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»Das Herz ist nur ein Muskel, der Blut durch den Körper pumpt. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Wunder, dass es nicht auf das hört, was du sagst. Hast du etwa schon einmal ein Herz mit Ohren gesehen?« Seitdem die Schriftstellerin Minnie an Heiligabend von ihrem Ehemann verlassen wurde, kann sie mit dem Fest der Liebe nichts mehr anfangen. Zwischen unerfülltem Kinderwunsch und verletzenden Worten hat sie nicht nur ihre große Liebe, sondern auch die Muse für das Schreiben verloren. Lange Zeit hat Minnies Verlag Geduld mit ihr gehabt, doch nach fast zwei Jahren ohne Neuveröffentlichung schickt der Verleger sie ausgerechnet im frostigen Dezember nach Lappland, in ein abgelegenes, aber gemütliches Holzhäuschen am See. In der fast unberührten Natur von Nordschweden soll sie mithilfe von winterlichem Ambiente wieder Inspiration für einen neuen Liebesroman finden, der zur Weihnachtszeit spielt.Tausende Kilometer weit weg vom Rosenkrieg und von der distanzierten Beziehung zu ihrem Vater kommt Minnie schon bald zur Ruhe und auf andere Gedanken.Diese Gedanken drehen sich insbesondere um ihren Gastgeber Per Andersson, mit dem sie unvergessliche Tage zwischen Schnee und Polarlichtern verbringt.Doch schon bald holen alte Geheimnisse sowohl Per als auch Minnie wieder ein.Werden sie es schaffen, die Vergangenheit ein für alle Mal Schnee von gestern sein zu lassen und den Neuschnee in ihre Leben zu lassen?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Copyright © 2019 by Esther Destratis
1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten.
Esther Destratis, Ringstraße 52, CH-5620 Bremgarten, Aargau
Lektorat: Anke Höhl-Kayser
Korrektorat: Ellen Rennen
Covergestaltung: Eileen Sinnhöfer, www.eileensinnhoefer.de
Covermotiv: © Stock.adobe.com
eBook-Gestaltung:buchseitendesign by ira wundram, www.buchseiten-design.de
Veröffentlicht über tolino media, ISBN: 978-3-75795-587-8 (2023, Version 1.0)
Zierelemente Innenteil: © Zinaida Zaiko/Shutterstock.com; © Khabarushka/Shutterstock.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Über dieses Buch
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Danksagungen
Über die Autorin
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»Das Herz ist nur ein Muskel, der Blut durch den Körper pumpt. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Wunder, dass es nicht auf das hört, was du sagst. Hast du etwa schon einmal ein Herz mit Ohren gesehen?«
Seitdem die Schriftstellerin Minnie an Heiligabend von ihrem Ehemann verlassen wurde, kann sie mit dem Fest der Liebe nichts mehr anfangen.
Zwischen unerfülltem Kinderwunsch und verletzenden Worten hat sie nicht nur ihre große Liebe, sondern auch die Muse für das Schreiben verloren.
Lange Zeit hat Minnies Verlag Geduld mit ihr gehabt, doch nach fast zwei Jahren ohne Neuveröffentlichung schickt der Verleger sie ausgerechnet im frostigen Dezember nach Lappland, in ein abgelegenes, aber gemütliches Holzhäuschen am See.
In der fast unberührten Natur von Nordschweden soll sie mithilfe von winterlichem Ambiente wieder Inspiration für einen neuen Liebesroman finden, der zur Weihnachtszeit spielt.
Tausende Kilometer weit weg vom Rosenkrieg und von der distanzierten Beziehung zu ihrem Vater kommt Minnie schon bald zur Ruhe und auf andere Gedanken.
Diese Gedanken drehen sich insbesondere um ihren Gastgeber Per Andersson, mit dem sie unvergessliche Tage zwischen Schnee und Polarlichtern verbringt.
Doch schon bald holen alte Geheimnisse sowohl Per als auch Minnie wieder ein.
Werden sie es schaffen, die Vergangenheit ein für alle Mal Schnee von gestern sein zu lassen und den Neuschnee in ihre Leben zu lassen?
Für meine Mutter
Mailand
Heiligabend 2016
Minnie
Dampfend glitt das Glätteisen durch Minnies Haar und verwandelte es in seidige Kupfersträhnen. Obwohl es beinahe spiegelglatt war, wiederholte Minnie die Prozedur mehrmals.
»Minnie, brauchst du noch lange? Meine Eltern warten bereits auf uns«, rief Marco aus dem Nebenzimmer.
Und mit ihnen deine Brüder, Schwestern, Schwägerinnen und Schwager mitsamt ihrer lärmenden Kinderschar, dachte Minnie und seufzte.
Wie gerne hätte sie Weihnachten nur einmal mit Marco auf einer einsamen Insel verbracht. Ein einziges Mal hatte sie es angesprochen, doch nur missbilligende Blicke kassiert. Die Stimme ihrer Schwiegermutter hallte durch ihren Kopf: Ich verstehe dich, du hast ja keine richtige Familie. Armes Kind, du bist ohne Mutter aufgewachsen. Aber Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Familie, also wirst du unseren Marco nirgendwohin entführen!
Marco war ihr in den Rücken gefallen: Genauso ist es, Mama!
Es half alles nichts.
»Gib mir noch einen Moment, ich bin gleich so weit«, antwortete Minnie, schob ihren Traum von einem besinnlichen Fest beiseite und zog ihrem Glätteisen den Stecker.
Mit einer Bürste fuhr sie noch einmal durch das Haar. Für Minnie war es schon immer Fluch und Segen zugleich gewesen. Nicht selten hatte sie sich gefragt, von wem sie diese widerspenstige Mähne wohl geerbt hatte.
Marco trat ins Bad und ließ einen Pfiff los.
»Meine rothaarige Schönheit, in diesem kleinen Schwarzen siehst du wundervoll aus!«
»Danke. Der neue Anzug steht dir auch ausgezeichnet. Kannst du mir bitte noch kurz helfen?«, sagte Minnie und drehte Marco ihren Rücken zu.
»Aber natürlich«, erwiderte Marco und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Schulter, während er den Reißverschluss nach oben zog.
Minnie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm ihrerseits einen Kuss auf die Lippen.
Marcos Handy klingelte.
»Geh nicht ran«, bat ihn Minnie, »deine Mutter wird dich noch lange genug heute Abend haben.«
Doch Marco zuckte nur mit den Schultern, während er das Smartphone schon ans Ohr hielt. »Ja, Mama? Wir machen uns gleich auf dem Weg. Wir müssen nur noch etwas Wichtiges erledigen.«
Minnie horchte verwundert auf. Wovon spricht er da?
Marco beendete das Gespräch und verstaute sein Mobiltelefon im Inneren seiner Anzugsjacke.
»Was haben wir denn noch Wichtiges zu erledigen?«
»Dein Geschenk«, sagte Marco mit Vorfreude in den Augen, dann nahm er Minnies Hand und führte sie ins Erdgeschoss, wo der Weihnachtsbaum stand und das ganze Wohnzimmer mit seinen Lichterketten und funkelnden Dekorationen erhellte. Seit Tagen war Minnie um die Gaben, die gleich neben der Krippe lagen und darauf warteten, ausgepackt zu werden, herumgeschlichen und hatte versucht, zu erraten, was sich hinter dem mit Schlitten und Weihnachtsmännern bedruckten Papier wohl verbarg.
Insbesondere eines brachte Minnie vor lauter Neugier um den Verstand. Es war rechteckig, flach und ganz leicht. In einem unbeobachteten Moment hatte Minnie es geschüttelt. Es beinhaltete zweifellos eine Mappe mit Unterlagen.
Mein Wink mit dem Zaunpfahl muss gewirkt haben! Die müssen von einem Reisebüro kommen, dachte Minnie selig, endlich gönnen wir uns einmal eine Pause!
Ihr Herz hüpfte in ihrer Brust, als sie sah, dass Marco ausgerechnet dieses Geschenk in die Hand nahm und ihr freudestrahlend übergab.
Minnie konnte das Meer schon riechen und den Sand zwischen ihren Zehen spüren. Sie würden jeden Tag viel zu viel essen und sich gegenseitig wegen zu eng gewordener Hosen necken.
Sie sah sich und Marco jeden Abend an einer Poolbar sitzen, Cocktails schlürfen, die mit diesen lächerlichen Papierschirmchen dekoriert waren, und danach im Zimmer hemmungslos übereinander herfallen. Es würde alles wieder so werden wie früher.
»Mach es auf, Schatz, ich glaube, wir sind uns beide einig, dass wir es brauchen«, verkündete Marco geheimnisvoll.
»Oh ja, und wie«, bestätigte Minnie und dachte an den letzten Urlaub, den sie sich vor Jahren gegönnt hatten, als sie beide noch Studenten und unbekannt gewesen waren. Sie waren nach Rom gefahren und hatten die ganze Stadt auf einer klapprigen roten Vespa erkundet. Es war wundervoll gewesen. Die schönen Erinnerungen zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Minnie riss das Geschenk auf. Sie war nicht die Sorte Beschenkte, die das Papier fein säuberlich entfernte, glattstrich und aufhob.
Es war tatsächlich eine Hochglanzmappe mit Unterlagen. Darauf waren perfekte Frauen und gutaussehende Männer zu sehen, die blauäugige Wonneproppen in den Armen hielten.
»Ist es das, was ich denke?«, fragte Minnie und versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen.
Marco hatte Tränen in den Augen. »Ja, mein Schatz. Ich habe endlich einen Termin bei der Kinderwunschklinik für uns vereinbaren können! Freust du dich denn nicht?« Minnie bemühte sich, den Sturm, der in ihr tobte, im Zaum zu halten. Sie atmete tief durch.
»Aber wir hatten uns doch geeinigt, es auf natürlichem Wege zu probieren.«
»Minerva, mach die Augen auf! Wir probieren das schon seit drei Jahren! Es wird Zeit, der Natur auf die Sprünge zu helfen. Du wirst schon sehen, ein paar Hormonspritzen hier, ein paar Vitamine da und schon wird es endlich etwas mit dem Kindersegen!«
»Du weigerst dich doch immer, dich untersuchen zu lassen. Vielleicht liegt es ja an dir«, erinnerte ihn Minnie.
Marco schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein! In meiner Familie haben alle Kinder. Es muss an dir liegen! Meine Familie fragt schon nach, wann es denn endlich auch bei uns so weit ist und …«
»Deine Brüder und Schwestern sind so fruchtbar gewesen, sie könnten eine eigene Fußballmannschaft aufstellen! Deine Eltern haben schon genug Enkelkinder«, unterbrach ihn Minnie barsch, »sie tun immer so, als müsste Italien aussterben, wenn wir nicht auch noch ein Kind in die Welt setzen!«
»Untersteh dich, so über sie zu reden! Dazu hast du kein Recht!«, protestierte Marco und trat wütend nach der Krippe. Alle Figuren, die dem Jesuskind ihren Respekt zollten und Gaben brachten, wurden quer durch den Raum geschleudert.
Nicht mit mir, dachte Minnie aufgebracht und fühlte die Hitze in ihr Gesicht steigen.
»Ich rede so, wie es mir passt, insbesondere, wenn ich die Wahrheit sage!«
Marcos Ton wurde etwas sanfter: »Auch der Verlag fragt immer wieder bei mir nach. Du musst zugeben, dass ein Kinderbuchautor ohne eigene Kinder absurd ist, oder?«
»Ach, und eine Liebesromanautorin, die ohne Liebe leben muss, ist es wohl nicht? Ist dir aufgefallen, dass wir seit einer Ewigkeit nur noch Sex an meinen fruchtbaren Tagen haben? Wir tragen die Tage sogar im Kalender ein, als wären sie ein Meeting mit unseren Agenten! Ich fühle mich wie eine verdammte Zuchtstute!«
Marco baute sich bedrohlich vor Minnie auf. »Das ist doch nicht meine Schuld, wenn du so fortpflanzungsfreudig wie ein Fels bist!«
Das war zu viel. Minnie schleuderte die Mappe mit den dämlich grinsenden Eltern und ihren noch dämlicheren, sabbernden, zahnlosen Minimonstern durch den Raum. Es regnete Broschüren und Prospekte.
»Minnie, ich glaube, wir sollten uns beide beruhigen!«, beschwichtigte Marco. Er nahm ihre Hände in seine. Wie immer strahlten sie Wärme aus, während Minnie das Gefühl hatte, Eisklötze an den Armen zu haben.
»Weißt du, ich verstehe dich. Du hast wahrscheinlich Angst, das hätte ich an deiner Stelle vielleicht auch. Und du musst schreckliche Schuldgefühle wegen deiner Mutter haben, aber glaube mir, du konntest nichts dafür. Auch wenn dein Vater dir immer das Gegenteil einbläuen möchte.«
»Das hat nichts mit ihr zu tun!«
»Ich glaube schon, aber lassen wir das Thema einfach, hier geht es nur um dich und mich und die Krönung unserer Ehe.«
Minnie stellten sich die Nackenhaare auf. Welche Krönung denn?
Marcos Handy klingelte erneut. Wie schön die Zeiten gewesen sein mussten, als man nicht ständig und überall erreichbar war!
Minnie seufzte. »Lass mich raten? Ist wohl dein Mamilein?«
»Hör bloß auf zu spotten!«, drohte Marco und ging ran. »Mama? Ja, wir brauchen noch einen kurzen Moment … Ja, ich habe es ihr gegeben. … Nein, begeistert ist sie nicht gerade.«
Minnie verlor die Fassung. »Du … du hast ihr davon erzählt?«
Marco hielt die Hand vor das Handy. »Es war ihre Idee, okay? Sie wollte uns nur helfen!«
»Ihr seid doch alle wahnsinnig!«, schrie Minnie und riss sich von Marco los.
»Mama? Nein, das hat sie nicht so gemeint.«
»Doch, ich habe genau gemeint, was ich gesagt habe. Ihr seid alle nicht mehr bei Trost!«
Minnie musste hier raus. Sofort. Sie riss ihren Mantel von der Garderobe und schloss die Tür auf. Dunkelheit, Nebel und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ließen sie frösteln, doch sie wusste, die wahre Kälte befand sich in ihrem Haus, nicht außerhalb davon.
Im Flur hielt sie Marco plötzlich am Oberarm fest.
»Lass mich los, du tust mir weh!«
Marco griff nach ihrem Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
»Minerva. Keine Ausreden mehr. Keine Ausflüchte. Nur die Wahrheit. Ich möchte eines von dir wissen: Bist du bereit, jeden Weg mit mir zu gehen, um ein Kind zu bekommen? Ja oder nein?«
November 2018
Mailand
Minnie
Der Cursor auf Minnies Bildschirm blinkte unaufhörlich. So ein Cursor war eine gute Sache. Er hatte eine Engelsgeduld und beschwerte sich nie. Er machte keinen Druck, gefälligst weiterzuschreiben. Er ließ sich beliebig hin und her verschieben. Man konnte Wörter schreiben und auch gleich wieder löschen. Gott sei Dank werden Bücher heute auf Computern geschrieben! Würde man noch Schreibmaschine und Papier benötigen, hätte ich einen ganzen Wald auf dem Gewissen!, dachte Minnie.
Der Absatz, den sie gerade geschrieben hatte, war doch gar nicht so übel. Sie wusste nur nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Minnie kramte in sämtlichen Windungen ihres Gehirns, versuchte, sich die Szene vorzustellen, versuchte, den Charakteren vor ihrem inneren Auge Leben einzuhauchen. Was machten sie? Was sagten sie? Was fühlten sie? Sie las den Absatz noch einmal. Bei genauerem Hinsehen war er nicht besonders gut, eigentlich doch eher schlecht. Um die Wahrheit zu sagen, er ist hundsmiserabel!
Minnie entschied, dass sie nur einen Moment der Ablenkung brauchte. Nur kurz ihre Augen entspannen und ihre Gedanken sammeln. Sie blätterte lustlos in einer Zeitschrift herum. Sofort fiel ihr eine Werbung auf. Die Bilder vom Colosseum und der Spanischen Treppe weckten alte Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.
»Alle Wege führen nach Rom!«, lautete der Slogan. Wohl eher in eine Sackgasse, dachte Minnie und pfefferte die Zeitschrift in den Papierkorb. Gleich daneben stand die Glasvitrine, in der Minnies alte Buchpreise vor sich hin staubten. Hatte wirklich sie diese Dinger alle gewonnen? Gehörten sie wirklich zu ihrer Vergangenheit? Manchmal kam ihr diese Zeit vor wie ein alter, fast vergessener Traum.
Warum konnte man aufkommende Gedanken nicht einfach im Keim ersticken? Warum gab es keinen Delete-Knopf für alles Schlechte im Leben?
»Was du brauchst, ist einfach nur eine Pause!«, sagte sich Minnie und ging zu ihrer Kaffeemaschine. Schon zum vierten Mal an diesem Tag. Liebevoll strich sie über das Edelstahlgehäuse und bereitete sich einen Latte Macchiato zu.
Der Barista Daniele, der zehn Stockwerke unter ihrer Wohnung die Cubanito Bar betrieb, hätte missbilligend mit der Zunge geschnalzt. Sie konnte seine Beschwerde schon förmlich hören und sich vorstellen, wie er wild gestikulierte. Aber Minnie, Latte Macchiato nach elf Uhr? Das ist doch nur was für Touristen! Oder trägst du etwa auch Socken und Sandalen? Tunkst zum Frühstück Bratwurst in kalte Milch? Fotografierst unaufhörlich? Minnie lachte in sich hinein. Was Daniele nicht weiß, macht ihn nicht heiß.
Das köstliche Röstaroma der Kaffeebohnen verteilte sich in ihrem kleinen Apartment. Während der Milchschaum geräuschvoll aufgeschlagen wurde, blickte Minnie aus dem Fenster. Der Herbstnebel lag wie eine Dunstglocke über der versmogten Stadt. Alles sah grau aus. Die Straßen, die Gebäude, sogar die Menschen. Graue Tauben gurrten auf Minnies Dach und hinterließen grauen Dreck auf ihrer grauen Fensterbank. Die Kaffeemaschine erledigte ihre Arbeit, Minnies Latte Macchiato war fertig. Als sie wenige Augenblicke später gerade dabei war, den Milchschaum aus dem Glas zu löffeln, klingelte es an der Tür. Wäre ja auch zu schön gewesen!
Ohne ihr Getränk abzustellen, sah Minnie durch den Spion. Penelope stand vor der Tür. Mit dem rechten Fuß wippte sie auf dem Boden herum und hielt zwei riesige braune Umschläge im Arm. Genervt blickte sie auf ihre Armbanduhr. Oh, oh, dachte Minnie. Penelope klingelte erneut, dieses Mal länger. »Also MI-NER-VA! Jetzt mach doch endlich auf, ich habe nicht den ganzen Tag lang Zeit!«
Minnie atmete tief durch und öffnete die Tür. Penelope brummelte ein »Ciao!« und kam herein. Während sie ihren karamellfarbenen Mantel mit passendem Schal auszog, blickte sie Minnie überrascht an.
»Latte Macchiato? Um diese Uhrzeit?«
Minnie fühlte sich wie ein Kind, das gerade dabei ertappt worden war, wie es Süßigkeiten stahl. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Für mich bitte auch einen, danke«, sagte Penelope und machte es sich am Küchentisch bequem.
Geräuschvoll ließ sie einen der braunen Umschläge auf die Tischfläche knallen. Das heißt nichts Gutes, dachte Minnie und schaltete ihre Kaffeemaschine wieder an.
Wenige Minuten später saßen beide Frauen am Tisch, jede mit ihrem Heißgetränk vor der Nase. Penelope schien den strengsten Blick, zu dem sie fähig war, aufgesetzt zu haben. Minnie konnte es sich nicht verkneifen. »Mein Gott, jetzt schau doch nicht so finster drein! Wir sind keine Kinder mehr! Was hat der Lektor gesagt?«
»Hier bitte, sieh selbst«, sagte Penelope und überreichte Minnie den Umschlag. »Es heißt nicht umsonst Schuster, bleib bei deinen Leisten!«
»Bitte, Schwesterherz, komm mir nicht mit deinen altbackenen Sprüchen und Bauernweisheiten, auch wenn ich weiß, dass du sie liebst.«
»An denen ist meistens etwas dran!«
Minnie öffnete den Umschlag, entnahm das Bündel Papier, das sich darin befand, und blätterte.
Zunächst betrachtete sie jede Seite sorgfältig, doch dann nahm sie alles nur kurz in Augenschein, als würde es sich um ein Daumenkino handeln.
Als sie genug gesehen hatte, stapelte sie die Blätter sorgfältig, stand auf und warf sie in den Schredder, der ihr Manuskript sofort in zerschnittenes und gekräuseltes Papier zermahlte.
»Die Arbeit der letzten sechs Monate für nichts«, stellte Penelope fest.
Minnie betrachtete den Wirrwarr aus Buchstaben im Auffangbehälter. Das Manuskript war vernichtet, doch die Kommentare des Lektors hatten sich in Minnies Kopf eingebrannt. Es wird keine Spannung aufgebaut. Handlung an den Haaren herbeigezogen. Nicht nachvollziehbar. Grauenhaft!
»Das letzte Mal, dass ich so viel Rotstift in meiner Arbeit gesehen habe, war bei meiner Mathematikklassenarbeit«, versuchte Minnie zu scherzen.
Penelopes Mundwinkel bewegten sich nicht von der Stelle. »Ich hatte dich gewarnt.«
»Ich weiß.«
»Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, plötzlich etwas ganz anderes zu schreiben? Du bist eine Autorin für Liebesgeschichten, das ist deine Spezialität, das ist dein Fachgebiet. Gefühlvolle Geschichten, mit Romantik, mit positiven Emotionen, mit Happy Ends. Wieso bringen sich die Charaktere in diesem Manuskript alle plötzlich gegenseitig um, statt sich lieb zu haben? Wieso meintest du plötzlich, einen auf Stephen King machen zu müssen?«
Mittlerweile klang Penelopes Stimme schrill, wie damals als Kind, wenn Minnie etwas von ihrem Eis hatte abhaben wollen.
Minnie löffelte den restlichen Milchschaum aus ihrem Glas. Warum nur hatte sie das Gefühl, sich erklären zu müssen?
»Ich … ich … wollte …«
Penelope schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Das Geschirr macht einen kleinen Satz und klirrte.
»Ich weiß ganz genau, was du wolltest. Du wolltest die Trennung von Marco verarbeiten, indem du deine Hauptdarstellerin in ein männermordendes Biest verwandelt hast. Du hast deine ganzen Rachegefühle gegenüber Marco in diese Handlung projiziert. Leider ist das unglaubwürdig und liegt dir überhaupt nicht. Ich habe dein Manuskript gelesen, es ist eine einzige Katastrophe.«
Autsch. Kennt sie sich jetzt auch noch mit Psychologie aus? Gibt es irgendetwas, was meine Schwester nicht kann?
»Mit Marco hat das nichts zu tun«, log Minnie. »Da ich seit fast zwei Jahren keinen Liebesroman mehr zustande bekomme, dachte ich, ich könnte mich mal an einem Thriller ausprobieren.«
»Denken … denken. Überlasse das Denken den Pferden, die haben einen größeren Kopf! Genauso wirkte dein Manuskript. Wie das Werk einer Anfängerin, die mal etwas probieren wollte, nicht wie Minerva Giuliani, Tochter der großen Ornella Giuliani!«
Eine diffuse Gefühlsmischung aus Schuld und Sehnsucht ergriff Besitz von Minnie. Die Erwähnung von Marco und Mama in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen, das fühlte sich an, als würde sie gleich zweimal hintereinander überfahren werden. Erst von einem Lastkraftwagen. Dann von einem Panzer.
»Ich hole uns mal eine Packung Schokokekse«, hörte sich Minnie fröhlich sagen.
Sie stand auf und verschwand im Bad. Sofort öffnete sie den Wasserhahn. Das kühle Wasser half ihren geröteten Augen. Sie setzte sich noch einige Augenblicke auf den Badewannenrand, atmete tief durch und ging dann ins Wohnzimmer zurück, wo sie tatsächlich noch eine Packung ihres Lieblingsgebäcks fand.
Akkurat platzierte Minnie die Kekse auf einem Teller und stellte sie in die Mitte des Küchentisches.
»Minerva«, Penelopes Stimme klang jetzt sanft, »kein Wort mehr über das Thriller-Manuskript. Ich bin nicht deswegen hergekommen.«
»Weshalb denn dann, meine geliebte Schwester und talentierte Agentin?«
»Der Verlag verliert langsam die Geduld. Seit fast zwei Jahren hast du kein Buch mehr veröffentlicht. Das entspricht nicht den Vereinbarungen.«
Minnie nickte und die Schuldgefühle überrollten sie. »Ich weiß, ich habe mich zu einer Veröffentlichung pro Jahr verpflichtet. Aber das war auch zu einem Zeitpunkt, als ich mehr Inspiration und Geschichten in mir hatte, als ich jemals hätte niederschreiben können.«
»Ich weiß, wie sehr dich die Trennung von Marco belastet hat. Der Verlag ist sich dessen ebenfalls bewusst, und das Team hat lange Zeit darauf Rücksicht genommen und dich in Ruhe gelassen. Aber nun wird immer lauter verlangt, dass du wieder zurückkommst. Die Redaktion wird von Leserbriefen, E-Mails und Posts auf den sozialen Kanälen überflutet. Alle möchten wissen, wann dein nächster Liebesroman veröffentlicht wird. Die Leserschaft ist ungeduldig und der Verlag auch.«
Es war klar, dass mich das eines Tages einholen würde.
»Gut, der Verlag wünscht sich ein Comeback. Was soll ich tun?«
»Ihm schwebt für nächstes Jahr ein Weihnachtsroman von dir vor.«
»Ein Weihnachtsroman?«, rief Minnie entgeistert und verschluckte sich fast an dem Stück Keks, das sie gerade abgebissen hatte.
»Genau. Eine Liebesgeschichte, die zur Weihnachtszeit spielen soll. Ein richtiger Schmöker, den die Leser gemütlich auf dem Sofa lesen können, während es draußen unwirtlich, kalt und dunkel ist. Ein Buch, das einen durch die kälteste, aber schönste Zeit des Jahres begleitet. Ein Werk, das, in edlem Papier verpackt, ein perfektes Geschenk unter dem Weihnachtsbaum abgibt.«
»Ich kann das nicht.«
»Doch, du kannst und du wirst.«
Minnie wagte den Versuch einer Erklärung. »Seit zwei Jahren verbinde ich mit Weihnachten nur noch eines …«
»… Marco, wie er seine Sachen packt und dich verlässt. Ich weiß.«
»Genau.«
Penelope ergriff Minerva sanft an beiden Armen.
»Es wird Zeit, die Vernunft walten zu lassen und über Marco hinwegzukommen. Er hat sich ein neues Leben aufgebaut, seine Verkaufszahlen gehen durch die Decke, er heimst einen Preis nach dem anderen ein und das mit Kinderbüchern, K-I-N-D-E-R-B-Ü-C-H-E-R-N! Die Emma übrigens langweilig findet. Du hingegen bist nur noch ein Schatten deiner selbst. Wo ist die romantische, kecke, brillante Minnie von früher, die ihre Bücher zur Not auf Bierdeckeln und Kaugummipapier niederschrieb? Aus der die Worte nur so heraussprudelten?«
Minnie wischte sich die Tränen fort, ihre treuen Begleiter. Wahrscheinlich werden sie erst versiegen, wenn ich gelernt habe, sie zu lieben.
»Ich weiß nicht, wo diese Minnie ist. Ich glaube, ich habe sie irgendwo zwischen Umzugskartons, Scheidungspapieren, zerbrochenem Glas und Schlagzeilen verloren.«
Penelope hielt Minnie ein Taschentuch hin, das sie dankend annahm. »Hör auf mich, lass die Vergangenheit nun endlich ruhen, denn sie ist ein Ort, an den du nie mehr zurückkehren kannst. Es ist Zeit, nach vorne zu sehen.«
»Du weißt ganz genau, als Marco gegangen ist, hat er meine ganze Inspiration mitgenommen«, gestand Minnie. »Mit ihm ist meine Muse fortgegangen.«
»Ha!«, rief Penelope. »Inspiration ist das Stichwort! Weil dir die seit einiger Zeit fehlt, habe ich einen fantastischen Deal mit dem Verlag ausgemacht!«
Minnie spitzte die Ohren.
Penelope trommelte mit ihren Zeigefingern dramatisch auf dem Tisch.
»Ich habe den Verlag davon überzeugt, dass der beste Ort, um einen Weihnachtsroman zu schreiben, nicht dein streichholzschachtelgroßes Apartment sein kann. Ich habe ihnen klargemacht, dass dir ein Urlaub in weihnachtlicher Atmosphäre guttun würde, um die Inspiration wiederzufinden, die du so dringend benötigst.«
»Soll ich umziehen?«
Minnie hätte nichts dagegen gehabt. Sie fühlte sich in Mailand schon seit einiger Zeit nicht mehr wohl.
»Ja, aber nur zeitweise.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Du stehst wohl auf dem Schlauch? Ein Urlaub, Minnie!«
»Ein Urlaub? Wow, wieso bin ich nicht von selbst darauf gekommen, dass mir das guttun könnte? Aber hat der Verlag deiner Idee zugestimmt?«
Vor Neugier begann Minnie, an ihren Fingernägeln herumzukauen. Penelope tätschelte ihre Hand, damit sie aufhörte.
»Der Verlag hat nicht nur zugestimmt. Man hat sich Gedanken gemacht und sich richtig Mühe gegeben, eine geeignete Location zu finden und Aktivitäten zu buchen, die deine Liebe zum Weihnachtsfest wiederherstellen sollen.«
Minnie packte die Vorfreude. »Okay, lass mich raten, sag mir nicht, wo es hingeht. Sie schicken mich in die Karibik? Weiße Strände, Palmen und immerwährender Sonnenschein? Dann wird der Roman Weihnachten in der Karibik heißen.«
Penelope lächelte. »Oh nein, keine Karibik.«
»Schade, aber gut, ich rate weiter. Dann wird es bestimmt New York sein. Der perfekte Schauplatz für einen modernen Weihnachtsroman. Hochhäuser, Central Park, Shopping, Kultur … Super, ich bin bereits beim Kofferpacken.«
Penelope grinste, während sich Minnie innerlich die Hände rieb. Nach New York wollte ich schon immer.
»Es tut mir leid, dich wieder enttäuschen zu müssen, aber es wird auch nicht New York werden.«
Die Spannung und Neugierde brachten Minnie fast um den Verstand. »Wohin schicken sie mich denn dann?«
»Nach Lappland. Nach Schwedisch-Lappland, um genau zu sein.«
Vor Schreck warf Minnie ihre Tasse um, die eine kleine Pfütze auf ihrem Tisch hinterließ. Sofort zauberte Penelope ein Feuchttuch aus ihrer Tasche und wischte das Missgeschick auf.
»Wo der Weihnachtsmann herkommt?«
»Nicht ganz. Der Weihnachtsmann kommt aus Finnisch-Lappland. Da explodieren die Preise zur Weihnachtszeit und es ist sehr touristisch. Schwedisch-Lappland bietet dir eine genauso inspirierende Kulisse bei geringeren Kosten und mit weniger Ablenkung.«
»Lappland. Natürlich. Schnee. Kälte. Eis. Viel Kälte. Rentiere … Es passt von der Kulisse her schon für einen Weihnachtsroman. Aber im Ernst: LAPPLAND? Ist das nicht am Arsch der Welt?«, fragte Minnie. Sie hörte selbst das Entsetzen in ihrer Stimme.
»Ja, ist es. Und deswegen ist es perfekt für dich.«
Minnie war fast zu erschöpft, um sich zu wehren. Sie startete einen müden Versuch. »Gibt es dort nicht Bären?«
»Ja, die gibt es. Aber die halten gerade Winterschlaf, außerdem haben sie mehr Angst vor dir als du vor ihnen.«
Minnie kramte in ihrem Hirn nach weiteren Argumenten gegen Lappland. »Ich habe aber nichts Passendes anzuziehen, da wird es sicher eisig kalt sein?«
Wieder lächelte Penelope, diesmal siegessicher. »Ja, das wird es. Unter Umständen bis zu -50 °C. Ich habe vom Verlag einen Vorschuss für dich kassiert, damit du dich mindestens so gut wie ein Polarforscher ausstatten kannst. Wir wollen doch nicht, dass dir deine wertvollen Fingerchen abfrieren.«
Verdammt, sie hat ihre Hausaufgaben wirklich gut gemacht, dachte Minnie.
Penelope übergab Minnie einen Umschlag mit Bargeld und zauberte zeitgleich den zweiten braunen Umschlag hervor. Widerstand wird zwecklos sein.
»Der Verlag hat sich um alles gekümmert. Hier sind alle Reiseunterlagen, die du brauchst. Sie haben dir eine Hütte gebucht und du hast einen Führer, der verschiedene Aktivitäten mit dir unternehmen wird. Du wirst aber natürlich auch noch genug Zeit haben, wenigstens einen groben Entwurf deines Romans fertigzustellen. Wenn du Mitte Januar zurückkommst, erwarten sie zumindest ein Exposé von dir. Im Frühling soll dann das Manuskript abgeschlossen sein, damit es rechtzeitig zum Herbst verlegt werden kann.«
»Entschuldige, hast du gerade Mitte Januar gesagt? Wie lange soll ich denn in Lappland bleiben?«
Ohne auf die Unterlagen zu blicken oder mit der Wimper zu zucken, antwortete Penelope: »Vom 15. Dezember bis 15. Januar.«
Ganze VIER Wochen in der Einöde!?
»Wow, einen Monat!«, rief Minnie mit einer Mischung aus Begeisterung und blanker Panik.
»Minnie, tu es, bitte. Dir, mir und deinen Leserinnen und Lesern zuliebe.«
Minnies Gedanken und Gefühle fuhren Achterbahn.
»Habe ich denn irgendeine Wahl?«
Penelope legte ihre Stirn in Falten. »Eigentlich nicht. Wenn du kein neues Manuskript lieferst, bist du geliefert und der Verlag kündigt dir. Dann müssten wir uns auf die Suche nach einem neuen Verlag machen und mit der Vorgeschichte …«
»… könnte es schwierig werden«, beendete Minnie den Satz. »Darf ich eine Nacht darüber schlafen?«
Penelope ergriff Minnies Hand. »Ja, auch zwei. Aber denk daran: Nur der frühe Vogel fängt den Wurm, da beißt die Maus keinen Faden ab!«
»Wie sehr ich dich liebe, aber deine dämlichen Redewendungen hasse!«
Penelope grinste. »Ich weiß. Du darfst das gerne in dein neues Buch einbauen, so kannst du dich insgeheim an mir rächen.«
Nach kurzem Zögern stimmte Minnie in ihr Lachen ein.
»So gefällst du mir am besten«, verkündete Penelope. »Du solltest öfter deine Mundwinkel nach oben bewegen, das steht dir viel besser als dieses griesgrämige Gesicht, das du sonst den ganzen Tag mit dir herumträgst.«
Minnie grinste so sehr, dass es in den Mundwinkeln weh tat.
Penelope blickte auf ihr Handgelenk. »So, ich muss jetzt los, Emma aus dem Kindergarten abholen.«
»Danke, Penny. Gib Emma einen Kuss von mir.«
»Gerne geschehen, Minnie. Komm uns mal wieder besuchen und gib ihn ihr einfach selbst. Du weißt: Wir sind jederzeit für dich da.«
»Ich weiß, und ich danke euch.«
Als Minnie wieder alleine in ihren vier Wänden war, nahm sie den Umschlag, öffnete ihn aber nicht. Sie schaute auf ihren Kalender.
In einem Monat könnte ich schon in Lappland sein und vielleicht bereits an meinem Buch schreiben.
Dieser Gedanke gab ihr einen kleinen Energieschub, doch gleichzeitig hatte sie Angst. Vor der Leere, in ihr und ihrem Manuskript. Was, wenn selbst Lappland ihr die Inspiration nicht zurückgeben konnte? Was, wenn es nichts und niemanden gab, der dies vermochte?
Viel zu lange habe ich heute in dieser Wohnung gesessen, es wird Zeit für einen Spaziergang, dachte Minnie, packte sich dick ein und verließ ihre Wohnung in Richtung U-Bahn.
Minnie
Das Lappland-Angebot schwirrte die ganze Zeit in Minnies Kopf herum wie eine dicke Brummfliege, während sie sich in der U-Bahn dicht an dicht mit Touristen und Pendlern quetschte. Jeder schien nur mit sich selbst oder seinem Smartphone beschäftigt zu sein.
An ihrer Haltestelle Piazza Duomo angekommen, stieg sie aus und schon nach wenigen Treppenstufen sah sie den Mailänder Dom. Die Beleuchtung hob die Zinnen und Türmchen besonders hervor. Ganze Heerscharen von Touristen tummelten sich auf dem Vorplatz, jeder versuchte auf seine Weise, den Moment festzuhalten und ihn vor dem Vergessen zu bewahren. Die einen klassisch mit Videokamera und Fotoapparat, die anderen mit Smartphone und Selfiesticks. Wiederum andere beauftragten herumsitzende Künstler mit einem Porträt oder einer Karikatur mit dem Dom im Hintergrund.
Ein Gespräch mit Ali ist genau das, was ich brauche, dachte Minnie und lief zu einem kleinen Stand seitlich vom imposanten Gotteshaus. Der Duft der gerösteten Kastanien ließ ihren Magen knurren.
Als Ali Minnie erkannte, erhellte sich sein runzeliges Gesicht. »Na, wenn das nicht meine wundervolle Schriftstellerin und Lieblingskundin ist?«
Minnie grinste. »Und wenn das nicht Ali ist? Alter Seemann und der beste Kastanienhändler von Mailand!«
»Du meinst wohl: alter marokkanischer Seemann.«
»Und wenn schon? Wen interessiert das?«
»Glaube mir, Kind. Es gibt genug Menschen, die das interessiert und die das stört. Ich war auf allen Weltmeeren unterwegs und habe jeden erdenklichen Hafen gesehen. Und überall gibt es Leute, denen die Nationalität anderer wichtig ist. Es ist ihnen so bedeutend, dass sie nicht merken, dass wir unter der hellen, dunklen, glatten oder faltigen Haut den gleichen Körper haben. Wir alle bestehen nur aus Bedürfnissen, Wünschen, Erinnerung und Vergänglichkeit. Aber zum Glück war meine Rosa nicht so, Gott habe sie selig. Ich werde sie niemals vergessen.«
Minnie nickte betreten, als Ali sich verstohlen ein paar Tränen wegwischte und sich räusperte. Kurz darauf schien er sich wieder zu fassen. »Gut, Liebes. Was darf es für dich sein? Wie immer eine große Tüte geröstete Kastanien?«
»Ja, bitte«, antwortete Minnie und kramte etwas Kleingeld aus ihrer Jackentasche.
Sofort wimmelte Ali ab. »Nein, das geht aufs Haus! Ich bestehe darauf! Wer so freundlich ist und mich bei Kälte und Nebel auf ein Schwätzchen besuchen kommt, muss belohnt werden.«
»Danke schön, mein Lieber, aber du könntest doch schon lange in Rente gehen, statt dir tagein, tagaus bei der Kälte, Wind und Wetter die Beine in den Bauch zu stehen.«
»Das könnte ich wohl, aber was soll ich dann den ganzen Tag lang tun? Die Wohnung ist so leer, seitdem Rosa nicht mehr ist. Wenn ich allein schon an mein nächstes einsames Weihnachten denke, wird mir ganz übel. Wenn ich nicht arbeiten würde, würde ich verrückt werden. Der Mensch braucht Beschäftigung, er muss produktiv sein, um fit im Kopf zu bleiben. Es gibt so viele Rentner, die ihr Leben lang gearbeitet haben. Dann hören sie von einem Tag auf den anderen auf, sitzen nur noch vor der Glotze herum und verblöden. Oder sterben an einem Herzinfarkt. Meine Meinung.«
Minnie beschlich ein schlechtes Gewissen. Wie produktiv war denn sie die letzten zwei Jahre gewesen?
Ali füllte die Kastanien mit einer Kelle in eine Papiertüte und übergab sie Minnie. Die Hitze der herbstlichen Köstlichkeiten drückte sich durch die dünne Verpackung und ließ Minnies Sorgen für einen Moment verfliegen.
Sie lächelte. »Danke. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.«
Ali schien etwas einzufallen. »Hat der Verlag geantwortet? Hat dein Thriller sie vom Hocker gerissen?«
»Ja, so sehr, dass ich ihn dir als Brennmaterial für deinen Röstofen hätte mitbringen können.«
»Tut mir leid, das zu hören. Und wie geht es jetzt weiter?«
Minnie schälte eine Maroni und kaute sie ganz vorsichtig. Heiß, aber unheimlich köstlich!
»Deswegen bin ich hier. Ich habe ein Angebot bekommen. Einen Monat in Schwedisch-Lappland, um einen Weihnachtsroman zu schreiben. Was hältst du davon?«
Ali kam hinter seinem Stand hervor und umarmte Minnie stürmisch. »Das sind doch wundervolle Neuigkeiten! Herzlichen Glückwunsch!«
»Bitte erdrück mich nicht! Ich habe noch gar nicht zugesagt. Ich muss erst darüber nachdenken.«
Ali schnalzte mit der Zunge. »Was gibt es denn da noch zu überlegen? Der Verlag glaubt an dich, ich glaube an dich, ich bin mir sicher, deine Schwester tut es auch. Warum tust du es nicht?«
»Was, wenn ich aus Lappland zurückkomme und immer noch nichts vorweisen kann?«
»Was, wenn du es noch nicht einmal versuchst und nie erfahren wirst, ob es funktioniert hätte und du genauso mit leeren Händen dastehst?«, gab Ali schlagfertig zurück.
»Danke, ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen.« Ich haue mir ohnehin die Nacht um die Ohren, bevor ich mich entscheiden kann.
Ali ging wieder an den Röstofen und befüllte ihn neu.
»Jetzt genieße deine Leibspeise und hör mir zu. Du musst unbedingt nach Lappland gehen. Ich bin schon dort gewesen und habe an diesem magischen Ort, von meiner Rosa abgesehen, die schönsten Dinge meines Lebens entdeckt.«
Minnie wurde neugierig. »Was denn?«
»Unendliche Wälder und tausende Seen. Tiere und Pflanzen in einer Vielfalt, die du dir nicht vorstellen kannst. Weite, Freiheit, Menschenleere und Stille. Im Sommer nie enden wollende Tage. Im Winter wundervoller Pulverschnee. Und dann noch etwas ganz Besonderes. Etwas, was dich trotz aller Wissenschaft an eine höhere Macht glauben lässt, und mögest du noch so ein Atheist sein.«
Minnie hielt gebannt den Atem an. »Was ist es, Ali, verrätst du es mir?«
Der alte Mann lächelte. »Selbstverständlich nicht! Geh nach Lappland und finde es selbst heraus!«
Das war ja klar!
»Du bist ganz schön fies! Also gut, angenommen, ich gehe nach Lappland. Was soll ich dir mitbringen?«
Ali grinste spitzbübisch. »Eine neue Partnerin wäre schön. Natürlich in meinem Alter, ich bin ja bescheiden.«
Minnie konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Als eine Familie sich Alis Stand näherte, wollte sich Minnie verabschieden.
»Versprich mir, dass du es dir ernsthaft überlegen wirst. Solch eine Chance kommt vielleicht nie wieder«, sagte Ali und klopfte Minnie aufmunternd auf die Schulter.
»Ja, das werde ich. Danke für dein offenes Ohr.« Und dass du mich so neugierig auf Lappland gemacht hast, beendete Minnie den Satz im Geiste.
Einige Zeit später stieg Minnie wieder in die U-Bahn ein. Der Spaziergang durch die Galerie Vittorio Emanuele II mit ihren prächtigen Bögen und Auslagen und natürlich die warmen Kastanien in ihrem Bauch hatten ihr ein gutes Gefühl gegeben. Zu Hause mache ich mich über Lappland schlau und dann denke ich über Sinn und Unsinn dieser Reise nach, dachte Minnie, als sie einen Sitzplatz ergattert hatte.
Sie beobachtete das stetige Ein- und Aussteigen der verschiedensten Menschen an den Haltestellen. Hier ein Großmütterchen mit Einkaufstrolley, dort ein Gothicpärchen, das Händchen hielt und sich küsste, weiter hinten eine Frau, die mit ihrem Männerhaarschnitt und ihrem ausladenden Busen ihrer ehemaligen Schwiegermutter Elvira zum Verwechseln ähnlich sah und mit einer anderen Dame ein Schwätzchen hielt.
Minnies Blick wanderte weiter zu den anderen Fahrgästen, als eine Alarmglocke in ihrem Unterbewusstsein schrillte. Ihr Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals und eine Hitze machte sich in ihrem Körper breit, als würde sich ein Lavaschwall über sie ergießen.
»Also, wie geht es deinem Marco?«, hörte Minnie die Frau neben der Frau mit dem ausladenden Busen sagen. Minnie erstarrte wie einst Lots Gemahlin.
»Wunderbar geht es ihm. Die Scheidung ist endlich durch, Gott sei Dank.«
Ein erleichtertes Sich-Bekreuzigen.
Vorsichtig versteckte Minnie ihre Mähne unter ihrer Kapuze und ihr Gesicht hinter einer Gratiszeitung, die auf einem leeren Sitz neben ihr lag.
»Na, das wurde aber auch langsam Zeit.«
Ja, Zeit, dass du deine Klappe hältst!
»Und wie geht es Rita?«
Minnie kräuselte die Stirn. Wer zur Hölle ist Rita?
»Ach, Mirella, was soll ich sagen? Rita geht es blendend, sie wird von Tag zu Tag schöner.«
Minnie kramte in ihrer Erinnerung. Hieß eine von Marcos zahlreichen Schwestern, Nichten, Cousinen, Tanten, Großmüttern und Urgroßmüttern Rita? Gähnende Leere im Kopf.
»Kein Wunder, bei diesen wundervollen Nachrichten!«
»Allerdings«, sagte Elvira in süffisantem Ton. Warum verursachte er bei Minnie Übelkeit?
»Weiß die Presse eigentlich schon davon?«
»Schschschsch«, zischte Elvira, »bloß nicht so laut! Manchmal haben Wände Ohren und Fenster Augen. In der Öffentlichkeit umso mehr.«
Mirella sprach etwas leiser. »Ach, komm schon. Was soll denn diese Geheimnistuerei?«
Minnie spitzte die Ohren und verfluchte die Ansage der Haltestellen, die das Gespräch ausgerechnet an den wichtigsten Stellen übertönte.
»Es ist Marcos Wunsch, dass …«
»Aber wieso denn?«
»Aus Rücksicht.«
»Wem gegenüber?«
»Na, liebe Mirella, denk mal ganz scharf … Um wen wird es da wohl …«
»Doch nicht etwa um seine …?«, rief Mirella aufgeregt. »Sie hatte doch so einen sonderbaren … Wie hieß sie noch gleich?«
Minerva rutschte tiefer in ihren Sitz. Nervös zählte sie die Haltestellen, bis sie endlich aussteigen konnte.
»Jetzt enttäuschst du mich aber! Du hattest dir so eine schöne Eselsbr… gebaut.«
Jemand klatschte in die Hände. »Natürlich! Minerva, wie mich nerven, Minerva, die Nervensäge! Entschuldige, das Alter spielt einem manchmal kleine Str…«
In Minnie brodelte es vor Wut. Sie hatte der Frau nie etwas angetan. Wie konnte sie sich anmaßen, so über sie zu reden?
»Ach, erzähl mir nichts«, pflichtete Elvira bei, »ist erstmal die Fünfzig vorbei, kommt jeden Tag ein anderes Wehwehchen herbei.«
Na, dann passt mal auf, dass nicht ich euer neuestes Wehwehchen sein werde!
Endlich kam ein Stück Fahrstrecke ohne Haltestellenansagen.
»Aber im Ernst jetzt, Marco hält das alles geheim, nur weil er sich um seine Exfrau sorgt?«
»So ist es«, erklärte Elvira. »Minerva kriegt seit der Trennung von Marco wohl nichts mehr zustande. Während Marco ein Buch nach dem anderen veröffentlicht, ist bei meiner ehemaligen Schwiegertochter die literarische Ödnis angesagt.«
Literarische Ödnis? Als ob du jemals etwas von Literatur verstanden hättest! Alles, was über Klatschzeitschriften geht, ist doch viel zu hoch für dich.
»Sind ihre bereits erschienenen Romane überhaupt so gut?«, wollte Mirella wissen.
»Kann ich dir nicht sagen, ich habe sie nie gelesen. Ich habe sie das letzte Mal vor dem Gericht gesehen. Auf jeden Fall hat sie die Scheidung ganz schön mitgenommen.«
»Mit ihren roten Haaren hatte sie doch sowieso schon immer etwas Hexenhaftes an sich.«
Die beiden Damen lachten boshaft.
Wenn ich eine Hexe wäre, wärst du jetzt nicht mehr am Leben, dachte Minnie, während ihr Magen sich verknotete.
»Mirella, Mirella, Mirella«, tadelte Elvira, »du bist mir vielleicht eine! Das war ganz schön gemein von dir! Am besten, du beichtest das gleich morgen in der Kirche. Wie dem auch sei, das hätte sie sich alles ersparen können, hätte sie doch nur Marcos Wunsch nach einem Kind nachgegeben. Es ist doch das Natürlichste und Selbstverständlichste der Welt, Kinder in die Welt zu setzen, doch sie wollte sich nicht helfen lassen und das wahrscheinlich nur, weil ihre Mutter gleich nach ihrer Geburt gestorben ist und sie deswegen einen psychischen Knacks hat. Armer Marco! Zehn kinderlose Jahre an diese Frau verschwendet!«
Minnie setzte sich auf ihre Hände, um sich selbst davor zu bewahren, die wenigen Meter bis zu ihrer ehemaligen Schwiegermutter und deren Freundin zu überwinden und etwas zu tun, was sie später bereuen würde. Wenn sie eines wusste, dann das: Im Leben war absolut nichts eine Selbstverständlichkeit! Für andere war es selbstverständlich, eine Mutter zu haben, für sie nicht.
»Aber gut, wenigstens dieses Problem ist ja jetzt dank Rita gelöst! Wann ist noch einmal der Termin?«
»Von welchem Termin redest du? Der für die Hochzeit von Marco und Rita oder der für die Entbindung ihres Kindes?«
Die Worte schnürten Minnie fast die Kehle zu. Sie hörte ein durchdringendes Piepsen in ihrem Ohr, wie kurz vor dem Ohnmächtig-Werden. Ihr Magen spuckte Feuer.
»Die Hochzeit wird Heiligabend stattfinden und die Geburt des Kindes soll Ende Februar sein.«
Endlich wurde Minnies Haltestelle angesagt. Ihre Wut wirkte wie ein Katalysator, der ihr die Kraft gab, aufzustehen und den U-Bahn-Waggon zu verlassen. Hastig lief sie nach rechts und wich den anderen ein- und aussteigenden Fahrgästen aus. Als sie Elvira und Mirella sah, die weiterhin schnatterten, nahm Minnie ihre Kapuze herunter und klopfte an die Scheibe.
Die beiden Frauen erstarrten vor Schreck. Elvira fasste sich an die Brust, während Mirella versuchte, sich hinter ihrer altmodischen Handtasche zu verstecken. Dann zeigte Minnie den beiden Tratschtanten den schönsten und deutlichsten Mittelfinger, zu dem sie fähig war. Beide hielten sie sich vor Empörung die Hand vor den offenen Mund und schienen erleichtert, als der unterirdische Zug endlich wieder anrollte.
Minnie blieb so lange stehen, bis sie die Rücklichter in der Dunkelheit des U-Bahn-Schachts verschwinden sah, dann rannte sie den ganzen Weg von der Haltestelle bis nach Hause. Nach kurzer Zeit brannten ihre Lungen und sie wusste, ihr Körper würde diese ungewohnte sportliche Betätigung spätestens am nächsten Tag mit einem Muskelkater quittieren. Doch ihre körperliche Befindlichkeit kümmerte sie nicht. Es gab Teile von ihr, die keiner Nerven bedurften, um sie höllische Qualen spüren zu lassen. Ohne Unterlass rollten ihr Tränen, die aufgrund des Windes eiskalt auf ihrer Haut brannten, ihre Wangen entlang.
An der Haustür angekommen, rannte Minnie die Treppen hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
Kaum hatte sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen, lief sie, so schnell sie konnte, in ihr Badezimmer. Die quälende Übelkeit, unter der sie litt, seitdem ihr klar geworden war, dass Marco sie einfach gegen eine funktionierende Frau ausgetauscht hatte, forderte ihren Tribut.
Minnie
Als Minnie am nächsten Morgen aus einem unruhigen Schlaf voll wirrer Träume aufwachte, waren ihre Augen vom vielen Weinen ganz klebrig. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, die Last der ganzen Welt zerquetsche ihren Brustkorb, und ihr Kopf schwirrte wie nach einer durchzechten Nacht, nur dass sie nichts zu sich genommen hatte. Ganz im Gegenteil.
Da haben wir ihn, den herzzerreißenden Kummer, wie ich ihn dutzende Male in meinen Büchern beschrieben habe, dachte Minnie, da merkt man, dass man noch am Leben ist, hätte Penelope jetzt dazu gesagt.
Sie rappelte sich aus dem Bett auf und blickte aus ihrem Fenster. Sintflutartiger Regen hatte Mailand fest im Griff. Die Wolken schienen jeden Strahl Tageslicht in sich hineinzusaugen und vor den Menschen abzuschirmen.
Wie ich dieses Grau in Grau hasse!
Sie ging in die Küche und knipste das Licht an.
Ihre Wanduhr im Landhausstil verriet ihr, dass es bereits dreizehn Uhr war. Sie tapste zu ihrer Kaffeemaschine und bereitete sich einen Latte Macchiato mit einer doppelten Portion Espresso, währenddessen überprüfte sie ihr Mobiltelefon. Sie befürchtete fast eine tadelnde Nachricht von Marco vorzufinden. Wie kannst du es wagen, meiner Mutter einen Stinkefinger zu zeigen? So in etwa. Dann erinnerte sie sich daran, dass er ihre neue Nummer gar nicht hatte. Tatsächlich zeigte das Display drei verpasste Anrufe von Sabrina und eine Nachricht von Penelope, die »Und, hast du darüber geschlafen? Fliegst du nach Lappland?«, lautete.
In dem ganzen Chaos des vorherigen Abends hatte Minnie das vollkommen vergessen. Sie schielte zu dem unberührten Umschlag auf ihrem Schreibtisch, dem Schlüssel zu ihrer Lapplandreise. War das auch der Schlüssel zur Rückkehr zu ihrer Leidenschaft und ihrem Beruf als Schriftstellerin? Der Rückkehr zu ihr selbst? Oder verlorene Zeit und Liebesmüh?
Soll ich wie Alice im Wunderland sein und dem Kaninchen in seinen Bau folgen?
Minnie beschloss, Sabrina zurückzurufen. Sie würde wissen, was richtig war. Sie antwortete schon nach dem ersten Klingeln.
»Gott sei Dank, du lebst noch!«, brüllte sie fast in ihren Hörer, ohne Minnie zu begrüßen.
»Hallo Sabrina, ich freue mich auch über alle Maßen, von dir zu hören. Ja, ich bin noch am Leben, zumindest so in etwa. Wieso meinst du, ich sollte bereits das Zeitliche gesegnet haben?«
Der Gedanke hat etwas, dachte Minnie, bevor sie sich selbst schalt.
»Wir waren um elf Uhr zum Brunch verabredet und du warst nicht da. Ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen, und bin gerade auf dem Weg zu dir, um mich zu vergewissern, dass es dir gut geht.«
»Mist!«, entfuhr es Minnie, gleichzeitig war sie von Sabrinas Sorge um sie gerührt.
»Es tut mir leid, nach dem ganzen Trubel gestern habe ich unsere Verabredung ganz vergessen. Um ehrlich zu sein, laufe ich noch in meinem Schlafanzug herum.«
»Süße, rühr dich nicht von der Stelle! Ich komme sofort zu dir! Dann kannst du mir erzählen, was geschehen ist«, antwortete Sabrina.
Zuverlässig wie immer, mein Fels in der Brandung.
»Wo sollte ich denn schon hingehen? Höchstens in die CubanitoBar, um meinen Kummer zu ertränken«, antwortete Minnie, während sie versuchte, nicht wieder loszuweinen, indem sie Milchschaum von ihrem Latte Macchiato hinunterschluckte.
»Cubanito Bar, welch großartige Idee. Warte damit, bis ich bei dir bin! Wenn schon Frusttrinken, dann zu zweit. Außerdem wird dich Daniele mit seinen Gesangseinlagen, die er hinter dem Tresen schmettert, sicherlich aufbauen!«
Minnie konnte sich ein klitzekleines Lächeln nicht verkneifen. Insbesondere bei Funkmusik konnte den Barkeeper der Cubanito Bar nichts aufhalten. Die Eckkneipe mit den abgewetzten Polstermöbeln und den Bildern von kubanischen Oldtimern an der Wand hatte einen Kultstatus in Mailand. Minnie und Sabrina besuchten sie seit ihrer Universitätszeit. Als Minnie nach der Trennung von Marco eine Bleibe suchte, hatte Daniele sie darauf hingewiesen, dass die Wohnung im zehnten Stockwerk schon länger leer stand und auf einen neuen Mieter wartete.
Kein Wunder finden die niemanden, hatte Daniele gesagt. Wer will schon auf knapp dreißig Quadratmetern wohnen?
Ich!, hatte Minnie damals geantwortet und nach der Telefonnummer des Vermieters gefragt. Nur wenige Tage später konnte sie ihr neues, kleines Reich beziehen.
Minnie hatte sich kaum fertig angezogen, da stand Sabrina schon vor der Tür und umarmte sie so fest, dass sie fast keine Luft mehr bekam.
»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Weißt du, wie viele verrückte Leute es in Mailand gibt? Ich habe dich bereits gefesselt und geknebelt in einem Kofferraum vor mir gesehen!«
Minnie bat Sabrina in die Wohnung. Sie war sich sicher, ihre Nachbarin Filomena, die ihr gegenüber wohnte, hing schon am Spion, um sich ein Bild von der aktuellen Lage im Treppenhaus zu machen.
»Nein, alles gut, alles gut«, beschwichtigte Minnie und schloss die Wohnungstür hinter sich.
»Du solltest dich nicht so viel mit deinen Kollegen unterhalten, die von Kriminalität berichten. Wenn es nach denen geht, gibt es nur noch Vergewaltiger und Mörder.«
»Man kann nie vorsichtig genug sein! Also, raus mit der Sprache, wo warst du? Was ist passiert?«, fragte Sabrina.
»Ich war nur durch den Wind, weil … weil … Marco wieder heiratet und bald Vater wird.«
»Okay, zieh dir deine Schuhe an, das schreit ja förmlich nach einem Drink. Oder sagen wir sicherheitshalber fünf!«, verkündete Sabrina.
Minnie schielte zu ihrem noch halbvollen Latte-Macchiato-Glas. »Ist es nicht ein wenig zu früh für Alkoholisches?«
»Von mir aus kannst du auch ein Kännchen Tee trinken!«, erwiderte Minnies Freundin und erstickte damit jegliche Diskussion im Keim.
* * *
»Signorina Minerva, Signorina Sabrina, Sie sehen beide zauberhaft aus«, sagte Daniele eine halbe Stunde später, während er den Freundinnen Aperitifs und einen Behälter mit Grissini auf den Tisch stellte.
Zauberhaft?! Mit diesen Tränensäcken so groß wie Gummiboote sicher nicht, dachte Minnie.
Sie hatten einen Platz in einer ruhigen Ecke erwischt, die über und über mit künstlichen Bananenpflanzen und exotischen Blumen dekoriert war.
Daniele trug, wie meistens auch, Wanderschuhe und eine lässige Dreiviertel-Baggypant aus Jeans mit passender Weste darüber. Außer einem braunen Lederarmband am Handgelenk trug er keinen Schmuck am Körper, wenn man von den zahlreichen Tattoos und Piercings einmal absah.
»Ich muss schon sagen, selbst wenn er anfängt, langsam grau zu werden und ein paar Falten bekommen hat, ist Daniele immer noch ein heißes Schnittchen«, sagte Sabrina bewundernd, während sie ihre Blicke auf seinem Hintern ruhen ließ.
Minnie hüstelte leicht. Sabrina schnappte sich ihr Glas und hielt es Minnie hin.
»Worauf sollen wir anstoßen?«
»Auf das Ende meines Lebens«, schlug Minnie vor und versuchte, sich nicht komplett von der Traurigkeit übermannen zu lassen. Im Hintergrund lief Cold Desert von Kings of Leon. Na, besten Dank auch.
Sabrina stellte ihr Glas auf den Tisch und rieb Minnie tröstend den Arm. »Süße, versteh mich nicht falsch. Ich kann nachvollziehen, dass es wehtut und alles. Aber … ich meine … was hattest du erwartet? Ihr habt euch vor Kurzem scheiden lassen. Dies bedeutet normalerweise das Ende einer Ehe und dass sich jeder ein neues Leben aufbaut. Marco hat das gemacht. Nur du kannst nicht loslassen und suhlst dich immer noch in Schmerz und Selbstmitleid. Das muss aufhören! Sofort!«
»Ja, ich weiß«, gab Minnie zu und verlor den Kampf gegen die Tränen, »aber jetzt fühlt sich unsere Trennung so verdammt endgültig an. Nun gibt es wirklich kein Zurück mehr.«
»Minnie, ihr lebt seit fast zwei Jahren getrennt. Was genau war daran nicht endgültig für dich?«, fragte Sabrina und biss in eine Grissinistange.
»Musst du denn immer so verdammt analytisch und ehrlich sein? Kannst du mich zur Abwechslung nicht einfach belügen und nur das sagen, was ich von dir hören möchte?«
Sabrina schüttelte vehement den Kopf. Dabei wackelte ihre blonde Kurzhaarfrisur hin und her. »Nein, das geht nicht. Du weißt doch, dass ich Sportjournalistin bin. Mein Anspruch ist es, immer die Wahrheit zu sagen, schon vergessen?«
»Wie könnte ich nur! So warst du auch schon auf der Universität, Miss Überkorrekt!«
»Eben, du hättest schon seitdem sehen und lernen können, wie man es schafft, ohne Liebeskummer zu leben. Aber du wolltest dich ja unbedingt an einen Mann binden. Wenn du meine Meinung hören möchtest: Männer sind einfach nur zum Spaß haben da, für alles andere verlasse ich mich lieber auf jemanden, dem man vertrauen kann, nämlich auf mich selbst.«
»Ich weiß nicht, wie es dir gelingt, deinem Herzen Befehle zu erteilen. Meines schert sich keinen Deut darum, was ich ihm sage.«
»Das Herz ist nur ein Muskel, der Blut durch den Körper pumpt. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Wunder, dass es nicht auf das hört, was du sagst. Hast du etwa schon einmal ein Herz mit Ohren gesehen?«
Minnie prustete vor Lachen.
»Das war gerade lustig, aber nicht besonders sentimental.«
»Was bringt einem Sentimentalität schon, außer Ärger und Kummer?«, erwiderte Sabrina. »Ich habe es an meiner Mutter gesehen. Sie hing so sehr an meinem Vater, selbst, als er sich eines Tages ohne Vorwarnung aus dem Staub gemacht und sie mit drei kleinen Kindern im Stich gelassen hat. Gott allein weiß, wie viel sie gearbeitet hat, um uns Dreikäsehochs großzuziehen. Nein danke, ich habe die Lektion gelernt! Keine Bindung bedeutet kein Risiko!«
»Und was ist mit dem Risiko des Alleinseins?«, gab Minnie zu bedenken.
»Das ist doch prima, dann kann man in Ruhe über das Fernsehprogramm entscheiden und muss sich mit niemandem streiten«, erklärte Sabrina und zeigte auf jemanden oder etwas hinter Minnie. »Apropos, wir sind es nicht mehr. Alleine.«
Minnie drehte sich um und sah eine junge Frau, die etwas verschüchtert wirkte und ein Buch in ihren Armen hielt, als wäre es ein Schatz.
»Frau Giuliani, es tut mir leid, dass ich sie störe«, piepste sie. »Ich bin ein ganz großer Fan von Ihnen und habe mich gefragt, ob Sie so nett sind … ob Sie vielleicht …?«
Minnie war gerührt und erkannte das Cover ihres Buches Das Haus aus Perlmutt, eines ihrer früheren Werke.
»Möchtest du, dass ich dein Buch signiere?«
Es ist eine Ewigkeit her, durchfuhr es Minnie.
Das Gesicht der jungen Frau erhellte sich, während Minnie einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche kramte.
»Darf ich dir auch eine Widmung schreiben? Wenn ja, wie heißt du?«
»Oh, ich … ich heiße Tamara und ich bin Ihr größter Fan.«
»Sag bitte du zu mir, Tamara. Ich bin Minerva oder auch Minnie, wenn es dir lieber ist«, sagte Minnie, klappte ihr Buch auf und schrieb einige persönliche Worte auf den Schmutztitel.
Zu sehen, dass es noch immer Leserinnen gab, die Minnie die Treue hielten, tat so gut – Minnie fühlte sich wie elektrisiert.
Dankbar nahm Tamara das signierte Buch entgegen.
»Minnie, wann darf man mit deinem nächsten Buch rechnen? Ich habe bereits all deine Bücher gelesen, manche sogar mehrmals. Ich lechze nach neuen Geschichten von dir. Deine Bücher geben mir so viel!«
Minnie hatte schon oft Leserbriefe erhalten, in denen man sie um neue Romane gebeten hatte. Aber dass es immer noch Leser gab, die trotz ihrer Schreibblockade zu ihr hielten, haute sie fast um.
Minnie nahm Tamara in den Arm und fasste ihren Entschluss rasend schnell, um nicht in die Versuchung zu kommen, es sich anders zu überlegen.
»Tamara, ich habe gute Nachrichten für dich! Ich werde schon bald an meinem neuen Manuskript arbeiten! Es wird ein Weihnachtsroman. Mein Verlag schickt mich nächsten Monat nach Lappland, damit der Roman besonders authentisch wird. Ich verspreche dir, dass du zu den ersten Leserinnen gehören wirst.«
Tamara schien fassungslos vor Freude. »Oh, Minnie, das wäre großartig! Danke!«
»Es gibt nichts zu danken!«
Du weißt es zwar nicht, aber die Wahrheit ist, dass auch du mir soeben geholfen hast.
Sabrina zückte einen Zettel aus ihrer Tasche. »Tamara, schreib doch bitte hier deine Adresse auf!«
Nachdem Tamara dies getan und Minnie den Zettel übergeben hatte, verabschiedete sie sich, sichtlich gerührt, und nicht, ohne sich an die zwanzig Mal zu bedanken.
»Wow, das war gerade ziemlich emotional«, sagte Minnie und wischte sich eine Träne weg. Es wunderte sie, dass ihre Augen überhaupt noch welche produzieren konnten nach der letzten Nacht.
»Absolut«, stimmte Sabrina zu. »Aber sag mal, ist denn die Geschichte mit Lappland wahr?«
»Ja, ist sie. Mein Verlag hat es mir gestern angeboten, um mich aus meinem Schreibkoma zu befreien. Und diese Frau hat mir gerade einen echten Grund gegeben, wieder mit dem Schreiben zu beginnen.«
»Wow, Lappland! Wenn ich nicht über die Eishockeymeisterschaft berichten müsste, würde ich sofort mit dir mitfliegen«, erklärte Sabrina mit einer Prise Neid in der Stimme und hob ihr Glas. »Also, Versuch Nummer Zwei. Worauf stoßen wir an?«
»Auf meinen Neustart als Schriftstellerin und auf mein neues Buch, auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wie es heißen wird«, antwortete Minnie. So richtig war sie von Ersterem nicht überzeugt.
»Chin-chin!«
»Salute!«, stimmte Sabrina mit ein. »Zeig es Marco und seiner Sippschaft! Dieser Idiot hat lange genug dein Selbstwertgefühl unterdrückt. Zeit, dass du dich davon freimachst!«
Sie hat ja so recht!, dachte Minnie, während sie sich einen Schluck Aperol Spritz gönnte.
»Ach ja, Marco … Ich glaube, ein Tapetenwechsel wird mir auch im Hinblick auf ihn guttun.«
»Zweifellos«, sagte Daniele, während er neue Grissini auf den Tisch stellte und Fix You von Coldplay mitsummte, das im Hintergrund lief. »Minnie, ich meine es nicht böse, aber merkst du nicht, dass sich die Welt weitergedreht hat? Marco hat weitergemacht. Nur du bist stehen geblieben wie ein angewurzelter Baum. Es wird Zeit, dass du dich verlierst, um dich wieder zu finden. Es wird Zeit, dass du die Welt mit neuen Büchern bereicherst. Es wird Zeit, dass du einen neuen Pfad einschlägst, denn die alten Wege haben dich nirgendwohin gebracht.«
»Euer Wort in Gottes Ohr«, seufzte Minnie. »Nun ist es sowieso zu spät, einen Rückzieher zu machen. Ich werde mein Versprechen halten, nach Lappland gehen und an meinem neuen Manuskript arbeiten, koste es, was es wolle. Tamara glaubt an mich!«
»Ich tue es auch!«, sagten Daniele und Sabrina fast gleichzeitig.
Minnie fühlte, wie eine kleine Welle positiver Energie durch ihren Körper hindurchfloss.
»Wisst ihr was? Ich glaube, ich sollte Penny sofort von meiner Entscheidung berichten, damit ich es mir wirklich nicht anders überlegen kann«, beschloss sie und stand auf.
»Nur zu!«, ermutigte sie Sabrina.
»Ich kümmere mich darum, dass sich deine Freundin auch nicht langweilt!«, sagte Daniele und nahm Minnies Platz ein.
Kam es Minnie nur so vor, oder zogen sich beide gegenseitig mit ihren Blicken aus?
Minnie ging vor die Tür und wählte die Nummer ihrer Schwester. Sie schlang ihren Mantel fester um sich. Es ist wirklich verdammt kalt in Mailand. Wie soll das erst in Lappland werden? Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich wohl -40 °C anfühlten. Sofort zitterte sie am ganzen Körper.
»Pronto? Minerva?«, antwortete Penelope.
»Ciao, Penny. Ich habe großartige Neuigkeiten: Du kannst zusagen.«
Penelope wirkte überrascht. »Wem soll ich was zusagen?«
Minnie stutzte. »Na, dem Verlag, dass ich das Angebot für Lappland annehme.«
»Ach so, ja natürlich, entschuldige«, seufzte Penelope. »Arnaldo und ich haben gestern Abend zwei Stunden gebraucht, um Emma davon zu überzeugen, dass es keine Monster in ihrem Zimmer gibt und dass der gelbe Plüschhase, den du ihr zu Ostern geschenkt hast und den sie jede Nacht mit ins Bett nimmt, magische Superkräfte hat, der alle eventuell doch existierenden Ungeheuer in die Flucht schlagen wird. Ich bin noch ganz gerädert davon. Es ist gerade so eine Phase, die ganz schön an unseren Nerven zehrt.« Penelope klang erschöpft.
»Ich bin mir sicher, bis Emma heiratet, wird alles vorbei sein«, versuchte Minnie, einen Witz zu machen.
Penelope lachte. »Das ist ein schöner Trost. Aber nun zu dir. Also, du hast beschlossen, nach Lappland zu fliegen?«
»Ja, ich fliege nach Lappland!«
Je öfter sie das aussprach, desto überzeugender klang es.
»Wow, ich hätte nicht gedacht, dass du dich so schnell dafür entscheiden würdest! Gestern Vormittag klangst du nicht so sicher. Ich habe mir die ganze Zeit schon überlegt, wie ich dem Verlagsteam beibringe, dass du das Angebot nicht annimmst. Was ist passiert?«
Minnie fühlte, wie Traurigkeit und Tränen wieder von ihr Besitz ergreifen wollten, doch sie drängte sie zurück.
»Ich habe gestern durch Zufall erfahren, dass Marco bald wieder heiratet und dass sein erstes Kind bereits unterwegs ist. Und ich habe eine Leserin getroffen, der es wirklich etwas bedeutet, dass ich wieder schreibe. Es wird doch langsam Zeit, dass ich mir mein Leben wieder zurückhole!«
»Ich freue mich sehr, dass du es auch endlich eingesehen hast! Du hast dich lange genug aus dem Rampenlicht verkrümelt! Aber eines würde ich gerne wissen, jetzt, da sich Marco seinen Traum eines Kindes mit einer anderen Frau erfüllt. Bereust du es, dass du nicht mit ihm in die Kinderwunschklinik gegangen bist? Dass du damals Nein gesagt hast?«
Im Zeitraffer sah Minnie die letzten zwei Jahre vor sich. Die Trennung, die Scheidung … und ihre leer gebliebenen Seiten.
Schließlich antwortete sie: »Ich habe mich das unzählige Male selbst gefragt. Aber ich konnte das nicht tun, ich konnte es schlicht und einfach nicht. Schon oft habe ich mir gedacht, dass es vielleicht einen Grund gibt, weshalb mein Körper Marco dieses Kind verwehrt hat. Einen Grund, den ich jetzt noch nicht kenne, der aber irgendwann Sinn ergeben wird.«
»Wer weiß schon, was das Schicksal für Überraschungen für uns bereithält«, pflichtete Penelope ihr bei. »Aber was du bestimmt weißt, ist, was du als Nächstes machen solltest?«
»Was denn?«, fragte Minnie.
»Dich mit richtig warmen Klamotten eindecken!«
»Stimmt, der Vorschuss!«
»Eben!«
»Apropos kalt, ich stehe gerade draußen vor der Cubanito Bar und friere mir den Hintern ab. Wird Zeit, dass ich wieder hineingehe. Danke für alles, Schwesterherz!«
»Gern geschehen. Und grüß deine Freundin Sabrina von mir!«
»Woher weißt du, dass …«
»Mit wem solltest du sonst am frühen Samstagnachmittag in dieser Old-School-Kneipe abhängen?«
Minnie lächelte. »Wie gut du mich doch kennst!«
Plötzlich hörte Minnie ein herzzerreißendes »Maaaamaaaaaaa! Ich habe Hunger!« im Hintergrund.
»Okay, meine Lieblingsterroristin ruft nach mir. Wir hören uns die Tage. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch«, antwortete Minnie und beendete das Gespräch.
Sie war froh, als sie in die Cubanito Bar hineingehen und sich aufwärmen konnte. Ein junger Mann betätigte die Jukebox und Sekunden später ertönte Africa von Toto. Hätte der Verlag mich nicht in die Wärme schicken können?, haderte Minnie für einen kurzen Moment.
Sie kehrte zu Sabrina zurück, die schon an ihrem zweiten Aperol Spritz nippte, und befreite sich von ihrem Mantel.
»Na, hast du dich gut mit Daniele unterhalten?«, wollte Minnie wissen.
»Ja, ein ausgezeichnetes Gespräch! Wir haben unsere Nummern ausgetauscht. Er will mir mal einen ganz privaten Bartenderkurs geben. Dann schaffe ich es in Zukunft selbst, meinen Lieblingscocktail Grass Hopper zu mixen, man bekommt ihn ja in kaum einer vernünftigen Bar in Mailand.«
Minnie grinste. »Bartenderkurs, so nennt man das heute also. Aber mir soll es recht sein, Daniele und du, ihr würdet ein hinreißendes Paar abgeben!«
Sabrina schnalzte mit ihrer Zunge. »So kenne ich meine liebe Freundin Minnie, Romantikerin und Träumerin durch und durch. Mach dir bloß keine Hoffnung, mehr als ein wenig körperliche Ertüchtigung wird nicht drin sein, du kennst mich doch. Der effizienteste Weg, eine Scheidung zu umgehen, ist immer noch, nicht zu heiraten. Die beste Prophylaxe gegen Liebeskummer ist, sich gar nicht erst zu verlieben.«
»Man wird ja noch träumen dürfen, aber ich kenne dich. Du verspeist solche Männer wie Daniele doch zum Frühstück!«, sagte Minnie und kippte ihren Aperitif endlich hinunter.
»Wenn du schon von verspeisen sprichst – ich bin am Verhungern. Ich bin ja heute um meinen Brunch gebracht worden und diese dämlichen Grissinistangen treiben einem erst den Blutzuckerspiegel in die Höhe, nur um ihn dann wieder im freien Fall abstürzen zu lassen!«, beschwerte sich Sabrina.