Das Herz der Nacht - Fabienne Siegmund - E-Book

Das Herz der Nacht E-Book

Fabienne Siegmund

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Beschreibung

Eine Nacht, die sieben Tage dauert. Ein Tag, der nicht enden will. Sieben Menschen, die verschwinden - darunter Anisa, die Geliebte des Straßenzauberers Matéo. Verzweifelt sucht er in den Straßen Venedigs nach ihr, bis er plötzlich vor einem einsam gelegenen Zirkuszelt steht. Mit der letzten Eintrittskarte wird ihm Einlass in eine Welt gewährt, in der er nicht nur Magie findet, sondern auch Anisa - aber sie erkennt ihn nicht. Um seine große Liebe zu retten, muss Matéo den Schlüssel zu dieser unheimlichen Welt finden. Doch hinter der magischen Schönheit des Zirkus' lauern große Gefahren ...

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Die AutorinFabienne Siegmund, geboren 1980, lebt mit ihrem Freund und zahlreichen Büchern in der Nähe von Köln. Ihre Leidenschaft für Geschichten entdeckte sie schon als Kind, und entschloss sich bald, selbst zur Architektin von Luftschlössern und Traumgebilden zu werden.

Das BuchEine Nacht, die sieben Tage dauert. Ein Tag, der nicht enden will. Sieben Menschen, die verschwinden - darunter Anisa, die Geliebte des Straßenzauberers Matéo. Verzweifelt sucht er in den Straßen Venedigs nach ihr, bis er plötzlich vor einem einsam gelegenen Zirkuszelt steht. Mit der letzten Eintrittskarte wird ihm Einlass in eine Welt gewährt, in der er nicht nur Magie findet, sondern auch Anisa - aber sie erkennt ihn nicht. Um seine große Liebe zu retten, muss Matéo den Schlüssel zu dieser unheimlichen Welt finden. Doch hinter der magischen Schönheit des Zirkus' lauern große Gefahren ...

Fabienne Siegmund

Das Herz der Nacht

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   Originalausgabe bei Forever. Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Dezember 2015 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95818-068-0  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für die Lichter in meiner Nacht.Ohne euch würde ich in Dunkelheit ertrinken.

Prolog

Ich kanndie Farbendes Windesschmeckenund wenndas Glas der Zeitin meinen Händenzerbrichtspaziere ichauf meinen Träumenzum Horizontum die Unendlichkeitmit dir zu teilen.

Gertrud Walter – Die Farben des Windes

Das Ende der Woche, die nicht gezählt wird. Ungehörte Worte. Eine Liebe, die kam, ging und ganz verschwand. Ein letzter Zauber. Traurige Geschichten. Der Beginn einer Suche. Eine unmögliche Spur. Ein Zirkus im Mondenschein.

Meine liebste Layla,

hier stehe ich nun, an einem Ort, der für mich zum Rand der Welt geworden ist. Jeder andere würde hier nur das Ufer eines Meeres sehen, an dessen anderem Ende ein neues Ufer wartet.

Hinter mir reckt sich die Stadt einem Himmel entgegen, der weiß und kalt und leer ist und nicht von Dunkelheit geflutet, wie er sein sollte.

Es ist Nacht, mein Herz, oder zumindest sollte Nacht sein, doch die Nacht ist ebenso fort, wie du es bist. Trotzdem suchen meine Augen dich, wissend, dass sie dich niemals mehr finden.

Warum nur habe ich nicht erkannt, wer du warst, was du bist? Wieso habe ich deinen Worten keinen Glauben geschenkt?

»Weil die Wahrheit manchmal zu viel ist«, höre ich dich flüstern, und wie immer hast du Recht. Doch auch dieses Wissen ändert nichts daran, dass ich wünschte, ungeschehen zu machen, was ich getan habe.

Denn jetzt bist du fort. Unwiederbringlich.

Und ich, der größte Magier, den die Welt je gesehen hat, trage Schuld daran. Denn ich wollte dich halten, ich wollte die Ewigkeit für dich und mich. Jetzt bleibt uns nicht einmal mehr ein einziger Augenblick, und auch meine Zeit rennt mir davon.

Ich spüre es. Mit jedem Atemzug.

Der Zauber, der mich von dir getrennt hat, bringt mich um. Er hatte uns retten sollen, uns Zeit schenken sollen, doch jetzt ist die Zeit genauso fort wie du, rinnt durch meine Hände wie Sand durch ein Sieb.

Nur sieben Nächte hatten wir, sieben Nächte, die selbst die Tage überdauerten, doch dann ist der Tag mit all seiner grausamen Helligkeit wieder erwacht.

Wenn du jetzt hier wärst, würdest du dich genauso an unseren ersten Moment erinnern wie ich?

Wie von Zauberhand hast du mit einem Mal vor mir auf dem belebten Platz gestanden, auf dem ich gerade der Welt meine Illusionen malte, ganz plötzlich, als hätte ich selbst dich aus dem Nichts gezaubert, aus Taubenflügelschlag und Stimmengewirr.Schneeflocken hatten sich in deinen dunklen Locken verfangen, obwohl es an dem Tag keinen Schnee gegeben hatte.

Du hast mich aus Augen angesehen, so silbern wie der Mond, den ich niemals mehr sehen werde, und dein Kleid war aus dem Stoff genäht, mit dem die Nacht den Himmel bedeckt. Voller Sonnennebel und Sternenglitzern.

Schon da hätte ich dich erkennen müssen, in diesem Moment.

Doch manchmal werden Augen blind, obwohl sie sehen.

Einfach dagestanden hast du, und ich konnte sehen, wie die Magie dich gefangen nahm, wie die Illusionen dir den Atem raubten und ich hörte dein Herz für die Wunder schlagen, die ich für dich zauberte.

Die übrigen Schaulustigen, die sich um mich versammelt hatten, schienen plötzlich Jahre entfernt zu sein. Nur verhalten drang der Applaus noch an meine Ohren. Nahmen sie dich überhaupt wahr?

Ich weiß es nicht, das Einzige, an das ich mich noch zu erinnern vermag, ist, dass wir diesen Ort irgendwann einfach verlassen haben, gemeinsam, Hand in Hand.

Wir sind durch die Stadt getaumelt, die uns mit ihrem Pulsieren umarmte und durch die Nacht wirbelte, die über uns leuchtete, sternenbestickt und von kosmischen Nebeln durchwebt, einem Lapislazuli gleich.

Als wir uns das erste Mal küssten, sagtest du, du wolltest dich nicht verlieben. Ich hatte es in diesem Moment schon längst getan und glaubte, du auch.

Wie sonst lässt sich erklären, dass wir in all der Zeit, die wir hatten, nichts aßen oder tranken außer unserer Liebe?

Mit meinen Küssen nahm ich den honiggleichen Duft deiner Haut in mir auf, und mit deinem Stöhnen nahmst du mich in dir auf. Unersättlich waren wir. Und ließen wir doch voneinander ab, dann nur, um abermals liebestrunken durch die Stadt zu tanzen, immer auf der Suche nach deinem Traum von Gaukelei und Wundern.

Die Feuerschlucker malten für dich brennende Bilder auf das schwarze Nachthimmelpapier. Pantomimen berührten dein Herz mit ihren stumm erzählten Geschichten, und der immer etwas schadenfrohe Schabernack der Clowns ließ dein Lachen erklingen.

Ihretwegen, so deine Worte, warst du gekommen.

Das Leben hattest du sehen wollen, die Kunst, das Vergnügen.

Niemals die Liebe, die du in einem Zauberer fandst, doch am Ende konntest du dich ebenso wenig lösen wie ich.

Die Welt hörte auf, sich zu drehen und ließ die Zeit trotzdem so schrecklich schnell schwinden.

Sieben Tage, Layla, sieben Nächte.

Dann kam der Abschied, und er brachte den Schmerz mit sich.

»Ich muss jetzt gehen«, hast du gesagt, und »Meine Zeit ist um.«

Ich weiß, dass ich dich angestarrt haben muss wie ein Trottel, und genauso kam ich mir auch vor, denn ich verstand deine Worte, aber nicht ihren Sinn.

Erst, als du meine Hände losgelassen hast, die du die ganze Zeit gehalten hattest, kam das Begreifen, gefolgt von jenem stummen Entsetzen, das mich noch heute umschließt.

Du wolltest fortgehen.

Ohne mich.

Die Worte, mit denen ich dich anflehte zu bleiben, sind mir ebenso entfallen wie deine Antwort. Ich weiß nur noch, dass du den Kopf geschüttelt hast. Und ich erinnere mich an den Schmerz, der in meiner Brust explodierte, als du dann tatsächlich gegangen bist.

Ich wollte dir nachrennen, doch meine Beine hatten nicht einen Schritt gehen können, und als ich einmal kurz geblinzelt habe, warst du schon fort, so plötzlich, wie du vor sieben Tagen aufgetaucht warst.

Und ich – blind vor Liebe und Kummer – beschloss, dich nicht gehen zu lassen, entschied, das Glück in Ketten zu legen, ehe es zu spät war.

Ich Narr.

Es tut mir leid, meine Liebste, so leid. Es hätte anders sein sollen. Ich wollte, dass wir durch Träume tanzen, aus denen man niemals erwacht. Nun jedoch träumst nur du, und ich halte dafür dein Herz in meinen Händen, weltenschwer, aber auch jetzt gehört es nicht mir.

Es war niemals das meine, und mein Traum war nicht der deine.

Sonst wäre ich jetzt bei dir.

Wie konnte ich glauben, dass man das Glück einsperren kann?

Über mir sollte nun der Morgen dämmern, doch er tut es nicht. Heute wird es kein stilles Trauern geben, wenn der Mond mit Tränen aus Sternen die Nacht beweint oder die Sonne am Abend Blut aus rotem Licht über den Horizont gießt. Nicht Tag, nicht Nacht, nur blasse Helligkeit, als würde es gleich beginnen zu schneien.

Vielleicht würdest du von mir verlangen, es ungeschehen zu machen, doch wie ich weißt du, dass man nichts ungeschehen machen kann. Schon gar nicht einen solchen Zauber wie den meinen.

Ich habe dich, meine liebste Layla, in einen Traum gesperrt. Und mit dir verschwand so vieles mehr. Alles, selbst meine Magie. Bald werde ich kein Zauberer mehr sein.

Mit einem letzten Abrakadabra werde ich der Welt entfliehen, in der du nicht mehr bist und die so für mich ihren Wert verlor.

Zu einem Sternbild werde ich werden, hoch oben am Himmel. Dort werde ich auf dich warten, ein Gesicht aus Sternen, von einer Träne begleitet, die der Mond nicht mehr weinen kann, weil es ihn ebenso wenig mehr gibt wie die Nacht.

Zu mehr reicht die Kraft nicht mehr aus. Schon jetzt vermag ich kaum noch zu sprechen, doch ich muss dir erklären, was ich getan habe. Selbst, wenn ich befürchten muss, dass du meine Worte gar nicht hörst. Ist dem so, so wird sie niemand hören, denn ich bin allein.

Weder kann ich dich zurückholen, noch kann ich mich zu dir zaubern. Das hättest nur du vermocht, mit deinem Traum, denn ich gab dir nur die Form. Du aber hast mich nicht zu dir geträumt.

Ich werde trotzdem auf dich warten, liebste Layla, auch wenn ich weiß, du wirst nicht kommen. Denn noch ehe ich jenen letzten Zauber wirke, werde ich den Traum dem Meer anvertrauen.

Niemand soll ihn finden.

Du sollst dort glücklich sein.

Für immer.

Ein Husten quält mich, und das Blut, das aus meinem Mund kommt, färbt meine weißen Handschuhe rot.

Kannst du dort, wo du jetzt bist, den Wind spüren, den das Meer mit sich trägt?

Er bringt ein Gewitter mit sich, ich kann es spüren, ich höre die Wolken, die aufeinander zurollen, doch wie dem Nachthimmel fehlt auch ihnen die Dunkelheit.

Was nur habe ich getan, meine Liebste?

Wie konnte ich so vermessen sein, dich halten zu wollen?

Ich werde dafür bezahlen, ich tue es schon.

Es beginnt zu regnen.

Weißt du noch, wie wir im Regen tanzten? Zu Melodien, die nur wir hörten?

Heute bringt mir der Regen keine Lieder.

Heute singt er Melodien aus Eis.

Das Gewitter beginnt, ich höre schon sein entferntes Grollen.

Mit dem ersten Blitz werde ich den Zauber sprechen und der Donner wird mich zerbrechen.

In den Sternen werde ich auf dich warten und die Hoffnung wider besseres Wissen nicht aufgeben, dass wir uns wiedersehen.

***

Der Morgen kann ein Dieb sein, und manchmal raubt er nicht nur die Nacht. Matéo raubte er bereits seit fünf Tagen mit jedem Aufwachen die Hoffnung. Obwohl … nein, die Hoffnung raubte er ihm erst seit vier Tagen. Am ersten Tag, dem Dienstag, hatte er ihm noch so viel mehr gestohlen.

Und auch heute, am Sonntag, erinnerte er sich noch genau.

Noch bevor Matéo die Augen an jenem Dienstag aufgeschlagen hatte, war da dieses Gefühl gewesen, dass sich etwas verändert hatte. Da war eine Kälte in der kleinen Wohnung, die am Abend, als er und Anisa unter die Decke geschlüpft waren, nicht da gewesen war. Eine Kälte, die sich anders anfühlte als die des Winters. Sie hatte nicht einmal etwas mit der Temperatur in der winzigen Wohnung zu tun.

Es war einfach ein Gefühl, das nicht von ihm hatte ablassen wollte.

Mit banger Erwartung hatte er die blaugrauen Augen aufgeschlagen, aber außer dass ihn das Licht geblendet und er zunächst nichts gesehen hatte, bis er blinzelnd die Brille mit den schlichten silbernen Rändern aufgesetzt hatte, die seine ohnehin schon tiefliegenden Augen noch ein bisschen weiter unter die Schatten seiner Augenbrauen sinken ließ, war ihm nichts Besonderes aufgefallen.

Nichts in der Wohnung hatte sich verändert.

Alles war dort gewesen, wo es hingehörte, das schmale Sofa im fast rechten Winkel zum Bett, davor der kleine Tisch, der Nachtschrank und Beistelltisch zugleich war, ein winziger Sessel, dahinter die Kochnische und die Tür, die in das kleine Bad führte.

Nur Anisa war nicht da gewesen.

Zuerst hatte er sie noch im Bad gewähnt, doch weder hatte er das Fließen von Wasser noch die Spülung der Toilette gehört. Auch das Summen, mit dem Anisa jeden Tag begrüßte, hatte gefehlt.

Erschrocken war Matéo hochgefahren, und obwohl er deutlich gesehen hatte, dass Anisa nicht neben ihm lag, hatte er mit der Hand über die leere Seite des Bettes getastet. Sie war kalt und glatt gewesen, als hätte nie jemand dort gelegen.

Nur der Duft ihres Parfüms hatte noch in der Luft gelegen, eine vage Erinnerung an Veilchen und Orchideen, der mit jedem Atemzug verblasst war.

Sie hatte den Duft am Morgen zuvor aufgetragen, einem Morgen, der ihnen wie ein Wunder vorgekommen war, nach einer Woche, in der die Nacht vergessen zu haben schien, dass es auch noch Tage gab.

Sieben Tage lang war es nicht hell geworden, nicht einmal ein klitzekleines bisschen.

Wo die Sonne hatte scheinen sollen, waren der Mond und die Sterne gewesen, ummantelt von tiefblauer Dunkelheit.

Die meisten Menschen hatten sich in ihren Häusern verkrochen und geglaubt, der Himmel würde über ihnen einstürzen.

Anisa und er aber waren durch die Nacht getaumelt, hatten ihrer Liebe tanzend Ausdruck verliehen und auf den kleinen Plätzen, unter deren Laternen sich die Nachtschwärmer versammelt hatten, waren sie aufgetreten, hatten die Menschen mit ihren Illusionen verzaubert, die Matéo niemals zuvor so leicht von der Hand gegangen waren. Matéo war ein Zauberkünstler, ein Illusionist. Kein besonders guter, da machte er sich nichts vor. Sein spärliches Talent lebte von Anisa, die als seine Assistentin fungierte und alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte, wenn er mal wieder mit der Ungeschicklichkeit haderte, gegen die er so oft den inneren Kampf verlor.

Ja, Matéo wusste genau, dass Anisa die wahre Magierin war.

Niemand konnte die Blicke von ihrer zierlichen Gestalt nehmen, wenn sie in ihrem schlicht weißen Kostüm, dem einer Ballerina bei ihren Übungen gleichend, um ihn herum tänzelte, die glatten braunen Haare locker hochgesteckt, in den braunen Augen immer ein Funkeln, das nicht Freude und nicht Traurigkeit war und doch beides zugleich.

Es war dieses Funkeln, in das Matéo sich verliebt hatte, die Herausforderung, es in ein Strahlen zu verwandeln.

So oft war es ihm seither schon gelungen, und mit jedem Mal machte sein Herz einen Satz vor Freude, auch noch nach all der Zeit, die sie einander kannten, in all dem Elend, das sie manchmal begleitete, wenn das Geld ausblieb, der Applaus zu höhnischem Lachen oder gellenden Pfiffen wurde.

Nicht immer konnte Anisa seine Vorstellung retten, verbergen, wie stümperhaft er seine Tricks aufführte.

Immer aber rettete sie ihn.

Weil sie ihn so sehr liebte wie er sie, und stets war ihnen das genug gewesen.

Ja, sie waren glücklich gewesen, all die Zeit, egal wie schlecht ihnen das Schicksal in die Hände gespielt hatte.

Manchmal war das Geld zu wenig zum Leben gewesen, hatte nicht mehr für Essen gereicht, wenn sie die Miete bezahlt hatten, die Summe auf den Centimos genau zusammengekratzt hatten aus allem, was sie hatten.

Dann waren sie anderen Arbeiten nachgegangen.

Anisa hatte sich als Schneiderin verdingt, er selbst sich als Kurier, Lagerarbeiter und Nachtportier.

Doch nie war dies von Dauer gewesen, stets waren sie zur Kunst zurückgekehrt.

Und niemals hatte Anisa davon gesprochen, ihn zu verlassen, auch wenn sie ein anderes Leben hätte leben können.

Sie war Tänzerin. Eine der besten, wenn auch vielleicht nur für ihn. Und doch war sie mit ihm gekommen, in eine Welt, in der es kein Glitzern und kein Parkett gab, sondern nur Staub und Straßenasphalt.

An diesem Dienstagmorgen aber war sie verschwunden. Die Matratze neben ihm war leer gewesen.

Vielleicht, so hatte er noch gedacht, war sie nur zum Bäcker gegangen.

Aber der Gedanke war in sich zusammengefallen, als ihm bewusst geworden war, dass sie kein Geld für frische Brötchen gehabt hatten. Denn mit jedem Tag, über den die Nacht angehalten hatte, waren die Menschen auf den Straßen und Plätzen weniger geworden.

Die Angst hatte um sich gegriffen, mit all ihrer Macht. Türen und Fensterläden waren verriegelt worden, Laternen flackernd erloschen. Und auf den Straßen, Brücken und Plätzen war es still geworden. Selbst das stetige Flüstern der Kanäle war verstummt, die Gondeln verharrten regungslos.

Niemand hatte mehr den Sängern gelauscht, die die Stadt mit ihren Liedern erfüllten. Niemand mehr die Kreidebilder der Maler auf dem Asphalt bewundert, die im Licht der Laternen lebendig geworden waren. Und niemand hatte mehr auf den in grau gekleideten Magier geachtet, der mit seiner Assistentin die Welt zu verzaubern versuchte.

Und wohin die Menschen nicht sahen, da ließen sie kein Geld. So einfach war es.

Ja, am Ende hatten auch Anisa und er die schier ewig währende Nacht verflucht und waren ihr entflohen, in den Schutz ihrer Wohnung, in der sie sich aneinandergeschmiegt hatten. So hatten sie auf das Ende der Nacht gewartet, und am Montag, da war es gekommen.

Der Morgen war erwacht, grell und blendend, beinahe brutal hatte er die Welt aus der Dunkelheit gerissen. Für einen Moment war es, als wäre der Himmel wirklich auf die Erde gestürzt.

Dann aber war mit dem Licht das Leben in die Welt zurückgekehrt und für Anisa und ihn hatte es die Hoffnung im Gepäck gehabt, dass es vielleicht der Beginn eines neuen Lebens sein könnte. Niemals hätte Matéo geglaubt, die Hoffnung so schnell brechen zu sehen. Einen Tag lang nur hatte die gedauert, nicht einmal die Nacht überlebt, in der es keine Dunkelheit gegeben hatte.

Die Hoffnung war mit Anisa gegangen, wohin immer sie auch gegangen war. Dass sie ihn verlassen hatte, glaubte Matéo nach wie vor nicht, auch nicht nach den Tagen vergeblicher Suche. Nein. Es war etwas passiert. Etwas, das er nicht bemerkt hatte, etwas Schlimmes, über das man niemals auch nur ein Flüstern verlieren sollte. Denn Vermutungen wurden wahr, wenn man sie in Worte fasste.

Fast umgehend hatte er sich entschlossen, zur Polizei zu gehen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie ihn tatsächlich nicht verlassen hatte. Aber all ihre Sachen waren noch da gewesen. Ihre kleine Handtasche mitsamt der viel zu leichten Geldbörse, ohne die sie nie das Haus verließ.

Und nur wenige Minuten hatte er in seinem grauen Anzug, unter dem er ein weißes Hemd trug, vor dem Polizeirevier gestanden. Seine Füße steckten in schwarzen, abgelaufenen Schuhen, die eine Politur bitter nötig gehabt hätten und seinen Kopf zierte ein Zylinder, der ebenso glänzend grau war wie sein Anzug. Den einzigen Farbtupfer, den er sich gönnte, war eine rote Fliege, die er einst von seinem Vater geschenkt bekommen hatte.

Schon auf dem Weg hatte er jeden Menschen, der ihm begegnet war, nach Anisa gefragt.

»Haben Sie eine junge Dame gesehen? Mitte zwanzig, mit braunem, glatten Haar und braunen Augen? Etwa so groß?« Dabei hatte er die flache Hand auf die Höhe seiner Schulter gehalten. »Sie trug ein weißes Kostüm, wie eine Ballerina …«

Aber niemand hatte Anisa gesehen.

»Tut mir leid, nein«, war die freundlichste Antwort, die er erhielt. Sonst sah er überall nur Kopfschütteln.

»Wann haben Sie Ihre Freundin das letzte Mal gesehen?«, hatte der Polizist gefragt, ein gemütlicher Mann mit rundem Gesicht und Schnauzbart, der auf den Namen Sanjana hörte.

»Gestern Abend«, war Matéos tonlose Antwort gewesen.

Er hatte dem Polizisten auf einem knarrenden Holzstuhl an dessen Schreibtisch gegenüber gesessen, während der Beamte noch seine persönlichen Daten mit einer Schreibmaschine eingegeben hatte.

»Und heute Morgen«, hatte der Polizist nachgehakt, »als Sie erwachten, da war sie fort.«

Matéo hatte nur müde nicken könnten. Dem Polizisten war ins Gesicht geschrieben gewesen, was er gedacht hatte. Dass Anisa ihn verlassen hatte.

»Sie hat nichts mitgenommen«, hatte er sich zu sagen beeilt, ehe die Zweifel, die die scharfen Blicke mit sich gebracht hatten, ihn erreichen konnten. »Nicht einmal ihre Handtasche oder die Geldbörse.«

Aber der Polizist hatte bloß genickt, als hätte er das schon tausendmal gehört und routiniert die nächste Standardfrage gestellt: »Hatte sie vielleicht eine Verabredung, von der Sie nichts wussten?«

Matéo hatte den Kopf geschüttelt. »Nein. Sie hatte nie Verabredungen.«

Daraufhin hatte Signore Sanjana die Augenbrauen gehoben. »Ihre Freundin hatte nie Verabredungen? Gab es keine Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig traf?«

Auch diese Frage hatte Matéo mit einem stumm angedeuteten Nein beantworten müssen.

»Keine Freundinnen?« In die Stimme des Polizisten waren reines Misstrauen und ein Hauch Verwunderung eingezogen.

»Nein«, hatte Matéo leise erwidert. »Sie hat sich nicht viel aus anderen Menschen gemacht. Noch nie.«

Eine Weile hatte Signore Sanjana ihn nachdenklich betrachtet, dann aber mit den Schultern gezuckt. Abschließend hatte er noch einige Zeilen auf seiner Schreibmaschine getippt und dann mit einem Surren das Blatt hervorkommen lassen.

Mit einem »Also«, hatte er begonnen, Matéo in den folgenden Minuten all die Dinge vorzulesen, die er soeben aufgenommen hatte. Zuerst die Personalien von Anisa, dann seine eigenen, damit man ihn im Falle eines Falles benachrichtigen konnte. Dazu kam die Beschreibung von Anisa, ihre Größe, ihr Aussehen, die Sachen, die sie getragen hatte. Lieblos aneinandergereihte Fakten, in denen Matéo sie kaum erkannt hatte.

Dennoch hatte er die Vermisstenanzeige kommentarlos unterschrieben, als der Polizist das letzte Wort vorgelesen hatte.

»Was nun?«, hatte er gefragt, als er sich längst erhoben hatte und seine Hand schon auf der Türklinke lag.

»Nichts nun. Wir werden nach ihr Ausschau halten.«

»Wollen Sie denn nicht nach ihr suchen lassen?«

»Noch nicht, tut mir leid, Signore. Dazu ist sie noch nicht lange genug fort.«

»Aber«, hatte Matéo aufbegehren wollen, da unterbrach ihn der Uniformierte: »Gehen Sie nach Hause, Signore. Beten und hoffen Sie, dass Ihre Freundin einfach wieder nach Hause kommt. Mehr können Sie nicht tun.«

Damit hatte er sich abgewandt, um die Vermisstenanzeige in einen Ordner zu heften, der bereits viel zu voll war.

»Sind das alles Vermisste?«, hatte Matéo sich tonlos erkundigt.

Der Polizist hatte verwundert von seinen Unterlagen aufgesehen, als hätte er schon vergessen, dass da jemand gewesen war.

»Wie meinen Sie?«

»Sind das da, in dem Ordner, alles Vermisstenanzeigen?«

Signore Sanjana hatte den Aktenordner betrachtet.

»Ja«, hatte er dann nur gesagt, den Ordner zugeschlagen und ihn durch eine Tür in die hinteren Räume der kleinen Polizeistation getragen, ohne noch einmal auf Matéo zu achten, der in stummem Entsetzen auf die Straße hinausgetreten war.

Er war natürlich nicht nach Hause gegangen. Er war durch Gassen und Straßen gerannt, hatte Brücken überquert, war durch andere Gassen und über andere Plätze gehastet, nur um wieder über neue Brücken zu laufen und in neue Sträßchen einzutauchen. Er hatte sich von Gondeln einige Meter mitnehmen lassen, verlassene Paläste durchforstet, die so vielen einen Unterschlupf boten, und Aberhunderten von Menschen seine Fragen gestellt. Doch das Ergebnis blieb das gleiche: Niemand hatte Anisa gesehen. Nicht die Passanten und nicht die vielzähligen Künstler, die sich diese Tage in die Stadt der Stäbe, Brücken und Kanäle verirrten. Sogar die Kirchen und Kathedralen der Stadt hatte er besucht, und in jeder eine Kerze für den Wunsch entzündet, sie wiederzufinden.

Fünf Tage hatte er damit verbracht, sie zu suchen. Den Dienstag genauso wie den Mittwoch, den Donnerstag , den Freitag und schließlich auch den Samstag, unterbrochen nur von den Abenden, die er nach Hause zurückgekehrt war, um sich um Jordí, das Kaninchen zu kümmern, das er wie jeder Zauberer besaß, und um auszuruhen.

Und immer war er spät in der Nacht mit der Hoffnung eingeschlafen, dass Anisa am nächsten Morgen doch zurückgekehrt wäre.

Doch jedes Mal raubte ihm der Morgen die Hoffnung. So wie heute.

Mit einem tiefen Seufzer stand Matéo auf und zog die Vorhänge vor dem einzigen Fenster der Wohnung zurück und sah auf die Stadt hinunter, die in ein seltsam helles Licht getaucht war, so, als könnte Papier leuchten. Und so weiß wie ein leeres Blatt war auch der Himmel. Da war kein Blau, kein Grau, es gab keine Wolken und auch die Sonne spiegelte sich nicht im sanften Plätschern der Kanäle, die der Stadt als Straßennetz dienten. Da war nur Weiß. Grelles, in den Augen schmerzendes Weiß, das eine Kälte ausstrahlte, die Matéo hinter der schützenden Scheibe frösteln ließ, obwohl es in der Wohnung warm war. Dennoch ließ er die Blicke seiner blaugrauen Augen suchend über den Kanal und den schmalen Weg daneben gleiten, doch von den wenigen Menschen, die mit eiligen Schritten vorbeihasteten, war nicht einer Anisa.

Eine ganze Weile starrte er so aus dem Fenster, ohne dass Anisa auftauchte.

Ein dumpfes Klopfen aus der hinteren Zimmerdecke ließ ihn aufschrecken. Einen Moment lang musste Matéo sich orientieren, dann ging er hinüber zu Jordís Käfig, der auf einem kleinen Regal stand. Das Kaninchen hatte die Vorderpfoten ungeduldig auf die kleine Klappe gelegt. Matéo hatte das Tier von einem katalanischen Handelsreisenden erstanden, der ihn Jordí gerufen hatte, und Matéo hatte den Namen nie geändert. Er hatte es tun wollen, aber Anisa hatte ihn nur angeschaut, in dem Blick der stumme Vorwurf, dass man doch nicht einfach den Namen eines Wesens umändern konnte, und so war es bei Jordí geblieben. Und irgendwie passte es. Denn anders als die Tiere anderer Zauberer war Jordí nicht schneeweiß. Es gab Magier und Illusionisten, die behaupteten, nur ein rein weißes Kaninchen sei überhaupt eines Magiers würdig. Jordí jedoch hatte graue Ohrenspitzen, als wäre er einmal einer Regenwolke zu nahe gekommen. Und da Matéo seit jeher eine Schwäche für grau gehabt hatte, war die Begegnung mit dem Händler wohl Schicksal gewesen.

All dieser Vorzeichen zum Trotz hatte Matéo hier und da dennoch mit eben diesem Schicksal gehadert, und sich die Frage gestellt, ob die grauen Ohren der Grund dafür waren, dass seine Tricks nicht funktionierten, aber Anisa hatte dies schnell als Unsinn abgetan.

»Ich finde«, hatte sie gesagt und Jordí über das weiche Fell gestrichen, »du bist mit ihm besser geworden.«

Und damit war jede Diskussion, Jordí gegen ein anderes Kaninchen auszutauschen, erstickt worden, ehe sie überhaupt hatte beginnen können.

»Du vermisst sie auch, nicht wahr?«, fragte er das Kaninchen, das mit wippender Nase in dem kleinen Käfig saß.

Jordí klopfte energisch mit den Hinterläufen, als hätte er Matéos Gedanken verstanden. Unwillkürlich verzog Matéo die Lippen zu einem kleinen Lächeln, doch es verblasste so rasch, wie es gekommen war.

Er öffnete den Käfig und ließ zu, dass Jordí ins Zimmer sprang, wo das Kaninchen aufgedreht hakenschlagend eine Runde drehte, ehe es einen Satz auf das nun verwaiste Bett machte und Matéo erwartungsvoll ansah. Sofort schob dieser ihm eine Möhre hin und beobachtete, wie das Kaninchen anfing, genüsslich daran zu knabbern, nicht jedoch ohne ihn immer aus den braunen Knopfaugen zu mustern.

»Ich mache mich gleich wieder auf die Suche, weißt du?«, fragte er, während er dem Kaninchen über den Rücken strich, das sich davon in keinster Weise von seiner Mahlzeit ablenken ließ. Lediglich ein Ohr zuckte ein wenig.

Matéo lächelte abermals leicht.

»Bis heute Abend«, flüsterte er und verließ die kleine Wohnung ein weiteres Mal, das Herz wieder ein wenig schwerer, weil die Hoffnung von Tag zu Tag schwand.

Es waren ungleich mehr Menschen auf den Straßen unterwegs als die Tage zuvor, Touristen, die auf den Karneval warteten und Geschäftsleute, die auch am Sonntag ihrer Tätigkeit nachgingen, Spaziergänger, die sich einfach treiben ließen und natürlich die Künstler, die ihre Darbietungen zeigten, um ihr tägliches Brot zu verdienen.

Matéo kannte die meisten von ihnen und das, was sie vorführten. Feuerschlucker und Jongleure, Pantomime, kunstvoll kostümierte Statuen als Vorboten des baldigen Spektakels, und Magier wie er.

Waren sie sonst jedoch mehr für sich, jeder auf die eigene Kunst bedacht, standen sie heute in kleinen Gruppen zusammen und diskutierten eifrig. Matéo dachte sich im ersten Moment nichts dabei, wurde aber hellhörig, als immer häufiger die Worte »vermisst« und »verschwunden« an seine Ohren drangen. Auch waren es nicht nur Künstler, die sich darüber ausließen, und so gesellte sich Matéo schließlich zu zwei gemütlich wirkenden Herren um die fünfzig, die beide ein beträchtliches Bäuchlein unter ihren Westen vorzuweisen hatten. Einer von ihnen hielt eine Ausgabe der Morgenzeitung in den Händen, über deren Titelblatt sie sich eifrig auseinanderzusetzen schienen.

»Verzeihen Sie, die Herren«, begann Matéo und lüftete seinen Zylinder zum Gruß. »Was ist so Aufregendes passiert, dass es die ganze Stadt beschäftigt?«

Die beiden Herren erwiderten seinen Gruß, indem sie an die Krempen ihrer Mützen tippten.

»Sie meinen, außer der ohnehin schon bemerkenswerten Tatsache, dass es nicht mehr Nacht zu werden scheint?« In seiner tiefen Stimme lag ein gut vernehmbares Schmunzeln.

Matéo nickte bloß.

»Nun, es sind Menschen aus der ganzen Stadt verschwunden, sechs an der Zahl.«

Der Fremde hielt die Zeitung so, dass Matéo die ganze Titelseite sehen konnte. »VERMISST!«, titelte das Blatt, und darunter waren fünf Fotos abgedruckt, auf denen sechs unterschiedliche Personen zu sehen waren. Matéos Herz machte einen Sprung. Keine von ihnen war Anisa.

»Es heißt«, erklärte der zweite Mann, »sie seien wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hat auch nur die kleinste Spur von ihnen gefunden. Eben waren sie noch da – Simsalabim – dann waren sie schon fort, von einer Sekunde zur anderen.«

»Wie Anisa«, wisperte Matéo, der die Blicke nicht von den Fotos wenden konnte. Warum war sie nicht dort abgebildet? All die verschwundenen, das sagten ihm die Bilder und der Klang ihrer Namen, waren ebenso Künstler wie Anisa und er.

»Bitte wer?«, fragte der Fremde, der die Zeitung in der Hand hielt, höflich nach.

Verwirrt blickte Matéo ihn an.

Der Mann neigte den Kopf. »Mir war, als hätten Sie einen Namen geflüstert. Anisa.«

Matéo presste die Lippen zusammen. »Ja, Anisa. Sie ist auch verschwunden. Am Dienstag. Ich habe es schon der Polizei gemeldet.«

Die Mienen der beiden Männer verzogen sich zu einem Ausdruck des Bedauerns, aber Matéo erkannte in ihren Augen auch die Gier nach einer neuen, sensationellen Nachricht. Er wünschte, er hätte nichts gesagt.

»Oh, mein armer Junge! Das ist ja schrecklich!«, sagte da auch schon einer der beiden, und versuchte, Matéo einen Arm um die Schulter zu legen. Matéo wich einen Schritt zurück.

»So erzählen Sie doch«, fiel der zweite ein, während er nach seinem Arm griff, »vielleicht bei einem Gläschen Wein?«

Matéo schüttelte den Kopf. »Nein, meine Herren, vielen Dank. Ich muss weitersuchen, verstehen Sie?«

Damit löste er seinen Arm aus dem Griff des Mannes und eilte davon, ohne noch zu hören, wie die beiden Männer die Neuigkeit über eine weitere vermisste Person, eine gewisse Anisa, verbreiteten und man vielerorts zu der Ansicht kam, dass man all diese Menschen niemals wieder zu Gesicht bekommen würde.

Manche Menschen gingen mit einem Schulterzucken ihrer Wege und glaubten, das Leben selbst habe diese sieben Menschen an andere Orte gespült, andere sahen sich vermehrt um, die Angst im Nacken sitzend, dass etwas Schreckliches mit diesen sieben Personen geschehen sein könnte. Andere wiederum stellten nur die Frage nach dem Offensichtlichen: Warum wurde es nicht mehr dunkel?

Matéo sah sich weder um noch stellte er irgendwelche Fragen. Er hastete durch die Gassen und Straßen der Stadt, soweit ihn seine Füße trugen. Seine Füße wirbelten die Tauben des Markusplatzes auf als wären sie Blätter im Herbst, doch er achtete nicht auf die Vögel oder auf die goldenen Bilder des Doms, die sich auf dem regennassen Boden spiegelten. Er lief durch die Bögen des Dogenpalastes und hielt im Schatten der Seufzerbrücke kurz inne, als wäre dies ein Ort, an dem er seine eigenen Sorgen mit einem Seufzer vergessen machen konnte.

Schon aber rannte er weiter, über Brücken, die er schon überquert hatte und über Kanäle, die er glaubte, noch nie gesehen zu haben.

Manchmal sah er andere Menschen, die wie er auf der Suche zu sein schienen. Dann fiel ihm für einen Moment ein, dass es noch andere Menschen gab, die jemanden vermissten und nun auf der Suche waren. Menschen, die einen Sohn oder eine Tochter, den Mann oder die Liebste vermissten, den Bruder, die Schwester oder den Freund, denn für irgendjemanden waren die sechs anderen Menschen, die verschwunden waren, all das gewesen.

Mireia Marin, eine Wahrsagerin. David Temiero, seines Zeichens Pantomime und Harlekin. Carlo, der berühmte Feuerschlucker, die Clowns Pietro und Tullio und schließlich die Schlangenfrau Min-Liu Sanfu aus dem fernen China.

Und Anisa. Vor allem und über allen Anisa, sein größter Schatz. Wo war sie nur? Was war ihr zugestoßen? Und wo sollte er noch suchen?

Matéos Gedanken wirbelten karussellgleich durch seinen Kopf. Was, wenn sie wirklich aus freien Stücken fortgegangen war? Wenn sie sich versteckte, weil sie nicht gefunden werden wollte, nicht von ihm? Anisa hätte immer mehr haben können … was, wenn sie es nun wollte?

Nein … das hätte sie nicht … nie …

Matéos Gedanken überschlugen sich, seine Schritte wurden fahriger, unsicher. Bald fiel er, stand wieder auf, rannte weiter. Suchte an allen Orten, die er kannte und überall sonst, bis er nicht mehr konnte.

Erschöpft ließ Matéo sich auf den Boden sinken. Längst wusste er nicht mehr, wo er sich befand, er hätte auch schon aus der Stadt herausgelaufen sein können, ohne es zu bemerken, aber das, so wusste er, war nicht geschehen. Dafür war die Stadt zu groß und seine Schritte, so viele es auch gewesen waren, immer noch zu klein. Es gab noch hunderte Straßen, in denen er nicht gewesen war, hunderte Häuser, hunderte Kanäle, in denen man …

Er schüttelte den schrecklichen Gedanken ab und zog seine Taschenuhr aus dem Jackett. Es war schon nach Mittag. So viele Stunden waren vergangen, ohne dass er es bemerkt hatte. Seit es keine Nacht mehr gab, vergaß man die Zeit, ebenso wie man sie vergessen hatte, als es keinen Tag gegeben hatte.

Hatten die beiden Männer mit der Zeitung ihm einen Grund genannt, dass die Nacht nicht kam?

Nein, glaubte er, ohne sicher zu sein. Ihm war schwindelig, er fühlte Hunger und Durst. Anisa. Der Name trieb ihn zurück auf die Füße, ließ ihn weiterrennen, weitersuchen, weiter hoffen.

Am späten Nachmittag schrieben die Zeitungen auch über Anisas Verschwinden. Vielleicht hatten die Männer es den richtigen Leuten erzählt, vielleicht war auch der Polizei nur aufgefallen, dass da noch jemand gewesen war. Matéo las es, als er sich kurz auf einer kleinen Bank ausruhen musste.

Er wusste, dass die gedruckten Buchstaben ihm nichts Neues erzählen würden, aber sie machten Anisas Verschwinden nochmals wirklicher, und Matéo konnte die Tränen nur vertreiben, indem er apathisch den Rest der Zeitung durchblätterte. Schnell und hastig raschelten die großen Seiten unter seinen Händen, bis sein Blick an einem kleinen Artikel hängenblieb:

BERÜHMTER MAGIER BEGEHT SELBSTMORD

-ven- Der berühmte Zauberer Antonio DiMarci, bekannt durch seine immer realistisch wirkenden Illusionen, hat den Informationen dieser Zeitung nach in der Nacht von Montag auf Dienstag Selbstmord begangen. Zeugenaussagen zufolge hat der Magier sich während des Gewitters am Abend in die Lagune gestürzt. Seine Leiche wurde bislang nicht gefunden. DiMarci war 34 Jahre alt. Nähere Umstände zu seinem Freitod sind bislang nicht bekannt. Ein Abschiedsbrief liegt nach Angaben der ermittelnden Beamten nicht vor.---

Für den Bruchteil einer Sekunde war Matéo fassungslos. Der große DiMarci sollte tot sein? Kopfschüttelnd las er die kurze Meldung ein weiteres Mal. Es musste sich um eine Falschmeldung handeln, ja, anders war es nicht zu erklären. Wenn Antonio DiMarci, der einzig wahre Zauberer der Welt, dessen Tricks keine Illusionen, sondern wahre Magie gewesen waren, die er nur als Trick und Spuk getarnt hatte, gestorben wäre, dann würde es die Titelseiten sämtlicher Zeitungen füllen. Seitenweise würde man über das Leben des immer so rätselhaft gebliebenen Menschen berichten, den Matéo und Anisa einmal auf der Bühne hatten sehen dürfen.

Oder lag es vielleicht daran, dass es in den letzten Jahren still geworden war um den großen Zauberer? Dass er wie er sein Heil auf der Straße gesucht, die großen Bühnen der Welt gegen Pflaster und Asphalt eingetauscht hatte? Mit einem Kaninchen, ganz wie er selbst.

Matéo hatte damals in seiner Vorstellung die wahre Magie hinter den Illusionen sofort erkannt, und er, DiMarci hatte seinerseits gespürt, dass da im Publikum jemand gewesen war, der es gesehen hatte. Mit einem Lächeln hatte er seinen Zylinder gelüftet und sich ganz am Ende der Vorstellung in Rauch aufgelöst, begleitet von tosendem Applaus.

Nein, beschloss Matéo, es musste sich um einen Irrtum handeln. Kopfschüttelnd steckte er die Zeitung zusammengefaltet in die Außentasche seiner Jacke und schon bald eilte er wieder durch die Stadt, Straße um Straße, Gasse um Gasse, auf der Suche nach Anisa. Er fragte Passant um Passant, aber niemand wusste etwas, die meisten keiften ihn nur gereizt an oder schubsten ihn gar unsanft beiseite.

Matéo wusste, woran es lag. Den Leuten fehlte die Dunkelheit. So wie ihnen zuvor in der langen Phase der Nacht das Licht gefehlt hatte. Die Menschen brauchten beides, auch wenn sie es sich vielleicht nicht eingestehen mochten.

Es war der siebte Tag, an dem es hell war und mehr als sonst drohte die Stadt, in Traurigkeit zu ertrinken, doch bald würde man davon nichts mehr sehen, wenn alles von den Masken verschleiert würde, die schon hier und da zum Vorschein kamen.

Würde es morgen wieder dunkel werden, wenn die Nacht erwachen müsste?

Als ihn ein Mann so grob stieß, dass er fiel, floh er von den überfüllten Straßen und suchte abermals in verlassenen Palazzos und den tiefen Schatten der Brücken, bis er erneut den Markusplatz und mit ihm das Ufer der Lagune erreichte, dort, wo die schwarzen Gondeln zu Schlafen geruhten. Es war seltsam, sie in dieser diffusen Helligkeit reglos zu sehen. Traurig starrte er in den Himmel, der langsam hätte dunkel werden müssen, aber auch heute schneeweiß geblieben war. Schon wollte er den Blick wieder abwenden, da fiel ihm etwas ins Auge, das er in keiner der hellen Nächte zuvor bemerkt hatte, vielleicht, weil Anisa da gewesen war, vielleicht auch einfach nur, weil man Dinge nicht wahrnahm, wenn sie alltäglich waren: Sieben Sterne standen an einem sonst leeren Firmament, und sah man den hellen Himmel nicht genau an, verschwand ihr Licht in der Helligkeit der Umgebung.

Vielleicht, so überlegte Matéo kurz, war dies genau die Stelle, an der DiMarci Tage zuvor gestanden hatte. Wütend starrte er hinaus aufs Wasser. In der Ferne sah er die Lichter der anderen Inseln. Am liebsten hätte er die sanft plätschernden Wellen angeschrien, ihm Anisa wiederzugeben, doch glaubte er nicht daran, dass die Lagune sie überhaupt hatte. Nicht die Lagune und auch nicht die Kanäle, die von ihr gespeist wurden.

Und trotzdem klang das Rauschen der Wellen für ihn wie hämisches Lachen. Vor Wut trat er gegen einen Stein, den es gar nicht gab. Vielleicht sollte er dem Beispiel DiMarcis folgen und sich einfach in die Fluten stürzen? Was war die Welt ohne Anisa?

Ehe er sich selbst die einzig logische Antwort auf diese Fragen geben konnte, blieb sein Blick an einem glitzernden Punkt vor ihm im Wasser haften, genau dort, wo die Wellen sanft gegen die erste Gondel der Reihe plätscherten. Matéo sah genauer hin. Da, wo Gondel und Meer sich aus ihrer immerwährenden Umarmung lösten, schwamm eine silberne Kugel im Wasser. Er konnte nicht erkennen, woraus sie gemacht war, aber das war ihm auch vollkommen gleich. Das Einzige, was Matéo in diesem Moment wusste, war, dass er sie haben musste. Dass sie die einzige Spur war, die er all die Tage und Stunden gesucht hatte.

Mit einem Satz stand er in der Gondel, die bedenklich wankte, so dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Er fing sich ab und beugte sich über die Reling der Gondel, um nach der Kugel zu greifen, die von den schwappenden Wellen der Gondel schon ein Stück davongetrieben worden war. So erwischte Matéo sie gerade noch, ohne selbst ins Wasser zu fallen.

Die Kugel war kalt und nass und um ein Vielfaches schwerer als erwartet. Dass sie trotzdem nicht versunken war, hätte wohl selbst einem Laien gesagt, dass ihr eine gewisse Magie innewohnte. Wieder kam Matéo der Artikel über den Freitod DiMarcis in den Sinn und auch die schon beinahe in Vergessenheit geratene Frage, ob der Magier nicht die Schuld an allem trug. Doch wie könnte er? Niemand war mächtig genug, Tag und Nacht vom Himmel zu reißen. Nur ein Zufall, nichts weiter.

Vielleicht war die Kugel der Talisman DiMarcis gewesen. Oder ein Bühnenaccessoire. Oder auch nichts dergleichen. Wahrscheinlicher war, dass es nichts als Strandgut war. Verloren, weggeworfen, angeschwemmt.

Dennoch betrachtete Matéo die Kugel eingehender. Die eine Seite war glänzend silbern, die andere dunkel und angelaufen – vom Wasser, vermutete er. Sonst gab es nichts an ihr, was erwähnenswert wäre, keine versteckten Mechanismen und keinen Zauber, der Verborgenes sichtbar machte. Die Kugel war nichts weiter als eine Kugel, murmelgroß und schwer. Ein verlorenes Kinderspielzeug, nicht mehr.

Nichts an ihr deutete auf Anisa hin, und als Matéo sie so in den Händen hielt, fragte er sich, wie er so dumm hatte sein können, erneut zu hoffen. Für einen kurzen Augenblick sah er die Kugel an, nicht sicher, ob er sie ins Wasser zurückwerfen oder behalten sollte. Dann steckte er sie in seine Hosentasche. Vielleicht war sie ja wenigstens ein hübscher Glücksbringer. Oder ein Geschenk für Anisa, wenn er sie gefunden hatte.

Unentschlossen blickte er wieder aufs Meer hinaus und hoffte, dass ihm die Wellen vielleicht den Weg weisen würden. Aber die Wellen schwiegen. Seufzend wandte Matéo sich ab. Der Markusplatz lag völlig menschenleer da. Selbst die Tauben, die sonst in Heerscharen den Platz bevölkerten, hatten sich auf die Dächer der Stadt verteilt. Müde machte er sich daran, wieder von der Gondel an Land zu klettern.

Gerade, als er es geschafft hatte und sich entmutigt aufrichtete, fiel sein Blick auf eine Gestalt, die unter den weißen Marmorbögen des Dogenpalastes stand und ihn ansah. Es war eine jener kostümierten Gestalten, die es bald zuhauf in den Straßen der Stadt geben würde, doch hatte Matéo nie ein solches Kostüm gesehen. Die Gestalt, die dort in den Schatten stand, war ein Einhorn. Gehüllt in ein vollkommen weißes Kleid, das noch heller strahlte als das Weiß des Himmels, stand sie da. Grazile Arme ließen auf eine Frau schließen, aber sicher war Matéo sich nicht, denn das Gesicht war von einer weißen Maske verhüllt, deren einziger Farbtupfer schwarz angemalte Lippen waren, die wie ein Spiegelbild der dunklen, in den Schatten der Maske liegenden Augen wirkten. Das Haar war unter einem Geschmeide aus Federn, Pailletten und silbernen Stickereien verborgen, aus deren Mitte genau an der Stirn ein Horn entsprang, so lang wie ein Arm, in sich gedreht und silbern glänzend.

Eine ganze Weile stand Matéo wie festgewachsen da, unfähig etwas anderes zu tun, als dieses Geschöpf anzusehen, das für ihn so wirklich wurde wie das Meer in seinem Rücken.

Bald meinte er, an der Spitze des Horns ein Leuchten zu sehen und plötzlich war da eine Stimme in seinem Kopf, die ihm zuraunte, er möge einfach nach Hause gehen. Verwirrt sah er das Einhorn an, dessen Kopf sich zu einem leichten Nicken neigte. Und Matéo, über den sich plötzlich eine bleierne Müdigkeit legte, folgte diesem Rat. Das Einhorn verschwand in den Schatten.

Später konnte er nicht mehr sagen, wie er in die kleine Wohnung gekommen war, welche Straßen und Wege er genommen hatte, über welche Brücken er gekommen war und ob ihm Menschen begegnet waren oder nicht. Er war plötzlich einfach zu Hause gewesen, und Jordí war auf seinen Schoß gesprungen. Eine Weile streichelte Matéo das kleine Tier und erzählte ihm von der Suche.

»Gleich suche ich weiter«, flüsterte er, Versprechen und Zauberformel zugleich, um nicht die Hoffnung aufzugeben.

Als er Jordí jedoch von seinen Beinen schieben wollte, krallte das Kaninchen sich fest. Erstaunt betrachtete Matéo das Tier. Normalerweise sprang es in solchen Fällen einfach zur Seite. Beherzt hob er Jordí hoch und hielt das Tier mit dem Gesicht vor seine Nase.

»Was ist los, mein Kleiner? Darf ich nicht eher gehen, als dass ich dir eine Möhre und vielleicht etwas hartes Brot gegeben habe?«

Jordí sah ihn nur an und fing aufgrund der unangenehmen Haltung an, zu zappeln. Matéo setzte ihn auf den Boden, stand auf, holte die versprochenen Kaninchenköstlichkeiten und ging anschließend ins Bad, um sich den Staub des vergangenen Tages gründlich abzuwaschen und einen frischen Anzug anzuziehen, der ebenso grau war wie jeder seiner Anzüge.

Der Spiegel zeigte ihm tiefe Ringe unter seinen Augen und wenn möglich, war er noch eine Spur blasser als sonst. Mir fehlt nur der Schlaf, versuchte er sich aufzumuntern, aber die Wahrheit ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Es war Anisa, die ihm fehlte. Nichts sonst.

Bei seiner Rückkehr in den Wohnraum saß Jordí vor der Haustür. Irritiert zog Matéo eine Augenbraue nach oben. Was war nur mit dem Tier los? Möhre und Brot waren angeknabbert. Hunger konnte das Kaninchen also nicht haben. Durst? Nein, die Wasserschale war gut gefüllt und frisch. Ob ihm anderweitig etwas fehlte?

Mit einem Seufzen ging Matéo in die Hocke und streichelte dem Kaninchen über die Ohren, während er es mit kritischem Blick prüfte. Nein, krank war Jordí auch nicht. Die Augen glänzten wie immer, die Nase wippte fröhlich auf und ab. Nur als Matéo das Tier zur Seite schieben wollte, um die Tür zu öffnen, wich es wie zuvor auf seinem Schoß keinen Millimeter; im Gegenteil – es schnappte sogar noch nach ihm, als er es erneut hochheben wollte.

Fluchend zog Matéo die Hand zurück und herrschte das Kaninchen an: »Bist du übergeschnappt?!«

Erschrocken aufgrund der plötzlichen Lautstärke legte das Kaninchen die Ohren an und machte sich ganz klein. Sofort tat Matéo der Ausbruch leid. Vielleicht fehlte auch Jordí nur die Nacht, oder Anisa, so wie ihm. Wer wusste schon, was in Kaninchenköpfen vorging?

Matéo jedenfalls fasste in dieser Sekunde einen Entschluss. Er würde Jordí mit auf die Suche nach Anisa nehmen. Nicht nur wegen des merkwürdigen Verhaltens des Tieres. Sollten ihn die Leute doch für verrückt halten, weil er mit einem grau-weißen Kaninchen durch die Stadt rannte – wenn sie es in den hellen Stunden dieser Tage überhaupt bemerkten. Aber wer wusste schon, ob er am nächsten Morgen in die kleine Wohnung zurückkehren würde?

Was sollte er noch hier?

Er würde Jordí einfach in den kleinen Korb setzen, in dem Anisa ihn immer transportierte, wenn es zu Vorstellungen ging. Gesagt, getan, und als hätte Jordí seinen Entschluss vernommen, sprang er in den Korb, noch ehe dieser den Boden vor ihm berührt hatte.

Matéo lächelte, als er auf die Straße hinaus trat. Es war längst später Abend, auch wenn der Himmel immer noch unverändert hell war. Die Luft roch nach Schnee und dem salzigen Wasser der Kanäle. Es fühlte sich richtig an, Jordí bei sich zu haben.

»Wohin?«, fragte er das Kaninchen.

Jordí aber wackelte lediglich mit der Nase. Nicht, dass Matéo etwas anderes erwartet hatte. Es tat einfach gut, nicht allein zu sein.

Frohen Mutes lief Matéo mit dem Kaninchen in seinem offenen Korb über den linken Arm gehangen die Gasse entlang, bis er nicht weiter wusste und an einer kleinen Kreuzung innehielt.

Die Ahnung, dass etwas anders war an diesem Tag, ließ ihn nicht los, aber wie im Moment des Aufwachens ließ es sich kaum näher definieren als mit einem Gefühl der Fremde, das ihn umklammerte. So, als wäre er nie zuvor durch die Stadt gelaufen, als wären ihm all die Straßen, Gassen und Plätze vollkommen unbekannt. Dabei waren ihm die Namen, die er auf den Straßenschildern las, durchaus vertraut.

Soeben wollte er aufs Geratewohl nach links über eine kleine Brücke laufen, da machte Jordí einen Satz und sprang aus dem Korb geradewegs in eine kleine Gasse zu ihrer rechten. Erschrocken eilte Matéo hinterher und griff just in der Sekunde nach dem Kaninchen, als es sich an einem Schneeglöckchen gütlich tun wollte, das aus einer Ritze zwischen zwei Steinen hervorschaute.

Mit einem überraschten Keuchen ließ Matéo Jordí los und ehe er sich versah, war die kleine Blüte mitsamt Stängel und Blatt unter der stetig wippenden Kaninchennase verschwunden, so dass Matéo nicht sicher war, die Blume wirklich gesehen zu haben. Denn nach allen Maßstäben der Vernunft war es unmöglich. Schneeglöckchen wuchsen nicht einfach auf den Straßen und Gassen der Stadt der Stäbe. Aber als sein Blick an Jordí vorbei wanderte, sah er einige Meter weiter eine weitere weiße Blüte aus dem Pflaster der Straße aufragen, und dicht dahinter noch eine. Er konnte das Kaninchen gerade noch festhalten, bevor es in Anbetracht des nächsten Leckerbissens weiterhoppeln wollte.

»Nein, mein Lieber«, flüsterte er Jordí zu und erhob sich mühsam, ohne auf das zappelnde Tier in seinen Armen Rücksicht zu nehmen. Mal abgesehen davon, dass die Schneeglöckchen so unwirklich schienen, wusste Matéo nicht, ob sie nicht auch giftig für das Kaninchen sein könnten.

Noch einen winzigen Augenblick zögerte Matéo, immer noch nicht sicher, ob ihm sein müder Geist nicht nur einen Streich spielte, dann aber folgte er der Spur aus Schneeglöckchen, die sich über die drei Blüten, die er entdeckt hatte, ausweiteten und ihm die Richtung zu weisen schienen – mal einzeln, aus schmalen Ritzen im Asphalt wachsend, mal als dichte Büschel, wann immer sich der Platz dazu bot. Die Schneeglöckchen wuchsen in Schlaglöchern, an Brückenrändern, selbst in den Fugen zwischen den Wegplatten, immer aber den Gesetzmäßigkeiten einer Straße folgend. Wie eine Spur, die jemand gelegt hatte, wissend, dass ein anderer sie finden und verstehen würde.

Natürlich konnte Matéo nicht wissen, ob die Spur für ihn gedacht war, doch Schneeglöckchen waren Anisas Lieblingsblumen, und so folgte er den weißen Blüten einfach, angetrieben von der stummen Verzweiflung, nichts anderes mehr tun zu können.

Jordí saß wieder still in seinem Korb und schien seinen Appetit auf Schneeglöckchen vergessen zu haben. Anfangs zählte Matéo die Blumen noch, aber irgendwann gab er es auf und folgte ihnen einfach. Bald schon hatte er jedes Zeitgefühl verloren, und nicht lange danach wusste er nicht mehr, wo er war. Immer noch aber sagte ihm etwas, dass er richtig war.

Die Spur aus Schneeglöckchen endete an einer Stelle, wo der Fluss aus Pflastersteinen in ein Meer mündete, das sich als Platz vor ihm ausbreitete, auf dem ein kleiner Zirkus stand, dessen Zelt kaum aus dem Kreis der Wohnwagen und Buden herausragte.

Laylaluna stand in verschnörkelten Lettern über dem schmiedeeisernen Tor, das einladend offen stand und so eine Lücke in dem rund angelegten Zirkuszaun schuf.

Lichterketten verbanden den Zaun mit der Spitze des Zirkuszeltes und sorgten so für den Eindruck eines Sternenhimmels, der bei Nacht strahlend schön sein musste. So, im papierweißen Licht dieser Tage, verlor das Licht seine Wirkung und Matéo war es bald satt, den leuchtenden Bahnen über sich seine Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen schaute er durch das Tor, hinter dem ein kleines Kassenhäuschen stand, dessen Insasse in gelbes Licht getaucht war, das wie die Lichterketten in der seltsamen Helligkeit des Himmels fast unterging.

Unschlüssig blieb Matéo mit Jordí vor dem Tor stehen, genau dort, wo das letzte Schneeglöckchen wuchs. Er hatte nicht gewusst, dass ein Zirkus in der Stadt gastierte. Nirgends war ihm ein Plakat ins Auge gefallen, nie hatte er die letzten Tage das aufgeregte Getuschel gehört, das sonst von einem solchen Geschehnis berichtete. Oder hatte er auf der Suche nach Anisa schlichtweg alle Zeichen übersehen?

Anisa. Der Name trieb ihm die Tränen in die Augen und beinahe hätte er dem Zirkus wieder den Rücken zugekehrt, da erblickten seine müden Augen ein weiteres Schneeglöckchen, direkt vor dem schmalen Kassenhäuschen. Damit – das war Matéo klar, ohne dass er noch einen weiteren Gedanken daran hätte verschwenden müssen – war die Entscheidung gefallen. Er würde den Zirkus betreten, würde sich eine Karte kaufen und abwarten, weswegen ihn die Schneeglöckchen hierher gelockt hatten.

Er trat unter dem Bogen hindurch, der die Welt vom Zirkus abgrenzte oder umgekehrt, je nachdem, von welcher Warte man es betrachten mochte. Warum er die Schritte zählte, die er bis zu dem kleinen Kassenhäuschen brauchte, konnte er nicht sagen, aber als er in den Lichtschein der kleinen Lampe trat, die über dem Mann hing, der darin saß, hatte er es getan. Es waren genau neunundvierzig.

Der Mann, der hinter der Glasscheibe saß, war groß und berührte mit den Schultern beinahe die Seitenwände des kleinen Häuschens, und auch hinter ihm war kaum mehr eine Handbreit Platz. Selbst sein Kopf stieß beinahe gegen die an sich hohe Decke. Überhaupt wirkte alles an dem Mann irgendwie zu lang, sein ovales Gesicht, das von langen, schwarzen Haaren umrahmt wurde, der schlaksige Körper, der ab dem Bauchnabel hinter einer Tischplatte verschwand und die langen Arme, die er dicht an sich gepresst hielt, als wären sie ihm sonst nur im Weg. Braune Augen, die tief in den Augenhöhlen lagen, verbargen sich hinter einer Brille mit schmalem, silbernem Rahmen, die Matéo ein wenig an seine eigene erinnerte, und gaben dem Mann das kauzige Aussehen einer Eule. Etwas an ihm kam Matéo vertraut vor, doch konnte er nicht sagen, was es war. Es war das diffuse Gefühl eines unmöglichen Einander-Kennens, nicht mehr, nicht weniger.

Der Fremde seinerseits sah ihn unverhohlen neugierig an und Matéo frage sich, welchen Eindruck er wohl auf ihn machte. Die Glasscheibe, die sie voneinander trennte, malte nur ein verschwommenes Bild, aber Matéo ahnte sehr wohl, dass er verwirrt und mit Sicherheit auch verloren aussah.

Der Mann hinter der Scheibe sprach kein Wort.

»Ich hätte gerne eine Karte«, sagte Matéo mit kratziger Stimme, als das Schweigen ihm unangenehm wurde. Er wiederholte seine Bitte, als der Mann keine Anstalten machte, irgendetwas zu tun. Wieder geschah zunächst gar nichts und Matéo wollte schon gegen die Glasscheibe klopfen, um den Fremden aus seiner Starre zu wecken, da hob dieser einen seiner Arme, griff unter die Tischplatte, auf der nichts als eine kleine Kasse stand, in der sich, wie Matéo erkennen konnte, nicht ein einziges Geldstück befand. Als der Mann die Hand wieder hervorholte, hielt er eine Karte darin, die tiefdunkelblau war. Für eine Sekunde hob er die Karte an und drückte sie gegen seine Brust, genau dort, wo sein Herz war, dann drehte er sie um und schob sie unter der Glasscheibe hindurch. Matéo erkannte, dass ein wunderschön gemalter Stern darauf zu sehen war.

»Das ist der letzte Stern«, sagte der alte Mann mit brüchiger Stimme, und es dauerte, bis er seine Hand von der Karte nahm und nach den Münzen griff, die Matéo auf das Brett gelegt hatte. Sein letztes Geld. Klirrend fielen es in die leere Kasse, und mit jedem Klirren wurde es in dem kleinen Häuschen dunkler, bis der Mann in den Schatten verschwand.

Ein einzelner Tropfen fiel vom Himmel und landete mit einem Platschen auf dem Boden vor Matéo, der immer noch auf die Karte mit dem einzelnen Stern starrte. Jetzt aber sah er in den Himmel und weitere Tropfen fielen ihm ins Gesicht. Es war seltsam, Regen aus einem Himmel tropfen zu sehen, an dem es nicht eine einzelne Wolke gab, sondern nur weiß. Rasch steckte er die Karte in die Tasche seines Anzugs und drücke den Korb mit Jordí an sich, um das Kaninchen vor dem prasselnden Regen zu schützen.

Noch einmal sah er zu dem Kassenhäuschen, aber die Schatten darin waren undurchdringbar. Mit einem Schulterzucken wandte Matéo sich ab und betrachtete seine Umgebung. Neben dem Kassenhäuschen stand ein kleines Karussell, das seine besten Tage schon hinter sich hatte. Der Lack blätterte von den einstmals stolzen Karussellpferden ab und längst hatte das Gold, mit dem die sich um sich selbst drehenden Schalen verziert worden waren, seinen Glanz verloren. Rechts von ihm stand eine Bude mit Süßigkeiten, Schilder priesen türkischen Honig, gebrannte Mandeln, Paradiesäpfel und Zuckerwatte an und dahinter konnte Matéo einen Stand erkennen, an dem man Holzenten angeln konnte.

Die Stände, die darüber hinaus einen Kreis um die Wagen der Artisten bildeten, konnte er von seinem Standpunkt nicht einsehen und er beschloss, ihnen später einen Besuch abzustatten. Stattdessen ging er auf eine Lücke zwischen zwei der hellen, cremeweiß getünchten Wagen hindurch und stand bald vor dem sandgelben Zirkuszelt, das er erst jetzt so richtig sehen konnte. Es war beinahe quadratisch, vier gleichmäßig breite Zeltstoffbahnen stiegen senkrecht nach oben, knickten in einem rechten Winkel um und verliefen dann auf die Spitze zu, von der die Lichtergirlanden ihren Weg zum Zaun nahmen.

Der Eingang wurde von zwei Stangen flankiert, über denen ein Ausläufer des Zeltstoffes ein Vordach bildete. Alles an dem Zelt wirkte wie die Bilder eines Wüstenzeltes, das Matéo einmal auf einem Bild gesehen hatte. Auch die Wagen waren in der Farbe der Wüste gehalten, und es schien, als würden Fackeln in jedem von ihnen ihr flackerndes Licht verbreiten. Sonst war keine Bewegung auszumachen, nirgends. Matéo umrundete das ganze Zelt. Kein Mensch außer ihm war zu sehen, er konnte nur eine Frau hören, die irgendwo mit glasklarer Stimme ein wunderschönes Lied sang, das nach Träumen und Wundern klang.

Eine Weile lauschte er dem Lied, dann betrat er das Zelt, in dem fast alle aufgestellten Holzstühle besetzt waren. Verwundert suchte Matéo sich einen freien Platz. Dafür musste er sich durch eine Reihe schlängeln, doch niemand, dem er auf die Füße trat, sah ihn an oder beschwerte sich gar. Er wurde nicht einmal beachtet. Alle sahen nur erwartungsvoll auf die hell ausgeleuchtete Manege, deren weiß umrandetes Inneres mit Sand ausgefüllt war, gleich einer winzigen, kreisrunden Wüste.

Matéo nahm Platz, setzte Jordí auf seinen Schoß und kraulte das Kaninchen geistesabwesend, während er auf den Beginn der Vorstellung wartete.

Die Karte mit dem Stern steckte er in die Tasche, in der auch die silberne Kugel steckte.

Irgendwo schlug eine Uhr Mitternacht. Schlagartig erloschen die Lichter, so dass das Innere des sandfarbenen Zeltes in schummriges Zwielicht getaucht wurde. Um Matéo herum war es immer noch mucksmäuschenstill. Kein Geraschel von Stoff, kein Flüstern, nicht einmal ein Hüsteln. Nur das Lied der Frau klang noch an seine Ohren.

Unruhig rutschte Matéo auf seinem Stuhl hin und her. Er fühlte sich nicht wohl. Das Gefühl der Fremde stieg wieder in ihm auf. Nein, korrigierte er sich selbst, eigentlich hatte das Gefühl die ganze Zeit nicht von ihm abgelassen. Soviel war merkwürdig gewesen an diesem Tag, war es noch … dieser Zirkus …

Doch wieder blieb ihm keine Möglichkeit, den Gedanken nachzugehen, denn mit einem tosenden Rauschen schoss urplötzlich eine riesige Flamme durch die Manege. Geblendet hob Matéo einen Arm vor die Augen, nur um ihn im nächsten Augenblick wieder sinken zu lassen, und einen Mann in der Mitte der Manege stehen zu sehen, durch dessen Arme sieben brennende Fackeln tanzten, die er immer wieder durch die Luft wirbeln ließ. Doch wo Matéo bislang nur flammende Schlieren gesehen hatte, malte dieser Mann mithilfe der Fackeln Bilder in die Luft, ließ das Feuer eine Geschichte erzählen, die Matéo mit vor Staunen aufgerissenem Mund verfolgte. Er nahm nichts weiter mehr wahr, so dass er den Atem anhielt, als alle Flammen von jetzt auf gleich erloschen. Für mehrere Wimpernschläge blieb alles finster, ehe eine weitere Flamme aufflackerte, nur klein, nichts weiter als das Licht einer einzelnen Kerze. Es erhellte das Gesicht des Mannes, der die Feuer tanzen ließ und malte goldene Schatten auf die sonnengegerbte Haut des Feuerschluckers. Seine fast schwarzen Augen blitzten unheilvoll auf. Dann spitzte der Mann die Lippen und pustete. Die kleine Flamme flackerte, doch sie ging nicht aus. Im Gegenteil. Sie wuchs und wuchs und wurde immer größer, und jetzt konnte Matéo sehen, dass da nie eine Kerze gewesen war. Die Flamme hatte immer nur in der Luft getanzt, ohne irgendeine nährende Grundlage.

Matéo bekam den Mund vor lauter Staunen gar nicht mehr zu. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Immer noch wuchs die Flamme weiter, bis sie die ganze Manege auszufüllen schien. Das Feuer umwirbelte den Mann, der mit bloßem Oberkörper in der Mitte stand, die Arme erhoben wie ein Dirigent, der ein Orchester leiten wollte. Und tatsächlich begann das Meer der Flammen sich in einzelne Säulen zu trennen, die seinen Anweisungen folgten, jeder einzelnen, die er mit seinen Armen vorgab, einem Marionettenspieler gleich, der seine Figuren lenkte.