Das Haus aus Perlmutt - Esther Destratis - E-Book

Das Haus aus Perlmutt E-Book

Esther Destratis

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Beschreibung

»Ich will mit leichtem Gepäck nach Irland reisen. Und alles Materielle, was wir haben, ist sowieso nur eine Leihgabe im Leben«. Giovannas Leben liegt in Trümmern. Ihre Tochter studiert in den USA, ihr Mann hat sie verlassen, sie hat ihr Haus verloren. Doch als sie am Tiefpunkt angekommen scheint, erinnert sie sich an einen Jugendtraum: nach Irland zu gehen. Schon bald lassen Landschaft und Menschen auf der grünen Insel sie ihren Kummer vergessen – allen voran der schüchterne Lichttechniker Shane. Als sie Monica kennenlernt, die wie eine Einsiedlerin in ihrem ehemaligen Bed & Breakfast haust, kommt Giovanna einem Geheimnis auf die Spur. Legenden ranken sich um Monicas Haus aus Perlmutt. Sind die Gerüchte wahr, dass Monica ihre Familie auf dem Gewissen hat? Kann Giovanna Monica zusammen mit Liam helfen, ihr Schicksal wieder in die Hand zu nehmen? Zwei Frauen, zwei miteinander verwobene Schicksale und der Wunsch nach einem glücklichen Leben.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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DAS HAUS AUS PERLMUTT

ESTHER DESTRATIS

>

© 2019 Esther Destratis

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Esther Destratis, Ringstraße 52, CH-5620 Bremgarten, Aargau

Lektorat und Korrektorat: Anke Höhl-Kayser

Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Shutterstock.com

eBook-Gestaltung:buchseitendesign by ira wundram, www.buchseiten-design.de

Zierelemente Innenteil: © EVA105/Shutterstock.com; © Khabarushka/Shutterstock.com; #519795758/AdobeStock

Veröffentlicht über tolino media, ISBN: 978-3-75795-586-1 (2023, Version 1.0)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INHALT

Über dieses Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Weitere Bücher der Autorin

ÜBER DIESES BUCH

»Ich will mit leichtem Gepäck nach Irland reisen. Und alles Materielle, was wir haben, ist sowieso nur eine Leihgabe im Leben«.

Giovannas Leben liegt in Trümmern. Ihre Tochter studiert in den USA, ihr Mann hat sie verlassen, sie hat ihr Haus verloren. Doch als sie am Tiefpunkt angekommen scheint, erinnert sie sich an einen Jugendtraum: nach Irland zu gehen. Schon bald lassen Landschaft und Menschen auf der grünen Insel sie ihren Kummer vergessen – allen voran der schüchterne Lichttechniker Shane.

Als sie Monica kennenlernt, die wie eine Einsiedlerin in ihrem ehemaligen Bed & Breakfast haust, kommt Giovanna einem Geheimnis auf die Spur. Legenden ranken sich um Monicas Haus aus Perlmutt. Sind die Gerüchte wahr, dass Monica ihre Familie auf dem Gewissen hat? Kann Giovanna Monica zusammen mit Liam helfen, ihr Schicksal wieder in die Hand zu nehmen? Zwei Frauen, zwei miteinander verwobene Schicksale und der Wunsch nach einem glücklichen Leben.

Für die Frauen in meinem Leben, die ich viel zu früh verloren habe.

PROLOG

Zürich, 1990

Henry

»Was für ein Hundewetter aber auch«, fluchte Henry Wagner, als er aus seinem Haus trat. Der Fußweg zur Arbeit war nicht weit, aber bei diesem Regen konnte selbst der große Schirm, den er mitgenommen hatte, nicht viel ausrichten.

Bereits nach wenigen Metern klebte der Bund seiner Bügelfaltenhose an seinen Beinen und die Socken in seinen italienischen Lederschuhen hatten sich an seinen Füßen festgesaugt. Henry begann zu frösteln.

Und damit muss ich nun den ganzen Tag lang arbeiten!Als Bankberater kann ich schlecht die Strümpfe zum Trocknen über die Heizung hängen und meine Kunden in Anzug und Sandalen begrüßen!

»Wenn nur der Wind nicht so eisig wäre!«, entfuhr es ihm, während er mit einer Hand sein Gesicht in dem Aufschlag des warmen Wollmantels verbarg und er sich, mit der anderen im Griff des Regenschirms verkrallt, gegen den peitschenden Regen vorankämpfte.

Die dünnen Metallspeichen des Schirms verbogen sich gefährlich, hielten jedoch der Attacke des Windes stand. Das Laub hing auf dem vom Regen glänzend gewaschenen Bürgersteig fest, während das Wasser sich seinen Weg durch Dachrinnen hin zu den übersprudelnden Abwasserkanälen suchte. Henry lief auf einen Fußgängerüberweg zu und sah eine junge Frau, die es gerade noch schlimmer erwischte als ihn. Sie hatte nichts, was den Regen abhalten konnte. Ihre dünne Lederjacke triefte vor Nässe genauso wie ihre schwarzen Locken.

»Ich wollte hier keine Wurzeln schlagen, du elende Ampel!«, hörte Henry sie schimpfen. Die Art und Weise, wie sie vor sich hin fluchte und die Ampel mit Blicken tötete, machte sie für Henry auf Anhieb sympathisch. Er konnte einfach nicht widerstehen, er hielt den Regenschirm über sich und den nassen Lockenkopf der jungen Frau.

Sie schaute verdutzt nach oben. Sie schien sich zu wundern, warum es rund um sie herum noch regnete, aber das Wasser nicht mehr auf sie einprasselte.

Ihre Blicke trafen sich und sie schenkte ihm das schönste Lächeln, das er je gesehen hatte. Hätte jeder Mensch solche Zähne wären Zahnärzte arbeitslos, dachte Henry. Ihre Wangen hatten die Farbe von reifen Sommeräpfeln und ihre Augen strahlten ihn dankbar an.

»Vielen Dank, dass Sie Ihren Regenschirm mit mir teilen. Darf ich wissen, welch edler Ritter mich hier todesmutig vor den Himmelsfluten gerettet hat?«, sagte sie, während sie einen kleinen Knicks andeutete.

»Ach nein, kein Ritter, ich bin nur ein kleiner Bankangestellter. Henry Wagner mein Name, sehr erfreut. Ich konnte einfach nicht zusehen, wie Sie sich hier den Tod holen.«

Die Frau reichte Henry die Hand: »Giovanna Ricca, auch bekannt als die junge Dame, die heute Morgen zu faul war, einen Regenschirm mitzunehmen. Oh, es ist grün, wollen wir dann mal?«

Sie hakte sich bei Henry unter, während sie die Straße überquerten. Eine wohlige Wärme machte sich in seinem Bauch breit.

»Das trifft sich gut, dass Sie Bankangestellter sind. Ich bin gerade auf dem Weg zur Stadtbank am Paradeplatz. Vielleicht können Sie mir ein paar Tipps verraten, wie ich die Bank überzeuge, mir ein kleines Darlehen zu gewähren?«

Henry horchte auf.

»Zufälligerweise arbeite ich bei der Stadtbank. Haben Sie einen Termin vereinbart?«

»Nein, muss man das denn für ein Darlehen?«

»Eigentlich schon, aber heute ist Ihr Glückstag. Zufälligerweise ist mein Terminkalender heute Morgen frei, also kann ich mich Ihrer Sache mit dem Darlehen gerne persönlich annehmen«, erwiderte Henry stolz.

»Das ist ja nett von Ihnen!«

Giovanna schien begeistert und Henry beobachtete fasziniert die Grübchen, die jedes Mal sichtbar wurden, wenn sie lächelte.

»Keine Ursache.«

Solange sie so lächelte und strahlte, hätte er auch gerne seine private Zeit für sie geopfert.

Einige Minuten später betrat Henry zusammen mit Giovanna sein Büro. Er ließ sie Platz nehmen und gab seiner herbeigerufenen Assistentin Anweisungen:

»Marietta, könnten Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee in mein Büro bringen? Und wenn Sie irgendwo noch ein sauberes Handtuch für meine Kundin auftreiben könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

Marietta nickte und verschwand wieder. Kaum hatte Giovanna ihre durchnässte Lederjacke ausgezogen, beanspruchte das blumige Bouquet ihres Duftes den Raum für sich. Henry versuchte, ihn zu ignorieren und den Arbeitstag so normal wie möglich zu beginnen, indem er seinen Computer und seine Stereoanlage einschaltete, Schreibblock, Taschenrechner und Stifte richtete.

Ein trauriges und langsames Klavierstück erfüllte das Büro.

»Mögen Sie Musik?«, wollte Henry von Giovanna wissen, die ihre Augen geschlossen hielt und das Stück sichtlich genoss.

»Ja. Wie kann man Musik nicht mögen? Wobei ich für gewöhnlich keine Klassik höre. Was ist das für ein Stück? Es ist wunderbar.«

»Die Mondscheinsonate von Beethoven. Ein außergewöhnliches Stück. Ich liebe es, während meiner Beratungsgespräche klassische Musik zu hören. Es entspannt mich und fördert meine Konzentration. Es sei denn, es stört meine Kunden, dann schalte ich die Musik natürlich aus.«

Giovanna öffnete ihre Augen wieder. »Nein, lassen Sie es gerne weiterlaufen. Es gefällt mir.«

Giovannas Hand griff nach seiner. Sie fühlte sich eiskalt an, während er in seiner Magengegend ein seltsames Kitzeln empfand, das er sonst nur vom Achterbahnfahren kannte. Er vernahm das Geräusch klackernder Absätze, Giovanna zog ihre Hand rasch zurück und wenige Sekunden später stellte Marietta zwei Tassen Kaffee auf den Schreibtisch. Giovanna drückte sie ein Handtuch in die Hand, und die junge Frau fing sogleich an, ihre Locken damit trocken zu tupfen.

Henry räusperte sich und versuchte wieder, der professionelle Kundenberater zu sein, der er sonst war.

Er starrte auf den Bildschirm seines Computers, als würde er dort die Antwort darauf finden, was da gerade in ihm vorging.

»Also, Frau Ricca, wofür benötigen Sie ein Darlehen? Möchten Sie sich Ihr erstes Auto kaufen? Oder darf es sogar schon eine eigene Wohnung sein?«

Giovanna nahm die Tasse in ihre beiden Hände, als würde sie sich daran festhalten wollen und schlürfte vorsichtig vom Wachmacher, bevor sie Henry antwortete:

»Nein, ich möchte gerne ein Jahr in Irland studieren. Das Stipendium haben leider andere Studenten bekommen und meine Eltern können mich bei dem Auslandsjahr nicht finanziell unterstützen.«

»So, so eine Studentin«, stellte Henry wohlwollend fest, »was studieren Sie denn?«

»Englisch und Literatur.«

Das passt perfekt zu Ihnen, hätte Henry am liebsten ausgerufen, doch er besann sich eines Besseren und antwortete stattdessen: »Wir haben doch fantastische Universitäten von Weltrang hier in Zürich, weshalb zieht es Sie ausgerechnet nach Irland? Herrscht da nicht gerade dieser Nordirland-Konflikt?«

Giovanna krallte sich noch fester an ihre Tasse. Sie erinnerte ihn an eine Ertrinkende an einem Rettungsring.

»Ja, doch, aber na ja, Sie wissen schon. Auf den Spuren irischer Dichter unterwegs sein. Schlösser und Meer, soweit das Auge reicht. Grüne Landschaften mit Schafen. Englische Konversation betreiben.«

Wort für Wort konnte Henry Begeisterung und Träumerei in Giovannas Augen lesen, doch in seinem Kopf führte er die Liste einfach weiter: Pubtouren mit Livemusik. Mit irgendeinem gutaussehenden Musiker im Bett landen und sich schwängern lassen. Heiraten und für immer in Irland bleiben. Ungewollt musste er schlucken. Nach außen hin blieb er kompetent und emotionslos, während in ihm Kriege gefochten wurden.

»Ich verstehe. Na, dann wollen wir einmal schauen, was ich für Sie tun kann.«

Henry überprüfte Giovannas mickrige Ersparnisse und noch mickrigere Garantien. In seiner Karriere hatte er durchaus verzweifeltere Fälle gesehen, bei denen er Kunden im Namen der Bank Geld geliehen und nicht gewusst hatte, ob sie es je wiedersehen würden. Wenn er nur wollte, konnte er. Wenn er denn wollte. Giovannas Lächeln wirkte auf Henry freundlich, aber unsicher, während er einige Zahlen in seinen Taschenrechner tippte. Er rang mit sich. Sollte er dieser schönen jungen Frau wirklich das Darlehen geben und zusehen, wie sie, kaum dass er sie kennengelernt hatte, wieder aus seinem Leben verschwand?

Andererseits: Sollte er ihr das Darlehen verweigern und ihr vielleicht so Zukunftschancen verbauen?

»Können Sie einige Minuten draußen warten, während ich mit meinem Vorgesetzten telefoniere?«, bat Henry sie.

»Natürlich«, antwortete Giovanna und verließ den Raum, der immer noch nach ihrem Parfum roch.

Statt mit seinem Vorgesetzten diesen Härtefall zu eruieren, starrte Henry minutenlang auf Giovannas noch volle Kaffeetasse, auf der sie einen roten Lippenstiftabdruck hinterlassen hatte.

Beethovens Meisterwerk war schon lange verklungen, als Henry endlich eine Entscheidung traf und Giovanna wieder in sein Büro hineinbat.

KAPITEL1

2016, September

Giovanna

Giovanna musste schmunzeln. Ihre Tochter Ophelia rutschte auf dem Rücksitz hin und her.

»Mama, Papa, ich bin so aufgeregt. Ich bin so aufgeregt! Was mache ich, wenn die Stevens mich nicht mögen? Wenn ihre Kinder unausstehlich sind?«

Während der ganzen Fahrt zum Flughafen hatte Ophelia ununterbrochen geplappert und Horrorszenarien zum Besten gegeben.

»Es wird schon alles gut werden«, brummte Henry vor sich hin, während er den Wagen im Flughafenparkhaus einparkte und den Motor abstellte.

Giovanna versuchte, mehr sich selbst als ihre Tochter zu beruhigen, als sie sagte: »Wir haben die Familie Stevens in der besten Au-Pair-Agentur der Stadt ausgesucht, mehrmals mit ihnen telefoniert und geschrieben. Sie haben einen einwandfreien Leumund und du fandest ihre Kinder doch reizend, weißt du noch?«

»Ja, ich weiß«, antwortete Ophelia, während sie ihre Reisetaschen auf einen Gepäckwagen hievte, den Henry besorgt hatte, »aber ich habe von schrecklichen Geschichten gehört, bei denen Au-Pairs als Putzfrauen missbraucht wurden und …«

Henry unterbrach sie: »Jetzt genug der Schwarzmalerei. Deine Mutter wollte vor über 20 Jahren auch gerne ein Austauschjahr in Irland machen, hatte aber keine finanziellen Mittel dafür.«

»Wenigstens habe ich stattdessen einen Ehemann bekommen!«, zwinkerte Giovanna Henry zu.

Henry lächelte: »Na immerhin!«

Er nahm Ophelias Hände in seine: »Ophi, du wolltest dieses Jahr in den USA haben, damit du perfekt für dein Englischstudium vorbereitet bist. Du wolltest nach New England gehen, weil der Indian Summer dort so wunderschön ist, und wir haben es dir ermöglicht. Du wolltest eine nette Gastfamilie haben und noch genügend Zeit für deine Englischkurse. Ich bin mir sicher, Familie Stevens ist die Richtige für dich, wir haben sie haargenau unter die Lupe genommen. Die beste Familie ist gerade so gut genug für meine Tochter.«

Giovanna sah, wie Henrys Augen feucht wurden. Sie konnte so viel Liebe aus ihnen herauslesen.

»Nun mache das Beste aus der Möglichkeit, die wir dir geben und wenn es wirklich Probleme geben sollte, hole ich dich persönlich aus den USA wieder ab, Indianerehrenwort.« Henry fasste sich an die Brust und hob die Hand, als würde er einen Eid schwören. Giovanna lächelte und fühlte sich durch Henrys Worte etwas beruhigter, während Ophelia nickte und ihren Gepäckwagen in Richtung Eingang schob.

Im Flughafen war das übliche Treiben im Gange. Giovanna liebte es, die Passagiere zu beobachten und sich den Grund ihrer Reise zusammenzureimen.

Während Ophelia kurz vor den Sicherheitskontrollen ihren Reisepass und ihre Bordkarte aus ihrer Tasche fischte, sah Giovanna, wie ein Pärchen sich weinend in den Armen lag und ein junger Mann von seinen Verwandten in einer fremden Sprache lautstark und mit Küssen und Umarmungen verabschiedet wurde.

Jemanden lieben und von ihm Abschied nehmen bedarf keiner Übersetzung, es klingt in jeder Sprache gleich, dachte Giovanna mit einem Knoten im Hals und Tränen in den Augen, während sich Ophelia von Henry verabschiedete.

»Pass gut auf dich auf, mein großes, kleines Mädchen. Melde dich regelmäßig, heute haben wir ja alle denkbaren Kommunikationsmöglichkeiten«, sagte Henry und strich seiner Tochter über die Locken.

»Ich werde dich stolz machen, Mama, indem ich irgendwann eine noch bessere Englischlehrerin werde, als du es bist«, versprach Ophelia Giovanna, als sie an der Reihe war.

Giovanna atmete den Duft von Ophelias Haaren ein und versuchte, diesen Augenblick festzuhalten.

»Du hast mich immer nur stolz gemacht, mein Kind. Lerne viel, finde neue Freunde und lass auch den Spaß nicht zu kurz kommen. Und komme gesund wieder zu uns zurück. Ich liebe dich.«

»Ja, das verspreche ich dir. Ich liebe dich auch, Mama.«

Ophelia scannte ihre Bordkarte ein und ging durch die elektronische Schleuse.

Ein paar Minuten blieben Henry und Giovanna stehen und winkten Ophelia zu, bis sie sie nicht mehr sehen konnten.

»Komm, es ist Zeit. Du weißt ja, wie unverschämt teuer das Parkhaus hier ist«, drängte Henry Giovanna.

Im Wagen fummelte Henry am Radio herum, bevor er losfuhr:

»So, neumodisches Gedudel aus, Klassik an!«

Sogleich erklang Beethovens Mondscheinsonate. Das gefühlvolle Stück passte zum Abschied von ihrer Tochter, aber unweigerlich musste Giovanna daran denken, wie sie Henry kennengelernt hatte. Sie hatte ihr jüngeres Ich vor Augen, durchnässt bis auf die Unterwäsche, voller Hoffnungen und Wünschen, die Henry innerhalb von Sekunden zerstört hatte:

»Ich habe mit meinem Vorgesetzten telefoniert, bedauerlicherweise ist hier nichts zu machen. Wir können Ihnen leider kein Darlehen für Ihr Auslandsjahr in Irland geben.«

Henrys Worte schlugen ihr wie eine Faust in den Magen. Verzweifelt versuchte sie Argumente vorzubringen: »Ich weiß, auf dem Sparbuch ist nicht viel, aber ich werde mir in Irland einen kleinen Nebenjob suchen und jeden Monat den Kredit abbezahlen, ehrlich!»

Henry presste die Lippen aufeinander und schüttelte mit dem Kopf.

»Gut, dann spreche ich mit einer anderen Bank, Sie sind ja nicht die Einzige hier in Zürich«, sagte Giovanna trotzig.

»Das stimmt natürlich, aber ich rate Ihnen davon ab. Die Stadtbank ist bereits die kulanteste Bank auf dem Markt, mit den anderen Banken würden Sie nur Ihre Zeit verschwenden.«

Wieder machte dieser Kundenberater Giovannas Hoffnung zunichte, dabei konnte sie ihm nicht einmal böse sein, sie wusste ja, dass ihre finanzielle Situation nicht gut war. Giovanna dachte an die Worte ihrer Eltern. Das wird sowieso nichts! Schlag es dir aus dem Kopf! Sie konnte sich schon vorstellen was sie sagen würden, wenn sie nach Hause kam: Wir hatten es dir ja gleich gesagt!

Giovanna konnte die Tränen der Wut und Enttäuschung nicht zurückhalten. Sofort zückte Herr Wagner ein Taschentuch und reichte es ihr.

»Was ist denn an unseren Universitäten hier in Zürich nicht gut?«, fragte er sanft.

Oh nein wie peinlich, jetzt heulst du auch noch vor ihm wie ein kleines Mädchen, dachte Giovanna und trocknete rasch ihre Tränen.

»Mit den Unis hier ist alles bestens, aber seitdem ich denken kann möchte ich nach Irland! Die grünen Landschaften mit meinen eigenen Augen sehen!«

Beruhigend tätschelte er ihre Hand: »Ich bin mir sicher, Sie werden nach Ihrem Studium einen guten Job finden und dann werden Sie sich diesen Traum von der Reise nach Irland verwirklichen können und zwar ganz ohne unsere Hilfe.«

Ein kleiner Lichtschimmer am Ende des Tunnels.

»Denken Sie das wirklich?«

»Da habe ich keine Zweifel!«

Giovanna beruhigte sich, die Tränen versiegten. Seine Hand lag noch immer auf ihrer und sie fand es nicht unangenehm.

Er zeigte auf ihre noch volle Tasse.

»Darf ich Sie zum Trost auf einen guten Kaffee einladen? Ich fürchte, Marietta kann mit unserer alten Kaffeemaschine einfach nichts Besseres hinbekommen.«

Warum eigentlich nicht? Er ist sympathisch und gutaussehend.

Es war nicht nur bei diesem Kaffee geblieben.

So hatte ihre Liebesgeschichte begonnen. Mit einem abgelehnten Darlehen und einer starken Schulter zum Ausheulen.

Das Hupen eines Autos brachte Giovanna wieder in die Gegenwart zurück.

»Zu Hause wird es jetzt ziemlich still ohne Ophelia sein«, sagte Giovanna.

»Hmmm«, brummte Henry.

»Aber wer weiß, vielleicht erleben wir jetzt unseren zweiten Frühling. In letzter Zeit warst du immer bis spät im Büro oder wochenweise auf Konferenzen. Wir sollten mehr Zeit miteinander verbringen, ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal ausgegangen sind oder ein Wochenende in einem Wellnesshotel verbracht haben.«

»So ist das nun einmal als Präsident der Stadtbank. Man muss rund um die Uhr arbeiten, präsent sein, Leistung erbringen. Wie sollten wir uns unser schönes Haus sonst leisten? Von deinem Lehrergehalt könnten wir höchstens die Garage abbezahlen.«

Giovanna schmerzte diese Wahrheit.

»Immerhin unterrichte ich am Gymnasium. Und du weißt, wie das ist. Mehr als Rektorin kann eine Lehrerin nicht werden, und bis Magda in Rente gehen wird, kann das noch Jahre dauern.«

»Ich weiß, ich weiß«, beschwichtige Henry, »entschuldige, ich habe es nicht so gemeint.«

Nachdem Henry das Tor zu ihrer eleganten Villa mit Garten geöffnet hatte, parkte er das Auto vor dem Haus. Im Wohnzimmer schimmerte Licht durch die Gardinen.

»Seltsam, ich hatte doch alle Lichter gelöscht, bevor wir Ophi zum Flughafen gefahren haben.«

Henry hielt das Lenkrad so verkrampft fest, dass die Knöchel ganz weiß wurden.

KAPITEL2

Zwei Wochen vorher

Elaine

Nach dem Liebesspiel lag Elaine bäuchlings auf dem Bett und zog an einer Zigarette.

»Elaine! Ich mag es nicht, wenn du nach dem Sex rauchst. Ich mag es eigentlich überhaupt nicht, dass du rauchst. Das ist nicht gut für dich«, tadelte eine Stimme aus dem Bad.

»Dass du weiterhin mit Giovanna verheiratet bist, obwohl wir schon ein Jahr lang zusammen sind, ist auch nicht gut für dich«, konterte Elaine, während sie Ringe in die Luft blies.

Henry kam mit einem Handtuch um seine rundlich werdenden Hüften aus der Dusche. Dampf entwich aus dem kleinen Badezimmer, das Henry regelmäßig in einen Hamam verwandelte.

»Giovanna und ich sind 26 Jahre lang zusammen, davon 25 Jahre verheiratet. Ophelia fliegt in zwei Wochen für ein Jahr als Au-Pair in die USA, ich kann ihr das jetzt nicht antun.«

Elaine drückte die Zigarette aus und wickelte sich in ein Laken.

»Erst war es ihr Geburtstag, dann war es dein Geburtstag, dann eure Silberhochzeit und jetzt ist der Auszug deiner Tochter die perfekte Ausrede für dich. Ich bin es leid, nur deine Geliebte zu sein, die du in deinem Büro zwischen zwei Meetings vögelst. Ich bin es leid, mich verstecken zu müssen wie eine Verbrecherin, ich bin es leid, alle Wochenenden und Feiertage alleine verbringen zu müssen.«

»Jetzt bist du unfair, an unserem 25. Hochzeitstag war ich mit dir in Paris in diesem wundervollen Boutiquehotel, weißt du das nicht mehr? Ich musste lügen, dass sich die Balken biegen, um diese vier Tage mit dir verbringen zu können.«

Elaine griff nach einer neuen Zigarette, zündete sie an und blies den Rauch in Henrys Gesicht, der sogleich nach ihrem Knöchel griff.

»Als Kind musste ich mich vor der Wut meiner Mutter verstecken. Wie du weißt, bin ich das Ergebnis einer Vergewaltigung. Sie hat keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu schlagen, sie hat mich gehasst. Dann musste ich mich vor meinem Stiefvater verstecken, er fand Gefallen an mir. Das machte wiederum meine Mutter rasend. Meine Großmutter hat mich gerettet und mich hierhergebracht, damit ich ein halbwegs normales Leben führen kann. Hier hat sie mich vor ihnen versteckt. Nun bin ich erwachsen und – dreimal darfst du raten – ich muss mich wieder verstecken, vor unseren Arbeitskollegen und deiner Ehefrau, nur, weil ich dich liebe.«

Henry nahm Elaines Gesicht in seine Hände und küsste sie, obwohl Elaine wusste, dass der Geruch und Geschmack von Tabak ihm zuwider war.

»Ich kenne deine Kindheitsgeschichte und sie schockiert mich jedes Mal von Neuem. Kein Kind dieser Welt sollte so etwas erleben, niemand sollte sich so verstecken müssen.«

Henrys Mobiltelefon klingelte. Ohne seinen Blick von Elaine abzuwenden, nahm er ab.

»Hallo, Schatz. Nein, du brauchst mit dem Abendessen nicht auf mich zu warten. Ich habe noch ein Geschäftsessen mit einem potenziellen neuen Investor aus Japan. Du weißt ja, wie lange sich solche Geschäftsessen ziehen können. Wie das Restaurant heißt? Das weiß ich nicht, ich muss meine Sekretärin fragen.«

Elaine schnaubte. Henry führte seinen Zeigefinger an seine Lippen.

»Warte am besten gar nicht auf mich, es wird sicherlich spät. Grüß Ophelia von mir, ja? – Ich dich auch.«

»Aha, du musst deine Sekretärin fragen. Genau das bin ich für dich, nur deine Sekretärin.«

Elaine spie die Worte aus, als seien sie Gift.

»Denkst du nicht, ein wenig Dankbarkeit wäre jetzt angebracht? Ich habe uns gerade den ganzen Abend freigeschaufelt. Ich kann ihr nicht die Wahrheit sagen – noch nicht.« Henry versuchte, Elaine zu besänftigen, indem er ihre Schulter massierte.

»Sobald Ophelia in die USA geflogen ist und sich Giovanna daran gewöhnt hat, werde ich es ihr sagen, ich schwöre es dir. Es ist nur noch eine Frage von ein paar Wochen.«

Elaine drückte ihre Zigarette aus und schwieg.

Henry küsste Elaines Nacken, er wusste, was er damit bei ihr bewirkte.

»Elaine, ich liebe dich. Du weißt, dass ich dir verfallen bin. Darf ich dich trotzdem um noch ein klein wenig Geduld bitten?«

Elaine antwortete nicht, sondern küsste Henry innig.

KAPITEL3

Giovanna

»Vielleicht ist es die neue Haushälterin«, vermutete Henry, während Giovanna die Eingangstür aufschloss.

»Edita? Nein, die hat heute frei. Unser Gärtner Pablo kann es auch nicht sein, der war erst gestern da. Denkst du, es sind Einbrecher?«

»Das kann nicht sein, dann wäre die Alarmanlage losgegangen und innerhalb von Minuten würde es hier von Polizisten nur so wimmeln.«

Schweißperlen standen auf Henrys Stirn.

Der lange Flur war hell erleuchtet. Aus dem Wohnzimmer drang leise Musik. Je näher Giovanna und Henry kamen, desto deutlicher erkannte Giovanna die Melodie.

Wer treibt hier Scherze mit uns und hört Mozarts Arie der Königin der Nacht?

Henry blieb wie angewurzelt stehen, während Giovannas Atem stocke, als sie erkannte, dass eine fremde Frau auf ihrer Couch saß.

Sie hatte sich eine der besten Weinflaschen aus Henrys Sammlung ausgesucht. Er hatte die Farbe von Rubinen und leuchtete im Kristallglas. Erst letzte Woche hatte Edita die Gläser auf Hochglanz poliert.

»Wer sind Sie?« schrie Giovanna aufgebracht, »wie sind Sie in unser Haus gekommen? Henry, ruf sofort die Polizei!«

Herrgott, warum rührt er sich nicht? Vielleicht ist diese Frau eine Psychopatin!

Die Frau, die mit einer blonden Lockenpracht gesegnet war, antwortete:

»Die Terrassentür stand offen. Da habe ich es mir hier bequem gemacht, während ich auf euch gewartet habe. Ist Ophelia gut am Flughafen angekommen?«

Moment mal, ich kenne diese Stimme doch!

»Elaine, sind Sie es? Was wollen Sie von uns? Benötigen Sie Hilfe?«

Es muss eine Erklärung geben! Bestimmt eine simple, banale Erklärung!

»Ja, die bin ich. Die persönliche Assistentin deines Mannes. Nur, dass seit längerer Zeit die Assistenz, die dein Mann benötigt, noch persönlicher geworden ist.«

Was soll das bedeuten, persönlichere Assistenz? Mir gefällt dieser Unterton überhaupt nicht.

»Henry!«, rief Giovanna verzweifelt, »was will diese Frau von uns?«

Henry sagte nichts und starrte zu Boden. Stattdessen ergriff wieder Elaine das Wort.

»Ach, Mozarts Arie, die Königin der Nacht, aus die Zauberflöte, ein wundervolles Stück. Ich habe mich schon immer gefragt, was für einen langen Atem die Opernsängerin haben muss, um dieses komplizierte Stück zu singen. Dabei habe auch ich einen langen Atem, wenn auch nicht beim Singen, nicht wahr, Henry?«

Sämtliche Alarmglocken in Giovannas Kopf schrillten.

»Was wollen Sie damit andeuten?«, fragte Giovanna in einem fast hysterischen Ton.

Henry ergriff Elaines Schulter, um sie zum Aufstehen zu bewegen.

»Elaine, das reicht jetzt! Du bist betrunken! Ich fahre dich nach Hause!«

Die Alarmglocken schrillten noch lauter.

»Wieso weißt du, wo Elaine wohnt? Henry, was hat das alles zu bedeuten?«

Giovannas Puls raste, während ihr Verstand auf Hochtouren lief.

Es muss eine Erklärung dafür geben! Es kann nicht sein, es kann nicht sein. Nicht Henry!

Elaine verschränkte ihre Arme und wippte mit dem rechten Fuß.

»Ja genau, Henry. Sag Giovanna, weshalb du weißt, wo ich wohne. Sag ihr doch endlich, was das alles zu bedeuten hat.«

Oh Gott, bitte, lass es nicht das sein was ich denke!

Giovanna blickte in Henrys Augen, die Augen, die zu dem Menschen gehörten, den sie schon so lange liebte.

Es kann nicht sein, sowas machen nur andere Ehemänner, doch nicht mein Henry!

Henry erwiderte den Blick nicht. Giovanna wurde der Boden unter den Füßen weggezerrt.

Elaine reichte Henry das Glas Wein, das er nicht antastete.

»Giovanna, ich … ich … ich. Elaine und ich … wir …«

Nennen wir das Kind doch einfach mal beim Namen und sehen dann was passiert!

»Vögelst du sie?«, wollte Giovanna wissen. Henrys Schultern krümmten sich, als müsste er die Last der ganzen Welt darauf tragen.

So muss es sich anfühlen, wenn man von einem Flugzeug springt und zu spät merkt, dass man den Fallschirm vergessen hat.

Giovanna redete langsam, als müsste sie einem Erstklässler etwas erklären:

»Sieh mir in die Augen und beantworte die Frage.«

Henry erwiderte ihre Blicke nicht.

Das kann doch nicht wahr sein!

Giovanna atmete tief ein. »Wie lange geht das schon?«

Henry räusperte sich: »Seit etwas mehr als einem Jahr.«

Giovannas Beine gaben nach, sie musste sich setzen. Es ist kein Missverständnis! Er betrügt dich seit einem ganzen Jahr! DEIN Henry!

Giovanna zog die Hand von seinem Kinn, als hätte sie sich verbrannt.

Und jetzt rechne mal eins und eins zusammen …

»Jetzt verstehe ich, an welchen wichtigen Projekten du bis spätabends arbeiten musstest, welche Geschäftsessen du immer hattest und weshalb du mich zu unserer Silberhochzeit hast sitzen lassen! Ich wette, die Messe in Paris gab es nicht.«

Henrys Gesicht sprach Bände.

And the Oscar goes to …

Einem Impuls folgend applaudierte Giovanna ihrem Ehemann.

Henry sah sie irritiert an: »Was um Himmels Willen machst du da? Wieso klatschst du?«

»Ich bewundere deine fantastische, schauspielerische Leistung. Ein Jahr geht das schon so und ich habe absolut nichts bemerkt. Ich wette, liebe Elaine, Ihnen hat er erzählt, dass unsere Ehe sowieso fast am Ende ist.«

Elaine schwieg.

»Oh Henry, ich hätte nie gedacht, dass du das typische Klischee des Ehemanns erfüllst, der mit der jüngeren Sekretärin ins Bett geht und einfach beide Frauen hinhält.«

Giovannas Gedanken kreisten in einer Spirale aus Wut und Enttäuschung bis sie schrie: »Geht. Verlasst sofort dieses Haus, alle beide!«

Schluchzer brachten ihren Körper zum Zittern. Sie spürte die Röte in ihrem Gesicht aufsteigen, kalter Schweiß floss über ihren Rücken. Ihre Atmung ging wie vor einer Panikattacke.

Henry versuchte, nach Giovannas Hand zu greifen, die sie ihm entzog.

Er funkelte Elaine an, ohne etwas zu sagen.

»Es tut mir leid, Giovanna. Ich wollte nicht, dass du es heute und auf diese Weise erfährst.«

»Dir muss nicht leidtun, dass ich es heute und auf diese Weise erfahren habe, sondern, dass ich überhaupt etwas zu erfahren hatte. Nimm diese Frau jetzt mit und lasst mich alleine.«

Giovanna fiel kraftlos auf das Sofa. Das Polster war noch ganz warm von ihrer Rivalin.

Henry bedeutete Elaine mit einer Kopfbewegung, mitzukommen.

Giovanna konnte hören, wie Henry in der Küche zischte: »So, bist du jetzt zufrieden? Ich hatte dich um ein wenig Geduld gebeten und was machst du?«

»Ich nehme die Dinge nun mal gerne selbst in die Hand. Jetzt ist es endlich raus und deine Frau weiß Bescheid. Du solltest mir danken!«

»Danken?«

»Ja, danken! Ich verstehe nicht, weshalb du so ein Fass aufmachst? Seit einem Jahr nimmst du mich wann und wie du mich brauchst und jetzt spielst du dich als Moralist auf?«

Bittere Tränen der Enttäuschung rollten Giovannas Wange herab.

Wie konnte ich nur so blind sein. Habe ich es nicht gesehen oder wollte ich es nicht sehen?

Elaine und Henry stritten weiter im Nebenraum.

Plötzlich drohte Elaine: »Du hast die Wahl, komm mit mir mit oder bleibe hier. Aber eins muss dir klar, sein, wenn du hierbleibst, dann …«

Giovanna konnte nicht verstehen, wie der Satz endete. In der Küche blieb es still.

Minuten später ging die Türe auf und Giovanna hörte Henry und Elaine ins obere Stockwerk laufen.

Sie starrte auf das Glas Wein, das unangetastet auf dem Tisch stand. Wie viele Male hatten Henry und sie angestoßen und auf ihr gemeinsames Wohl getrunken?

Am vorigen Abend hatten sie es das letzte Mal getan, als sie mit Ophelia Abschied gefeiert hatten.

Henry hatte sie geküsst und ihr gesagt, dass er sie liebte.

Sie lief zur Haustüre, wo sie Henry und Elaine mit jeweils einer Reisetasche in der Hand antraf.

Ich muss etwas tun! Ich kann ihn doch nicht einfach so kampflos aufgeben!

Giovanna versperrte ihnen den Weg. Unter Tränen fragte sie Henry: »Vögelst du sie nur oder liebst du sie auch?«

»Ja, wir lieben uns, und …«, setzte Elaine an.

»Dich hat niemand gefragt!«, unterbrach sie Giovanna. Sie versuchte, ihre Mordgedanken in Schach zu halten. Sie blickte Henry in die Augen und sagte verzweifelt: »Henry, ich möchte von dir wissen, ob du mich noch liebst.«

Giovanna konnte Tränen in seinen Augen glitzern sehen.

»Natürlich liebe ich dich noch.« Giovanna fühlte Erleichterung.

»So, wie man eine Schwester liebt«, beendete Henry den Satz.

KAPITEL4

Giovanna

Giovanna wusste nicht, wie lange sie auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Haustür gelehnt gesessen und geweint hatte, als es plötzlich klingelte.

Mit einem Satz sprang sie auf die Füße, Hoffnung keimte in ihr auf.

Hat es sich Henry anders überlegt?

Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen vom Gesicht.

Vor der Tür stand ihre beste Freundin Jasmina mit einer Magnumflasche Champagner in der Hand.

»Überraschung! Ich dachte, nachdem Ophelia heute für ein Jahr in die Staaten geflogen ist, brauchst du sicherlich ein wenig Aufheiterung. Ich wusste ja, dass dich der Abschied von ihr mitnehmen würde, aber verdammt, du siehst richtig scheußlich aus!«

Giovanna antwortete nicht, sondern umarmte Jasmina und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

Jasmina schob sie vorsichtig auf Abstand und zückte ihr Mobiltelefon: »Till? Heute Abend kümmerst du dich um die Mädchen, bei Giovanna scheint Notstand zu sein. Nein, ich weiß nicht was passiert ist. Ja, ich bringe morgen früh die Brötchen mit.«

Jasmina schob Giovanna ins Wohnzimmer, verschwand in die Küche und kam mit einer Rolle Küchenpapier und einem Glas Wasser zurück.

»Ich habe mein Handy abgeschaltet, damit mich niemand mehr stören kann. Du setzt dich jetzt hier hin und erzählst mir was passiert ist.«

Das soeben Erlebte sprudelte nur so aus Giovanna heraus. Nur Schluchzer, Naseschnäuzen und Jasminas Versuche, sie zu trösten, unterbrachen ihren Erzählfluss.

»Unglaublich. Und du hast wirklich nichts gemerkt?«, fragte Jasmina.

»Nein, gar nichts. Nur jetzt im Nachhinein fällt mir auf, wie häufig er von zu Hause weg gewesen ist.«

So vieles macht jetzt plötzlich Sinn.

»Und im Bett?«

»Na ja, wie das so ist nach 26 Jahren Beziehung.«

»Da kann ich nicht mitreden. Ich bin erst fünf Jahre mit Till verheiratet. Aber meine Arbeit als Hochzeitsfotografin, die Renovierung des alten Bauernhofes und die Zwillinge halten uns auf Trab. Da habe ich abends oft keine Lust mehr, zur Sexgöttin zu mutieren. Gott sei Dank liebt mich Till auch mit meinem schlabbrigsten Schlafanzug!«

»Na ja, die Leidenschaft ist mit den Jahren schon auf der Strecke geblieben.«

Eine Ahnung bohrte sich durch Giovannas Gedanken:

»Zu unserer Silberhochzeit musste Henry auf eine wichtige Konferenz in Paris.«

»Angeblich«, warf Jasmina ein.

»Angeblich. Jedenfalls wartete ich zu seiner Rückkehr in Unterwäsche samt Strapsen auf ihn. Ich hatte mir dieses teure Set gegönnt, um unser Liebesleben wieder etwas anzukurbeln. Als er ankam, pfiff er zwar anerkennend, doch er wimmelte mich ab und ging sofort duschen. Als er aus der Dusche kam, passte ich ihn ab und versuchte, ihn zu stimulieren. Doch da passierte nichts. Einfach gar nichts. Ich war richtig perplex. Er schob es auf die Müdigkeit und ging sofort schlafen.«

»Wenn er die Affäre mit Elaine schon seit über einem Jahr hat, wäre es ja möglich, dass da gar keine Konferenz war, sondern, dass er die Tage in Paris mit Elaine verbracht hat.«

Jasmina sprach die Gedanken aus, die erneut in Giovannas Kopf herumschwirrten.

»Mein Mann als Lügner und Betrüger, das hätte ich niemals geglaubt.«

»Auf den Schrecken ein Schluck Champagner?«, fragte Jasmina vorsichtig.

»Ich bitte darum!«

Einige Augenblicke später prosteten sich die Frauen zu.

»Was hast du als Nächstes vor?«, wollte Jasmina wissen.

»Ich weiß es nicht. Bis vor ein paar Stunden war ich davon überzeugt, dass Henry und ich glücklich miteinander seien. Ich dachte, durch Ophelias Auszug könnten wir wieder mehr Zeit miteinander verbringen, verreisen, die Zweisamkeit genießen. Und dann sagte er, er liebt mich nur noch wie eine Schwester.«

Kann man eigentlich an gebrochenem Herzen sterben? Es tut so unerträglich weh!

»Willst du Henry zurück?«

»Er hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, mich belogen und betrogen, aber trotzdem liebe ich ihn noch immer. Er ist mein Ehemann und Vater meiner Tochter. Ja, ich möchte ihn zurück. Aber ich werde keinen Kreuzzug gegen diese Frau beginnen. Ich werde einfach warten. Wenn er diese Midlife-Crisis überwunden haben wird, werde ich für ihn da sein und wir können wieder von vorne anfangen.«

»Was, wenn er die Krise aber nicht überwindet?«, warf Jasmina ein.

»Ich glaube, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder er kommt zu mir zurück, oder ich habe ihn verloren.«

Diese Weggabelungen erweckten in Giovanna Zukunftsängste, die sie bis dahin nicht gekannt hatte.

Der Alkohol entspannte sie, daher lehnte sie nicht ab, als Jasmina ihr noch ein Glas Champagner anbot.

* * *

Am nächsten Tag erwachte Giovanna im Wohnzimmer, von höllischen Kopfschmerzen geplagt.

Also habe ich die Erlebnisse von gestern Abend nicht einfach nur geträumt, dachte sie verbittert.

Es war nicht nur beim Champagner geblieben. Mit Mitte vierzig vertrug sie Alkohol nicht mehr so gut wie einst.

Jasmina schnarchte auf dem Sofa vor sich hin. Giovanna deckte sie zu und verließ das Wohnzimmer auf Zehenspitzen. Bestimmt hatte Jasmina seit der Geburt der Zwillinge vor drei Jahren nicht mehr richtig ausschlafen können.

Im Bad spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Gott sei Dank ist heute Samstag und ich muss nicht vor meine Schulklasse treten!

Ein kurzer Blick auf ihrem Mobiltelefon sagte ihr, dass ihr der Strom ausgegangen war. Kaum hatte sie es zum Laden angesteckt trudelten mehrere Nachrichten der verpassten Anrufe von Ophelia ein.

Ach Mist!

Giovanna rief sie sofort zurück.

»Mama, da bist du ja endlich, ich habe so oft angerufen, aber weder du noch Papa habt abgenommen. Was ist denn passiert?«

»Ach Liebling. Erzähl du doch erst einmal. Wie war dein Flug? Bist du gut angekommen? Sind die Stevens auch nett zu dir?«

Wie sehr hätte Giovanna nun Ophelias Umarmung gebraucht, doch sie war auf der anderen Seite des Atlantiks.

»Der Flug war super, Papa hat ja Businessclass für mich gebucht, ich wurde von allen Seiten mit Essen, Trinken und den neuesten Filmen verwöhnt. Die Stevens haben mich wie abgemacht vom Flughafen abgeholt. Ich habe ein riesiges Zimmer mit Balkon mit Blick auf einen See bekommen, es ist richtig toll. Die Kinder sind etwas zurückhaltend, aber ich bin ihnen ja auch noch fremd. Ich sollte mich jetzt eigentlich ausruhen, aber ich bin so aufgeregt, dass ich nicht schlafen kann. Wie geht es dir und Papa?«

Giovanna atmete tief ein. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, Ophelia zu verschweigen, was passiert war, doch dann erzählte sie ihr von den Ereignissen am Vorabend.

Ophelia weinte am Telefon:

»Oh Mama, das tut mir so leid! Kannst du mir ein Rückflugticket buchen? Dann bin ich bei dir und du musst das nicht alleine durchstehen.«

»Dich hier zu haben, wäre wundervoll, aber jetzt musst du an dich denken und das Jahr in den USA durchziehen. Dein Vater und ich sind erwachsene Menschen und werden die Situation für uns bereinigen.«

»Ist Jasmina schon eingeweiht?«

»Oh ja, das ist sie. Kaum war dein Vater aus dem Haus gegangen, stand sie wie gerufen mit einer Champagnerflasche vor der Tür, so als hätte sie geahnt, dass ich sie brauche. Nachdem wir den Champagner geleert hatten, hat sie sich auch noch einen großen Spaß daraus gemacht, aus ein paar Fotos deines Vaters eine Dartscheibe zu basteln und mit Pfeilen darauf zu werfen. Papas Gesicht ist nun zerlöchert wie ein Schweizer Käse.«

Ophelia atmete tief ein:

»Mama, hast du vielleicht auch jemand anderen?«

»Nein, wie kommst du darauf? Ich bin deinem Vater immer treu gewesen.«

Ophelia druckste ein wenig herum:

»Na ja, mir war schon aufgefallen, dass ihr euch in letzter Zeit auseinandergelebt hattet.«

»Also überrascht es dich nicht, dass dein Vater eine Geliebte hat?«

»Ehrlich gesagt, nein, es überrascht mich nicht. Ich wollte euch schon einige Male darauf ansprechen, aber ich habe mich nicht getraut.«

Giovanna liefen Tränen über die Wangen.

»Mein Kind, ich muss blind gewesen sein. Wenn dein Vater spät nach Hause kam und sagte, dass er bei der Arbeit gewesen sei, habe ich ihm einfach geglaubt.«

»Vielleicht, weil du es glauben wolltest?«

»Gut möglich. Wie spät ist es jetzt bei dir?«

»Drei Uhr morgens. Mama, denkst du von mir, dass ich dich im Stich lasse, wenn ich hierbleibe?«

»Nein. Ich könnte mir nicht verzeihen, wenn ich dich bitten würde, wieder nach Hause zurückzukehren.«

Giovanna hörte Ophelia herzhaft gähnen.

»Ich glaube, ich werde langsam doch müde. Telefonieren wir morgen wieder?«

»Ja, mein Schatz. Ab ins Bett mit dir und mache dir keine Sorgen um mich.«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«

Kaum hatte Giovanna das Telefon weggelegt, stand Jasmina vor ihr.

»Ich sollte jetzt langsam wieder nach Hause fahren, aber du weißt, dass ich jederzeit für dich da bin.«

Nachdem Jasmina gegangen war, räumte Giovanna das Wohnzimmer auf und putzte jeden Winkel.

Alles ist mir Recht, wenn ich nur aufhören kann nachzudenken.

Edita würde am nächsten Tag schimpfen, weil sie nichts zu tun hatte.

Erst, als es Abend geworden war, legte sich Giovanna erschöpft auf die Couch und lauschte der ungewohnten Stille im Haus.

KAPITEL5

20. Dezember

Henry

Die warmen Septembertage waren zunächst einem goldenen Oktober und dann einem kalt-verregneten November gewichen. Nun war Dezember und die Tage waren deutlich kürzer geworden. Gegen 17 Uhr war es draußen bereits stockdunkel. Die Weihnachtsdekorationen an den Fenstern erhellten diese Finsternis. In den Erkern mancher Häuser standen schon Weihnachtsbäume. In der Innenstadt Zürichs waren die Gassen schön geschmückt worden und die Weihnachtsmärkte waren eröffnet. Überall roch es nach Glühwein, Bratwurst, Zimt und jenen Leckereien, die es nur zur Weihnachtszeit gab und denen man nach der Weihnachtszeit überdrüssig sein würde. Dann würde im Januar der übliche nachweihnachtliche Diätwahnsinn wieder losgehen.

Während Henry vor Giovannas Schule auf das Ende des Unterrichts wartete, bemerkte er, wie sehr auch sein Hemd und die Winterjacke vom letzten Jahr spannten.

Das tägliche Essengehen in Restaurants machte sich auf der Waage und im Portemonnaie bemerkbar.

»Ich arbeite genauso lange wie du, warum sollte ich mich abends auch noch vor den Herd stellen und kochen? Ich heiße schließlich nicht Giovanna«, klang Elaines Stimme in Henrys Ohren.

Wie recht sie mit ihrer Aussage hatte.

Das Herz hämmerte in seiner Brust, wie damals, als er Giovanna das erste Mal ausgeführt hatte oder wie an jenem Abend im September, an dem Elaine gedroht hatte:

»Du hast die Wahl, komm mit mir oder bleib hier. Aber eins muss dir klar sein, wenn du hierbleibst, dann …«

Die Schulglocke war kaum verklungen, als die ersten Schüler das Gebäude verließen. Nach einer weiteren Viertelstunde erspähte Henry auch Giovanna. Aus dem bunt gemischten Haufen aus Kindern mit Rucksäcken und Schulranzen stach sie in ihrem weißen Mantel hervor. Henry wurde flau im Magen.

Seit September hatte es nur ein Lebenszeichen von Giovanna gegeben. Einen handgeschriebenen Brief, den er immer bei sich trug und den er mittlerweile auswendig kannte.

Henry,

zu erfahren, dass du mich schon so lange mit Elaine betrügst, war eines der schmerzhaftesten Dinge, die ich je erlebt habe. Es steht auf derselben Stufe wie der Tod meiner Eltern. Niemals hätte ich geglaubt, dass uns so etwas passieren könnte. Aber vielleicht habe ich dich gerade wegen dieser Naivität in Elaines Arme gestoßen. Wir haben uns beide gegenseitig als Selbstverständlichkeit erachtet und uns mit der Zeit so auseinandergelebt, dass wir vom Ehepaar zu Mitbewohnern mutiert sind. Ich bemühe mich sehr, dich zu hassen, doch es gelingt mir nicht. Auch ich muss einen Anteil dazu geleistet haben, dass du 25 Jahre Ehe gegen eine Affäre eingetauscht hast.

Ich möchte nicht betteln, doch ich möchte, dass du weißt: Ich bin bereit, dir zuzuhören und zu verzeihen. Ich gebe dir die Zeit, die du brauchst, um dir darüber klar zu werden, was du wirklich möchtest.

In Liebe, deine Giovanna.

Gib dir einen Ruck, forderte Henry sich in Gedanken auf, während er Giovanna abpasste.

»Henry?« fragte Giovanna ungläubig. Sie musste einiges abgenommen haben. Ihre Wangenknochen traten ungewöhnlich aus ihrem Gesicht heraus.

Was für ein elendiger Wurm er doch war.

»Giovanna. Können wir miteinander reden?«

»Hier?«

»Nein, lass uns nach Hause fahren.»

»Nach Hause«, wiederholte Giovanna.

Während der Fahrt hüllten sich beide in Schweigen.

Früher passte kein Blatt zwischen uns, nun ist es ein Ozean, dachte Henry während er sein Auto in der Einfahrt abstellte.

»Es hat sich nichts geändert«, sagte Henry, während er vom Eingang ins Wohnzimmer lief und sich umsah.

»Eigentlich hat sich alles geändert«, korrigierte ihn Giovanna.

Hitze durchflutete ihn.

»Was möchtest du mir sagen?«

Ihre Augen blickten ihn durchdringend an.

Henry atmete tief ein und aus. In seinen Gedanken hatte er dieses Gespräch hunderte Male geführt. Es wirklich zu tun, war etwas ganz anderes. Sein Mund fühlte sich staubtrocken an.

»Weißt du noch, als du zur Bank kamst, um nach einem Darlehen für ein Auslandsjahr in Irland zu fragen?«

»Natürlich. Wie könnte ich das vergessen?«

»Ich habe dir das Darlehen absichtlich verweigert«, gestand Henry.

Giovanna schaute ihn fassungslos an: »Wieso hast du das getan?«

»Ich wollte dich besser kennenlernen. Ich wollte nicht, dass du nach Irland gehst, ich wollte dich hier haben.«

»Du hast also meinen damaligen Traum aus rein egoistischen Gründen zunichtegemacht. Warum erzählst du mir das jetzt?«

»Weil ich möchte, dass du die Gelegenheit ergreifst und jetzt hinfährst.«

»Ich verstehe das nicht. Ich verstehe dich nicht.«

Henry stand auf und begann im Wohnzimmer auf und ab zu laufen.

Bringe es so schnell wie möglich hinter dich.

»Elaine ist schwanger. Im vierten Monat.«

Sämtliche Farbe wich aus Giovannas Gesicht.

Endlich ist es raus!

»Das hat sie mir an dem Abend gesagt, als Ophelia in die Staaten geflogen ist. Ich wollte, dass du es von mir erfährst und nicht von einem meiner Arbeitskollegen. Ihr Zustand lässt sich kaum mehr verbergen.«

Giovanna schüttelte den Kopf leicht, ihre Halsschlagader pulsierte.

»Ich möchte dir eine große Geldsumme geben, damit du nach Irland gehst und mir dafür das Haus überlässt.«

Giovanna sackte in sich zusammen.

»Ich soll unser Zuhause verlassen, damit du mit Elaine und dem Baby hier einziehen kannst?«

Ich bin ein Monster!

Henry fiel auf seine Knie und nahm Giovannas eiskalte Hände in seine.

»Elaine ist eine Frau, die niemals etwas besessen hat außer ihrem Verstand. Sie stellt Forderungen.«

»Sie hat dich doch mit dem Kind an sich gebunden, was will sie denn noch?«

Henry schämte sich, die Wahrheit auszusprechen:

»Dummerweise habe ich ihr einige Geschäftsgeheimnisse anvertraut, die in der Stadtbank einige Köpfe zum Rollen bringen könnten, meinen inklusive. Elaine hat sich in dieses Haus verliebt und hat sich klar ausgedrückt. Entweder sie zieht hier mit mir ein, oder sie wird mich verraten.«

»Und sie will das Haus?«

»Richtig. Und mir zur Not auch das Kind vorenthalten.«

»Henry«, sagte Giovanna unter Tränen, »wie ist es nur so weit gekommen?«

Sie hat die Wahrheit verdient.

»Du hast nichts falsch gemacht. Unser Leben war perfekt, zu perfekt. Als klar wurde, dass Ophelia ausziehen würde, habe ich begonnen, mich alt zu fühlen. Der Gedanke, dass das Leben nur so an mir vorbeizieht, keimte in mir auf. Ich schäme mich, das zu sagen, doch ich habe Ophelia um ihre Jugend und ihre unendlichen Möglichkeiten beneidet. Unser komfortables Leben kam mir auf einmal so langweilig vor. Nie hatten wir zwei Streit, noch nicht einmal eine Meinungsverschiedenheit. Alles ist immer wie am Schnürchen gelaufen, ich habe mich hochgearbeitet von der bodenständigen Bankkauflehre, zum Sachbearbeiter, zum Direktor. Es haben sich mir kaum Herausforderungen in den Weg gestellt. Ich habe nach dem Drama gesucht, das in unserem Leben fehlte, Giovanna.«

Giovanna klatschte einmal energisch in die Hände: »Deshalb hast du dir letztes Jahr zu Weihnachten den Tandemsprung aus dem Flugzeug gewünscht. Und zum Geburtstag eine Harley-Davidson gekauft!«, begriff Giovanna.

»Ja«, gestand Henry, »eine Zeitlang bin ich ins Casino gegangen, dann habe ich Wettbüros ausprobiert, habe an der Börse spekuliert. Ich war immer auf der Suche nach einem neuen Nervenkitzel, um mich lebendig zu fühlen.«

»Wieso hast du mit mir nicht darüber geredet? Wir hätten uns eine Auszeit vom Alltag nehmen können, wir hätten auf Weltreise gehen können. Wir hätten so viel machen können, wenn du dich mir anvertraut hättest.«

»Du wirktest glücklich auf mich. Ich wollte deine Seligkeit nicht zerstören.«

»Dafür hast du jetzt unsere Ehe zerstört. Ich war glücklich, weil ich mir stets vor Augen gehalten habe, was ich hatte, nicht, was ich nicht hatte.«

Henry konnte Giovannas Enttäuschung kaum ertragen.

»Lass mich raten. Mitten in deiner Suche nach Adrenalin hat dir deine neue Sekretärin schöne Augen gemacht«, schlussfolgerte Giovanna.

Henry blickte zu Boden.

Hättest du der Versuchung doch nur widerstanden, dann würdest du dich jetzt nicht in dieser Lage befinden.

»Zu Beginn war ich einfach nur geschmeichelt, dass eine jüngere Frau mich attraktiv fand. Dann fand ich es aufregend, mich heimlich mit ihr zum Abendessen zu treffen, immer in der Gefahr, von dir oder Bekannten ertappt zu werden. Irgendwann ist alles außer Kontrolle geraten …«

Giovanna machte eine unmissverständliche Geste, die ihm sagte, dass sie keine weiteren Details hören wollte.

»Ich hoffe, du hast jetzt das Drama in deinem Leben, das du dir so sehr herbeigesehnt hast«.

Henry hörte Sarkasmus aus ihrer Stimme heraus.

»Allerdings. Bitte überleg es dir mit dem Haus. Du weißt, was es wert ist, es springt eine sechsstellige Summe für dich heraus.«

»Wie viel Zeit habe ich denn?«

»Elaine wünscht sich noch in diesem Jahr eine Silvesterfeier in diesem Haus«, sagte Henry, ohne Giovanna anzusehen.

»Ich verstehe.«

KAPITEL6

21. Dezember

Giovanna lief auf einer Wiese. Der Morgentau fühlte sich feucht unter ihren Fußsohlen an. Der Duft der Gräser kroch in ihre Nase, während die Vögel um die Wette zwitscherten und Eichhörnchen zwischen Bäumen und Sträuchern Verfolgungsjagd spielten.

Löwenzahnblumen erstreckten sich, soweit das Auge reichte.

Manche sahen wie kleine Sonnen aus, während sich andere bereits in Köpfchen mit unzähligen Flugschirmchen verwandelt hatten, bereit, beim nächsten Windstoß den Pflanzensamen hinauszutragen und für die nächste Generation gelber Blüten zu sorgen.

Eine Pusteblume war besonders groß. Die gefiederten Samen standen in Reih und Glied und bildeten zusammen eine perfekte Kugel. Aus einem Impuls heraus pflückte Giovanna diese Blume und pustete sie an. Sofort verließen die Flugschirmchen ihre Formation und verteilten sich in alle Richtungen. Giovannas Atem wollte nicht ausgehen, sie blies und blies, ohne Luft holen zu müssen. Plötzlich tauchte ein seltsam aussehendes Flugschirmchen vor ihr auf: Es funkelte in der Sonne wie ein Diamant und machte Geräusche wie Glöckchen im Wind. Es hatte etwas Magisches an sich. Neugierig verfolgte Giovanna es, weiter, immer weiter, über die schier unendliche Wiese, bis auch sie plötzlich abheben und fliegen konnte.

Vom Wind getragen, überquerten Giovanna und das Flugschirmchen Felder, Berge und Seen, bis Giovanna keinen festen Boden mehr unter den Füßen sehen konnte, sondern das Meer seinen Raum beanspruchte. Sie hatte keine Angst vor den tosenden Wellen unter ihr, sondern fühlte sich so frei wie noch nie in ihrem Leben.

Sie flog an Möwen, Schiffen und Leuchttürmen vorbei, ohne den Samen des Löwenzahns aus den Augen zu verlieren, der sich verspielt in der Luft drehte.

Nach einiger Zeit steuerte der Samen eine Insel an, die von einem so intensiven Grün bedeckt war, wie Giovanna es noch nie zuvor gesehen hatte.

Der Samenflieger umrundete die Insel und landete auf einer Wiese in der Nähe eines Strandes. In dem Moment, als er den Grund berührte, schlug Giovanna die Augen auf.

Ohne jemals dort gewesen zu sein, wusste sie, von welcher Insel sie gerade geträumt hatte.

Giovanna rekelte sich im Bett, als ihr Mobiltelefon klingelte. Jasminas Bild tauchte auf dem Bildschirm auf.

»Hmmm«, antwortete Giovanna schlaftrunken.

»Giovanna, ich muss … ich muss dir etwas sagen. Bitte hasse mich nicht dafür«, stammelte Jasmina.

»Schieß los, im Moment kann mich nichts mehr vom Hocker reißen«, sagte Giovanna mit einer Gleichgültigkeit, die ihr selbst Angst machte.

»Ich hatte heute Morgen einen Termin beim Frauenarzt. Da kam mir Elaine entgegen, mit … mit einem verräterisch gewölbten Bauch.«

»Lass mich raten, du willst mir sagen, dass Elaine schwanger ist, richtig?«

»Wo… woher weißt du das?«

»Henry hat gestern nach der Schule auf mich gewartet und mir die frohe Botschaft überbracht.«

»Du weißt es seit gestern Mittag und du hast mir nichts davon erzählt?«

Enttäuschung schwang in Jasminas Stimme mit.

»Tut mir leid, ich konnte und wollte gestern mit niemandem mehr reden. Erst erfahre ich, dass mein Mann mich betrogen hat, weil unser Leben ihm schier zu perfekt und langweilig war, dann, dass er Elaine geschwängert hat und zu guter Letzt hat er mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass ich doch bitte noch vor Silvester ausziehen soll, weil unser Haus Elaine so gut gefällt und sie droht, Geschäftsgeheimnisse auszuplappern, wenn sie nicht bekommt, was sie will. Das musste ich alles erst einmal für mich verdauen.«

»Oh Gott«, japste Jasmina ins Telefon.

»Du sagst es, den könnte ich jetzt gebrauchen.«

»Und was hast du nun vor? Hat Henry dir wenigstens eine ordentliche Summe Geld für das Haus geboten?«

»Ja natürlich, die Hälfte des Wertes und du weißt ja, was Häuser am See so kosten.«

»Aber du hast doch so viel Arbeit und Zeit in das Haus investiert! Du hast jeden Raum selbst gestrichen, eingerichtet, dekoriert. Dein Herzschlag ist in diesem Haus. Und diese Tussi setzt sich einfach ins gemachte Nest, weil sie Henry mit dem ältesten und miesesten Trick der Welt an sich gebunden hat.«

»Jassi, was soll ich dir sagen, ich habe keine Tränen mehr, die ich weinen könnte.«

»Was hast du vor, zu tun?«, wollte Jasmina wissen.

»Wir haben vereinbart, dass ich mich nach Heiligabend melde. Bis dahin soll ich mich entscheiden.«

»Denkst du, es gibt eine Möglichkeit, das Haus zu halten?«

»Ganz ehrlich, ich habe gestern viel darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt behalten will. Ich habe nun drei Monate lang alleine hier gelebt. Es ist viel zu groß für mich. Die Ruhe und Einsamkeit bringen mich fast um. Überall lauern Erinnerungen. Ich dachte, Henry überwindet irgendwann seine Midlife-Crisis und kommt zu mir zurück, ich habe falsch gedacht. Vielleicht sollte ich ihm das Haus einfach überlassen, mich aus dem Staub machen und woanders neu beginnen, wo er und Elaine mir nie wieder unter die Augen treten können.«

»Wow. Ein Neuanfang? Und wie sollte dieser genau aussehen? Wo willst du neu beginnen? Moment kurz …«

Giovanna hörte ohrenbetäubendes Kindergeschrei im Hintergrund.

»Entschuldige, Giovanna, Moira hat sich gerade ziemlich stark den Kopf angestoßen, ich muss nach ihr sehen. Komm Heiligabend zu uns, erzähle mir alles. Wenn ich dir helfen kann, werde ich das«, verabschiedete sich Jasmina hektisch und beendete das Telefonat.

Heiligabend alleine zu Haus. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

Sie hatte bislang keine einzige weihnachtliche Dekoration angebracht und war überhaupt nicht in der Stimmung für Tannenbäume und Geschenke.

Am Nachmittag hatte Giovanna ein Telefonat mit Ophelia geplant.

Mein Herz fühlt sich an, als würde es eine Tonne wiegen.

Giovanna kaute an ihrer Lippe, als sie mit Headset vor dem Laptop saß und auf sie wartete.

»Hallo, mein Schatz«, begrüßte sie ihre Tochter und sah ihre geröteten Augen.

»Mein Vater ist ein Schwein!«, schluchzte Ophelia ins Telefon, ohne den Gruß zu erwidern.

»Du weißt also, dass noch ein Geschwister auf dich wartet«, stellte Giovanna überrascht fest.

Immerhin war er Manns genug Ophelia einzuweihen.

»Halbgeschwister!«, korrigierte sie Ophelia empört.

»Halbgeschwister, natürlich. Weißt du auch schon das mit dem Haus?«

»Ja, deshalb bin ich auch unfassbar wütend auf Papa. Erst vögelt er eine Andere, dann ist er zu blöd, zu verhüten und jetzt sollst du auch noch das Haus hergeben? Falls ich aus den USA zurückkomme, habe ich kein Zuhause mehr, zu dem ich zurückkehren kann!« Ophelia putzte sich die Nase.

»Moment mal, wieso falls und nicht, wenn du zurückkommst.«

»Mama, ich … ich«, stotterte Ophelia.

»Musst du mir etwas sagen?«, fragte Giovanna, »hat es mit diesem jungen Mann zu tun, den du neulich erwähnt hast?«

Ophelia errötete: »Ja, Jake. Unser Nachbar. Wir sind seit kurzem zusammen«.

»Das ist doch toll! Du hast so sehr von ihm geschwärmt!«

»Ja schon», setze Ophelia fort, »aber, was wenn wir uns so sehr verlieben, dass ich in den USA bleiben möchte und nicht, wie geplant, in Zürich studieren werde?«

»Dann werde ich das akzeptieren, auch wenn ich dich sehr vermissen werde.«

»Ach Mama, das tut mir einfach leid.«

»Ich verstehe dich nicht. Du bist verliebt, dieser junge Mann erwidert deine Liebe. Weshalb tut es dir leid?«

»Ich bedaure, dass ich nicht für dich da sein kann. Dass ich so egoistisch bin und in den Staaten bleiben möchte, statt dir beizustehen.

---ENDE DER LESEPROBE---