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Die charmante Wiederentdeckung von Bestsellerautorin Jojo Moyes zum ersten Mal als E-Book! Ein kleines Küstenstädtchen in den 1950er Jahren, zwei Schwestern, eine tragische Liebe, die bis in die Gegenwart wirkt. Lottie und Celia sind in dem Küstenstädtchen Merham wie Schwestern aufgewachsen. Während Celia gegen die Enge der Kleinstadt aufbegehrt, liebt Lottie den idyllischen Ort und vor allem das Meer. Besonders fasziniert sie ein prächtiges Art-déco-Haus direkt am Strand, in dem eine bunte Gruppe von Künstlern lebt. Gemeinsam tauchen die beiden ein in eine aufregende, unkonventionelle Welt. Bis Celia eines Tages ihren Verlobten Guy mit nach Hause bringt – und vom ersten Augenblick an weiß Lottie, dass er ihre große Liebe ist … Ein halbes Jahrhundert später erwacht das Haus am Strand wieder zum Leben - und mit ihm seine Geheimnisse. Den damaligen und heutigen Bewohnern stellt sich die Frage: Kann man die Vergangenheit je hinter sich lassen? Überarbeitet und neu übersetzt von Karolina Fell, der Übersetzerin von «Ein ganzes halbes Jahr».
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Seitenzahl: 652
Jojo Moyes
Roman
Eine Liebe, mächtiger als die Gezeiten
Lottie und Celia sind in dem Küstenstädtchen Merham wie Schwestern aufgewachsen. Während Celia gegen die Enge der Kleinstadt aufbegehrt, liebt Lottie den idyllischen Ort und vor allem das Meer. Besonders fasziniert sie ein prächtiges Art-déco-Haus direkt am Strand, in dem eine bunte Gruppe von Künstlern lebt. Gemeinsam tauchen Celia und Lottie ein in eine aufregende, unkonventionelle Welt. Bis Celia eines Tages ihren Verlobten Guy mit nach Hause bringt – und vom ersten Augenblick an weiß Lottie, dass er ihre große Liebe ist …
Ein halbes Jahrhundert später erwacht das Haus am Meer wieder zum Leben – und mit ihm seine Geheimnisse.
Jojo Moyes, geboren 1969, hat Journalistik studiert und für die Sunday Morning Post in Hongkong und den Independent in London gearbeitet. «Ein ganzes halbes Jahr» machte sie international zur Bestsellerautorin. Zahlreiche weitere Nr.-1-Romane folgten. Jojo Moyes hat drei Kinder und lebt in London.
Karolina Fell hat schon viele große Autorinnen und Autoren ins Deutsche übertragen, neben Jojo Moyes u.a. Bernard Cornwell und Kristin Hannah.
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel «Foreign Fruit» bei Hodder & Stoughton, London.
Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 im Wunderlich Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2024
Copyright © 2003, 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Foreign Fruit» Copyright © 2003 by Jojo Moyes
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Zitat S. 121: Rainer Maria Rilke, «Briefe an einen jungen Dichter», Insel Verlag, Leipzig 1929
Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Coverabbildung Silke Schmidt
ISBN 978-3-644-51081-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Charles Arthur und Cathy Runciman
«Wir alle schließen unsere Vergangenheit in uns ein wie die Seiten eines Buchs, das wir auswendig kennen, von dem unsere Freunde aber nur den Titel lesen können.»
Virginia Woolf
Meine Mutter hat mir einmal erzählt, man könne erkennen, welchen Mann man heiratet, indem man einen Apfel schält und die Schale, die in einem Stück bleiben muss, über die Schulter wirft. Sie formt nämlich einen Buchstaben. Oder wenigstens manchmal. Weil Mummy unbedingt wollte, dass es funktionierte, weigerte sie sich einfach zuzugeben, dass es wie eine Sieben aussah oder wie eine Zwei, sondern las ein B oder D heraus.
Aber bei Guy brauchte ich kein Apfelorakel. Ich wusste es auf den ersten Blick, erkannte ihn so definitiv, wie ich meinen eigenen Namen kannte. Dieser Mann würde mich von meiner Familie wegholen, würde mich lieben, mich anbeten, wunderschöne Babys mit mir haben. In sein Gesicht würde ich blicken, während er das Eheversprechen wiederholte. Sein Gesicht wäre das Erste, was ich beim Aufwachen, und das Letzte, was ich vor dem Schlafengehen sehen würde.
Ob er es auch wusste? Natürlich. Er hat mich nämlich gerettet, verstehst du? Wie ein Ritter in schlammbespritzter Kleidung anstelle einer schimmernden Rüstung. Ein Ritter, der aus dem Dunkel auftauchte und mich ins Licht brachte. Na ja, in den Warteraum des Bahnhofs jedenfalls. Ein paar Soldaten hatten mich belästigt, als ich auf den Spätzug wartete. Ich war mit meinem Chef und seiner Frau bei einem Tanzabend gewesen und hatte meinen Zug verpasst. Die Soldaten hatten zu viel getrunken, quatschten auf mich ein und wollten sich nicht abwimmeln lassen, also setzte ich mich so weit wie möglich entfernt von ihnen auf eine Bank in der anderen Ecke. Doch dann kamen sie mir hinterher, und schließlich fing einer von ihnen an, nach mir zu grapschen, und tat so, als wäre es nur ein Spaß. Ich bekam richtig Angst, schließlich war es schon spät und ich sah nirgends irgendwelche anderen Leute. Ich habe ihnen immer wieder gesagt, sie sollen mich in Ruhe lassen, aber sie haben einfach weitergemacht. Und dann hat sich der Größte von ihnen – ein brutal aussehender Typ – mit seinem grässlichen unrasierten Gesicht und seinem stinkenden Atem an mich gedrückt und gesagt, dass er mich nehmen würde, ob es mir nun gefiele oder nicht. Und ich wollte natürlich schreien, aber ich war absolut erstarrt vor Angst.
Und plötzlich war Guy da. Er ist auf uns zugestürmt, hat den Mann gefragt, was er sich eigentlich denkt, und gesagt, er würde ihm eine Abreibung verpassen, die sich gewaschen hat. Dann hat er sich vor den drei Soldaten aufgebaut, und sie haben auf ihn geflucht, und einer von ihnen hat ebenfalls die Fäuste gehoben, aber nach einem Moment und noch ein paar Flüchen sind die Feiglinge einfach abgehauen.
Ich habe gezittert und furchtbar geschluchzt, und er hat dafür gesorgt, dass ich mich hinsetze, und mich gefragt, ob ich irgendetwas bräuchte. Er war so nett. So lieb zu mir. Und dann sagte er, er würde mit mir warten, bis der Zug käme. Was er auch getan hat.
Und dort, unter den gelblichen Bahnhofslichtern, habe ich ihn zum ersten Mal angesehen. Ich meine, ihm richtig ins Gesicht gesehen. Und da wusste ich, dass er es ist. Er war es einfach.
Freddie hatte sich mal wieder übergeben. Dieses Mal hatte er offenbar Gras gegessen. Es bildete eine schaumige, hellgrüne Pfütze neben der Kommode.
«Wie oft muss ich es dir noch sagen, du Blödi?», kreischte Celia, die gerade mit ihren Sandalen hineingetreten war. «Du bist kein Pferd.»
«Und auch keine Kuh», fügte Sylvia hilfreich vom Küchentisch aus hinzu, wo sie mühevoll Bilder von Haushaltsgeräten in ein Sammelalbum klebte.
«Du solltest Brot essen, kein Gras. Kuchen. Normale Sachen.» Celia zog den Schuh vom Fuß und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger über die Spüle. «Igitt. Du bist ekelhaft. Warum machst du das ständig? Mummy, rede mit ihm. Er soll es wenigstens wegputzen.»
«Wisch es auf, Frederick, Schatz.» Mrs. Holden saß am Kamin und suchte in der Zeitung nach dem nächsten Sendetermin von Dixon of Dock Green. Seit dem Rücktritt von Churchill hatte sie darin einen gewissen Ersatz gefunden. Und seit dieser jüngsten Angelegenheit mit ihrem Mann. Sowohl sie als auch Mrs. Antrobus, erzählte sie Lottie, hatten bisher alle Folgen der Polizeiserie gesehen und fanden sie einfach wunderbar. Andererseits waren sie und Mrs. Antrobus die Einzigen in der Woodbridge Avenue, die einen Fernseher besaßen, und erklärten ihren Nachbarn mit Vorliebe, wie großartig alle Sendungen waren.
«Mach das weg, Freddie. Igitt. Warum muss ich einen Bruder haben, der Tierfutter isst?»
Freddie saß auf dem Boden und schob einen blauen Spielzeuglaster auf dem Teppich hin und her. «Es ist kein Tierfutter», murmelte er selbstzufrieden. «Gott hat gesagt, wir sollen es essen.»
«Mummy, er missbraucht den Namen des Herrn. Du solltest dich nicht auf Gott berufen», sagte Sylvia entschieden zu ihrem Bruder, während sie einen Mixer auf eine violette Seite klebte. «Sonst schleudert er einen Blitz auf dich.»
«Ich bin sicher, dass Gott nicht wirklich Gras gesagt hat, Freddie, Schatz», sagte Mrs. Holden abgelenkt. «Celia, Liebling, könntest du mir meine Brille holen, bevor du gehst? Ich bin sicher, dass sie die Schrift in der Zeitung verkleinert haben.»
Lottie stand geduldig an der Tür. Es war ein ziemlich anstrengender Nachmittag gewesen, und sie wollte unbedingt nach draußen. Mrs. Holden hatte darauf bestanden, dass sie und Celia bei der Zubereitung von Baisers für den Verkauf in der Kirchengemeinde halfen, und Celia war es gelungen, sich nach zehn Minuten mit angeblichen Kopfschmerzen aus der Affäre zu ziehen. Also hatte sich Lottie anhören müssen, wie sich Mrs. Holden wortreich mit Eischnee und Zucker abquälte, und so getan, als würde sie ihre vor Aufregung flatternden Hände nicht bemerken. Und jetzt, wo die grauenhaften Dinger gebacken und zwischen Schichten aus Pergamentpapier in Dosen verpackt waren, hatten sich, Überraschung, Celias Kopfschmerzen wie durch ein Wunder verflüchtigt. Celia gab Lottie das Zeichen zum Aufbruch. Sie zog ihre Strickjacke an und strich sich vor dem Spiegel die Haare glatt.
«Also, Mädchen, wohin geht ihr?»
«Ins Café.»
«In den Park.»
Celia und Lottie hatten gleichzeitig geantwortet und starrten sich erschrocken an.
«Wir gehen zuerst in den Park», sagte Celia entschlossen, «und dann trinken wir einen Kaffee.»
«Sie gehen mit Jungs knutschen», sagte Sylvia, immer noch über ihr Sammelalbum gebeugt.
«Bääh. Iiih. Würg. Küssen», rief Freddie.
«Aber trinkt nicht zu viel Kaffee. Ihr wisst, dass ihr sonst zu nichts mehr zu gebrauchen seid. Lottie, Liebes, sorg dafür, dass Celia höchstens zwei Tassen trinkt. Und seid um halb sieben zurück.»
«In der Sonntagsschule hieß es: Gott sagt, die Erde wird uns mit allem versorgen», sagte Freddie aufblickend.
«Jetzt hast du ja gesehen, wie schlecht es dir geworden ist, als du das gegessen hast», sagte Celia. «Ich fasse es nicht, dass du ihn nicht zwingst, es wegzuwischen, Mummy. Er kommt einfach mit allem durch.»
Mrs. Holden nahm ihre Brille entgegen und schob sie langsam auf die Nase. Sie wirkte wie jemand, dem es gerade so gelingt, sich bei rauer See über Wasser zu halten. «Freddie, geh und bitte Virginia, einen Lappen herzubringen, ja? Sei ein guter Junge. Und Celia, Liebes, sei nicht gemein. Lottie, zieh deine Bluse gerade. Und, Mädchen, ihr geht nicht los und gafft die Neuankömmlinge an, ja? Sie sollen die Einwohner von Merham nicht für Trampel halten, die dastehen und sie mit offenem Mund anglotzen.»
Darauf entstand eine kurze Stille, in der Lottie sah, wie Celias Ohren leicht rosa anliefen. Ihre eigenen Ohren waren nicht einmal warm. Sie hatte ihre Leugnungsfähigkeiten über viele Jahre und auch gegen strengere Befragungen perfektioniert. «Wir kommen direkt vom Café wieder nach Hause, Mrs. Holden», sagte Lottie mit fester Stimme. Was natürlich alles Mögliche bedeuten konnte.
Es war der Tag des Gästewechsels – von denjenigen, die mit den Samstagszügen von Liverpool Street ankamen, und denjenigen, die sich widerstrebend auf den Rückweg in die Stadt machten.
Die Ankunft der neuen Gäste wurde von den Einheimischen kaum zur Kenntnis genommen. Mit Ausnahme von Celia Holden und Lottie Swift. Sie saßen auf der Bank im Stadtpark mit Blick auf den vier Kilometer langen Strand von Merham und beobachteten gebannt den Umzugslaster, dessen dunkelgrüne Kühlerhaube in der Nachmittagssonne glänzte.
Links unterhalb von ihnen erstreckten sich die Wellenbrecher wie dunkle Zinken eines Kamms, während sich die Flut über den feuchten Strand zurückzog, auf dem winzige Gestalten dem heftigen, für die Jahreszeit untypischen Wind die Stirn boten. Die Ankunft Adeline Armands, so befanden die beiden später, war ein Ereignis, das dem Einzug der Königin von Saba gleichkam. Beziehungsweise, es wäre ihm gleichgekommen, wenn sich die Königin von Saba dazu einen der wuseligen Samstage in Merham ausgesucht hätte, an denen der Bettenwechsel stattfand. Und das bedeutete, dass all jene Leute – die Mrs. Colquhouns, die Alderman Elliotts, die Vermieterinnen an der Promenade, die normalerweise sofort ihr Urteil über extravagante Neuankömmlinge abgegeben hätten, wenn diese mit ganzen Lastwagenladungen voll Gepäck und riesigen Gemälden ankamen, die keine Familienmitglieder oder Jagdszenen zeigten, sondern große Farbkleckse ohne erkennbare Ordnung, unmäßig vielen Büchern und eindeutig ausländischen Gegenständen –, dass also all jene Leute nicht an ihren Vorgartentüren standen, um die Prozession in dem seit Langem leer stehenden Art-déco-Haus am Meer verschwinden zu sehen. Stattdessen standen sie bei Price’s Butcher in der Marchant Street Schlange oder eilten zum Treffen der Guesthouse Association.
«Mrs. Hodges sagt, sie ist irgendwie mit einer Königsfamilie verwandt. Mit der ungarischen oder so.»
«Blödsinn.»
Celia sah ihre Freundin an und riss die Augen auf. «Doch. Mrs. Hodges hat mit Mrs. Ansty gesprochen, und die kennt den Anwalt oder wer auch immer für das Haus zuständig war, und sie ist so was wie eine ungarische Prinzessin.»
«Armand ist kein ungarischer Name.» Lottie schob eine Haarsträhne weg, die ihr der Wind ins Gesicht geblasen hatte.
«Ach ja? Und woher willst du das wissen?»
«Das ist doch einfach Quatsch. Warum sollte eine ungarische Prinzessin hierherkommen? Sie würde ganz klar nach London gehen. Oder nach Windsor Castle. Nicht in ein verschlafenes kleines Nest wie Merham.»
«In deinen Teil von London würde sie jedenfalls nicht gehen.» Celias Ton hatte einen verächtlichen Beiklang.
«Nein», räumte Lottie ein. «Nicht in meinen Teil von London.» So interessante Leute kamen nicht aus Lotties Gegend, einer östlichen Vorstadt mit Fabriken, die auf der einen Seite an die Gaswerke und auf der anderen an Marschland grenzte. Als sie zu Beginn des Krieges zum ersten Mal nach Merham evakuiert worden war, hatte sie ihre Ungläubigkeit verbergen müssen, als sie mitfühlende Bewohner fragten, ob sie ihr Zuhause vermissen würde. Ebenso perplex hatte sie reagiert, als man sie das Gleiche in Bezug auf ihre Familie fragte. Danach hatten die Leute gewöhnlich aufgehört, sich danach zu erkundigen.
Lottie war zwei Jahre vor Kriegsende nach Hause zurückgekehrt. Doch dann, nach einem langen Briefwechsel zwischen Lottie und Celia, hatte Mrs. Holden oft gesagt, dass es nicht nur schön für Celia wäre, eine Freundin in ihrem Alter zu haben, sondern dass man auch etwas für die Gemeinschaft tun müsse. Und so war Lottie erneut nach Merham eingeladen worden, zunächst für die Ferien, und schließlich bot man ihr an, für immer zu bleiben. Inzwischen wurde Lottie einfach als Teil der Familie Holden akzeptiert; nicht als Verwandte und nicht gerade als gesellschaftlich gleichgestellt, aber als jemand, dessen Anwesenheit im Städtchen nicht mehr kommentiert wurde. Davon abgesehen war man in Merham an Leute gewöhnt, die kamen und nicht mehr gingen. Das Meer konnte diese Wirkung auf Menschen haben.
«Sollen wir etwas mitnehmen? Blumen? Damit wir einen Vorwand haben, hinzugehen?» Lottie spürte, dass Celia ihre vorherige Bemerkung leidtat.
«Ich habe kein Geld.»
«Keine gekauften. Du weißt, wo wir welche pflücken können. Das machst du schließlich oft genug für Mummy.» Aus dem letzten Satz hörte Lottie einen Anflug von Groll heraus.
Die beiden standen auf und gingen zum Ende des Parks, wo der Klippenweg mit dem Eisengeländer anfing. Lottie ging diesen Weg häufig an Sommerabenden, wenn ihr der Lärm und die unterdrückte Hysterie bei den Holdens zu viel wurden. Sie mochte es, den Möwen zuzuhören, die über ihr in den Lüften schwebten, und sich daran zu erinnern, wer sie war. Diese Art der Selbstreflexion hätte Mrs. Holden als unnatürlich betrachtet, oder zumindest als übertrieben empfindsam, und Lotties kleine Blumensträuße waren eine nützliche Versicherung dagegen. Doch gut zehn Jahre im Haus einer anderen Familie hatten ihr auch einen gewissen Scharfsinn eingebracht; eine Sensibilität für potenzielle häusliche Turbulenzen, die nicht recht dazu passte, dass sie gerade so aus dem Teenageralter heraus war. Aber es war schließlich wichtig, dass Celia sie niemals als Konkurrenz ansah.
«Hast du die Hutschachteln gesehen? Das müssen mindestens sieben gewesen sein», sagte Celia, während sie sich nach einer Blume bückte. «Wie wäre es mit dieser hier?»
«Nein. Die welken innerhalb von Minuten. Pflück welche von den violetten. Dort, bei dem großen Felsen.»
«Sie muss einen Haufen Geld haben. Mummy hat gesagt, es muss unheimlich viel gemacht werden. Sie hat mit den Handwerkern gesprochen, und die haben gesagt, das Haus war absolut heruntergekommen. Seit die MacPhersons nach Hampshire gezogen sind, hat dort niemand mehr gewohnt. Das muss … ungefähr neun Jahre her sein.»
«Keine Ahnung. Ich bin den MacPhersons nie begegnet.»
«Die waren sterbenslangweilig. In dem Haus gibt es keinen einzigen anständigen Kamin, sagt Mrs. Ansty. Sind alle von Einbrechern ausgebaut worden.»
«Der Garten ist total überwuchert.»
Celia blieb stehen. «Woher weißt du das?»
«Ich war ein paar Mal dort. Auf meinen Spaziergängen.»
«Du bist ja echt durchtrieben! Warum hast du mich nicht mitgenommen?»
«Du hattest ja nie Lust dazu.» Lottie sah an ihr vorbei zu dem Umzugslaster, spürte, wie sich Aufregung in ihr breitmachte. Sie waren es gewohnt, dass Leute kamen, Merham war schließlich ein Badeort. In den Ferien waren die an- und abreisenden Urlaubsgäste beinahe selbst wie Ebbe und Flut – aber die Aussicht darauf, dass das große Haus wieder bewohnt werden würde, hatte sie in den vergangenen beiden Wochen elektrisiert.
Celia wandte sich wieder ihren Blumen zu. Während sie den Strauß neu ordnete, hob der Wind ihr Haar an wie ein goldenes Tuch. «Ich glaube, ich hasse meinen Vater», bemerkte sie plötzlich, den Blick auf den Horizont gerichtet.
Lottie blieb stehen. Sie fühlte sich nicht dazu berufen, einen Kommentar zu Henry Holdens Abendessen mit seiner Sekretärin abzugeben.
«Mummy ist so dumm. Sie tut einfach so, als wäre nichts.»
In dem folgenden Schweigen war nur das schrille Kreischen der Möwen über ihnen zu hören. «Gott, ich kann es kaum erwarten, hier wegzukommen», sagte Celia schließlich.
«Mir gefällt es hier.»
«Ja, aber du musst auch nicht dabei zusehen, wie sich dein Vater zum Narren macht.» Celia drehte sich zu Lottie um und streckte ihr den Strauß entgegen. «Hier. Meinst du, das sind genug?»
Lottie sah die Blumen an. «Willst du wirklich dort raufgehen? Nur um ihre Sachen anzugaffen?»
«Oh, und du willst das nicht, Mutter Oberin?»
Sie grinsten sich an, dann rannten sie mit fliegenden Röcken zurück Richtung Park.
Die Zufahrt zum Arcadia House war früher kreisförmig gewesen. Die Nachbarn konnten sich noch an die Kolonnen lang gestreckter Autos erinnern, die auf dem knirschenden Kies vor der Haustür angehalten hatten, um dann in der eleganten Kurve weiterzufahren und auf die Straße abzubiegen. Es war ein bedeutendes Haus gewesen in bester Lage. Erbaut hatte es der älteste Sohn Walton Greshams, Anthony Gresham, der in Amerika ein Vermögen gemacht hatte, als ein von ihm entwickeltes unscheinbares Zubehörteil von General Motors gekauft worden war. Er wollte, so hatte er großspurig verkündet, dass es aussah wie das Haus eines Hollywoodstars. Er dachte dabei an das Haus einer Schauspielerin aus der Stummfilmzeit, das er in Santa Monica gesehen hatte, niedrig, lang gestreckt und weiß, mit großen Glasflächen und kleineren Bullaugenfenstern. Es war für ihn der Inbegriff von Glamour, von Neuer Welt und einer energiegeladenen, strahlenden Zukunft.
Als das Haus schließlich fertig dastand, waren einige von Merhams Bewohnern von seiner Modernität schockiert und insgeheim der Ansicht, dass es irgendwie nicht hierher passte. Und so kam es, dass sich einige der älteren Anwohner nach dem Auszug der MacPhersons Jahre später und dem folgenden Leerstand seltsam erleichtert fühlten, auch wenn sie das vielleicht nicht direkt gesagt hätten. Inzwischen war das Ende der Zufahrt vollständig überwuchert, ein Gewirr von Brombeerranken und Holunder machte das Tor an der Ausfahrt Richtung Meer unpassierbar. Und das sorgte für eine Menge Herummanövrieren und Flüche bei den Handwerkern, die nach dem Ausladen versuchten, umeinander herum auf die Straße zurückzusetzen, die teilweise von einem Auto blockiert wurde, das nach ihnen angekommen war.
Lottie und Celia beobachteten eine Zeit lang die puterroten Gesichter und die schweißtreibenden Anstrengungen derjenigen, die immer noch Möbel schleppten, bis eine große Frau mit kastanienbraunem, zu einem strengen Dutt frisierten Haar mit einem Schlüsselbund wedelnd aus dem Haus lief und rief: «Warten Sie einen Moment. Ich fahre das Auto rüber zum Gemüsegarten.»
«Glaubst du, das ist sie?», flüsterte Celia und duckte sich hinter einen Baum.
«Woher soll ich das wissen?» Lottie hielt die Luft an. Celias plötzliche Zurückhaltung löste auch bei ihr Unbehagen aus. Eng aneinandergeschmiegt äugten sie um den Baumstamm und hielten ihre Tellerröcke zusammen, damit sie nicht vom Wind aufgebläht wurden.
Die Frau setzte sich in das Auto und betrachtete das Armaturenbrett, als würde sie überlegen, welchen der Schalter sie betätigen sollte. Dann biss sie sich auf die Unterlippe, ließ den Motor an, rang mit dem Schaltknüppel, atmete tief ein und schoss mit einem lauten Krachen rückwärts in den Kühlergrill eines Umzugslasters.
Darauf herrschte kurz Stille, gefolgt von einem lauten Kraftausdruck, den einer der Männer ausstieß, und einem lang gezogenen Hupen. Dann hob die Frau den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie sich die Nase gebrochen. Da war überall Blut – auf ihrer hellgrünen Bluse, auf ihren Händen, sogar auf dem Lenkrad. Sie wirkte etwas benommen, und dann begann sie nach etwas zu suchen, mit dem sie die Blutung stillen konnte.
Ohne zu überlegen, rannte Lottie über den ungepflegten Rasen, ihr Taschentuch schon in der Hand. «Hier», sagte sie, als sie in demselben Moment bei der Frau ankam, in dem sich mehrere aufgeregte Leute um das Auto scharten. «Nehmen Sie das. Legen Sie den Kopf zurück.»
Celia, die hinter Lottie hergelaufen war, musterte das blutverschmierte Gesicht der Frau. «Oh, Sie haben sich ja schrecklich angestoßen», sagte sie.
Die Frau nahm das Taschentuch. «Es tut mir leid», sagte sie zu dem Lasterfahrer. «Ich kann das einfach nicht mit der Gangschaltung.»
«Dann sollten Sie nicht fahren», erwiderte der Mann, dessen dunkelgrüne Schürze kaum über seine Wampe reichte. In den Händen hielt er die Überreste seines Frontscheinwerfers. «Sie haben nicht mal in den Rückspiegel geschaut.»
«Ich dachte, ich wäre im ersten Gang. Der liegt unheimlich dicht neben dem Rückwärtsgang.»
«Ihre Stoßstange ist abgefallen», sagte Celia aufgeregt.
«Und es ist nicht einmal mein eigenes Auto. Oh, du meine Güte.»
«Sehen Sie sich meinen Scheinwerfer an! Den muss ich komplett ersetzen. Das wird mich ’ne Menge Geld kosten.»
«Ja, natürlich.» Sie nickte unglücklich.
«Lassen Sie die Lady in Ruhe. Sie hat einen ziemlichen Schlag abbekommen.» Ein dunkelhaariger Mann in einem hellen Leinenanzug war an der Autotür aufgetaucht. «Sagen Sie mir einfach, wie hoch der Schaden ist, und ich werde ihn bezahlen. Frances, bist du verletzt? Brauchst du einen Arzt?»
«Sie sollte nicht fahren», wiederholte der Lastwagenfahrer kopfschüttelnd.
«Sie hätten nicht so dicht auffahren sollen», sagte Lottie verärgert von seinem mangelnden Mitgefühl. Der Fahrer beachtete sie nicht.
«Es tut mir sehr leid», murmelte die Frau. «Oh, du meine Güte. Sieh dir meinen Rock an.»
«Also, wie viel? Fünfzehn Shilling? Ein Pfund?» Der jüngere Mann schälte Geldscheine von einer Rolle, die er aus der Innentasche seines Jacketts gezogen hatte. «Hier, nehmen Sie das. Und noch mal fünf für Ihre Umstände.»
Der Fahrer wirkte beschwichtigt. Wahrscheinlich gehört ihm der Laster nicht einmal, dachte Lottie. «Nun», sagte er. «Das wird dann reichen müssen.» Eilig steckte er das Geld ein, anscheinend hatte er den klugen Entschluss getroffen, sein Glück nicht herauszufordern. «Ich schätze, wir sind dann bald hier fertig. Kommt, Leute.»
«Sieh dir ihren Rock an», flüsterte Celia und stupste Lottie an. Frances’ Rock reichte beinahe bis zu ihren Knöcheln. Mit seinem kräftigen Weidenmuster wirkte er merkwürdig altmodisch.
Lottie ließ ihren Blick über die Kleidung der Frau gleiten. Ihre Schuhe, die fast aussahen wie aus dem neunzehnten Jahrhundert, ihre lange Kette mit kugelförmigen Bernsteinperlen. «Diese Leute sind Bohemiens!», zischte sie entzückt.
«Komm, Frances. Bringen wir dich rein, bevor du noch das ganze Auto vollblutest.» Der junge Mann schob seine Zigarette in den Mundwinkel, nahm die Frau sanft am Ellbogen und half ihr aus dem Auto.
Auf dem Weg zum Haus drehte sie sich unvermittelt noch einmal um. «Oh, dein hübsches Taschentuch. Ich habe lauter Blutflecke drauf gemacht.» Sie hielt inne, um das Taschentuch zu mustern. «Seid ihr von hier? Kommt doch auf einen Tee herein. Wir sagen Marnie, sie soll es einweichen. Das ist das wenigste, was ich tun kann.»
Lottie und Celia wechselten einen Blick.
«Das wäre reizend», sagte Celia. Erst als sich die Tür hinter ihnen schloss, fiel Lottie auf, dass sie die Blumen in der Einfahrt vergessen hatten.
Im Eingangsbereich blieb Celia so unvermittelt stehen, dass sich Lottie, die nicht aufgepasst hatte, ihre Nase an Celias Hinterkopf stieß. Das hatte weniger mit angeborener Zurückhaltung bei Celia zu tun als mit dem großen Gemälde, das an dem geschwungenen Treppengeländer lehnte. Darauf rekelte sich in Impasto-Ölfarben eine nackte Frau. Sie gehörte, wie Lottie aus der Haltung ihrer Arme und Beine schloss, nicht zu der schüchternen Sorte.
«Marnie? Marnie, sind Sie da?» George ging an den Umzugskisten vorbei durch einen gefliesten Gang. «Marnie, können Sie uns warmes Wasser bringen? Frances hat sich ein bisschen gestoßen. Und können Sie auch gleich Tee machen, wenn Sie schon dabei sind? Wir haben Besuch.»
Aus einem angrenzenden Raum waren gedämpft eine Antwort und das Schließen einer Tür zu hören. Das Fehlen von Teppichen und Möbeln bedeutete, dass jedes Geräusch von den nackten Wänden und Steinböden zurückgeworfen wurde. Celia umklammerte Lotties Arm. «Denkst du, wir sollten zum Tee bleiben?», flüsterte sie. «Diese Einladung kommt ein bisschen … plötzlich. Wir kennen sie doch gar nicht.»
Lottie sah sich um, betrachtete die Gestelle mit überdimensionalen Gemälden, die aufgerollten Teppiche, die krumm an einer Wand lehnten wie gebeugte, ältliche Gentlemen, und die afrikanische Schnitzerei eines Schwangerschaftsbauchs. Alles war vollkommen anders als in den Häusern, die sie kannte. Das ihrer Mutter – beengt, düster, vollgestellt mit Eichenmöbeln und billigem Porzellannippes, erfüllt von Kohleofen- und Küchengerüchen, und ständig drang der Lärm von der Straße herein. Das der Holdens – ein weitläufiges, komfortables Familienhaus im Pseudo-Tudor-Stil, das ebenso sehr für das geschätzt zu werden schien, was es repräsentierte, wie für das, was es in seinen Mauern barg: Die Möbel waren geerbt und mussten mit Respekt behandelt werden – und zwar mit mehr Respekt, so konnte es einem vorkommen, als seine Bewohner. Alles, hatte Mrs. Holden verkündet, würde «weitergegeben» werden, so als wären sie einfach nur die Bewahrer dieser Stücke. Ihr Haus wurde ständig für andere Leute zurechtgemacht. Für die Besuche der «Ladys» aus dem Ort hübsch hergerichtet oder für Mr. Holden ordentlich aufgeräumt, «wenn er nach Hause kommt».
Und jetzt dieser Ort – weiß, hell, fremdartig; erbaut in einer seltsamen Winkelform, mit lang gezogenen Fenstern, durch die man aufs Meer schauen konnte, und seiner aufwendigen, chaotisch arrangierten Fundgrube exotischer Gegenstände. Ein Ort, an dem jedes Objekt aus einem fremden Land stammte und eine eigene Geschichte erzählte. Lottie atmete den Geruch des Hauses ein, die salzige Luft, die jahrelang in die Mauern eingedrungen war und von dem Geruch frischer Wandfarbe überlagert wurde. Es war merkwürdig berauschend. «Tee kann nicht schaden. Oder?»
Celia hielt inne, musterte sie. «Aber erzähl es bloß nicht Mummy. Sonst macht sie ein Riesentheater.»
Sie folgten der leidenden Frances in einen großen Wohnraum. Licht flutete durch vier Fenster herein, die zur Bucht ausgerichtet waren, die mittleren eingebaut in die Rundung einer halbkreisförmigen Wand. An dem Fenster ganz rechts kämpften zwei Männer mit einer Gardinenstange und schweren Draperien, während links von ihnen eine junge Frau in der Ecke kniete und Bücher in einen Vitrinenschrank räumte.
«Es ist Julians neuer Wagen. Er bekommt einen Tobsuchtsanfall. Ich hätte es dir überlassen sollen, ihn wegzufahren.» Frances ließ sich auf einen Stuhl sinken und überprüfte das Taschentuch auf frisches Blut.
George schenkte ihr einen Brandy ein. «Ich biege das mit Julian schon hin. Wie geht es deiner Nase? Du siehst aus wie ein Bild von Picasso, meine Liebe. Glaubst du, wir brauchen einen Arzt? Adeline? Kennst du einen Arzt hier?»
«Mein Vater ist Arzt», sagte Celia. «Ich könnte ihn holen, wenn Sie möchten.»
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Lottie die dritte Frau wahrnahm. Sie saß vollkommen aufrecht in der Mitte eines kleinen Sofas, die Beine an den Knöcheln gekreuzt und die Hände vor sich gefaltet, als habe sie sich vollkommen von dem Chaos um sie herum zurückgezogen. Ihr rabenschwarzes, glänzendes Haar lag in seidigen Wellen dicht um ihren Kopf, sie trug ein rotes Kleid aus chinesischer Seide, unmodisch lang und eng geschnitten, und darüber ein besticktes Jäckchen mit Pfauen, die ihr schillerndes Gefieder spreizten. Ihre riesigen dunkelbraunen Augen waren mit Kajal umrandet und ihre Hände klein wie die eines Kindes. Sie saß so still, dass Lottie beinahe zusammenzuckte, als sie ihr zur Begrüßung zunickte.
«Ihr seid wirklich fabelhaft. Wirklich, George. Schon hast du zwei Pfadfinderinnen für uns gefunden.» Die Frau lächelte das langsame, freundliche Lächeln derjenigen, die stets das Positive sahen. Ihr Akzent war nicht zu deuten; vielleicht französisch, aber auf jeden Fall ausländisch. Ihre Stimme war tief und rau und verriet leichte Belustigung. Ihre Kleidung und ihr Make-up waren – unmöglich. Sie war eine absolut ungewöhnliche Erscheinung, selbst für jemanden, dessen Erfahrungshorizont sich nicht auf den Bereich zwischen Merham und Walton-on-the-Naze beschränkte. Lottie war wie gebannt von ihr. Sie sah Celia an, auf deren Gesicht sich ihre eigene unbedarfte Reaktion widerspiegelte.
«Adeline. Das sind … oh, du meine Güte, ich habe euch gar nicht nach euren Namen gefragt.» Frances schlug sich die Hand vor den Mund.
«Celia Holden. Und Lottie Swift», sagte Celia und trat von einem Fuß auf den anderen. «Wir wohnen auf der anderen Seite des Parks. In der Woodbridge Avenue.»
«Die beiden haben mir freundlicherweise ein Taschentuch geliehen», sagte Frances. «Ich habe es ziemlich bekleckert.»
«Du armer Liebling.» Adeline nahm Frances’ Hand.
Lottie erwartete, dass sie ihr die Hand tröstend drückte oder sie beruhigend tätschelte. Doch stattdessen hob sie Frances’ Hand an ihren rubinroten Mund, und dann beugte sie sich vor aller Augen und ohne jedes Erröten darüber und küsste sie. «Wie furchtbar für dich.»
Darauf kehrte einen Moment lang Stille ein.
«Oh Adeline», sagte Frances und zog ihre Hand zurück.
Lottie, der bei dieser bizarren Demonstration von Intimität die Luft wegblieb, wagte es nicht, Celia anzusehen.
Doch Adeline wandte sich schon wieder dem Raum zu und ihr Lächeln verwandelte sich in ein Hundert-Watt-Strahlen. «George, das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Ist das nicht reizend? Sebastian hat Artischocken und Wachteleier aus Suffolk geschickt. Wir können sie zum Abendessen machen.»
«Gott sei Dank.» George war zu den beiden Männern gegangen und half ihnen mit der Gardinenstange. «Mir war überhaupt nicht nach Fish and Chips.»
«Sei kein solcher Snob, mein Lieber. Ich bin sicher, dass Fish and Chips hier ganz großartig sind – so ist es doch, ihr zwei, oder?»
«Das können wir wirklich nicht beurteilen», sagte Celia hastig. «Wir essen nur in richtigen Restaurants.»
Lottie biss sich auf die Zunge bei dem Gedanken an den vergangenen Samstag, als sie mit den Westerhouse-Brüdern auf der Kaimauer gesessen und Rochen aus einer fettigen Zeitungspapiertüte gegessen hatten.
«Aber natürlich tut ihr das», sagte Adeline. «Und jetzt erzählt mir: Was ist das Allerbeste an dem Leben in Merham?»
Celia und Lottie starrten sich an.
«Viel gibt es nicht», begann Celia. «Eigentlich ist es sogar ziemlich langweilig. Es gibt den Tennisclub, aber der schließt im Winter. Und das Kino, aber der Vorführer ist ständig krank und sie haben sonst niemanden, der die Apparate bedienen kann. Wenn man etwas richtig Schickes unternehmen will, muss man nach London fahren. Das machen die meisten hier so. Ich meine, wenn wir einen richtig guten Abend haben wollen – wenn man ins Theater will oder in ein wirklich gutes Restaurant.» Sie sprach zu schnell, versuchte unbefangen zu wirken, doch sie verhaspelte sich in ihren eigenen Flunkereien.
Lottie sah Adeline an, deren interessiertes Lächeln leicht ausdruckslos geworden war, und fürchtete plötzlich, dass diese Frau sie abschreiben würde. «Das Meer», sagte sie unvermittelt.
Adeline wandte sich ihr mit leicht gehobenen Augenbrauen zu.
«Das Meer», wiederholte Lottie, ohne Celias Blick zu beachten. «Direkt am Meer zu leben, meine ich. Das ist das Beste. Es die ganze Zeit im Hintergrund zu hören, es zu riechen, am Strand entlangzugehen und die Krümmung der Erde am Horizont erkennen zu können … bei dem Blick ins Weite zu wissen, dass unter Wasser so vieles vor sich geht, was wir niemals sehen werden, von dem wir keine Vorstellung haben. Als hätten wir ein großes Geheimnis direkt vor der Haustür … Und die Stürme. Wenn die Brecher über die Strandmauern schlagen und der Wind so stark ist, dass sich die Bäume biegen wie Grashalme, und man selbst von zu Hause aus zuschaut, wo man es warm und gemütlich und trocken hat …» Sie stockte, fing Celias gereizten Blick auf. «Das ist jedenfalls das, was mir gefällt.»
Ihr Atem klang unnatürlich laut in das Schweigen.
«Das klingt perfekt», sagte Adeline, wobei sie das letzte Wort in die Länge zog, den Blick auf Lottie geheftet, sodass diese rot wurde. «Ich bin schon jetzt wirklich froh, dass wir hierhergekommen sind.»
«Und wie stark hat sie den Laster beschädigt? Glaubst du, sie bringen ihn zu meinem Dad?» Joe schob mit ernstem Gesichtsausdruck seine leere Kaffeetasse über die Resopaltheke. Allerdings verfügte Joe eigentlich über keinen anderen Gesichtsausdruck. Aber sein besorgter Blick wirkte fehl am Platz in seinem sommersprossigen, rötlichen Gesicht.
«Ich weiß nicht, Joe. Es ging nur um einen Scheinwerfer oder so.»
«Ja, aber der muss auch ersetzt werden.»
Hinter ihm, begleitet von scharrenden Stühlen und Geschirrgeklapper, sang Alma Cogan von ihrem «Dreamboat». Lottie starrte gereizt auf die wenig traumhaften Züge ihres Begleiters und wünschte, sie hätte nichts von ihrem Besuch in Adeline Armands Haus erwähnt. Joe stellte immer die falschen Fragen. Und meistens gelang es ihm, das Gespräch auf die Werkstatt seines Vaters zu lenken. Als einziger Sohn würde Joe den heruntergekommenen Betrieb eines Tages übernehmen, und schon jetzt belastete ihn dieses bedeutende Erbe wie die Thronfolge einen Prinzregenten. Sie hatte gehofft, ihn in den außergewöhnlichen Besuch einzuweihen würde auch bei ihm zu Begeisterung für die merkwürdigen, fremdartigen Leute und diesen Ozeandampfer von einem Haus führen. Dass auch er sich plötzlich weit weg von der engen, kleinen Welt Merhams fühlen würde. Doch Joe nahm nur das Banale wahr, seine Vorstellungskraft beschränkte sich auf das Alltägliche, und Lottie ärgerte sich mit einem Mal darüber, dass sie ihm überhaupt davon erzählt hatte. Gleichzeitig war sie stark versucht, ihm das Gemälde mit der nackten Frau zu beschreiben, einfach, damit er rot wurde. Es war so leicht, Joe zum Erröten zu bringen.
Normalerweise hätte sie über den Besuch mit Celia gesprochen. Doch Celia sprach nicht mehr mit Lottie. Und zwar seit ihrem Weg nach Hause, auf dem Celia viel zu viel geredet hatte. «Hast du mich absichtlich vor diesen Leuten lächerlich gemacht? Lottie! Ich fasse es nicht, dass du angefangen hast, all dieses Zeug übers Meer vom Stapel zu lassen. Als würde es dich interessieren, dass unter Wasser irgendwelche Fische rumschwimmen – du kannst ja nicht mal selber schwimmen!»
Lottie hatte mit ihr über ungarische Prinzessinnen und darüber sprechen wollen, dass Adeline Frances die Hand geküsst hatte wie ein Verehrer, und darüber, welche Beziehung George mit den beiden Frauen verband (er benahm sich nicht, als wäre er mit einer von ihnen verheiratet, dazu behandelte er sie mit viel zu viel Aufmerksamkeit). Und sie hatte darüber reden wollen, wie Adeline bei all der Arbeit, die zu tun war, und dem chaotischen Zustand des Hauses einfach mitten auf dem Sofa gesessen hatte.
Doch Celia war gerade in ein Gespräch mit Betty Croft darüber vertieft, wie es in den Sommermonaten mit einer Fahrt nach London aussah. Also musste Lottie einfach abwarten, bis dieses spezielle Unwetter vorübergezogen war.
Nur dass Celia sogar noch verärgerter war, als Lottie gedacht hatte. Im Lauf des gesamten Nachmittags, während draußen Regenwolken aufzogen, ignorierte sie Lotties Versuche, am Gespräch teilzunehmen, sodass selbst Betty, die gewöhnlich einiges für einen ordentlichen Streit unter Freundinnen übrighatte, anfing, sich unbehaglich zu fühlen. Oje, dachte Lottie resigniert, dafür lässt sie mich büßen. «Ich glaube, ich gehe zurück», sagte sie, «es zieht sich zu.»
Joe stand auf. «Soll ich dich begleiten? Ich habe einen Schirm.»
«Wenn du willst.»
Lottie war mit den Gedanken noch bei dem Haus. Adeline Armand hatte ein Porträt von sich in einem Raum stehen, der vermutlich das Arbeitszimmer war. Lottie hatte es im Vorbeigehen bemerkt. Es war kein realistisches Gemälde, sondern frei und bewegt, als hätte der Künstler nicht richtig scharf sehen können und erraten müssen, wohin er die Pinselstriche setzen sollte. Aber irgendwie konnte man erkennen, dass sie es war. Da war dieses rabenschwarze Haar. Und dieses Halblächeln.
«In Clacton drüben hat es am Samstag einen Sturm gegeben. Schnee im April, kannst du dir das vorstellen?», sagte Joe.
Das mit dem Auto hatte Adeline nicht im Geringsten gekümmert, dachte Lottie. Sie hatte sich nicht einmal den Schaden ansehen wollen. Und dieser Mann – George – hatte einfach Geldscheine von einer Rolle gezogen, als wäre es Spielgeld.
«Innerhalb von ein paar Stunden ist das Wetter umgeschlagen. Von warm und sonnig zu Hagel und Wind. Du wirst nass, Lottie. Häng dich bei mir ein.»
Lottie schob ihren Arm unter den von Joe und verdrehte den Hals, um noch einen Blick auf Arcadia House zu werfen. Sie kannte kein anderes Haus, dessen Front und Rückfassade gleichermaßen prächtig war. Es wirkte, als habe der Architekt es nicht ertragen, eine Seite minderwertiger als die andere zu gestalten. «Würdest du nicht unheimlich gern in so einem Haus wohnen, Joe?» Sie blieb stehen, ohne auf den Regen zu achten. Ihr war leicht schwindelig, so als hätte sie der Nachmittag aus dem Gleichgewicht gebracht.
Joe sah sie an und dann hinauf zu dem Haus. «Sieht mir ein bisschen zu sehr nach einem Schiff aus.»
«Darum geht es doch gerade. Es liegt schließlich direkt am Meer.»
Joes Miene wurde besorgt, so als fürchte er, etwas nicht mitzubekommen.
«Stell dir das mal vor. Man könnte so tun, als wäre man auf einem Ozeandampfer. Würde einfach übers Meer fahren.» Sie schloss die Augen, vergaß einen Moment lang den Streit mit Celia und sah sich im oberen Stock des Hauses stehen. Was für ein Glück diese Frau hatte, all diesen Platz zu haben, all diesen Raum, einfach um dazusitzen und zu träumen. «Wäre das mein Haus, ich wär der glücklichste Mensch auf der Welt, glaube ich.»
«Ich hätte auch gern ein Haus mit Blick über die Bucht.»
Lottie sah ihn überrascht an. Joe äußerte nie irgendeine Wunschvorstellung. Das war einer der Gründe, die ihn zu so einer unkomplizierten, allerdings auch wenig herausfordernden Gesellschaft machten. «Wirklich? Na ja, ich hätte gern ein Haus mit Blick über die Bucht und Bullaugenfenstern und einem Riesengarten.»
Er lächelte sie schief an, als er ihren Tonfall wahrnahm. «Und einen Riesenteich mit Schwänen», fügte sie auffordernd hinzu.
«Und eine Araukarie», sagte er.
«Oh ja! Eine Araukarie! Und sechs Schlafzimmer mit einem begehbaren Schrank.» Sie gingen jetzt langsamer, die Gesichter gerötet durch den Nieselregen, der vom Meer herangeweht wurde.
Joe runzelte nachdenklich die Stirn. «Und eine Garage mit Platz für drei Autos.»
«Oh, du und deine Autos. Ich hätte lieber einen großen Balkon am Schlafzimmer, sodass man morgens direkt über dem Meer steht.»
«Und darunter einen Swimmingpool. Sodass du einfach vom Balkon reinspringen könntest, wenn dir nach einem Bad ist.»
Lottie lachte. «Direkt nach dem Aufstehen! In meinem Nachthemd! Genau! Und mein Hausmädchen hat mir das Frühstück schon hingestellt, wenn ich aus dem Wasser komme.»
«Und ein Tisch beim Swimmingpool, an dem ich sitzen und dir zusehen könnte.»
«Und so einen Sonnenschirm … Was hast du …» Lottie ging langsamer. Ihr Lächeln erlosch und sie warf ihm einen wachsamen Seitenblick zu. Sie glaubte beinahe, sie hätte es sich eingebildet, doch dann wurde sein Griff um ihren Arm etwas lockerer, als wäre er schon auf ihren Rückzug vorbereitet. «Oh, Joe.» Sie seufzte.
Schweigend stapften sie den Klippenweg hinauf. Vor ihnen flog eine einsame Möwe, die sich gelegentlich auf dem Geländer niederließ, gegen alle Wahrscheinlichkeit auf Futter hoffte. Lottie verscheuchte sie mit einer Handbewegung. Mit einem Mal war sie wütend. «Ich hab es dir schon mal gesagt, Joe. Ich bin nicht auf diese Art an dir interessiert.»
Joe sah einfach nur geradeaus, seine Wangen waren leicht gerötet.
«Ich mag dich. Sehr sogar. Aber nicht auf diese Art. Ich wünschte, du würdest nicht einfach immer so weitermachen.»
«Ich dachte bloß … ich dachte, als du von dem Haus angefangen hast …»
«Das war ein Scherz, Joe. Ein dummer Scherz. Keiner von uns wird je ein Haus haben, das auch nur halb so groß ist. Komm schon. Jetzt sei nicht eingeschnappt. Sonst muss ich den restlichen Weg allein gehen.»
Joe blieb stehen, ließ ihren Arm los und sah sie an. Er wirkte sehr jung und sehr entschlossen. «Ich verspreche dir, dass ich dich damit in Ruhe lasse. Trotzdem, wenn du mich heiraten würdest, Lottie, müsstest du nie zurück nach London.»
Sie sah zu dem Schirm hinauf, dann schob sie ihn zu Joe, sodass sie ungeschützt im Nieselregen stand. «Ich werde nicht heiraten. Und ich habe es dir schon einmal gesagt: Ich werde nicht zurückgehen, Joe. Niemals.»
Mrs. Colquhoun atmete tief ein, strich ihren Rock glatt und nickte der Pianistin zu. Ihr dünner Sopran erhob sich wie ein Jungvogel, der seinen ersten, zaghaften Flugversuch durch das überfüllte Wohnzimmer unternahm. Dann aber stürzte er ab wie ein abgeschossener, fetter Fasan und brachte Sylvia und Freddie dazu, sich hinter die Küchentür zu flüchten und sich den Mund zuzuhalten, damit sie nicht schrien vor Lachen.
Auch Lottie versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. In dem halben Jahr seit seiner Einführung war Mrs. Holdens «Salon» in den besseren Kreisen Merhams geradezu berühmt geworden (oder berüchtigt – das wollte niemand so recht entscheiden). Nahezu alle Ladys, die etwas auf sich hielten, besuchten die zweiwöchentlichen Samstagstreffen, die Mrs. Holden in der Hoffnung eingeführt hatte, «etwas kulturellen Wind» in das Küstenstädtchen zu bringen. Die Ladys waren dazu eingeladen, Passagen aus ihren Lieblingsbüchern vorzulesen, Klavier zu spielen oder, wenn sie mutig genug waren, etwas vorzusingen. Es gab für ihre Freunde in London schließlich überhaupt keinen Grund zu der Annahme, dass sie in einer Kulturwüste lebten, nicht wahr?
Teilnahme allerdings war keine Garantie für Qualität, wie Mrs. Colquhouns gesangliche Bemühungen bewiesen. Die anwesenden Damen blinzelten heftig, schluckten und nippten häufiger an ihren Teetassen, als es unbedingt notwendig war. Es war wirklich nicht leicht zu entscheiden, wie ehrlich man sein sollte.
«Also, ich habe sie zwar nicht persönlich getroffen, aber sie sagt, sie wäre Schauspielerin», sagte Mrs. Ansty, als der zögerliche Applaus verklungen war. «Sie hat gestern mit meinem Arthur gesprochen, als sie hereinkam, um Handcreme zu kaufen. Sie war sehr … gesprächig.» Es gelang ihr, das Wort irgendwie missbilligend klingen zu lassen.
Das war der Grund, aus dem die Ladys in Wirklichkeit gekommen waren. Das Geplauder verstummte, und einige beugten sich über ihre Teetassen vor.
«Ist sie Ungarin?»
«Hat sie nicht gesagt», erklärte Mrs. Ansty und genoss ihre Rolle als Quelle des Tratsches. «Eigentlich meinte mein Arthur, dass sie für eine Frau, die so viel redet, erstaunlich wenig über sich selbst gesagt hat.»
Die Ladys sahen sich mit gehobenen Augenbrauen an, als sei das an sich schon verdächtig.
«Anscheinend gibt es einen Ehemann. Aber von dem habe ich noch keine Spur gesehen», sagte Mrs. Chilton.
«Es ist jedenfalls häufig ein Mann dort», sagte Mrs. Colquhoun noch ganz erhitzt von ihrem Auftritt. «Meine Judy hat das Hausmädchen gefragt, wer er ist, und sie hat einfach nur gesagt: ‹Oh, das ist Mr. George›, als würde das alles erklären.»
«Er trägt Leinenanzüge. Immer.» Für Mrs. Chilton war das eine echte Extravaganz. Die Witwe war die Vermieterin von Uplands, einem der größten Gästehäuser an der Promenade. Dies hätte sie normalerweise von einem solchen Treffen ausgeschlossen, aber Mrs. Holden hatte Lottie erklärt, jeder wisse, dass Sarah Chilton unter ihrer gesellschaftlichen Klasse geheiratet und sich seit dem Tod ihres Mannes sehr darum bemüht hatte, sich ein gutes Ansehen zu verschaffen. Zudem führte sie ein sehr respektables Haus.
«Ladys, möchte jemand noch Tee?» Mrs. Holden lehnte sich Richtung Küchentür, versuchte aber wegen ihres Hüfthalters sich nicht zu weit hinüberzubeugen. Sie hatte ihn eine Größe zu klein gekauft, hatte Celia verächtlich zu Lottie gesagt. Er hinterließ breite rote Striemen rund um ihre Oberschenkel. «Wo ist diese Haushaltshilfe bloß? Heute Vormittag ist sie noch überall herumgelaufen.»
«Sie hat meiner Judy erzählt, dass sie gar nicht hierherkommen wollte. Vorher waren sie in London, verstehen Sie? Ich glaube, sie sind ziemlich überstürzt dort weg.»
«Nun, es überrascht mich nicht, dass sie bei der Bühne ist. Sie kleidet sich äußerst extravagant.»
«Das ist ein schönes Wort dafür», schnaubte Mrs. Chilton. «Es sieht aus, als hätte sie in der Verkleidungskiste eines Kindes gewühlt.»
Gedämpftes Gelächter erfüllte den Raum.
«Wahrhaftig, haben Sie sie einmal gesehen? Morgens um elf in Samt und Seide. Und als sie letzte Woche beim Bäcker war, hat sie einen Männerhut getragen. Einen Trilby! Mrs. Hatton war so entgeistert, dass sie mit einem halben Dutzend Sahnehörnchen herauskam, die sie eigentlich gar nicht gewollt hatte.»
«Also, Ladys», sagte Mrs. Holden, die nichts von Getratsche hielt. Und zwar, wie Lottie vermutete, weil sie befürchtete, selbst zum Gegenstand von Klatsch und Tratsch zu werden. «Wer ist die Nächste? Sarah, meine Liebe, wollten Sie uns nicht etwas Schönes von Wordsworth vorlesen? Oder war es wieder George Herbert? Das über den Ginster?»
Mrs. Ansty stellte achtsam ihre Tasse auf den Unterteller. «Nun, ich kann nur sagen, dass sie für meinen Geschmack ein wenig … unkonventionell klingt. Nennen Sie mich altmodisch, aber ich mag geordnete Verhältnisse. Einen Ehemann. Kinder. Keine überhasteten Umzüge.»
Auf diversen Polsterstühlen wurde zustimmend genickt. «Hören wir etwas George Herbert.» Mrs. Holden ließ auf der Suche nach dem Buch ihren Blick über den Couchtisch wandern. «Sarah, haben Sie ein Exemplar?»
«Sie hat niemanden dazu eingeladen, sich das Haus anzusehen. Obwohl alle möglichen Leute mit ihr eingezogen sind, wie ich gehört habe.»
«Man hätte einen kleinen Empfang erwarten können. Das wäre wirklich nur höflich gewesen.»
«Oder vielleicht etwas von Byron?», fragte Mrs. Holden verzweifelt. «Oder Shelley? Ich weiß nicht mehr, wen Sie vorgeschlagen hatten. Und überhaupt, wo ist dieses Hausmädchen? Virginia? Virginia?»
Lottie schob sich leise hinter die Tür. Sie achtete darauf, dass Mrs. Holden sie nicht sah, die sie schon mehrmals wegen ihrer «zudringlichen Blicke» zurechtgewiesen hatte. Sie habe eine merkwürdige Art, die Leute anzuschauen, hatte Mrs. Holden kürzlich gesagt. Die Leute fühlten sich dabei unbehaglich. Lottie hatte geantwortet, dass sie nichts dafür könne. Genauso gut hätte man ihr vorwerfen können, ihr Haar sei zu glatt oder ihre Hände hätten die falsche Form. Insgeheim dachte sie, dass sich nur Mrs. Holden unbehaglich dabei fühlte. Andererseits schien sich Mrs. Holden in letzter Zeit bei allem unbehaglich zu fühlen.
Sie versuchte, die anderen davon abzuhalten, über die Schauspielerin zu reden, weil es ihr selbst unangenehm war. Als sie gehört hatte, dass Dr. Holden kurz vorbeigegangen war, um sich Frances’ Nase anzusehen, hatte ihr Kinn auf die gleiche Art gezittert wie an den Tagen, an denen er sagte, er käme «etwas später» zum Essen nach Hause.
Dann kam zu Mrs. Holdens Erleichterung Virginia herein und holte das Teetablett.
«Morgen findet eine Versammlung der Guesthouse Association statt», verkündete Mrs. Chilton und wischte sich ein paar nicht existente Krümel aus den Mundwinkeln, als das Hausmädchen wieder hinausgegangen war. «Man ist der Meinung, wir sollten alle unsere Preise erhöhen.»
Adeline Armand war für einen Moment vergessen. Auch wenn die Ladys in diesem Salon nicht zu den Familien gehörten, die vom Geschäft mit den Urlaubern abhingen – Mrs. Chilton war die Einzige, die überhaupt arbeitete –, so wirkten sich die regelmäßig eintreffenden Sommergäste doch positiv auf die meisten Haushaltseinkommen aus. Mr. Anstys Drogerie, Mr. Burtons Schneiderei gleich hinter der Promenade, sogar Mr. Colquhoun, der seine untere Wiese an Wohnwagenfahrer vermietete, alle machten sie in den Sommermonaten bessere Geschäfte. Folglich wurde den Ansichten und Entscheidungen der ausschließlich weiblich besetzten und überaus mächtigen Guesthouse Association große Beachtung geschenkt.
«Manche denken an zehn Pfund wöchentlich. So viel nehmen sie drüben in Frinton.»
«Zehn Pfund!» Entsetzt wispernd wiederholten die Frauen im Raum die Summe.
«Dann wandern sie bestimmt nach Walton ab.» Mrs. Colquhoun war blass geworden. «In Walton gibt es schließlich Möglichkeiten, etwas zu unternehmen.»
«Nun, ich muss sagen, Deirdre, da bin ich mit Ihnen einer Meinung», sagte Sarah Chilton. «Ich glaube auch nicht, dass sie das mitmachen. Und nachdem der Frühling bisher so windig war, sollten wir es nicht darauf ankommen lassen, finde ich. Aber was die Guesthouse Association angeht, scheine ich in der Minderheit zu sein.»
«Aber zehn Pfund.»
«Die Leute, die hierherkommen, tun das nicht, um auszugehen. Sie wollen einen … gepflegten Urlaub verbringen.»
«Und sie gehören zu den Leuten, die sich das leisten können.»
«Niemand kann sich im Moment so etwas leisten, Alice. Wen kennen Sie, der mit Geld um sich wirft?»
«Sprechen wir nicht weiter über Geld», sagte Mrs. Holden, während Virginia mit frischem Tee hereinkam. «Das ist ein wenig … gewöhnlich. Überlassen wir es den guten Ladys von der Guesthouse Association, dafür eine Lösung zu finden. Ich bin sicher, sie können das am besten. Also Deirdre, was haben Sie mit Ihren Bezugsscheinheften gemacht? Sarah, Sie müssen wirklich erleichtert darüber sein, dass Ihre Gäste sie nicht länger mitbringen müssen. Ich wollte unsere in den Mülleimer werfen, aber meine Tochter sagt, wir sollten sie uns einrahmen. Einrahmen! Können Sie sich das vorstellen?»
Lottie Swift hatte dunkelbraune Augen und auffallend glattes, braunes Haar. Im Sommer bräunte ihre Haut ein kleines bisschen zu schnell, und im Winter neigte sie zur Blässe. Dass ein solch dunkler, wenn auch zarter Teint nicht gerade das war, was man sich wünschte, war eines der wenigen Dinge, über die sich Lotties Mutter und Susan Holden einig gewesen wären, wenn sie einander besser gekannt hätten. Wo Celia wohlwollend eine Vivien Leigh oder Jean Simmons mit dunklerer Haut sah, hatte Lotties Mutter immer nur an einen «Anstrich mit dem Teerpinsel» denken müssen oder an die ständige Erinnerung an den portugiesischen Seemann, mit dem sie eine kurze, jedoch folgenreiche Begegnung gehabt hatte, als sie bei den Docks von Tilbury ihren achtzehnten Geburtstag feierte. «Das hast du von deinem Vater», murmelte sie häufig anklagend, als Lottie größer wurde. «Es wäre besser für mich, wenn du mit ihm verschwunden wärst.» Danach zog sie Lottie abrupt in eine erstickende Umarmung und schob sie ebenso abrupt wieder von sich, als wäre ein so enger Kontakt nur in sehr geringer Dosis empfehlenswert.
Mrs. Holden war zwar weniger direkt, überlegte aber, ob sich Lottie die Augenbrauen etwas mehr zupfen könnte. Und ob es ratsam war, so viel Zeit in der Sonne zu verbringen, «wenn man daran denkt, wie dunkel du wirst. Du willst ja nicht, dass dich die Leute für … nun … eine Zigeunerin oder so etwas halten.» Danach war sie in Schweigen verfallen, als fürchte sie, zu viel mit zu mitleidiger Stimme gesagt zu haben. Aber Lottie hatte es ihr nicht übel genommen. Es war schwer, jemandem etwas übel zu nehmen, den man selbst bemitleidete.
Adeline Armand zufolge war Lotties dunkler Typ jedoch kein Hinweis auf eine bedauernswerte Herkunft. Es war einfach ein Beweis für ihre Besonderheit, die sie selbst noch nicht erkannt hatte, das Abbild einer außergewöhnlichen, einzigartigen Schönheit. «Frances sollte dich malen. Frances, du musst sie malen. Nicht in diesen scheußlichen Sachen aus grobem Stoff und Baumwolle. Nein, in etwas Hellem, Seidigem. Sonst, Lottie, Liebes, überstrahlst du die Sachen, die du trägst. Du … schimmerst, non?» Ihr Akzent war so stark gewesen, dass Lottie angestrengt überlegen musste, ob sie womöglich gerade beleidigt wurde.
«Es müsste eher schimmeln heißen», sagte Celia, die über Adelines Bemerkungen nicht gerade erfreut war. Sie war es gewohnt, diejenige zu sein, die Aufmerksamkeit auf sich zog. Doch zu ihrer Erscheinung hatte Adeline nur gesagt, sie sei «so charmant, so typisch englisch». Es war das «typisch» gewesen, was richtig wehgetan hatte.
«Sie sieht aus wie Frida Kahlo. Findest du nicht, Frances? Die Augen? Hast du schon einmal für jemanden gesessen?»
Lottie sah Adeline verständnislos an. Wo gesessen?, wollte sie fragen. Adeline wartete auf ihre Antwort.
«Nein», schaltete sich Celia ein. «Aber ich. Meine Familie hat uns malen lassen, als wir jünger waren. Das Bild hängt in unserem Wohnzimmer.»
«Ah. Ein Familienporträt. Sehr … respektabel, ganz sicher. Und du, Lottie? Hat deine Familie je Modell gesessen?»
Lottie warf einen Blick zu Celia hinüber, während sie sich ihre Mutter mit ihren von der Arbeit in der Schuhfabrik rauen und fleckigen Fingern anstelle von Susan Holden auf dem Bild über dem Kamin vorstellte. Statt in eleganter Pose dazusitzen, die Hände im Schoß gefaltet, würde sie finster vor sich hin starren, den Mund zu einem unzufriedenen Strich zusammengepresst, das dünne, gefärbte Haar erfolglos auf Lockenwickler gedreht und unvorteilhaft zurückgesteckt. Neben ihr Lottie mit ausdrucksloser Miene und dem vermeintlich ständig so zudringlichen Blick aus ihren dunklen Augen. Und wo Dr. Holden hinter seiner Familie gestanden hatte, wäre nichts weiter als eine große Leerstelle.
«Lottie hat ihre Familie schon länger nicht gesehen, oder, Lots?», sagte Celia beschützend. «Wahrscheinlich kann sie sich gar nicht erinnern, ob sie ein Porträt haben machen lassen oder nicht.»
«Ich fahre eigentlich nicht mehr nach London», sagte sie langsam.
Adeline beugte sich zu ihr vor. «Dann müssen wir dafür sorgen, dass du hier gemalt wirst und du das Bild deiner Familie schenken kannst, wenn du sie siehst.» Sie berührte Lotties Hand, und Lottie, die wie gebannt ihr aufwendiges Augen-Make-up betrachtet hatte, zuckte zusammen, weil sie halb befürchtete, Adeline könnte versuchen, ihr die Hand zu küssen.
Es war der fünfte Besuch Lotties und Celias im Arcadia House, und inzwischen hatte sich ihre anfängliche Zurückhaltung angesichts der merkwürdigen und möglicherweise sittenlosen Schar, die hier ein und aus ging, aufgelöst. An ihre Stelle war Neugier getreten, und die wachsende Erkenntnis, dass es bei allem, was dort vor sich ging, Aktmalerei und unklare häusliche Verhältnisse, viel interessanter war als ihre üblichen Beschäftigungen mit Spaziergängen, Kinderhüten oder sich ein Eis im Café zu gönnen. Nein, wie bei einer Art endloser Theateraufführung war in dem Haus ständig etwas los. Seltsame gemalte Friese erschienen um die Türen oder über dem Herd. Texte, gewöhnlich über Maler oder Schauspieler, wurden geschrieben und irgendwo an die Wände gepinnt. Exotische Speisen trafen von Leuten aus verschiedenen großen Anwesen im ganzen Land ein. Neue Besucher erschienen und verschwanden wieder, kaum jemand – abgesehen von der Kerngruppe – blieb lange genug, um sich vorzustellen.
Lottie und Celia waren stets willkommen. Einmal war Frances bei ihrer Ankunft gerade dabei gewesen, Adeline zu verkleiden, hatte sie in dunkle, golddurchwirkte Seide gehüllt und ihr kunstvolle Muster auf Hände und Gesicht gemalt. Sie selbst hatte sich als Prinz gekleidet, mit einem Kopfschmuck, der mit seinem extravaganten Pfauengefieder und den ausgefeilten Webmustern echt gewesen sein musste. Marnie, das Hausmädchen, hatte widerwillig zugesehen, als Adeline kalten Tee auf Frances’ Haut strich, und sich empört zurückgezogen, als sie angewiesen wurde, Mehl zu bringen, um Adelines Haar grau zu färben. Danach hatten Lottie und Celia schweigend mitangeschaut, wie sich die beiden Frauen in unterschiedlichen Posen von einem schlanken, jungen Mann fotografieren ließen, der sich reichlich hochtrabend als «Vertreter der Modotti-Schule» vorstellte.
«Wir sollten in diesem Aufzug irgendwohin gehen. Nach London vielleicht», hatte Adeline gerufen, als sie ihre veränderte Erscheinung in einem Spiegel betrachtete. «Das wäre so lustig.» Sie wirbelte lachend herum, sodass sich ihre Gewänder aufblähten. Auch so konnte sie sein, kindisch, übermütig – als wäre sie keine erwachsene Frau, gebeugt von den Verpflichtungen und Sorgen, die das Frausein mit sich zu bringen schien, sondern eher so wie Freddie oder Sylvia.
So war sie einfach. Wie Celia später zugab, verstand sie die halbe Zeit kaum ein Wort von dem, was gesagt wurde. Und das lag nicht nur an dem Akzent. Die Leute im Arcadia House sprachen einfach nicht über normale Dinge – über das, was im Ort los war, über die Preise von irgendetwas oder über das Wetter. Sie schweiften ständig ab und redeten über Schriftsteller und Leute, von denen Celia und Lottie nie gehört hatten, und sie fläzten gemeinsam auf eine Art herum, die Mrs. Holden einfach skandalös gefunden hätte. Und sie stritten miteinander. Und nicht zu knapp. Über Bertrand Russells Plädoyer für den Atomwaffenverzicht. Über Gedichte. Über alles Mögliche. Als Lottie zum ersten Mal hörte, wie Frances und George über jemanden namens Giacometti «diskutierten», war es so hitzig und leidenschaftlich zugegangen, dass sie befürchtet hatte, Frances würde sich einen Hieb einfangen. Das war nämlich zu Hause unweigerlich passiert, wenn ihre Mutter in dieser Lautstärke mit ihren Freunden gestritten hatte. Bei den Holdens stritt überhaupt niemals jemand. Doch Frances, die normalerweise so zurückhaltende, melancholische Frances, hatte jede Kritik an diesem Giacometti abgewehrt, die George vorbrachte, und zum Schluss hatte sie ihm erklärt, sein Problem sei, dass er «mit dem Gefühl und nicht mit dem Verstand» reagieren müsse, und war hinausgegangen. Und eine halbe Stunde später war sie wieder hereingekommen, als sei nichts gewesen, und hatte ihn gefragt, ob er sie in die Stadt fahren könnte.
Sie schienen keine der üblichen gesellschaftlichen Regeln zu befolgen. Einmal war Lottie allein gekommen, und Adeline hatte sie im Haus herumgeführt, hatte ihr die Dimensionen und ungewöhnlichen Grundrisse jedes Raumes gezeigt und dabei kein bisschen auf die Bücherstapel und staubigen Teppiche geachtet, die immer noch in den Ecken standen. Mrs. Holden hätte niemals jemanden ihr Haus in diesem unfertigen und häufig unsauberen Zustand sehen lassen. Doch Adeline schien es nicht einmal zu bemerken. Als Lottie zögernd auf ein fehlendes Geländer an einer der Treppen hinwies, hatte Adeline leicht überrascht gewirkt und dann mit ihrer schwer verständlichen Aussprache erklärt, Marnie würde sich darum kümmern. Und was ist mit Ihrem Mann?, wollte Lottie fragen, doch Adeline war schon ins nächste Zimmer weitergegangen.
Und dann war da noch die Art, auf die sie und Frances miteinander umgingen. Weniger wie Schwestern, mehr wie ein altes Ehepaar, das gegenseitig seine Sätze beendete, über die gleichen Witze lachte und Anekdoten über Orte erzählte, an denen sie gewesen waren. Adeline sprach über alles und gab doch nichts preis. Wenn Lottie nach jedem Besuch zurückdachte – was sie tat, denn jeder war so abwechslungsreich und aufregend, dass er langsam verdaut werden musste –, wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr über die Schauspielerin wusste als bei ihrem ersten Besuch. Adelines Mann, dessen Namen sie noch nie genannt hatte, arbeitete «im Ausland». «Darling George» machte irgendetwas mit «Wirtschaft» und war ein «brillanter Kopf». («Ein brillanter Liebhaber, wette ich», sagte Celia, die anscheinend angefangen hatte, für ihn zu schwärmen, obwohl er wahrscheinlich doppelt so alt war wie sie.) Dass es Frances gewesen war, die das Haus gemietet hatte, wurde nie erklärt, obwohl sie, wie Lottie und Celia auffiel, anders als Adeline keinen Ehering trug. Umgekehrt hatte Adeline Lottie nur wenige Fragen gestellt, sondern begnügte sich mit den Einzelheiten, zu denen sie Anknüpfungspunkte herstellen konnte – ob sie schon gemalt worden war, ob sie Interesse für dieses oder jenes hatte – aber nach Lotties Lebensgeschichte, ihren Eltern oder ihrem Platz in der Welt erkundigte sie sich nicht.
Das war äußerst merkwürdig für Lottie, die in zwei Häusern aufgewachsen war, in denen trotz der unendlich vielen Unterschiede die Herkunft die Grundlage für alles war, was das Leben voraussichtlich für einen bereithalten würde. In Merham bedeutete Lotties Leben bei den Holdens, dass ihr alle Privilegien zuteilwurden, die Celia genoss – all die Bildung, Erziehung, Kleidung und Ernährung –, während trotz allem beiden Seiten unterschwellig bewusst war, dass diese Geschenke mit gewissen Vorbehalten verknüpft waren – besonders jetzt, wo Lottie bald volljährig wurde. Wenn sie von anderen Leuten sprachen, beurteilten die Mrs. Anstys, Chiltons und Colquhouns jeden aufgrund seiner Herkunft und seiner gesellschaftlichen Verbindungen und schrieben den Leuten alle möglichen Eigenschaften zu, einfach weil «er ein Thompson ist. Die neigen alle zur Faulheit.» Sie interessierten sich nicht dafür, was einem wichtig war oder woran man glaubte. Celia hatten sie für immer in ihr kollektives Herz geschlossen, weil sie die Tochter des Arztes war und weil sie aus einer der besten Familien Merhams stammte, auch wenn inzwischen allgemein bekannt war, dass sie sich zu einem «Hitzkopf» entwickelt hatte. Doch wenn Lottie mit einer Frage, die ihr einmal Adeline Armand gestellt hatte, zu Mrs. Chilton gegangen wäre – «Wenn Sie für einen Tag lang im Körper eines anderen stecken könnten, wer wäre das?» –, hätte Mrs. Chilton dazu geraten, Lottie in die Anstalt drüben in Braintree einzuweisen, wo es Ärzte gab, die sich um Leute wie sie kümmerten.
Die Bewohner von Arcadia House waren definitiv Bohemiens, befand Lottie. Und ihr Verhalten war von Bohemiens nicht anders zu erwarten.
«Es ist mir egal, was sie sind», sagte Celia. «Aber sie sind verdammt viel interessanter als die alten Langweiler hier.»
Es kam nicht oft vor, dass Joe Bernard die Aufmerksamkeit nicht nur einer, sondern gleich von zwei der attraktiveren jungen Ladys in Merham genoss. Aber je länger Adeline Armand im Städtchen wohnte, desto mehr Unbehagen wurde über ihren unkonventionellen Lebensstil geäußert, sodass Lottie und Celia immer erfinderischer werden mussten, um ihre Besuche zu verheimlichen. Und an dem Samstagnachmittag des Gartenfestes blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich an Joe zu wenden. Der hatte sich bereit erklärt, sie mit dem Auto abzuholen und so zu tun, als würden sie ein Picknick am Bardness Point machen. Er war nicht gerade begeistert von diesem Plan gewesen, aber Lottie hatte eingesetzt, was Celia inzwischen sarkastisch ihren «schimmeligen Blick» nannte, und damit hatten sie Joe in der Tasche.