Das Haus am Walchensee - Sophie Oliver - E-Book
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Das Haus am Walchensee E-Book

Sophie Oliver

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Beschreibung

Stürmische Wogen und eine Heimkehr, die für Aufregung sorgt: der zweite Band der Walchensee-Reihe von Sophie Oliver Niklas Siebert ist endlich dabei, seine Ruhe zu finden. Nach dem Tod des Vaters und Konflikten mit seiner Schwester Freya ist erst seit Kurzem ein wenig Frieden in die Familie eingekehrt. Und eine lang ersehnte Routine. Auch was den Fischerfleck betrifft, der mittlerweile so viel mehr ist als nur ein Gasthof am See: ein Hotspot, wo sich nicht nur die Schönen und Reichen aus München treffen, die hier Urlaub machen, sondern ebenso die Einheimischen. Niklas und Freya haben hart gearbeitet, um das zu erreichen. Nach wie vor brauchen sie ihre Energie für den Gasthof – und Niklas obendrein für die Berufsfischerei auf dem Walchensee, die er umweltgerecht ausbauen will. Es verlangt ihn schlichtweg nicht nach noch mehr Aufregung. Doch gerade haben sie Freyas 30. Geburtstag gefeiert, steht plötzlich Pia Kaufmann vor der Tür. Und teilt mit, dass sie aus geschäftlichen Gründen an den Walchensee zurückzieht, zusammen mit ihrem Verlobten. Die Frau, die Niklas vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat, ist wieder da. Wird seine noch junge Beziehung zur Tierärztin Jessica das aushalten? Und was genau plant Pias Verlobter?

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophie Oliver

Das Haus am Walchensee

Glück ist Familiensache

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Niklas Siebert ist endlich dabei, seine Ruhe zu finden. Nach dem Tod des Vaters und Konflikten mit seiner Schwester Freya ist erst seit Kurzem ein wenig Frieden in die Familie eingekehrt. Und eine lang ersehnte Routine. Auch was den Fischerfleck betrifft, der mittlerweile so viel mehr ist als nur ein Gasthof am See: ein Hotspot, wo sich nicht nur die Schönen und Reichen aus München treffen, die hier Urlaub machen, sondern ebenso die Einheimischen. Niklas und Freya haben hart gearbeitet, um das zu erreichen. Nach wie vor brauchen sie ihre Energie für den Gasthof – und Niklas obendrein für die Berufsfischerei auf dem Walchensee, die er umweltgerecht ausbauen will. Es verlangt ihn schlichtweg nicht nach noch mehr Aufregung. Doch gerade haben sie Freyas 30. Geburtstag gefeiert, steht plötzlich Pia Kaufmann vor der Tür. Und teilt mit, dass sie aus geschäftlichen Gründen an den Walchensee zurückzieht, zusammen mit ihrem Verlobten. Die Frau, die Niklas vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat, ist wieder da.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Sophie Oliver, geboren und aufgewachsen in Bayern, verließ nach dem Abitur ihre Heimat, um zu studieren und die Welt zu erkunden. Mittlerweile ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und lebt mit Familie und Hund auf dem Land. Ihre Neugierde auf das Leben drückt sie in ihren Romanen aus. Die Autorin ist auf Facebook und Instagram aktiv.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

2024 © S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Redaktion: Silke Reutler

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven von Mauritius Images

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491643-9

 

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Inhalt

Walchenseesage

Prolog

1 Niklas

2 Pia

3 Freya

4 Niklas

5 Pia

6 Niklas

7 Pia

8 Freya

9 Niklas

10 Pia

11 Jonas

12 Pia

13 Niklas

14 Pia

15 Pia

16 Freya

17 Pia

18 Niklas

19 Pia

20 Jonas

21 Pia

22 Pia

23 Niklas

24 Pia

25 Pia

26 Niklas

27 Pia

28 Pia

Epilog

Anhang

Danksagung

[Exklusive Leseprobe]

Lena

Jeder am Walchensee weiß, dass auf seinem Grund ein Riesenwaller haust, der eine Sintflut auslösen würde, sollten Moral und Sittlichkeit im Bayernland verfallen.

Man erzählt sich, dass die Stadtväter Münchens in früheren Zeiten, aus Angst vor Überschwemmung das Tier zu besänftigen suchten.

Deshalb fiel in jedem Jahr einem rechtschaffenen Schmied die ehrenvolle Aufgabe zu, einen goldenen Ring zu gießen. Nicht aus irgendeinem Gold, aus purem Isargold musste er sein, das durch die Jachen geschwemmt worden war. Nur das war gut genug.

Der Ring wurde nach seiner Weihe mit einer Prozession an das Ufer des Walchensees und von dort mit einem blumengeschmückten Boot in dessen Mitte gebracht. Alsdann wurde er dem Untier in der dunklen Tiefe geopfert.

Und das stets am Sonntag vor der Sommersonnenwende.

Die vielen goldenen Ringe scheinen den Waller bis heute milde zu stimmen. Und keiner davon ist je gefunden worden.

Quelle: Sagen und Legenden um Tölzer Land und Isarwinkel, Gisela Schinzel-Penth, Ambro Lacus Buch- und Bildverlag 2016.

Prolog

Walchensee, Sommer 1987

Die Badetücher auf der Liegewiese am Seeufer reihten sich wie ein bunter Flickenteppich aneinander, es war kaum mehr ein Grashalm zu sehen. Am Kiosk standen große und kleine Sonnenanbeter für Pommes und Wurstsemmeln, Eis und Cola an, und über allem lag eine sommerliche Duftmischung aus Sonnencreme und Frittieröl.

Anette Huber räkelte sich in ihrem neuen knallroten Bandeau-Bikini auf der Strohmatte mit farblich passender Stoffumrandung. Statt eines Handtuchs hatte sie einen Batik-Pareo zwischen sich und die Matte gelegt. Die junge Frau stützte die Ellenbogen auf und studierte interessiert ihre Umgebung, anstatt in dem aufgeschlagenen Liebesroman zu lesen. In ihr blondgesträhntes Haar hatte sie sich erst kürzlich Dauerwellen machen lassen. Wenn sie es langzog, reichte es bis weit über ihre Schulterblätter, aber die Locken ließen es deutlich kürzer und sehr voluminös erscheinen.

»Mächtig was los heute«, bemerkte Anettes Freundin Simone, die neben ihr auf einer ähnlichen Strohmatten-Pareo-Kombination lag. Nur statt eines Bikinis trug sie einen weißen Badeanzug mit Cut-out auf Bauchnabelhöhe und einem Beinausschnitt, der weit über dem Hüftknochen endete. Simone war mit dicken, dunklen Naturlocken gesegnet, die eine künstliche Welle überflüssig machten. Sie legte großen Wert auf Pflege und schützte ihr Haar im Sommer mit Klettenwurzelhaaröl, das sie vorhin ausgiebig aufgetragen hatte. Würde Anette ihre Frisur derart einfetten, sähe sie entsetzlich aus, aber Simone wirkte damit wie eine brasilianische Strandschönheit. Ein, wie Anette wusste, durchaus beabsichtigter Effekt.

»Stimmt, es sind echt viele Leute hier, hauptsächlich Kinder und Familien. Das ist das Problem im August, weil die Blagen alle Schulferien haben.« Anette kaute geräuschvoll auf ihrem Kaugummi, machte eine rosa Blase und ließ sie platzen. »Was ist mit den Jungs? Wollten die heute baden gehen?«

»Denke schon. Ach, schau! Wenn man vom Teufel spricht …« Simone gestikulierte nach links. Von dort näherten sich zwei junge Männer Mitte zwanzig. Beide trugen Muskelshirts zu ausgefransten Jeansshorts. Obwohl es da, Anettes Meinung nach, nicht allzu viele Muskeln zu sehen gab. Der Größere, blond und mit hellen Augen, sah gut aus; der Kleinere war Durchschnitt in jeder Hinsicht, dahingehend waren sich Anette und Simone einig. Aber mit seinem flotten Mundwerk und reichlich Selbstbewusstsein machte Paul Hirschberg wett, was ihm an Attraktivität fehlte.

»Servus, die Damen«, sagte er grinsend. »Habt ihr uns noch ein Plätzchen freigehalten?«

»Natürlich Paul, gleich hier.« Anette klopfte auf den Boden neben sich, und er breitete ein Handtuch aus, auf dem Hotel Hirschberg stand.

»Ich verstehe echt nicht, warum wir in der Hochsaison ausgerechnet mitten im Ort baden gehen müssen und nicht rausfahren«, beschwerte sich sein Freund, der sich neben Simone niederließ. »Bei uns am Fischerfleck wäre es viel ruhiger. Hier wimmelt es ja nur so von Leuten.«

»Eben, Johannes, niemand hat Lust sich an ein einsames Ufer zu legen. Anette und ich wollen schließlich was zu sehen kriegen – wenn wir schon nichts erleben in diesem Kaff.«

»Dabei habt ihr doch versprochen, mit uns nach München zu fahren«, hakte nun Anette ein. »Nur heiße Luft bei euch und nichts dahinter.«

»Aber nein, das machen wir schon noch.« Paul Hirschberg tätschelte Anettes Bikinihintern, der nur teilweise vom roten Höschen bedeckt wurde, und machte Johannes ein Zeichen, auch Simone zu besänftigen.

Dem schien das aber egal zu sein. Er hatte die Arme um die angewinkelten Knie geschlungen und sah auf den Walchensee hinaus.

»Was da an Sonnenöl drin rumschwimmt, ekelhaft. Wundert mich, dass die Fische das Zeug verkraften«, murmelte er vor sich hin.

»Ach du immer mit deinen blöden Fischen. Wenn du dich für die Menschen genauso interessieren würdest wie für deine Flossenfreunde, könnte man wesentlich mehr Spaß mit dir haben«, meckerte Simone. Sie war auffällig dunkelbraun gebrannt, ebenso wie Paul, und hatte dunkle Augen und rassige Gesichtszüge. Man hätte sie ohne weiteres für eine Italienerin halten können. Auch das ein Umstand, den sie gern hervorhob. Die Männer flogen auf sie. Simone und Paul lachten, Anette beobachtete Johannes, der den Spruch nicht kommentierte.

»Mensch, seid doch nicht so langweilig.« Noch immer kichernd sprang Simone auf, reckte und streckte sich aufreizend genüsslich, so dass nicht nur Paul und Johannes ihren wohlgeformten Körper eingehend studieren konnten, sondern auch alle anderen Anwesenden.

»Komm, Paul, gehen wir schwimmen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn hoch, dann liefen sie gemeinsam ins Wasser, spritzten dabei unachtsam ein paar am Ufer plantschende Kleinkinder voll und schwammen ein Stück hinaus.

Anette blinzelte gegen die Sonne an, als Simones und Pauls Köpfe in der Ferne immer kleiner wurden und schließlich hinter einer vorspringenden Uferzunge aus ihrer Sicht verschwanden. Es dauerte sehr lange, bis die beiden zurückkamen. Mit roten Wangen und außer Atem. Anette hoffte, dass das nur vom Schwimmen kam.

Seit Monaten flirtete sie mit Paul Hirschberg, gab sich aber stets etwas unnahbar. Hauptsächlich deswegen, weil er nichts anbrennen ließ und sie sich von der Masse der willigen jungen Frauen abheben wollte.

Simone sah das weit weniger eng. Sie war an einer festen Beziehung nicht interessiert. Nach dem Sommer würde sie eine Stelle in Norddeutschland antreten und sowieso wegziehen. Sie wollte nur noch ihren Spaß haben, bevor sie ging. Das wusste Paul Hirschberg natürlich.

 

»Streng dich halt an, dann steigt der Paul auch nicht mehr jedem Rockzipfel nach«, meinte Anettes Mutter am Abend mit wenig zartfühlenden Worten. Familie Huber hatte einen Bauernhof, seit Generationen schon, mit Grundbesitz im Ort Walchensee und darum herum. Sie durften sich durchaus als Großbauern bezeichnen, auch wenn es in der Gegend einige noch größere landwirtschaftliche Betriebe gab. Anette hatte vier Geschwister, die das heimische Nest teilweise verlassen hatten. Sie lebte mit ihren fünfundzwanzig Jahren noch daheim, was ihre Mutter langsam nervös zu machen schien. Ihr älterer Bruder zwar ebenfalls, aber der würde den Hof einmal erben, musste also sowieso bleiben.

Die Mutter stand im Kuhstall und beförderte Heu mit einer Forke in die Futtertröge. Über ihr nisteten Schwalben im Gebälk. Die Jungen piepsten im Nest nach Nahrung, und die Elternvögel schwirrten unablässig durch die an beiden Seiten offenen Stalltüren auf der Suche nach Futter für ihre Brut ein und aus.

Anette hasste den Hof, den Stall, den Gestank der Tiere, den Dreck, die Fliegen und die nie endende Arbeit. Sobald sie zu Hause war, wurde von ihr erwartet, dass sie mithalf.

»Was meinst du mit anstrengen? Ich weiß nicht mal, ob ich Paul Hirschberg überhaupt wirklich gut finde. Er scheint mir extrem von sich überzeugt zu sein.«

Die Mutter ließ die Heugabel sinken und stützte sich auf dem Stiel ab. Falten durchzogen ihr wettergegerbtes Gesicht und ließen sie alt wirken. Von wegen, Arbeit im Freien war gesund. So wollte Anette nicht aussehen.

»Solltest du aber – dich anstrengen. Du bist Anette Huber vom Asternhof und hast nicht nur einen Namen in Walchensee, sondern einiges an Mitgift zu bieten. Alle wissen, dass uns das große Grundstück mit Seezugang direkt neben dem Hotel gehört. Was meinst du, was das für die Hirschbergs bedeutet, wenn du das mit in die Ehe bringst? Damit könnte der alte Hirschberg expandieren, ein richtig großes Hotel samt eigenem Badestrand bauen, und wenn der Paul dann mal übernimmt, wärst du Hoteliersgattin. Willst du dir diese Chance nehmen lassen, nur weil sich eine Simone oder sonst wer geschickter anstellt beim Flirten?«

Anette spürte, wie sie rot wurde. Es war ihr unangenehm, dass die Mutter mit ihr sprach, als wäre sie eine ihrer Preiskühe. Ihre beiden Schwestern hatten gut geheiratet, von ihr wurde das auch erwartet.

»So wie ich es sehe, kommt für meine Tochter in Walchensee nur die Familie Hirschberg in Frage. Sonst keine.«

»Wie schön, dass du das für dich beschlossen hast.«

In den Augen der Mutter blitzte es wütend auf. Sie warf den Tieren eine weitere Ladung Heu hin.

»Versteh mich nicht falsch, mein Kind – du kannst auch dein Leben lang das hier machen.« Sie hielt die Heugabel hoch. »Aber dafür warst du dir schon immer zu fein. Wenn du also nicht irgendeinen Bürojob annehmen oder weiterhin auf dem Hof arbeiten magst, dann halte dich ran mit dem jungen Hirschberg. Er ist der begehrteste Junggeselle in ganz Walchensee, und die Damen stehen Schlange.«

Anette hob einen getrockneten Grashalm hoch und drehte ihn zwischen ihren Fingern. Alles war richtig, was die Mutter sagte. Wenngleich gefühllos und derb. Aber so war das Leben, zumindest jenes, das Anette kannte. Hoteliersgattin zu werden klang da deutlich verlockender.

»Aber jeder weiß, dass der Paul nicht treu sein kann. Er ist hinter allem her, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.«

Darauf antwortete die Mutter mit einem genervten Augenrollen. »Der wird auch älter, und irgendwann hört das auf. Außerdem ist nicht gesagt, dass er sich weiterhin benimmt wie ein Junggeselle, wenn er mal verheiratet ist.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Musst halt selber wissen, was für dich wichtiger ist. Eine sorgenfreie Zukunft oder ein Langweiler, der immer bei dir daheim rumsitzt und den du durchfüttern musst.«

1Niklas

Walchensee, diesen Winter

»Ach, Sie waren mal mit Niklas verlobt?«, fragte Jessica Freitag die elegante Frau, die soeben einem teuren Wagen entstiegen war und sich als Pia Kaufmann vorgestellt hatte. »Das muss aber schon eine ganze Weile her sein. Als ich ihn kennengelernt habe, war er nämlich ein richtiger Einsiedler. Aber das hat sich ja glücklicherweise geändert.« Sie wendete sich Niklas Siebert zu und küsste ihn hingebungsvoll auf den Mund. »Dann sehen wir uns also heute Abend«, sagte sie zu ihm, stieg ins Auto und fuhr davon. Der Schnee knirschte unter den Reifen ihres SUVs, als sie vom Parkplatz hinaus auf die Straße bog. Niklas war beeindruckt. Er wusste nicht, wie er sich verhalten hätte, wenn plötzlich aus dem Nichts ein Kerl aufgetaucht wäre, der behauptet hätte, früher mal mit Jessica verlobt gewesen zu sein. Das überraschende Erscheinen seiner ersten großen Liebe Pia Kaufmann brachte ihn völlig aus dem Konzept. Er sollte besser souverän reagieren, anstatt wie versteinert dazustehen.

Gerade eben hatten sie noch den dreißigsten Geburtstag seiner Schwester Freya gefeiert, und plötzlich jetzt diese eigenartige Wendung.

Am frühen Morgen war Niklas zusammen mit Freya auf den See hinaus zum Einholen der Fischernetze gefahren, und als die Sonne aufgegangen war, hatte er sie mit einer kleinen Torte samt Kerze überrascht. Später beim gemütlichen Frühstück hatte Freya von Tobias ein niedliches Hundebaby geschenkt bekommen. Jessica Freitag hatte es vorbeigebracht. Sie war Tierärztin in Walchensee und seit einiger Zeit mit Niklas verbandelt. Er scheute sich davor, ihrer Beziehung, nach Jahren eingefleischten Jungessellendaseins, einen Namen zu geben – etwas, woran Pia Kaufmann nicht unschuldig war.

Und nun stand Pia vor ihm im Schnee, in einem eisblauen Mantel, zurechtgemacht wie eine feine Dame. Einfach so, ohne Vorwarnung. Niklas schluckte.

»Wir beide gehen wieder hinein, ehe wir uns hier draußen eine Erkältung holen.« Freya Siebert stupste ihren Freund Tobias Wolf an, der ebenso erstarrt war wie Niklas. Sie hielt ihren kleinen Hund auf dem Arm, als sie zurück in das schöne alte Holzhaus ging, in dem die Geschwister Siebert nicht nur wohnten, sondern auch ihr Lokal, den Fischerfleck betrieben.

Zurück auf dem Parkplatz blieben Niklas, groß, blond und wegen seines Dreitagebarts etwas verwegen aussehend, und Pia, zierlich, dunkelhaarig und blass wie Schneewittchen.

»Was willst du hier?«, fragte er und bemühte sich um einen möglichst beherrschten Tonfall.

»Nach dir sehen. Aber vielleicht gehen wir auch lieber hinein, nicht dass du dich ohne Jacke noch verkühlst.«

Die eisigen Temperaturen waren momentan nicht Niklas’ Hauptproblem. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Das hast du früher auch nicht getan. Also, raus mit der Sprache, was soll dieser Überraschungsbesuch?«

»War das da eben deine Lebensgefährtin?«

Dazu sagte Niklas nichts, sondern sah Pia einfach nur abwartend an, bis sie schließlich zurückruderte: »Also schön, dann eben kein Smalltalk bei einer Tasse Tee. Ich wollte sowieso nur kurz vorbeischauen, um dir zu sagen, dass ich wieder zurückgekehrt bin.«

»Was meinst du mit ›wieder zurückgekehrt‹?«

»Mein Verlobter und ich suchen gerade nach einem Haus. Zunächst zur Miete, später wollen wir kaufen. Wir planen, uns hier am See geschäftlich niederzulassen.«

»Lass mich raten – und erst mal seid ihr im Sporthotel Hirschberg abgestiegen?«

Schlagartig bröckelte Pias selbstsichere Fassade. Ihr Lächeln flackerte, aber schnell hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Nein, wir wohnen vorne in Urfeld, im Hotel gegenüber dem Tretbootverleih.« Sie biss sich auf die Unterlippe, als hätte sie zu viel preisgegeben. »Wir werden uns ab jetzt sicher öfter über den Weg laufen, Niklas. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich. Ich will kein Drama.«

Er zwang sich zu einem breiten Lächeln. »Auf keinen Fall, was denkst du? Das ist überhaupt kein Problem, im Gegenteil, es ist mir völlig egal.«

»Also gut«, murmelte sie und machte dabei einen betroffenen Eindruck, den er sich nicht erklären konnte. Dann setzte sie sich in ihr Auto und fuhr davon.

Unliebsame Erinnerungen kamen in ihm hoch, an den Duft, den Pia trug, das Grübchen auf ihrer Wange, wenn sie lachte, und an das, was sie mit seinem Herzen angestellt hatte, wann immer sie nur in seiner Nähe gewesen war. Nie war er je wieder so verliebt gewesen. Aber das dachten bestimmt die meisten in Bezug auf ihre Jugendliebe. Gefühle waren intensiver, wenn man jung war – zweifellos. Heutzutage warf Niklas nichts und niemand mehr um, er war seit langem erwachsen, und seine frühe Reife verdankte er auch Pia.

Erst jetzt bemerkte Niklas, wie eiskalt seine Finger und Füße waren. Er stand zitternd in der Kälte, inmitten eines verschneiten Winterpanoramas mit Bergen und See, das er momentan nicht einmal wahrnahm. Eilig lief er zurück ins Warme. Freya, Tobias und der kleine Hund warteten auf der Kaminbank des Kachelofens in der Gaststube auf ihn. Schnell setzte sich Niklas dazu, um sich den Rücken an den beheizten Kacheln zu wärmen.

»Also, das ist sie? Die geheimnisvolle Pia, die dir vor zehn Jahren das Herz gebrochen hat?«, fragte ihn seine Schwester und stieß bedeutungsvoll die Luft aus.

»Elfeinhalb«, brummte er. Seine erste und einzige große Liebe. Niklas und Pia waren nach dem Abitur gemeinsam nach München an die Uni gegangen, hatten in einer WG gewohnt, und er hatte geglaubt, das Leben wäre perfekt. Bis sie ihm gegen Ende des dritten Semesters den Laufpass gegeben hatte. Dabei hatten sie sich erst kurz zuvor verlobt. Pia hatte München verlassen, Gott weiß wohin, und er hatte nie wieder von ihr gehört. Damals war Niklas’ Welt zusammengebrochen. Pias Verrat war die letztendliche Bestätigung dessen gewesen, was er seit seiner Kindheit befürchtet hatte – geliebte Menschen verließen einen zwangsläufig und der, der zurückblieb, litt wie ein Hund.

Obwohl es sich damals so angefühlt hatte, als müsste er sterben, war es erstaunlicherweise nicht das Ende von allem gewesen. Das Leben war weitergegangen, und mit der Zeit hatte es ihm immer weniger weh getan, an Pia zu denken, bis er irgendwann überhaupt keinen Schmerz mehr empfunden hatte. Und das sollte auch so bleiben.

»Was will sie hier?«, fragte Tobias. »Hast du gewusst, dass sie in Walchensee ist?«

Niklas schüttelte den Kopf. »Nein. Für mich war dieser Auftritt ebenso überraschend wie für euch. Unangenehm vor Jessica. Was muss sie denken? Nur gut, dass sie so cool reagiert hat. Sie ist wirklich eine tolle Frau. Jessica, meine ich.« Er atmete durch. »Pia hat gesagt, sie und ihr Verlobter wollen sich geschäftlich hier niederlassen. Aber was sie genau vorhaben, das hat sie nicht erklärt.«

»Ach, sie ist verlobt? Das ist wohl ein Zustand, mit dem sie sich auskennt, was? Wir werden schon noch erfahren, welchen Plan sie verfolgen«, sagte Freya. »Ich schaue nachher mal bei Antonia im Dorfcafé vorbei. Falls die Gerüchteküche schon brodelt, weiß sie sicher als Erste davon.«

Die Besitzerin des Dorfcafés war eine berüchtigte Klatschtante. Davon konnte auch Freya ein Lied singen. Aber seitdem der Fischerfleck mit dem Café gelegentlich gastronomisch kooperierte, richteten sich Antonias Lästereien nicht mehr gegen Niklas’ Schwester, im Gegenteil, Freya schien in Antonias Achtung deutlich gestiegen zu sein.

Wahrscheinlich lag es an voreingenommener Borniertheit, andere zuerst mal negativ zu beurteilen, ehe man sich die Mühe machte, sie besser kennenzulernen, dachte Niklas. Deswegen gab er nie etwas auf den Dorftratsch, sondern war darauf bedacht, sich immer seine eigene Meinung zu bilden. Und aus demselben Grund fand er Jessica Freitag auch so erfrischend anders, denn sie sah die Welt ganz entspannt und war offen für fast alles.

»Ach, warum befassen wir uns überhaupt mit Pia? Damit tun wir wahrscheinlich genau das, was sie mit ihrem theatralischen Auftritt bezwecken wollte.«

»Du hast recht, Niklas. Eigentlich eine Unverschämtheit, nach all der Zeit und allem, was zwischen euch war, hier so unvermittelt aufzutauchen«, stimmte Tobias zu.

»Was ist denn damals eigentlich genau passiert?«, hakte Freya nach. »Wieso hat es zwischen euch nicht geklappt?«

Niklas stand auf. Ihm war mit einem Mal warm genug. »Pia hat sich einfach für einen anderen Weg entschieden.« Er hatte keine Lust, das vergangene Drama wieder aufleben zu lassen. Pia Kaufmann war vor langer Zeit aus seinem Leben verschwunden. Sie interessierte ihn nicht mehr, und er würde weder mit ihr, ihrem Verlobten noch dem, was sie ›geschäftlich‹ nannte, etwas zu tun haben. Niklas Siebert war endlich dabei, seinen Seelenfrieden zu finden. Lang genug hatte das gedauert. Nach dem Tod des Vaters und der Aufregung um Freyas Kindheitstrauma war erst seit kurzem ein wenig Frieden in die Familie eingekehrt. Und eine lang ersehnte Routine. Auch was den Fischerfleck betraf, der mittlerweile so viel mehr war als nur ein Gasthof am See: ein Hotspot, wo sich nicht nur die Schönen und Reichen aus München trafen und die, die hier Urlaub machten, sondern ebenso die Einheimischen. Niklas, Freya und Tobias hatten hart gearbeitet, um das zu erreichen. Nach wie vor brauchten sie all ihre Energie für den Fischerfleck – und Niklas seine obendrein noch für die Berufsfischerei auf dem Walchensee. Es verlangte ihn schlichtweg nicht nach noch mehr Aufregung.

»Wisst ihr, man muss nicht alles wissen und sich auch nicht in alles einmischen. Deshalb wäre ich euch dankbar, wenn wir dieses unerfreuliche Wiedersehen einfach abhaken könnten.«

»Klar, kein Problem. Für dich hoffentlich auch nicht, Bruderherz.«

Niklas ging nach oben in sein Zimmer und kramte eine Schuhschachtel aus den Tiefen seines Kleiderschranks hervor. Darin lagen alte Fotos von ihm und Pia. Warum er sie all die Jahre aufbewahrt hatte, wusste er selbst nicht. Sentimentalität? Masochismus? Gelegentlich hatte er sie hervorgeholt, sie sich angesehen und war in selbstmitleidigen Herzschmerz verfallen. Damit war nun endgültig Schluss. Niklas entschied, dass Pias Anblick keinerlei Gefühlsregung in ihm ausgelöst hatte. Daher fiel es ihm auch nicht schwer, die Schachtel samt Inhalt draußen in die Altpapiertonne zu werfen – ganz im Gegenteil, es fühlte sich wie eine Befreiung an.

Und jetzt brauchte er Bewegung. Er holte seine Langlaufskier aus dem Schuppen, lud sie in sein Auto und fuhr hinüber in die Jachenau.

 

An der Loipe traf er sich mit Kilian Reiter, ursprünglich ein Bekannter von Niklas’ Cousine Lena, der auf seinem Hof hervorragenden Biokäse herstellte. Sein Käse stand auch im Fischerfleck auf der Speisekarte, und Kilian, wie Niklas Anfang dreißig, heimatverbunden und sportlich, war inzwischen zu einem Freund geworden. Niklas hatte ihn von unterwegs angerufen, und es war nicht schwer gewesen, ihn zu einer gemeinsamen Langlaufrunde zu überreden.

»Na, du hast dich aber nicht lang bitten lassen«, rief Niklas ihm entgegen. Kilian stand bereits in voller Montur neben der Loipe.

»Meine Frau ist kurz vor der Niederkunft und momentan leicht reizbar. Ich nehme jede Möglichkeit wahr, um rauszukommen. Wenn das Baby da ist, wird es erst mal stressig. Das weiß ich noch von Kind Nummer eins. Die schlaflosen Nächte sind noch nicht lange her.«

Niklas verzog das Gesicht. »Übernächtigt zu sein und trotzdem voll arbeiten zu müssen, stelle ich mir extrem hart vor. Das wäre nichts für mich.«

»Das wünscht sich wohl keiner. Geht aber nicht anders. Wirst du auch noch merken, wenn erst ein paar kleine Sieberts im Fischerfleck herumwuseln.«

Nun, das war etwas, das sich Niklas beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Der Gedanke an eigene Kinder weckte keinerlei Sehnsucht in ihm. Für ihn war klar – es musste nicht jeder Nachwuchs haben.

»Nein, das steht bei mir erst mal nicht an.«

»Weiß das deine schöne Tierärztin? Ich habe gehört, zwischen euch wird es langsam ernst.«

»Tatsächlich? Das wäre mir neu.«

»Sie war kürzlich wegen einer meiner Kühe hier und hat sich prima mit Hanna verstanden. Meine Frau hat ihr natürlich vorgeschwärmt, wie toll das Trappeln kleiner Füßchen ist, und deine Freundin hat sich nicht abgeneigt gezeigt.«

Niklas winkte ab. »Ach, das war bestimmt nur aus Höflichkeit. Bei mir hat sie das Thema Kinder noch nie angeschnitten. Aber wir sind ja auch nicht richtig fest zusammen.«

Kilian riss überrascht die Augen auf, als hätte er bisher einen vollkommen anderen Eindruck gehabt, aber er schwieg diplomatisch, und die beiden stiegen in die Loipe ein. Niklas fragte sich, ob er irgendwelche Signale von Jessica falsch gedeutet hatte. Oder besser gesagt, ob es überhaupt irgendwelche Signale gegeben hatte. Noch nie hatten sie über eine gemeinsame Zukunft gesprochen. Wenn sie zusammen waren, fühlte es sich entspannt an. Gerade diese Ungezwungenheit schätzte er, daher war Niklas der Meinung gewesen, Jessica ginge es ebenso. Wie plötzlich das Thema Kinder aufgekommen war, konnte er sich nicht erklären. Er hätte doch sicher gemerkt, wenn Jessica einen dringenden Kinderwunsch gehabt hätte. Sie wohnten ja nicht mal zusammen, und er plante auch nicht, an diesem Zustand etwas zu ändern. Alles war gut so, wie es war.

Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen und anfangs war es fast schmerzhaft, die kalte Luft einzuatmen, aber mit der Zeit gewöhnte sich Niklas daran. Schon wieder drängte sich ihm Pias Bild auf. Ihr überraschender Anblick hatte ihm einen Stich versetzt, das musste er zugeben. Was hatte sie dazu bewegt, nach all der Zeit zurückzukommen? Ganz offenbar hatte sie ihn mit ihrem unangekündigten Auftauchen schockieren wollen. Aber weshalb? Er versuchte, sich auf seine Atmung zu konzentrieren, und wollte nicht über sie nachdenken. Mit großen, dynamischen Skatingschritten fuhren Niklas und Kilian auf der gut präparierten Loipe. Es war wirklich ein Privileg, in einer Gegend zu leben, in der man sich zu jeder Jahreszeit an der Natur erfreuen konnte. Niemals würde Niklas in einer Stadt wohnen wollen, nicht einmal in München. Er war im Zwei-Seen-Land zu Hause und vollkommen zufrieden. Nach einer Weile gleichmäßigen Dahingleitens ließ Niklas seine Gedanken ziehen, zuletzt den an Pia, und schließlich gelang es ihm, die entspannende Monotonie des Sports zu genießen. Das verstand er unter Den-Kopf-frei-Kriegen – sich draußen in der herrlichen Natur zu bewegen, den Herzschlag bis hinauf zum Hals zu spüren und einfach an nichts zu denken. In der Ferne erspähte er das Dorf Jachenau und weiter dahinter den Staffel, der es weit überragte. Nicht steinig karg wie die Hochalpenberge, sondern typisch für das bayerische Voralpenland, war der Staffel bis obenhin bewaldet und derzeit dick verschneit. So wie auch der Kirchturm von Jachenau, auf dem eine fluffige weiße Mütze saß.

Später, zurück am Fischerfleck, ging Niklas gar nicht erst ins Haus, sondern zog sich gleich im Garten splitternackt aus und stieg in den Hot Tub, den er, bevor er losgefahren war, angeheizt hatte.

Eine Champagnerfirma hatte ihnen den großen Holzbottich als Werbegeschenk überlassen, und die Sieberts hatten ihn zu einer heißen Wanne umfunktioniert. Freya, die nach der Trennung der Eltern bei ihrer Mutter in Schweden aufgewachsen war, kannte sich mit solchen Dingen bestens aus. Ihrer Meinung nach war es unbedingt notwendig, auch noch eine Außensauna ans Ufer zu bauen. Im Winter wäre das total gesund, vor allem, wenn man anschließend ins kalte Wasser hüpfen würde. Mittlerweile hatte sie ihn überzeugt. Sobald die Zeit es zuließ, würden er und Tobias sich an die Arbeit machen. Das konnte ja nicht so schwierig sein.

Niklas genoss die Wärme des Hot Tubs und entspannte sich mit Blick auf den winterlichen Walchensee, der vor ihm lag wie ein Gemälde. Es gab keinen schöneren Ort auf der Welt als seine Heimat, und Niklas hatte sich immer gefragt, was Leute wohl veranlasste, von hier wegzugehen. Er für seinen Teil war rundum glücklich und erachtete das als Leistung. Nicht jeder bekam es in seinem Leben hin, echte Zufriedenheit zu finden. Dass es bei ihm so war, hatte maßgeblich mit seiner Schwester zu tun. Seitdem sie aus Schweden in ihre bayerische Heimat zurückgekehrt war und die beiden ihre persönlichen Konflikte miteinander und mit der Vergangenheit hinter sich gelassen hatten, hatte Niklas zu einer neuen inneren Balance gefunden. Er streckte die Arme aus und legte sie auf den Rand des Holzbottichs, lehnte den Kopf zurück und atmete tief durch, dabei spielte ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel.

Egal, wie hektisch der Arbeitstag wurde oder was auch immer er zu erledigen hatte, nichts mehr löste jenes nagende Unbehagen in ihm aus, das er von früher kannte. Er war angekommen, ohne jemals weggewesen zu sein.

Und daran durfte auch eine Pia Kaufmann nicht rühren.

2Pia

Das Hotel Alpenblick in Urfeld war das einzige am Walchensee, das es früher einmal mit dem Hotel der Hirschbergs hatte aufnehmen können. Beide hatten um die gehobenere Gästekategorie und die schönste Aussicht gewetteifert. Seitdem Paul Hirschberg aus dem elterlichen Betrieb das elegante Sporthotel gemacht hatte, war die Konkurrenz in Urfeld allerdings weit abgeschlagen und in einen fast morbiden Dornröschenschlaf versunken. Mit fünf Sternen, Privatstrand, Spa und einem Uferpavillon konnte eben keiner mithalten. Vom Wassersportcenter ganz zu schweigen. Das Einzige, was Urfeld an Wassersport zu bieten hatte, war der Tretbootverleih gegenüber dem Hotel Alpenblick.

Trotzdem fühlte sich Pia hier wie zu Hause. Das lag daran, dass ihre Mutter früher als Zimmermädchen für die Besitzerfamilie Lanzdorfer gearbeitet hatte. Pia erinnerte sich gut an Opa Lanzdorfer, der ihr an langen Winternachmittagen an ihrem Lieblingsplatz in der gemütlichen Gaststube von der bewegten Vergangenheit seines Hauses erzählt hatte, während ihre Mutter im Obergeschoss die Betten überzog.

Nun saß Pia an ebendiesem Platz, aber Opa Lanzdorfer war längst gestorben und seine Familie hatte das Hotel verkauft. Die neuen Besitzer hatten es kernsaniert, einen modernen Trakt angebaut und vor einigen Jahren wiedereröffnet. Allein die Stube war unverändert geblieben, worüber sich Pia besonders freute. Draußen rieselten Schneeflocken sanft auf die Terrasse, die im Sommer erhebende Ausblicke über den See bot und derzeit im Winterschlaf dämmerte. Nur die Uferstraße trennte das Hotel vom Wasser. Das Gebäude klebte quasi an der Steilwand dahinter, was seine Expansionsmöglichkeiten zugegebenermaßen stark einschränkte. Ein vornehmer Herr hatte es vor hundertfünfzig Jahren als repräsentatives Anwesen für seine Familie gebaut, wie Pia noch von Opa Lanzdorfer wusste. Die Stelle, die er dafür ausgewählt hatte, war unbestritten die beste in ganz Urfeld. Im Gegensatz zum Dorf Walchensee mit seinen sanften Ufern, von denen man bequem in den See steigen konnte, war die Landschaft hier viel schroffer. Badestrände gab es keine, nur Felswand auf der einen und steil abfallende Böschung auf der anderen Seite. Gerade das machte aber das bemerkenswerte Flair des Hotels Alpenblick aus. Es stand so dicht am Wasser, dass es fast schien, als könnte man hineingreifen, gleichzeitig wirkte der See unerreichbar entrückt. Diesen Anblick hatte Pia geliebt und lange vermisst.

»Liebling, bist du schon wieder hier? Wie war dein Ausflug, hast du eine Runde um den See gedreht, so wie du wolltest?« Sven Neuroth kam in die Stube, rotwangig, gut gelaunt und wie immer, wenn er seine Verlobte betrachtete, mit einem stolzen Lächeln im Gesicht.

Der Holzofen in der Ecke sorgte für eine mollige Temperatur, trotzdem fröstelte Pia bei der Erinnerung an Niklas’ wenig erfreuten Gesichtsausdruck. »Hab ich«, sagte sie versonnen. »Es war ein Abstecher in die Vergangenheit.«

»Ist es nicht toll, nach so vielen Jahren wieder in deiner Heimat zu sein? Ihr Bayern habt es ja wahnsinnig idyllisch, da kehrt man doch gern zurück, nicht wahr?« Sven kam aus Norddeutschland und war in seinem Leben dermaßen oft umgezogen, dass Pia vergessen hatte, aus welchem Ort er ursprünglich stammte. Fünfzehn Jahre älter als sie und mit reichlich unternehmerischer Erfahrung, überließ sie ihm die meisten Entscheidungen in ihrem Zusammenleben. Nur die Rückkehr an den Walchensee, die hatte sich Pia gewünscht. Wahrscheinlich war das eine wahnsinnig blöde Idee gewesen, wie sie mittlerweile dachte, aber Sven hatte gleich eine Geschäftsidee daraus gemacht, und dann hatte dem Ortswechsel nichts mehr im Wege gestanden und es kein Zurück mehr gegeben. Natürlich war die Zeit hier nicht stehengeblieben. Alles hatte sich verändert, die Menschen ebenso wie die Ortschaften. Nichts stand jemals still. Erneut überlief sie ein Schauer.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Sven besorgt. Er bestellte sich ein Kännchen Kaffee und setzte sich mit einer Tageszeitung neben sie auf die Eckbank am Fenstertisch.

»Doch, doch, alles in Ordnung. Ich bin vorhin nur mit einem Bekannten von früher in der Kälte gestanden und muss mich erst wieder aufwärmen. Das war doch sehr frostig.«

»Was? Das Wiedersehen mit deinem Bekannten oder das Wetter?« Sven lachte polternd über seinen Wortwitz, und Pia war froh, nicht antworten zu müssen.

Mit einer Lesebrille auf der Nase vertiefte Sven sich in die Zeitung, und Pia starrte wieder aus dem Fenster.

Am Nebentisch begann die Kellnerin mit dem Eindecken.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Pia, »der alte Herr Lanzdorfer, wann ist der denn gestorben? Und wissen Sie vielleicht, auf welchem Friedhof er begraben liegt?«

Die Frau sah auf. »Bedaure, ich bin nicht von hier. Dazu kann ich Ihnen leider gar nichts sagen.«

»Schon gut. Danke trotzdem.«

»Ah, schau an, das wäre was für uns. Wollen wir heute Abend da mal essen gehen?« Sven deutete auf eine große Werbeannonce und las vor. »›Strandlounge by Hirschberg, winterlicher Sundowner am Sporthotel‹ – die haben ein Austern-Special mit Champagnerverkostung. Das ist ganz nach meinem Geschmack. Vielleicht doch nicht alles so hinterwäldlerisch hier, wie es auf den ersten Blick scheint.«

Pia überlegte. Sie riss sich vom Anblick des verschneiten Ufers los und sah ihren Verlobten an.

»Warum nicht? Eine schöne Idee, lass uns das machen. Und zu deinem Termin beim Bürgermeister werde ich dich nachher auch begleiten.«

 

In Walchensee gab es kein Rathaus, da der kleine Ort Teil der Gemeinde Kochel am See im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen war. Um den Bürgermeister zu sprechen, hatte Sven extra einen Termin vereinbart. Er hatte zwar in Erfahrung gebracht, dass Bürgermeister Naber freitags auch im Gebäude der Touristeninformation in Walchensee zugegen war, wollte aber lieber hinüber in den Nachbarort Kochel fahren.

»Guck mal, da geht es zum Kraftwerk«, sagte Sven auf der Kesselbergstraße. Und etwas später: »Ach schau, dort gibt es ein Kunstmuseum. Soll ich mal auf den Parkplatz fahren?«

»Das können wir uns alles ein andermal anschauen. Zunächst erledigen wir die geschäftlichen Dinge. Dass ich dir das sagen muss, Herr Unternehmer!« Pia wollte neckend klingen, um ihre Anspannung zu überspielen. Es hing viel vom positiven Ausgang ihres Termins ab. Wenn sie den Bürgermeister nicht überzeugen konnten, war ihr Vorhaben von vorneherein zum Scheitern verurteilt, und dann gab es für Sven keinen Grund mehr, länger am Walchensee zu bleiben. Und wenn er fortging, würde sie mit ihm gehen müssen.

Das Rathaus lag im Zentrum von Kochel am See. Der Ort glich zahlreichen anderen bayerischen Dörfern.

»Wenig bemerkenswert«, lautete Svens rasches Urteil.

Auf der Hauptstraße reihten sich Gasthöfe, Hotels, Läden, Bank, Pizzeria und Supermarkt aneinander.

Natürlich fehlte dieses besondere Flair, das den einzigartigen Walchensee ausmachte, fand Pia, sah man doch vom Ortskern aus nicht einmal den Kochelsee. Das Dorf wirkte verschlafen und in die Jahre gekommen. Selbst der gleichnamige See konnte es nicht mit der dramatischen Schönheit seines Konkurrenten jenseits des Kesselbergs aufnehmen. Aber er hatte doch auch seinen eigenen Charme, der am besten während der Sommermonate zur Geltung kam, wenn Ausflugsdampfer auf ihm kreuzten und man an der Uferpromenade flanieren konnte.

Sie parkten vor einem weißen Gebäude mit gelben Mauerblenden und einer verklärt dreinblickenden Marienstatue, die im ersten Stock in eine der Hausecken eingelassen war. Schwer zu sagen, ob das Haus gut renoviert oder neu gebaut, aber auf alt gemacht war.

»Alles mächtig kitschig hier«, konstatierte Sven, als er die Autotür zuschlug. »Wie man sich eben das Bayernland so vorstellt, überall Schneeromantik, bunte Bilder auf Hauswänden und irgendwo tanzt einer Schuhplattler.«

Es hieß nicht Schuhplattler tanzen, sondern schuhplatteln, wenn schon – außerdem waren bayerische Dörfer in der Tat hübscher als mancher Ort nördlich des Weißwurstäquators, davon war Pia überzeugt. Darüber musste man sich nicht lustig machen. Ein unerwarteter Anflug von Heimatliebe überkam sie, und Pia unterdrückte den Drang zu widersprechen. Sven würde das sowieso nicht verstehen. Vier Stufen führten hinauf zum Eingang der Gemeindeverwaltung. Der Bürgermeister erwartete sie in einem hellen, modern möblierten Büro.

»Frau Kaufmann, Herr Neuroth, herzlich willkommen in unserem schönen Zwei-Seen-Land«, begrüßte er sie. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Alle drei setzten sich an einen Besprechungstisch, in dessen Mitte ein Tablett mit Gläsern und Mineralwasserflaschen stand. An der Wand dahinter hing das Wappen von Kochel, mit den drei Bergspitzen und den Streifen in Gelb und Rot.

»Was kann ich für Sie tun?«, kam Bürgermeister Naber umgehend zur Sache. Er war ein sportlich aussehender, dunkelhaariger Mann mittleren Alters, der mit aufmerksamem Blick auf ihre Antwort wartete.

Sven schob ihm seine Visitenkarte über den Tisch zu. »Ich bin Unternehmer und werde hier an ihrem schönen Walchensee eine Erlebnisbrauerei eröffnen. Ganz große Sache. Genaugenommen nicht nur eine Brauerei, sondern auch gleichzeitig eine Destillerie, in der neben Bier auch Whisky und Gin hergestellt werden. Davon kann sicherlich die ganze Gegend profitieren, daher möchte ich heute mit Ihnen über das Wo und Wie sprechen.«

Der Bürgermeister studierte die Visitenkarte eingehend, danach noch mal seine Gäste. Dabei blieb sein Gesichtsausdruck unverändert aufmerksam und neutral. Falls ihn diese selbstsichere Gesprächseröffnung überraschte, ließ er sich das nicht anmerken.

»Hm. Eine Brauerei und eine Destillerie«, wiederholte er. »Von beidem gibt es hier im Voralpenland eigentlich schon genügend, auch große und bekannte. Zum Beispiel drüben am Tegernsee und am Schliersee. Was bringt Sie zu der Annahme, der Walchensee hätte Bedarf daran?«

»Meine Marktanalyse. Ich habe mich natürlich vorher eingehend damit beschäftigt. Direkt am Walchensee gibt es keine eigene Brauerei, die Walchenseer Bier herstellt.«

»Aber ganz in der Nähe, nämlich in Mittenwald und Murnau.«

Diesen Einwand überging Sven.

»Und Destillerien gibt es sowieso keine in der Umgebung – kleine private Schnapsbrennereien zähle ich nicht mit.«

Der Bürgermeister nickte stumm, Sven fuhr fort.

»Es würde den Walchensee ungemein aufwerten, wenn solche Produkte hier hergestellt und vermarktet würden. Schauen Sie mal rüber zum Tegernsee, da findet Tourismus auf einem ganz anderen Level statt als hier. Alles hochpreisig, alles schick. Überall prangt das Wort Tegernsee, der ist zu einer bekannten Marke geworden. Man könnte das hier ebenso machen. Es wäre eine tolle Möglichkeit für die Gastronomie und die Hotellerie, mit Walchenseer Bier und Spirituosen dieses Erfolgskonzept aufzugreifen.«

Pia zuckte innerlich zusammen. Was war das für eine Argumentation? Sven wollte etwas vom Bürgermeister, machte aber seinen Wirkungsbereich schlecht. Das schien ihr nicht gerade diplomatisch. Ihr Verlobter redete unbeirrt weiter. »Warum sollten Sie Tegernseer Bier ausschenken, wenn es auch ein Walchenseer Bier geben könnte?«

»Weil es gut schmeckt.«

»Nun ja, dem müssen wir ja in nichts nachstehen.«

»Und an welchen Standort haben Sie für Ihr Unternehmen gedacht?«

»Also wissen Sie, wenn ich es mir aussuchen dürfte, würde ich sagen, am Rißbach. Ich hab den mal gegoogelt und mir die Gegend auf der Karte angesehen – da wären natürlich perfekte Verhältnisse. Fließendes Frischwasser, von dem wir viel benötigen – besser ginge es nicht.« Er machte eine Pause und sah den Bürgermeister mit seinem Lächeln an, womit er Pia immer an ein kleines Bärchen erinnerte. Harmlos, strahlend, mit leicht geöffnetem Mund und runden Kulleraugen.

»Der Rißbach ist ein Wildfluss, der nach umfangreichen Renaturierungsmaßnahmen nun endlich wieder mehr oder weniger zu seinem ursprünglichen Zustand zurückgefunden hat. Abgesehen davon, dass er bei Wassersportlern extrem beliebt und der unterirdische Rißbachstollen für die Wasserversorgung des Walchensees wichtig ist, liegt das Gewässer nicht in meiner Gemeinde. Und ganz ehrlich – selbst wenn ich dort das Sagen hätte und es keinerlei Umweltschutzauflagen gäbe, wäre eine Brauerei oder eine Destillerie so ziemlich das Allerletzte was ich jemals genehmigen würde.« Herr Naber versuchte nicht einmal, freundlich zu lächeln, was seinen direkten Worten besonderen Nachdruck verlieh.

Auch Sven wurde nun ernst. »Natürlich weiß ich, dass das an dieser Stelle nicht geht. Aber es wäre eben meine erste Wahl, so ich denn eine hätte. Mehr wollte ich damit nicht sagen. Aber nein, wir haben eine andere Betriebsstätte im Auge. Meiner Lebensgefährtin gehört ein Grundstück in Obernach, das liegt auch an einem fließenden Gewässer und wäre für unser Vorhaben hervorragend geeignet.«

Pia merkte nur zu deutlich, dass sie Bürgermeister Naber nicht auf ihrer Seite hatten. Wahrscheinlich fühlte er sich spätestens durch Svens flapsigen Vorstoß mit dem Rißbach auf den Arm genommen. Und nun wurde er vor vollendete Tatsachen gestellt, erfuhr, dass sie kein Grundstück erwerben wollten, hingegen längst eines hatten und konnte sich somit denken, dass dies hier kein erster unverbindlicher Plausch war, sondern bereits weit gediehene Pläne existierten.

Trotzdem blieb er nach außen ganz ruhig. »Auch in Obernach gibt es ein Kraftwerk, das für den See enorm wichtig ist. Aus dessen Zufluss, dem Kanal, von dem Sie sprechen, kann nicht nach Belieben Wasser entnommen oder zugeführt werden.«

Schlagartig sah Sven verständnisvoll aus. »Natürlich nicht, das ist doch klar. Deshalb ist es mir wichtig, alles vorab mit den betreffenden Stellen abzuklären, damit hinterher keine Probleme entstehen. Ich wollte Sie heute eigentlich nur darum bitten, dabei sein zu dürfen, wenn der Bauausschuss der Gemeinde das nächste Mal zusammenkommt. Ich würde dann eine Präsentation vorbereiten, Ihnen und Ihren Kollegen vorstellen, was mir konkret vorschwebt, und Informationsmaterial für alle vorbereiten. Und natürlich den Antrag, über den Sie dann in Ruhe entscheiden können, wenn Sie mein Material gesichtet haben.«

 

»Er wird uns keine Konzession geben. Er wird deinem Bauvorhaben erst gar nicht zustimmen«, sagte Pia draußen im Auto zu Sven.

»Das hat er nicht alleine zu entscheiden. Er kann mir nicht verwehren, die Pläne einzureichen, er muss sie seinem Gremium vorlegen, und dann werden wir sehen. Ich kann sehr überzeugend sein, auch wenn man mir das nicht ansieht.« Er zwinkerte Pia zu, beugte sich zu ihr herüber und küsste sie.

»Herr Naber mag dich nicht.«

Sven grinste vor sich hin. »Das habe ich ebenfalls bemerkt. Aber auch das kann ich zu meinem Vorteil nutzen.«

Ihr Verlobter hatte sein höchst eigenes Vorgehen entwickelt, wenn es um das Durchsetzen seiner Geschäftsideen ging. Bisher war er damit gut gefahren, aber ein kleines komisches Gefühl sagte Pia, dass es dieses Mal nicht so leicht sein würde. Aber vielleicht war sie nur deshalb so pessimistisch, weil ihre Begegnung mit Niklas so komplett danebengegangen war und sie an nichts anderes mehr denken konnte. Nie hätte sie erwartet, dass es sie derart berühren würde, ihn nach all der Zeit zu sehen. Die Jahre waren gut zu ihm gewesen, er sah unglaublich attraktiv aus, weitaus attraktiver als früher. Und auch diese dunkelhaarige Frau hatte sie irritiert. Natürlich hatte Pia nicht erwartet, dass Niklas noch immer single war und ihr nachtrauerte, aber ausgerechnet bei ihrer ersten Begegnung direkt auf seine Freundin zu treffen, war nicht schön gewesen. Dabei hatte Pia vorab alles genau geplant. Was sie sich am wenigsten leisten konnte, war nostalgische Rührseligkeit, daher hatte sie das erste Zusammentreffen zügig hinter sich bringen wollen. Wenn sie sich hier am Walchensee nicht blamieren wollte, musste sie an ihrem Pokerface arbeiten.

Eine gute Gelegenheit dazu bekam Pia am Abend im Pavillon neben dem Sporthotel, über dem in großen Lettern die Aufschrift Strandlounge by Hirschberg prangte. Ein eisiger Wind pfiff um das kleine, gläserne Gebäude, das in der Dunkelheit wie eine Laterne leuchtete. Innen war es glücklicherweise beheizt, und aus einem Lautsprecher kam chillige Loungemusik. Pia und Sven setzten sich auf zwei bequem gepolsterte Barhocker an einen Stehtisch etwas am Rand. Eine bodentiefe Glasscheibe trennte sie von der Terrasse draußen, wo zwei ältere Herren in Daunenmänteln Zigarren rauchten und dazu Whisky tranken. Dahinter fiel die verschneite Badewiese sanft bis zum Wasser hin ab. Im schwachen Lichtschein des Pavillons sah Pia die Wellen glitzernd gegen das Ufer schwappen. Schön sah das aus. Wenig einladend zwar, wegen der winterlichen Kälte, aber so düster-melancholisch, dass es sie an ein Gemälde von Caspar David Friedrich erinnerte. Das passte vorzüglich zu Pias Grundstimmung, seitdem sie wieder am Walchensee war.

»Guten Abend, die Herrschaften, was darf ich Ihnen bringen?« Ein gutaussehender junger Mann erschien am Tisch und sah bei seiner Frage nur Pia an. Sven würdigte er keines Blickes. Er hatte helle Augen unter dunklen Brauen und ein sehr weißes Lächeln. Pias Blick fiel über seine Schulter auf eine große Fotografie, die an der Wand neben der Bar hing. Familie Hirschberg bei der Einweihung des Pavillons – dann musste es sich bei ihrem Kellner wohl um Jonas Hirschberg handeln. Von dem hatte sie gehört, aber persönlich kannte Pia ihn nicht. Sie war nicht in Walchensee aufgewachsen, sondern drüben in Kochel, wo ihre Mutter gewohnt hatte. Dort war sie auch zur Grundschule gegangen und später dann aufs Gymnasium in Bad Tölz. Von einer Rückkehr an den Walchensee zu sprechen, wie sie es Niklas gegenüber genannt hatte, war genaugenommen eine falsche Formulierung, da weder Pia noch ihre Familie zu den Alteingesessenen gehörten. Das Grundstück in Obernach, auf dem Sven seine Brauerei bauen wollte, hatte ihr eine Großtante hinterlassen, die ohne direkte Erben verstorben war.

Noch immer wartete Jonas Hirschberg auf ihre Bestellung.

»Wir nehmen eine Flasche Champagner und ein Dutzend Austern«, sagte Sven entschieden. »Und dann sehen wir weiter.«

»Sehr gern, der Herr. Sind Sie Gäste unseres Hotels und möchten es aufs Zimmer schreiben lassen?«

»Nö. Ich zahle später cash. Da wird sicher noch was dazukommen.«

Zufrieden nickend zog sich Jonas hinter die Bar zurück und gab die Bestellung durch. Es kamen weitere Gäste, bis schließlich jeder Tisch besetzt war. Allerdings taten sich die wenigsten an den in der Zeitung beworbenen Austern gütlich. Hauptsächlich wurde Bier bestellt und nichts zu essen. Sven störte das nicht, er ließ sich nach den Muscheln eine große Brotzeitplatte mit Speck, Käse und Räucherfisch bringen.

»Woher stammt der Fisch?«, fragte Pia Jonas Hirschberg.

»Das ist Renke aus dem Walchensee, und wir beziehen sie von einem einheimischen Fischer.«

»Von Herrn Siebert?«

Er wirkte überrascht. »Nein. Wieso? Kennen Sie Herrn Siebert?«

»Ich habe gehört, sein Räucherfisch wäre besonders gut.«

»Das ist der hier auch«, ertönte eine laute, leicht kehlig klingende Stimme. Sie passte zu dem älteren Herrn, der hinter Jonas aufgetaucht war. »Schmackhaftere Räucherfilets als diese hier werden Sie nicht kriegen. Schon gar nicht beim Siebert, das können Sie mir glauben.«

»Das wollte ich auch gerade sagen, Papa.«

Pia starrte in das Gesicht von Hirschberg Senior. Sie hatte ihn schon im Hintergrund hantieren gesehen und genau beobachtet, wie sein Kopf herumgefahren war, als sie Niklas’ Nachnamen laut erwähnt hatte. Es schien ihm ein Anliegen zu sein, ausdrücklich zu betonen, dass er keine Siebert-Fische im Angebot hatte.

Dann hat sich also nichts geändert, dachte Pia, die Sieberts und die Hirschbergs sind sich noch immer nicht grün.

Sogar sie wusste von der jahrzehntelangen gegenseitigen Abneigung der Familien und fragte sich, wie wohl die nächste Generation damit umging. Waren sich Niklas und Jonas ebenso feindselig gesonnen, wie ihre Väter es gewesen waren? Und wie stand Freya Siebert dazu? Niklas’ Schwester war nach der Scheidung der Eltern als Kind mit ihrer Mutter nach Schweden gezogen, und Pia hatte sie deshalb nicht kennengelernt, als sie mit Niklas zusammen gewesen war. Offensichtlich war die verlorene Tochter mittlerweile wieder nach Hause zurückgekehrt.

»Also mir schmeckt es ganz vorzüglich«, sagte Sven kauend. »Und ehrlich gesagt ist mir schnuppe, wer die Renke aus dem See gefischt hat. Aber meine Verlobte hat früher mal hier gelebt, deswegen interessiert sie sich für derartige Details. Ich würde nie auf die Idee kommen zu fragen, wer den Fisch gefangen hat, den ich esse.« Er lachte.

»Ach ja? Sie stammen aus Walchensee? Wie ist denn der Familienname?« Paul Hirschberg musterte Pia unverhohlen.

»Kaufmann. Aber der wird Ihnen nichts sagen. Wir haben drüben in Kochel gewohnt, nicht direkt hier am See.«

Er überlegte. »Nein, der Name ist mir tatsächlich nicht geläufig. Und jetzt machen Sie hier Urlaub?«

Auch Sven schien nun klar zu sein, dass sie mit dem Hotelbesitzer sprachen, denn er stellte sich vor und erwähnte sogar sein geschäftliches Vorhaben, was Hirschberg-Senior brennend zu interessieren schien. Die beiden Herren unterhielten sich angeregt, währenddessen Pias Blick erneut auf Jonas fiel. Der stand inzwischen wieder hinter dem Tresen und zapfte gerade ein Bier. Das stellte er zu drei weiteren auf ein Tablett und gab dem anderen Kellner ein Zeichen, es abzuholen. Dann sah er zu Pia hinüber und lächelte.

Sobald Sven mit dem Essen fertig war, täuschte Pia Kopfschmerzen vor und wollte zurück ins Hotel. Die Worte ihrer Mutter hallten durch Pias Kopf. Halte dich so weit von den Hirschbergs fern, wie du nur kannst. Die ganze Familie bedeutet nichts als Ärger, das können dir alle bestätigen, die je mit ihnen zu tun hatten.

Auf sie als kleines Mädchen hatte das abschreckend gewirkt. Sie hatte sich die Hoteliers wie eine Monsterfamilie vorgestellt. Mittlerweile, als erwachsene Frau, fragte sich Pia, ob ihre Mutter nicht ein wenig übertrieben hatte. Klar, ein junges Zimmermädchen, wie sie es damals gewesen war, konnten die patenten Hirschbergs bestimmt einschüchtern. Vor allem wenn dieses Zimmermädchen im Nachbarort für die Konkurrenz arbeitete, die nichts Gutes über die Familie verlauten ließ. Die Stimme des Seniors klang tatsächlich reichlich unangenehm, aber dafür konnte er nichts. Was sollte an ihm furchteinflößend sein, fragte sich Pia verwundert. Auf sie machte er eher den Eindruck eines alternden Mannes, der mit Sonnenbräune aus der Tube und neu gemachten Zähnen krampfhaft an einer Jugend festhielt, die ihn längst verlassen hatte. Zudem schien er das Heft nicht aus der Hand geben zu wollen. Sein Anspruch auf Dominanz war offensichtlich in der Art, wie er mit seinem Sohn umsprang. Jonas, um die dreißig und kein Jungspund mehr, war der Nachfolger, der in den Startlöchern stand und darauf wartete, dass der Alte endlich den Staffelstab übergab. Man musste nicht besonders feinfühlig sein, um selbst als Außenstehender zu merken, dass es hier ein Kompetenzgerangel gab. Nein, vor den Hirschbergs hatte Pia keine Angst. Aber wer weiß, vielleicht würden die Hirschbergs über kurz oder lang lernen, Pia zu fürchten?

3Freya

»Früher hatten wir im Winter immer Eisblumen an den Scheiben, aber anscheinend hat Papa mal neue Fenster einbauen lassen.« Freya lag neben Tobias im Bett, die Decke hochgezogen bis unters Kinn. Es war Zeit aufzustehen, aber dazu hatte sie absolut keine Lust. Sie kuschelte sich an ihren Freund und genoss seine Wärme.

»Stimmt, Eisblumen kenne ich auch noch vom Haus meiner Oma«, sagte er. Sie hörten, wie Niklas im Bad die Dusche anstellte. Jessica hatte ebenfalls hier übernachtet, war aber längst in ihre Tierarztpraxis gefahren. Langsam wurde es voll im Siebert-Haus, Freya mochte das. Und sie mochte Jessica. Überhaupt schätzte sie das gemütliche Familienleben, jenes kostbare private Glück, das sie den anstrengenden Arbeitsalltag locker wegstecken ließ. Nach diesem Glück hatte sie sich lange gesehnt und nun, da sie es gefunden hatte, wertschätzte sie jeden Augenblick.

Umso mehr beunruhigte sie immer noch der kürzliche Überraschungsauftritt von Niklas’ Exfreundin. Freya war es so vorgekommen, als hätte sie Niklas schockieren wollen. Eine andere Erklärung fiel ihr für diese seltsame und äußerst unpassende Aktion nicht ein. Aber warum?

»Ich habe mit Antonia einen Prosecco getrunken«, erzählte sie Tobias jetzt.

Der gab ein Geräusch von sich, das wie fassungsloses Nach-Luft-Schnappen klang. »Gütiger Gott! Wenn mir das jemand vor einem halben Jahr erzählt hätte …«

»Ja, ja, ich weiß. Da haben wir uns halt noch nicht verstanden. Jetzt aber schon. Jedenfalls hat Antonia auch schon gehört, dass eine schicke Dame und ihr Verlobter mit einem dicken Auto angereist sind und irgendwas vorhaben. Angeblich hatten die bereits einen Termin beim Bürgermeister in Kochel, nur war der wohl wenig beeindruckt von den beiden.«

»Wirklich, Freya, woher soll Antonia denn bitte diese Informationen haben? Dass du das glaubst! Das sind doch nichts als Spekulationen.«