte sie über das Gespräch mit Niklas, dann über ihr Leben in Stockholm nach. Groß, blond und blauäugig, verkörperte Freya optisch den perfekten Stereotyp der jungen Schwedin. Sie hatte sich im Norden nie fremd gefühlt, aber auch nicht richtig zu Hause, wie sie jetzt noch einmal deutlicher merkte.

»Glück dauert nur einen kurzen Moment. Mach dich frei von deinem Anspruch, es dauerhaft halten zu wollen, dann wirst du weniger enttäuscht«, hatte ihre Mutter ihr zum Abschied mit auf den Weg gegeben, als sie vor drei Jahren einer wiederkehrenden Krebserkrankung erlegen war. Eine deprimierende letzte Botschaft und hoffentlich keine, die sich bewahrheiten würde. Zur selben Zeit hatte sich Freya selbständig gemacht. Sie übersetzte Romane vom Schwedischen ins Deutsche. Zudem hatte sie Oskar kennengelernt, einen smarten Anwalt, der sie in ihrer Trauer auffing. Der Gedanke, nach Walchensee zurückzukehren, war ihr nie in den Sinn gekommen, derart weit hatte sie sich innerlich von der Familie entfernt.

Bis sich kürzlich mit dem Tod des Vaters alles wieder verändert hatte. Fast zur gleichen Zeit hatte Oskar festgestellt, doch nicht bereit für eine feste Bindung zu sein, erst recht nicht, wo Freya schon wieder eine Trauerphase durchzumachen hätte. Er wollte sich dann doch lieber mit anderen Frauen treffen und an seiner schwindenden Jugend festhalten – sofern man bei einem Mann Mitte dreißig überhaupt noch von Jugend sprechen konnte. Womöglich hatte sich bei ihm eine vorzeitige Midlife-Crisis abgezeichnet. In den letzten Monaten hatten sie sich immer weiter voneinander entfernt, und ihre Gefühle füreinander waren abgekühlt. Während Oskar vergangenen Zeiten nachgejagt war, hatte Freya die Unzufriedenheit beschlichen. Ihre Arbeit als Übersetzerin erfüllte sie ebenso wenig wie Oskars Party-Lifestyle, in den sie sich einzufinden versucht hatte. In ihr war das Gefühl aufgekommen, darüber etwas Wichtiges zu verpassen, aber noch konnte sie nicht ausmachen, was es war. Zu ihrer Unzufriedenheit hatte sich allmählich eine Ratlosigkeit gesellt, und als dann die Trauer noch hinzugekommen war, hatte ihre Beziehung zu Oskar keinen Bestand mehr gehabt. Die Abreise nach Bayern war so ein mehr als willkommener Ortswechsel gewesen, auch wenn der Anlass dafür ein trauriger war. Zu viele Eindrücke stürmten auf Freya ein. Die seltsame Testamentseröffnung, ihr distanziertes Wiedersehen mit Niklas und der Walchensee, der Heimatgefühl und Beklemmung gleichermaßen hervorrief. Bis jetzt hatte sie noch nicht wirklich Zeit gehabt, ihre Situation zu überdenken. Für Freya hatte noch bis heute Morgen festgestanden, dass sie sich ihren Erbteil auszahlen lassen und schnellstmöglich wieder abreisen würde.

Walchensee weckte unaufhaltsam Erinnerungen und damit verbundene Gefühle, die sie jahrelang erfolgreich unterdrückt hatte. Mit Schaudern erinnerte sie sich an ihren letzten längeren Besuch. Fast fünfzehn Jahre war Freya alt gewesen, Niklas beinahe achtzehn. Mehr als zwei Wochen hatte ihre Mutter nicht erlaubt zu bleiben, weil sie danach noch einen Urlaub zu zweit in Spanien gebucht hatte. Aber diese vierzehn Tage waren völlig ausreichend für Freya gewesen, um zu verstehen, dass sie nicht mehr hierhergehörte. Ihr Vater war den ganzen Tag im Gasthaus oder mit der Fischerei beschäftigt gewesen. Wenn sie allein Zeit mit ihm verbringen wollte, musste sie morgens um vier aufstehen, mit ihm auf den See hinausfahren und beim Einholen der Netze helfen. Selbst dann hatten kaum persönlichen Gespräche stattgefunden, weil Johannes Siebert kein Mann vieler Worte war. Im Nachhinein stellte sich Freya vor, dass er sich bestimmt schwer damit getan hatte, einen Bezug zur pubertierenden Tochter aufzubauen, die er so gut wie nie sah. Auch Niklas war damals nicht gerade der liebenswerte Bruder gewesen. Zusammen mit seinen Freunden war er mit dem Motorrad über die Berge gerast, in die Nachbarorte, in Diskotheken und Bars. Für Freya hatte er sich kaum interessiert. Heute konnte sie das verstehen. Sie waren einfach in unterschiedlichen Entwicklungsstadien gewesen. Damals allerdings hatte sie sich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Und als sie schließlich von München aus direkt nach Barcelona geflogen war, hatte sie ihrer Mutter beim Abholen am Flughafen gleich versichert, dass sie im kommenden Sommer nicht mehr an den Walchensee fahren wollte. Die Aneinanderreihung von unerfüllten Erwartungen führte zwangsläufig und immer zu Enttäuschungen, hatte Mama ihr erklärt. Deshalb wäre es besser, Abstand zu wahren und sich mit Personen zu umgeben, denen man wirklich etwas bedeutete. So wie ihr. Natürlich ließ die Distanz zu den lange zurückliegenden Jahren zusammen mit der gewonnenen Lebenserfahrung die Ereignisse der Jugend in einem anderen Licht erscheinen. Es brauchte keine Dramen, um Herzen abkühlen zu lassen. Der Alltag genügte. Diese Erkenntnis hatte sich auch kürzlich mit Oskar wieder einmal bewahrheitet. Aber Freya hatte nicht vor, sich von einem schwermütigen Gedanken zum nächsten zu hangeln. Sie war daheim in ihrem Elternhaus und musste darüber nachdenken, wie und wo es mit ihrer Zukunft weitergehen sollte.

 

Am folgenden Morgen wurde sie durch lautes Scheppern geweckt.

Schlaftrunken lief sie die Treppe nach unten, um nachzusehen, woher der Lärm kam. Niklas eilte ihr aus der Gasthofküche entgegen.

»Frag nicht«, rief er im Vorbeieilen. »Ich muss schnell einen Eimer holen.«

Freya spähte in die Küche. Ein älterer Herr stand inmitten einer Kaffeepfütze voller Scherben.

»Ah, die Schwester«, rief er herüber. Dabei drehte er nur den Kopf, blieb aber wie angewurzelt im Chaos stehen. »Niklas hat schon erzählt, dass Sie wieder hier sind.«

»Guten Morgen. Kann ich irgendwie helfen?«

»Bloß nicht!«, tönte Niklas’ Stimme hinter ihr. »Da sind überall Glassplitter. Darf ich vorstellen, das ist Alfred Berger, unser Koch. Leider ist ihm die Kaffeemaschine runtergefallen. Und sonst auch noch so einiges.« Und leiser, an seine Schwester gewandt, fügte er hinzu: »Wobei mir schleierhaft ist, wie so was passieren kann.«

»Ich kann’s aufwischen.«

»Das machen wir schon, gell, Alfred? Geh du dich lieber anziehen.«

Erst jetzt wurde Freya bewusst, dass sie in Schlafshorts und Tanktop in der offenen Küchentür stand. Schnell lief sie hinauf in den oberen Stock und beeilte sich beim Duschen und Ankleiden. Als sie wieder nach unten kam, hatten die beiden bereits alles in Ordnung gebracht und der Koch war schon dabei, Vorbereitungen für die Gäste zu treffen.

»Heute ist Samstag und das Wetter erstklassig. Wir erwarten zu Mittag einen ziemlichen Ansturm«, erklärte Niklas.

»Kann ich jetzt vielleicht irgendwie helfen?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du die Tische und Stühle draußen abwischen, die Sitzkissen auflegen und dann das Besteck verteilen. Wir stecken es in Bierkrüge, die auf die Tische gestellt werden.«

»Alles klar. Wo sind die Tischdecken?«

Mit einem Augenrollen schüttelte Niklas den Kopf. »Haben wir schon lang nicht mehr. Papa meinte, es geht auch ohne.«

Freya schnappte sich einen Lappen und einen leeren Senfeimer, von denen zahlreiche in der Speisekammer gestapelt standen. Sie füllte warmes Wasser mit ein paar Tropfen Spülmittel ein und machte sich im Gastgarten daran, die Tische zu schrubben, die es mehr als nötig hatten. Schnell entstand eine schmutzig dunkle Brühe und sie musste das Wasser im Eimer wechseln. Hier war schon länger nicht mehr richtig sauber gemacht worden.

Kaum dass sie fertig war, trudelten auch schon die ersten Gäste ein.

»Meine Servicekraft hat gerade angerufen. Sie kommt heute nicht«, verkündete Niklas dumpf, stemmte die Hände in die Hüften wie ein erschöpfter Läufer nach einem Sprint. Er seufzte tief.

»Soll ich einspringen?«, fragte Freya sofort.

»Das ist wohl die einzige Möglichkeit, fürchte ich. Leider muss ich dem Alfred erst mal in der Küche zur Hand gehen, sonst wird er nicht rechtzeitig fertig. Aber sobald es möglich ist, komme ich raus und helfe dir.« Mit einem skeptischen Lächeln reichte Niklas seiner Schwester einen Stapel Speisekarten. »Los geht’s.«

Von diesem Moment an hatte Freya keine ruhige Minute mehr. Erst am frühen Abend, als die letzten Einkehrer gegangen waren, nahmen sich die Geschwister selbst etwas zu essen und sanken erschöpft an den großen Tisch in der Küche. Freyas Füße fühlten sich an, als hätte sie eine Bergwanderung gemacht. Vom Schleppen der Bierkrüge, Teller und Tabletts würde sie sicher Muskelkater in den Armen bekommen. Ihr ganzer Körper schmerzte. Die Bewirtung der Gäste war Schwerstarbeit gewesen. Wie hatten die Eltern dabei früher ihre gute Laune behalten können?

»Ich bin dann weg«, verabschiedete sich Alfred. »Morgen kann ich nur bis um zwei, aber das hatte ich dir letzte Woche schon gesagt, Niklas.«

»Am Sonntag gibt’s nachmittags nichts zu essen?«, hakte Freya nach, sobald der Koch gegangen war. »Gerade morgen werden doch sicher viele Ausflügler unterwegs sein, wenn das Wetter hält.«

Mit einem tiefen Seufzen ließ Niklas die Gabel sinken. Der Wurstsalat schien ihm plötzlich nicht mehr zu schmecken. »Ich weiß. Dir wird es bestimmt schon aufgefallen sein – hier läuft einiges nicht ganz rund. Der Alfred ist ein lieber Kerl, aber weit übers Rentenalter hinaus und leider auch nicht mehr der Schnellste in der Küche. Jeden Monat droht er damit, ganz aufzuhören, weil es ihm zu viel wird und er eigentlich auch eh nicht mehr arbeiten muss. Ich bin froh, dass er überhaupt noch da ist. Am liebsten würde ich die Speisekarte sogar noch erweitern. Aber daran ist nicht zu denken. Das würde Alfred nicht mehr schaffen, wo er schon jetzt ständig was zerdeppert.«

»Was ist mit den Servicekräften?«

»Was heißt hier Kräfte, wir haben nur eine Kraft und die ist unzuverlässig. Jedes Mal spannend, ob sie überhaupt auftaucht.«

Freya wollte etwas sagen, aber Niklas hob abwehrend die Hand. »Dass die Bestuhlung uralt ist und der Garten ungepflegt, das ist mir auch klar.« Er wies auf das dicke schwarze Kellnerportemonnaie auf dem Tisch. »Dazu kommt der maue Umsatz. Mit Radler, Pommes und Wurstsalat ist halt nicht viel zu verdienen. Vor allem nicht, wenn das Essen nur schleppend aus der Küche kommt.« Wieder seufzte er, griff nach der Gabel und stocherte damit auf seinem Teller herum.

»Das tut mir leid.« Freyas Bedauern war ehrlich. Ein Tag hatte ausgereicht, um ihr vor Augen zu führen, wo es im Fischerfleck hakte. Eigentlich überall. Ein Wunder, dass überhaupt so viele Leute dort einkehrten. Vermutlich wegen der idyllischen Lage. Einen anderen Grund konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. An der Qualität des Essens und am Service lag es gewiss nicht. Man konnte weit mehr aus dem Gasthof machen, wenn man das Konzept veränderte, davon war Freya überzeugt. Auf Anhieb kamen ihr ein paar Vorschläge in den Sinn, aber sie biss sich auf die Zunge. Ganz sicher wollte ihr Bruder im Moment keine schlauen Tipps hören.

»So geht es nicht weiter.« Nun legte Niklas das Besteck endgültig weg und schob den Teller von sich. Ihm schien der Appetit vergangen zu sein.

»Seit Jahren sind die Einnahmen rückläufig. Papa war das egal, der hat nicht viel gebraucht und einfach immer weitergemacht in seinem Trott, ohne sich darum zu scheren. Und ich hab ihn machen lassen, weil – ehrlich gesagt, bin ich mit der Fischerei schon völlig ausgelastet. Wie ich jetzt noch zusätzlich einen maroden Gasthof wieder auf Vordermann bringen soll, ist mir schleierhaft.« Niklas fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und seufzte. Dann sah er Freya an. »Ich hatte dir eigentlich vorschlagen wollen, dass ich dir deinen Erbteil ratenweise auszahle. Dann hätte ich die Gastronomie schließen und weiterhin hier wohnen können. Aber unser Herr Vater hat mir da einen ordentlichen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn wir nicht tun, was er verlangt, verliere ich mein Dach über dem Kopf.«

Freya spürte einen Kloß in ihrem Hals. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, in ihr wallten widerstreitende Gefühle auf. Aber keinesfalls wollte sie sich aufdrängen. Sie räusperte sich. »Aber ich gehöre nicht mehr hierher. Außerdem habe ich tatsächlich keine Ahnung von Gastronomie, wie du ja beim Anwalt schon richtig festgestellt hast.« Sie hielt kurz inne. »Aber dennoch glaube ich, dass du einfach nur ein neues Konzept brauchst, damit der Laden wieder läuft.«

Niklas kratzte sich am Kopf. Sorge stand in seinen grünen Augen. Das hellbraune Haar war von sonnenblonden Strähnen durchzogen und ein stoppeliger Dreitagebart spross auf Kinn und Wangen. Er sah seinem Vater sehr ähnlich. Zumindest dem jungen Johannes Siebert, an den Freya sich erinnerte.

»Aber wie soll ich das machen? Papa hat ausdrücklich bestimmt, dass wir den Fischerfleck gemeinsam führen müssen. Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich das alleine durchziehen.«

Jetzt spürte Freya nichts als Enttäuschung. »Sollen wir uns allen Ernstes vorschreiben lassen, wie wir zu leben haben?« Sie sprang auf. Dabei hätte sie fast den Stuhl umgekippt. »Ich jedenfalls nicht. Nicht von einem Mann, der sich nie um mich gekümmert hat.«

»Das kannst du ihm nicht vorwerfen, er hat es weiß Gott versucht. Deine Mutter hat es immer unterbunden.«

»Sie wird schon ihre Gründe dafür gehabt haben.«

»Hast du eigentlich eine Ahnung, wie sehr er dich vermisst hat?«

Aufgebracht starrten die Geschwister einander an. Aber es war sinnlos, sich wegen einer längst vergangenen Zeit gegenseitig zu beschuldigen.

»Tut mir leid, Niklas. Ich bin müde. Mir geht alles Mögliche durch den Kopf und ich kann gerade keinen klaren Gedanken fassen. Bitte versteh mich, das ist nicht mehr mein Zuhause. Aber bis ich abreise, werde ich dir helfen, wo ich kann. Das verspreche ich dir. Und wenn du möchtest, überlege ich auch gerne mit dir, wie hier modernisiert werden könnte.« Sie meinte es ernst. Schon immer war es Freya leichtgefallen, Dinge zu planen. Sie war eine genaue Beobachterin, nahm jedes Detail wahr und analysierte gern. Und sie grübelte viel. Manchmal war das ein Segen, bisweilen ein Fluch. Doch in der derzeitigen Lage könnte es sich als nützlich erweisen. Selbst wenn Niklas ihr einen enttäuschten Blick zuwarf.

»Du kannst nicht immer weglaufen.«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt, was ich meine. Freya, es ist doch schon zwanzig Jahre her. Wenn du jetzt wieder abhaust, wirst du nie deinen Frieden mit der Sache finden. Damals hat deine Mutter dir die Entscheidung abgenommen. Heute bekommst du eine zweite Chance. Lass uns wenigstens über das reden, was passiert ist.« Gerade noch wollte er hier lieber alles alleine durchziehen und jetzt warf er ihr vor, sie wolle sich aus der Verantwortung stehlen. Wie sollte sie das verstehen? Ihr war das alles zu viel.

»Ich will aber nicht!«, stieß Freya hervor und rannte nach oben in ihr Zimmer.

2Niklas

Alles war durcheinander, seitdem sie hier war. Sogar das Haus roch anders. Nach Freyas Parfum, ihrem Shampoo, einfach anders. Niklas empfand ihre Anwesenheit wie den Besuch eines Gastes, eher noch wie das Eindringen eines Fremden, nicht aber wie das Heimkommen einer Schwester. Da war nichts Vertrautes. Er fühlte sich befangen, aber das ließ er sich natürlich nicht anmerken. Es war offensichtlich genug, wie unwohl sie sich fühlte, da durfte er nicht auch noch seine Vorbehalte äußern.

Obwohl er schon einiges zu sagen hätte. Zum Beispiel, wie enttäuscht er gewesen war, als sie nicht zur Beerdigung erschienen war. Gecancelter Flug hin oder her, dafür konnte sie nichts, aber gegen seinen Unmut konnte Niklas auch nichts machen. Ob sie überhaupt eine Vorstellung davon hatte, wie hart es gewesen war, sich der Beisetzung des Vaters im Beisein des gesamten Dorfes alleine zu stellen? Klatschmäuler, die sogar noch im Kirchengestühl tuschelten. Hätte Onkel Georg nicht neben ihm gesessen, hätte Niklas sich vollkommen verlassen gefühlt. Selbst der Onkel hatte gemeint, Freya Fehlen wäre schon allerhand.

Nun war sie hier. Und irgendwie auch nicht. Als würde sie von außen zuschauen, anstatt dazuzugehören.

Niklas saß auf einem wackeligen Klappstuhl hinter dem Haus und flickte ein Schwebnetz. Seitdem der Kormoran den Walchensee für sich entdeckt hatte, kam es immer öfter vor, dass er die Netze beim Versuch, Fische zu klauen, beschädigte. Die Größe der Maschenöffnungen war gesetzlich genau vorgegeben, damit weniger Jungfische gefangen wurden, daher er musste penibel darauf achten, alles korrekt zu reparieren. Bei dieser fast meditativen Arbeit ließ es sich leider gut grübeln. Und darin war Niklas Siebert ausnehmend gut, ebenso wie seine Schwester – das lag wohl in der Familie.

Der plötzliche Tod des Vaters hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen.

»Das war bestimmt eine gemütliche Männerwirtschaft hier«, hatte Freya auf Anhieb ganz richtig erkannt. Ein Umstand, der sowohl ihm als auch dem Vater Geborgenheit und Halt gegeben hatte, wie Niklas erst im Nachhinein bewusst geworden war.

Schlagartig war es vorbei damit, von einem Tag auf den anderen. Sein gesamtes Leben lang war Johannes Siebert für seinen Sohn da gewesen. Nicht laut und dominant, sondern mit einer ruhigen, verlässlichen Präsenz. Und umgekehrt hatte Niklas seinen Vater vor der Einsamkeit bewahrt. Zu seinem Trauerschmerz gesellte sich jetzt Ratlosigkeit. Was sollte bitte dieses absolut blödsinnige Testament? Es war mehr als offensichtlich, dass Freya nicht hier sein wollte. Seit zwanzig Jahren schon nicht. So was ließ sich nicht erzwingen. Hatte Papa nicht bedacht, in welche Schwierigkeiten er seine beiden Kinder damit stürzte?

Niklas legte die Ahle weg, mit der er das Nylonnetz flickte, und atmete tief ein.

Er würde den Fischerfleck nicht verlieren. Was auch immer notwendig war, um sein Zuhause zu behalten, er würde es tun.

Durch die geöffneten Fenster des Hauses drang das Geräusch des Staubsaugers zu ihm heraus.

Seit sie hier war, war sie ständig am Putzen. Als ob sie sich zwanghaft beschäftigen müsste. Wieso konnte seine Schwester die Dinge nicht einfach lassen, wie sie waren? Das Haus roch nicht nur anders, es sah innerhalb kürzester Zeit auch anders aus. Obwohl sie ständig putzte und wischte, ließ sie selbst überall ihre Sachen rumliegen. Insbesondere im Bad. Und sie las schwedische Bücher, als wäre sie eine ausländische Touristin. Oder als wollte sie ihm vor Augen führen, wie weit sie sich voneinander entfernt hatten. Er schüttelte frustriert den Kopf. Fühlte sie sich hier nicht wenigstens ein kleines bisschen daheim? Was war mit seiner Schwester passiert? Eigentlich wusste er überhaupt nichts von ihr, stellte Niklas mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fest. Dabei musste er das doch gar nicht haben. Es war alles die Schuld von Freyas Mutter. Das Kind mit nach Schweden zu nehmen, hatte das Aus für die geschwisterliche Beziehung bedeutet. Wie hätten sie ihre Verbindung aufrechterhalten sollen?

Freya trat aus der Hintertür und lief zur Wäscheleine. Sie sah kurz zu ihm herüber, aber schien derart in Gedanken versunken, als würde sie ihn überhaupt nicht wahrnehmen. Niklas hob eine Hand. Jetzt stellte sie den Wäschekorb ab und winkte zurück. Also hatte sie ihn doch bemerkt.

Wehmut ergriff ihn. Wie sehr hatte er seine kleine Schwester geliebt. Sie waren einander so nahe gewesen. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich noch immer an ihr Kinderlachen erinnern und daran, wie gern sie an seiner Hand gegangen war. Viel lieber als an der ihrer Eltern. Sie war kein zimperliches Mädchen gewesen und hatte sich mit Vorliebe beim Spielen dreckig gemacht. Als Niklas bereits lesen konnte, war Freya abends zu ihm ins Bett gekrochen, und er hatte ihr Geschichten vorgelesen. Meistens waren die Eltern unten im Gasthof beschäftigt gewesen, und Freya war irgendwann in seinem Arm eingeschlafen. In diesen Momenten war er nicht nur der starke, große Bruder gewesen, sondern er selbst hatte sich auch sicher und geborgen gefühlt. Wenn er geahnt hätte, wie schnell ihnen beiden die Nestwärme unwiederbringlich genommen werden sollte, hätte er jeden einzelnen Augenblick noch mehr ausgekostet.

Würden sie einander je wieder so nahekommen wie damals?

Freya machte ein paar Schritte auf ihn zu.

»Ich muss los.« Niklas sprang auf, als könnte er damit die Nostalgie abschütteln. Dabei rutschte das Fischernetz von seinem Schoß auf den Boden.

»Wohin?«

Er machte eine vage Geste in die Ferne. »Ich hab viel zu erledigen heute. Bis später.«

Hoffentlich hatte sie nicht den Eindruck, als würde er vor ihr die Flucht ergreifen.

 

»Gib ihr Zeit«, sagte Tobias Wolf, Niklas’ ältester und bester Freund und seit dem Tod des Vaters der einzige Mensch, dem er sich anvertraute. »Für Freya ist es sicher nicht einfach, hierher zurückzukommen und mit diesem Vermächtnis eures Vaters konfrontiert zu sein.«

Glücklicherweise war Tobias zu Hause bei seinen Eltern gewesen, als Niklas anrief. Er arbeitete in München, und dorthin musste er heute noch zurückfahren.

Sie saßen im Dorfcafé, hinten auf der kleinen windgeschützten Terrasse, wo die Sonne hinschien und es sich auch bei frischeren Temperaturen gut aushalten ließ. Von hier aus hatte man keinen direkten Blick auf den See, und so drängten sich zumeist alle Touristen auf der vorderen Terrasse und diese gehörte den Einheimischen. Niklas drehte seine Kaffeetasse in den Händen und starrte hinein, als könnte er darin die Zukunft lesen.

»Meinst du etwa, für mich ist es leicht? Ich hatte keine Ahnung von dieser schwachsinnigen Testamentsklausel. Ich weiß nicht mal, wann mein Vater sich das hat einfallen lassen. Mir hat er jedenfalls nichts davon gesagt. Obwohl wir unter einem Dach gelebt und uns jeden Tag gesehen haben. Ich hätte gedacht, dass er mir vertraut und so etwas mit mir bespricht.«

Tobias warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Ich glaube, du siehst das falsch. Dass dein Vater euch beiden den Fischerfleck gibt, beweist eher, wie groß sein Vertrauen in dich und deine Schwester ist. Er wusste, gemeinsam macht ihr was draus.«

»Falls du versuchst, diese ganze Misere schönzureden – das klappt nicht.«

»Komm schon, Niklas. Was ist los mit dir? Sonst jammerst du doch auch nicht rum. Überleg doch mal, so musst du dich nicht allein um alles kümmern. Deine Schwester wird ebenso verantwortlich sein wie du. Das ist eine große Chance, keine Bürde.«

»Aber sie hat doch überhaupt keine Ahnung von der Gastronomie.«

Mit zusammengezogenen dunklen Augenbrauen suchte Tobias nach den richtigen Worten. »Na und? Dafür kann sie sicher was anderes, und sie lernt schnell. Ganz ehrlich – ein Geschäftsmann bist du auch nicht gerade. Vielleicht wusste der Johannes das und will dir deswegen Freya zur Seite stellen. Damit ihr euch ergänzt und du dich weiter um die Fischerei kümmern kannst.«

Niklas stöhnte auf und legte den Kopf in den Nacken. Kurz verharrte er so, dann beugte er sich wieder vor, griff nach seiner Tasse und leerte mit einem großen Schluck den Kaffee. »Als ob meine Schwester plötzlich zur Kellnerin, Köchin und Wirtin mutieren würde. Sie übersetzt Bücher vom Schwedischen ins Deutsche, Liebesschnulzen und Frauenromane, soviel ich weiß. Was es heißt, hier am Walchensee vom Tourismus zu leben und zu überleben, davon hat sie keine Ahnung. Sie will es nicht einmal wissen. Am liebsten würde sie doch sofort wieder abhauen. Vermutlich hält sie nur das schlechte Gewissen hier, dass ich ihretwegen den Fischerfleck verlieren könnte.«

Mit eindringlichem Blick lehnte sich Tobias vor. »Dann rede mit ihr. Frag sie doch mal. Vielleicht weißt du ja gar nicht wirklich, was in ihr vorgeht. Und dann kannst du ihr auch erklären, was du denkst. So könnt ihr gemeinsam überlegen, was der richtige Weg für euch beide ist. Früher habt ihr euch doch wunderbar verstanden. So kann es bestimmt wieder werden. Vorausgesetzt du kehrst nicht den grummeligen Einsiedler raus, der du eigentlich gar nicht bist.«

»Mann, ich will keine Psychoanalyse, sondern deinen Rat!«

»Dann hör mir auch zu und nimm ihn an. Die Dinge sind, wie sie sind, Niklas. Lerne, damit umzugehen.« Tobias stand auf und sah auf die Uhr. »Ich muss los. Sonst komme ich zu spät zur Arbeit.« Freundschaftlich klopfte er Niklas auf die Schulter. »Überleg dir was Gescheites, dann wird das schon.«

 

Unmittelbar nachdem sich Tobias verabschiedet hatte, kam die Besitzerin des Cafés heraus. »Darf’s noch was sein, Niklas?«

»Nein danke, Antonia, die Rechnung bitte. Ich zahle für Tobi mit.«

»Ihr hattet wohl ein ernstes Thema heute. Ich hab mal zu euch rübergeschaut, aber ihr wart so vertieft und habt mich gar nicht bemerkt.« Sie machte keine Anstalten, den Beleg zu holen, sondern setzte sich stattdessen neben Niklas und schlug die Beine übereinander.

Er zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts. Doch das hielt sie leider nicht von weiteren, durchaus korrekten Mutmaßungen ab.

»Ging es um deine Schwester? Ich stelle es mir richtig schwierig vor, plötzlich wieder mit ihr unter einem Dach wohnen zu müssen.«

»Wie kommst du denn da drauf?«

»Gib dir keine Mühe, das ganze Dorf weiß vom Testament deines Vaters. Echt hart, dass du dich jetzt auch noch mit deiner seltsamen Schwester auseinandersetzen musst, die noch nicht mal als Kind wirklich hierhergepasst hat. Und nach allem, was war, wird hier auch nie ein Platz für sie sein.« Sie legte eine Hand auf seine, die er sofort zurückzog.

»Was soll denn diese Bemerkung? Du kennst Freya doch überhaupt nicht. Redet man so im Dorf, oder was?«

Antonia rutschte näher, ignorierte, dass Niklas ganz offensichtlich genervt war und die Schultern straffte.

»Komm, mir brauchst du nichts vorzumachen. Deine Schwester kenne ich nicht, aber dich. Du und dein Papa, ihr hattet es gut zusammen. Und jetzt taucht sie auf und bringt alles durcheinander, wie vorher schon ihre Mutter. Ich weiß ja nicht, aber vielleicht solltest du dir einen anderen Anwalt suchen, nicht den Doktor Schneider aus dem Dorf, und dich erkundigen, wie du sie wieder loswirst. Es gibt bestimmt eine Möglichkeit. Irgendeine Ausnahme oder Sonderregelung.«

Antonia sah gut aus, dunkelhaarig, kurvig und selbstbewusst. Ein paar Jahre älter als Niklas, hatte sie das Café zusammen mit ihrem Mann von dessen Mutter übernommen. Es war eine sichere Einkommensquelle, sommers wie winters, zudem das Klatschepizentrum des Ortes. Dass sie verheiratet war, hielt Antonia nicht vom Flirten ab, und an Niklas war sie besonders interessiert. Bisher hatte er das als schmeichelhaft empfunden und sich nichts dabei gedacht. Aber mit der Einmischung in seine Familienangelegenheiten hatte sie jetzt eine Grenze überschritten.

»Ich denke nicht, dass dich das was angeht«, sagte er bestimmt.

»O doch. Der Fischerfleck geht uns alle was an. Immerhin gehört er zum Walchensee.«

»Vor allem gehört er meiner Familie. Und die besteht jetzt aus Freya und mir.«

Antonia lachte hell auf. »Ach was. Die ist doch mehr schwedisch als bayerisch. Und hat keine Ahnung, wie die Dinge hier laufen.« Sie deutete um sich. »Du und ich, wir wissen, wie hart das Geschäft sein kann und wie viel dazugehört, um vom Familienunternehmen leben zu können. Niklas, sieh zu, dass du sie wieder loswirst. Ganz ehrlich, keiner will deine Schwester im Ort haben.«

Abrupt erhob Niklas sich und sah auf Antonia hinunter. »Da bist du dir wohl mit Anette Hirschberg einig, was? Ja, dass ihr beiden plötzlich so eng zusammenhängt, hat sich auch rumgesprochen. Aber, damit du’s weißt, Freya hat das gleiche Recht hier zu sein wie du und ich. Und der Fischerfleck geht keinen von euch was an. Bleib sitzen, ich zahl drin an der Kasse«, presste er mühsam beherrscht hervor und war weg.

3Freya

Am Sonntag wurde eine Messe für Johannes Siebert in der Kirche gelesen. Ein Pflichttermin für Freya und Niklas. Die hitzigen Diskussionen der vergangenen Tage wirkten wie reinigende Gewitter auf die Atmosphäre zwischen den Geschwistern. Es schien, als sorgten gerade die unvermeidlich starken Gefühle, die bei beiden hochkochten, dafür, dass sie mehr Verständnis füreinander entwickelten. Zwar standen noch immer unausgesprochene Dinge zwischen ihnen, und sie begegneten einander immer noch mit Vorbehalt, aber sie wurden zunehmend offener. Zum Gottesdienst erschien auch Onkel Georg, der Bruder ihres Vaters, zusammen mit seiner Tochter Lena, die Freya auf Anhieb wiedererkannte. Die wilden braunen Locken ihrer Cousine hatte sie schon als Kind bewundert. Auch das hübsche herzförmige Gesicht und die hellen Augen waren ihr gut in Erinnerung geblieben. Zuletzt hatte sie Lena bei einer Familienfeier vor zehn Jahren gesehen. Damals war Freya zur Hochzeit einer Tante angereist. Eine kurze Stippvisite war das gewesen. Lediglich für eine einzige Übernachtung war sie gekommen, weil sie mitten in ihrer Ausbildung gesteckt hatte. Und weil ihre Mutter sie darum gebeten hatte, die damit verhindern wollte, dass dieser Verwandtschaftsbesuch Freya wieder emotional durcheinanderbrachte. Wo sie doch gerade einen Studienplatz bekommen hatte und sich auf ihre Zukunft konzentrieren musste. Lediglich ein kurzes Gespräch mit Lena hatte sie damals geführt. Freya erinnerte sich daran, dass die Cousine von Auslandsplänen gesprochen hatte. Ob sie die Reise nach Südamerika wohl gemacht hatte? Ein Jahr herumgereist war mit einer Freundin, fernab von allen Verpflichtungen? Die Lena, die jetzt vor ihr stand, wirkte immer noch abenteuerlustig und eigenwillig. Aber vielleicht bildete sich Freya das auch nur ein. Vor den Stufen zum Kirchenportal von Sankt Jakob nahm Lena sie in den Arm und drückte sie.

»Ich wollte dir jetzt unbedingt noch mein herzliches Beileid aussprechen. Weil wir uns ja noch gar nicht gesehen haben, seitdem du wieder hier bist und ich dich eigentlich schon längst hätte anrufen müssen. Wie geht es dir?«

»Danke, ganz okay. Aber ich komme mir ein bisschen fremd vor.«

»Kein Wunder«, schaltete sich Onkel Georg ein. Mit seinem Trachtenjanker, der über der fülligen Körpermitte nur mit einem einzigen Knopf geschlossen war – und der stand ordentlich unter Spannung –, sah er ausnehmend traditionell aus. »Warst ja ewig weg. Was ist mit deinem Dialekt passiert? Hast du alles verlernt?«

»Lass sie doch, Papa. In Schweden hat sie sicher kein Bayerisch gesprochen. Das kommt schon wieder, wenn sie länger hier ist.«

»Bleibt sie denn?« Onkel Georg sah nicht seine Tochter, sondern Freya an, die nach einer unverbindlichen Antwort suchte.

»Gehen wir lieber mal rein«, brummte Niklas zu ihrer Rettung und hakte sich bei den beiden jungen Frauen unter.

Zusammen betraten sie die Kirche, und es gab Freya ein gutes Gefühl, dass auch Onkel und Cousine sie begleiteten. Denn sie spürte viele bohrende Blicke auf sich, und nachdem sie sich gesetzt hatten, meinte Freya die Leute tuscheln zu hören. Worüber, das konnte sie sich nur zu gut vorstellen. Während des Gottesdienstes überfiel sie Schwermut. Erinnerungen kamen hoch, plötzlich tauchten vergessene Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Von Familienausflügen in die Berge, Wanderungen über Almen und von unbeschwerten Momenten am Wasser. Mehr und mehr schlich sich etwas Dunkles in ihre Gedanken, eine Angst, die ihr zunehmend die Luft raubte. Freya wurde übel. Das lange Stehen und der Weihrauch, mit dem der Messdiener die Gemeinde einnebelte, machten das Atmen nicht leichter. Am liebsten wäre sie ins Freie gelaufen. Endlich war das Gebet vorüber und sie konnte wieder Platz nehmen. Freya sank an die unbequeme Rückenlehne der Kirchenbank, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, ruhig und tief zu atmen. Niklas neben ihr warf ihr einen besorgten Blick zu. »Alles in Ordnung?«

»Nein, nicht wirklich. Dauert es noch lang? Mir ist übel.«

»Du hast auch nichts gefrühstückt. Ist gleich zu Ende. Wenn du es nicht mehr aushältst, kann ich aber auch sofort mit dir rausgehen.«

»Du lieber Himmel! Was werden denn die Leute sagen, wenn ausgerechnet wir zwei den Gottesdienst vorzeitig verlassen? Ich schaffe es noch. Aber danke.«

Mit großer Erleichterung hörte Freya den abschließenden Segen des Pfarrers, mit dem er die Gemeinde entließ.

Auf wackeligen Beinen stakste sie an Niklas’ Arm hinaus in die frische Luft eines wolkigen Tages und fühlte sich gleich viel besser.

»Geht ihr noch ans Grab?«, wollte Onkel Georg wissen.

»Nein«, sagte Niklas. »Da waren wir gerade erst.«

»Würd sich aber gehören, nach der Kirche.«

»Freya geht es nicht gut. Sie braucht was zu essen. Kommt ihr noch mit zu uns?«

Der Onkel blickte Freya prüfend ins Gesicht und beschloss dann ebenfalls, den Friedhof ausfallen zu lassen. »Gern. Die Lena soll dir ein paar Eier braten, dann isst du mal was Ordentliches. Blass wie der Tod schaust du aus. Was sollen denn die Leut denken?«

Die Leute, die der Onkel meinte, zogen mit neugierigen Gesichtern an ihnen vorbei. Der ein oder andere verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Freya fragte sich, wohin sie gingen. Früher war es üblich gewesen, sich nach der Kirche auf einen Frühschoppen beim Wirt zu treffen. Früher – als Vater noch zum Gottesdienst gegangen war und sie an seiner Hand, in einem hübschen Dirndl und mit Zöpfen. Wie aus einer anderen Welt schienen diese Erinnerungen zu stammen, so unendlich weit entfernt von der aktuellen Realität.