Das zerbrochene Mädchen - Fabienne Siegmund - E-Book

Das zerbrochene Mädchen E-Book

Fabienne Siegmund

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Beschreibung

Märchen für Erwachsene Ein Mädchen, dessen Herz in Abertausende von Federn zerbricht. Ein Illusionist, dem kein Trick mehr gelingt. Ein Moor, in dem es Jäger aus Licht und Schatten gibt. Mylady Muerte, die ihre Nebel auf Menschenjagd schickt. Ein Meer voller Seelen, zu dem die Dämmerkatz' führt. "Fabelwesen, Zauberer und märchenhafte Gefährten - Fabienne Siegmund bevölkert unsere Welt mit den Geschöpfen ihrer überbordenden Fantasie, und zeigt uns die Magie, die sich noch hinter den Fassaden alter Städte oder tief in unseren Herzen verbirgt." Oliver Plaschka

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Seitenzahl: 232

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Das zerbrochene Mädchenund andere Erzählungen

Fabienne Siegmund

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www.verlag-torsten-low.de

© 2013 by Verlag Torsten Low,

© 2011 by Verlag Torsten Low, Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen

Alle Rechte vorbehalten. Jede Art von Vervielfältigung, Kopie und Abdruck ist ausschließlich mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung verändert, reproduziert, bearbeitet oder aufgeführt werden.

Illustrationen und Titelbild: Regine Rost

Umschlaggestaltung: Chris Schlicht

Lektorat und Korrektorat: F. Low, M. Low

Satz: T. Low

ISBN der Druckausgabe: 978-3-940036-10-0

ISBN der EBookausgabe: 978-3-966291-02-6

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Londons Nebel

Das Orangenbäumchen

Lichtermeer

Die Seelenjagd

Zaubernächte

Das zerbrochene Mädchen

Danksagung

Die Autorin

Londons Nebel

Die Nebel von London konnten alles sein.

Liebe, die sich in Herzen schlich und die Sicht verschleierte. Furcht, die sich wie ein grauer Mantel um die Brust legte und die Luft zum Atmen raubte. Traurigkeit. Hass. Rettung. Verderben. Alles. Und vermischten sie sich mit dem Rauch, der aus den Schornsteinen in den Himmel stieg, konnten sie sogar Gestalt annehmen.

Jede Gestalt.

Weil Rauch und Nebel wie Wolken sind.

Sie konnten über die Dächer tanzen oder schattengleich durch die Gassen der Stadt an der Themse schleichen. Dann waren sie Jäger. Nahmen jemanden mit, einfach so.

Nie mehr tauchte dieser Jemand dann wieder auf.

Stella hatte gesehen, wie die Nebelgestalten Mary mitgenommen hatten. Direkt vor ihrer Nase war es gewesen, am Ufer der Themse, dicht bei der Tower Bridge. Sie hatten Verstecken und Fangen gespielt, obwohl sie für solche Spiele längst zu alt schienen. Aber manchmal kehrten sie zurück in die Tage ihrer Kindheit, in denen das Leben sehr viel einfacher gewesen war. Wie Urlaub war das, wie ein kleines Stück Sonnenschein im regenverhangenen Grau der Stadt.

Doch dann — ganz plötzlich — waren die Nebel aus den Wogen der Themse gekrochen. Zuerst hatten sie sich keine Gedanken gemacht. Das war London, und in London lebten die Nebel. Aber dann waren im Nebel andere Nebelgestalten aufgetaucht. Dunkler. Beinah schwarz, wie die dunkelsten Schatten bei Nacht.

Stella hatte Mary wegziehen wollen, aber gerade als sie nach der Hand ihrer besten Freundin hatte greifen wollen, waren da andere Hände, kleine Hände, die sie von ihr wegzogen. Marys Augen waren voller Unverständnis gewesen, doch ehe sie auch nur etwas rufen konnte, hatte eine der schwarzen Nebelrauchgestalten nach Mary und ihrem gepunkteten Regenschirm gegriffen und war mit ihr verschwunden. Auch alle anderen Nebelgestalten hatten sich dann in Luft aufgelöst. Am Ufer der Themse wogten nur noch die Nebel, die dort immer wogen — silberweiße Schleier.

Sie hatte schreien wollen, aber sie hatte es nicht tun können.

Kleine Hände hielten ihr den Mund zu. Kleine Hände, die sie nicht sehen konnte. Die Hände zogen sie fort, weg vom Ufer, hinein in die Straßen und Gassen der Stadt.

Die Häuser schienen zu flüstern. In London lebt alles.

Das Wasser der Themse.

Die Gassen der Boroughs.

Die Häuser.

Stella hörte nicht hin. Sie dachte nur an Mary.

Ein Teil von ihr wünschte, sie könnte zurücklaufen, Mary und den Nebelrauchgestalten folgen, aber sie wusste, dass das nicht gehen würde.

Die kleinen Hände hielten sie sehr fest. Versuchten, sie zu beschützen. Hatten es immer schon getan. Warum nur hatten sie nicht auch Mary beschützt?

Stella kannte die Antwort. Nur sie wurde von den Pixies beschützt, niemand sonst. Weil niemand sonst als Kind vom Koboldkönig geküsst worden war.

Der Koboldkönig hatte seine Prinzessin unter den Menschen gewählt, ein Mädchen, das stets unter dem Schutz der kleinen Elfenwesen stehen – und das seinerseits die Elfenwesen schützen sollte.

Stella kannte es nicht anders, also hatte sie sich diesem Schicksal gefügt. Auch wenn sie nicht viel zu tun hatte. Die Pixies, Brownies und Boggharts hatten gelernt, sich zu verbergen.

Selbst vor Stella.

Aber sie waren stets da, wenn sie in Not war. So wie heute, als die Nebel als Jäger kamen.

Irgendwann, Stella hatte nicht mitbekommen, wohin die kleinen Kobolde sie geführt hatten, hielten sie an. Sie musterte die Umgebung. Ein Park. Wahrscheinlich der Hyde Park. Hier trafen sich die unsichtbaren Wesen Londons, tanzten ihre nächtlichen Tänze und erholten sich vom Spuk der Welt. Sonst war Stella immer glücklich, wenn die Pixies sie in ihre Mitte einluden. Sie sang mit ihnen, lachte und tanzte. Aber nicht heute. Mary war fort. Und mit ihr, das spürte Stella, auch ihre Lieder. Was war die Welt ohne eine beste Freundin?

Die kleinen Hände ließen sie los, und wenige Sekunden später standen die Pixies vor ihr im Gras. Die grüngekleideten, schmalgliedrigen Kobolde mit den spitzen Ohren und den braunen Hüten reichten ihr gerade bis an die Knie. Ihre Flügel, fein wie die von Libellen, zuckten aufgeregt, aber keiner von ihnen flog. Stella erkannte sie alle. Sie hatten ihr manches Mal Streiche gespielt. Ihren Teddy versteckt. Ihre Haare am Bett festgeknotet. Socken vertauscht. So waren die Pixies. Stella war oft wütend auf sie gewesen, aber nie sehr lange. Denn die Pixies hatten ihr immer geholfen. »Die Nebel jagen«, flüsterten sie ihr jetzt mit ihren seltsam schrillen und keckernden Stimmen zu. »Du darfst nicht in die Nebel gehen«, fügten sie hinzu und sahen sich um, als wollten sie sicher gehen, dass kein Nebel sich nach dem Hyde Park verirrt hatte. »Ich muss Mary retten«, sagte Stella nur. Die Pixies sogen die Luft ein und schüttelten die Köpfe. »Sie ist verloren«, keckerten sie traurig, »sie ist verloren. Du darfst nicht verloren gehen. Du nicht.« Sie griffen erneut mit ihren kleinen Händen nach Stellas Armen, aber das Mädchen riss sich los und rannte fort, zwischen die Bäume. Sie wusste, dass die Pixies ihr folgen würden. Unsichtbare Wächter und Begleiter, das waren sie alle Zeit. Unter einer alten Eiche kam sie zur Ruhe. Nie hatte sie eine der Dryaden getroffen, die in ihren Stämmen lebten, aber sie spürte sie, hörte die leisen, tröstenden Lieder, und ihre Blätter raschelten. Eine Stimme schreckte sie auf. Kalt klang sie, nett und traurig. Als Stella aufsah, blickte sie in die rotgeweinten Augen einer Banshee. Sie hätte sich erschrecken müssen, aber sie tat es nicht. Zu oft schon hatte sie eine Banshee weinen sehen. Nie war ihr etwas geschehen. Sie war die Koboldprinzessin. Erst, wenn sie das Lied, das die Todesfee sang, hören würde, dann würde sie sterben.

»Ich habe für Mary gesungen«, sagte die Banshee leise. Es klang, als wären ihre Worte der Wind, der über Gräber strich.

Stella sah sie fassungslos an.

Die Banshee ließ den Kopf hängen. »Ich musste es tun. Mylady Muerte hat ihre Rauchnebel ausgesandt.«

»Mylady Muerte?« Auch Stellas Stimme war nicht mehr als ein Wispern.

Die Banshee nickte. »Sie geht durch die Städte der Welt. Ihre Nebel sammeln die Seelen ein. Hier in London ist sie zu Haus.«

»Sie hat Mary«, stellte Stella fest.

Wieder ein Nicken der bleichen Frau mit dem Haar, das ebenso weiß wie ihre Kleidung war.

»Dann muss ich zu ihr. Ich muss Mary befreien«, wiederholte Stella, was sie auch schon zu den Kobolden gesagt hatte.

Die rotgeweinten Augen der Banshee sahen sie schreckerfüllt an. »Das geht nicht. Niemand geht zu Mylady Muerte, den sie nicht ruft. Und wen sie ruft, der ist tot.«

Stella schüttelte den Kopf. »Nein! Ich werde Mary retten.«

Und dann rannte sie wieder fort, wie sie auch zuvor von den Pixies fortgerannt war.

Niemand sollte sie aufhalten.

Sie wusste, dass es dumm war wegzulaufen. Niemand war da, der ihr helfen konnte bei der Suche nach Mary und jener Mylady Muerte, deren Nebel sie geholt hatten.

Nur die Pixies waren da, ganz nah. Manchmal konnte Stella den Glanz ihres Feenstaubes in der Luft flirren sehen.

Irgendwann wurden ihre Schritte langsamer. Wieder wusste sie nicht, wo sie war. Aber dass sie nicht allein war, das spürte sie mit einem Male. Nicht die Pixies waren es.

Etwas anderes.

Sie ging vorsichtig um die nächste Straßenecke.

Ein Pferd stand dort. Weiß wie Schnee, sein Hals glitzerte wie die Schuppen eines Fisches.

Ein Kelpie.

Diesen Wesen konnte man niemals trauen. Rasch überlegte Stella, was sie tun sollte. Umkehren? Mary und sie waren niemals umgekehrt.

An ihm vorbeilaufen, so schnell es eben ging? Der Wassergeist wäre schneller als sie, würde sie auf seinen Rücken werfen und mit ihr in die Themse reiten. Oder in ein anderes Gewässer. Dann aber, gerade als sie sich entschieden hatte, zum ersten Mal umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen, hörte sie eine leise Stimme, die sie zurückrief.

»Sternchen!« Sie hielt abrupt inne. Nur McWhistle, der alte Brownie nannte sie so. Seine milde Stimme war aus der Richtung des Kelpies gekommen. Sie sah das Pferd genauer an, trat sogar einige vorsichtige Schritte auf ihn zu.

Ein Lächeln stahl sich über ihre Lippen. Der Kelpie trug ein Zügel. Ein schlichtes, weißes Seil war es. Stella erkannte, dass es aus Spinnweben geflochten war.

Wer einem Kelpie einen Zügel anlegte, war sein Herr und Meister, bis er das Zaumzeug verlor. Der Kopf des Brownies tauchte hinter der zotteligen Mähne des Kelpie auf und grinste sie an.

McWhistle war ebenso wie die Pixies immer da gewesen. Hatte sie getröstet, als ihre Mutter gestorben war, ihr geholfen, wenn sie mit dem Haus nicht zurechtkam, das viel zu oft leer stand, weil ihr Vater selten da war. Ihr Vater liebte sie nicht, das wusste sie. Raschen Schrittes lief Stella auf den Brownie zu.

»McWhistle!« Der freundliche Hausgeist, der noch ein gutes Stück kleiner war als die Pixies, lächelte sie an. »Manchmal muss man sich einen Kelpie schnappen«, sagte er, als er Stellas fragenden Blick bemerkte. »Sie sind schnell. Und wir haben nicht viel Zeit.«

»Ich muss Mary retten«, sagte Stella und McWhistle nickte. »Ich werde dich zum Kaminkönig bringen. Er wird wissen, wo Mylady Muerte zu suchen ist, er treibt Handel mit ihr.«

»Der Kaminkönig?« Nie zuvor hatte Stella diesen Namen gehört. Aber McWhistle antwortete nicht, sondern bedeutete ihr nur, auf den Rücken des Kelpies zu steigen und schon im nächsten Moment galoppierten sie durch Londons Straßen, die sie schon bald in ihrem unersättlichen Hunger verschluckten und sie erst an ihrem Ziel freigaben. McWhistle ließ Stella abspringen, dann raunte er ihr zu, sich in Sicherheit zu bringen und gerade als sie sich hinter einem Gebüsch in einem Vorgarten verborgen hatte, sprang auch der Brownie ab und ließ das Zügel los. Mit einem zornigen Wiehern schüttelte der Kelpie ihn ab und verschwand in der Nacht.

»Wir müssen aufs Dach«, sagte McWhistle und lief mit ihr auf das Haus zu, öffnete mit einem leisen Hauch von Magie die Tür und führte sie über Treppen und Leitern hinauf auf die Dächer von London, auf denen schon immer eine eigene Welt gewesen war. Little Eric hatte davon erzählt. Schornsteinfeger war er, und am Abend, wenn es auf den Dächern zu gefährlich geworden war, kam er stets zu Mary und ihr und erzählte ihnen die Geschichten, die die Vögel mitbrachten oder die Schornsteine wisperten. Geheimnisse aus allen Häusern trugen sie hinaus. Little Eric liebte Mary, das wusste Stella. Einzig, er hatte sich nie getraut, es ihr zu sagen. Mary war deswegen bekümmert gewesen, denn auch sie liebte den Jungen mit den rußigen Wangen. Allein wegen ihm musste sie Mary retten. Sie sollten glücklich sein. Doch Little Eric war jetzt nicht hier, jetzt war nur McWhistle bei ihr, der sie zum Kaminkönig bringen würde, wer immer das sein mochte. Der Brownie balancierte mit ihr über die Dachfirste, von denen sie Big Ben und St.Paul’s in der Ferne sehen konnte. Es sah so aus, als wären Nebel auf dem Weg von der Themse in die Stadt. McWhistle trieb sie zur Eile an und führte sie mit einem Sprung auf das nächste Dach. Stella hatte keine Angst zu fallen. Die Pixies würden sie fangen. Sie rannten weiter, die kleinen Stiefel des Hausgeistes klackerten, und Stella folgte ihm, bis sie vor einem Kamin standen, der höher in die Luft ragte als andere. Helle Rauchschwaden schlängelten sich lautlos in den nächtlichen Himmel.

»Hier können wir ihn treffen«, wisperte McWhistle. »Aber pass auf. Seine Hilfe ist nicht umsonst. War sie nie. Wird sie nie sein.« Stella nickte.

Was war schon umsonst?

»Ich muss Mary retten«, wiederholte sie und machte damit klar, dass ihr kein Preis zu hoch sein würde. McWhistle nickte und klopfte dreimal gegen den Schornstein. Zuerst passierte gar nichts, aber dann wandelte sich der Rauch. Schneller und schneller stieg er in immer dunkler und dichter werdenden Massen in den Himmel, doch er verzog und verschleierte sich nicht, wie Qualm es normalerweise zu tun pflegte. Er blieb, baute eine Gestalt ähnlich der, die auch Mary mit sich genommen hatte. Gerade, als die Angst in Stella aufsteigen wollte, trat aus dem Qualm ein Mann, dessen Haar und Augen so schwarz waren wie der Ruß, aus dem er gerade entstiegen war.

Wie Little Eric trug auch er die dunkle Kluft der Schornsteinfeger.

Er betrachtete den Brownie eingehend, als wolle er prüfen, wer es gewagt hatte, seine Ruhe zu stören. Dann erst sah er Stella an, hinter sich die Rauchschwaden aus den Kaminen der Stadt, die sich zu sammeln schienen.

»Was«, fragte er und die Worte klangen so heiser, wie der Rauch selbst schmeckte, »kann ich für dich tun, Prinzessin des Koboldkönigs?«

Nie zuvor hatte jemand sie so angesprochen. Stella brachte kein Wort hervor.

McWhistle war es, der ihm eine Antwort gab. »Zu Mylady Muerte wünschen wir zu gelangen.«

Der Kaminkönig mit seiner blassen Haut zog eine Augenbraue nach oben. »Ein Brownie will Mylady beehren?«

Der Hauskobold schüttelte schnell den Kopf. »Mitnichten, Sir, mitnichten. Stella – die Prinzessin«, verbesserte er sich, »ist auf der Suche nach ihr.«

Der Kaminkönig neigte den Kopf zur Seite. »Es gibt einfachere Wege für die Sterblichen, den Tod zu finden. Selbst für jene, die unter eurem Schutz stehen.«

»Ich will nicht sterben«, warf Stella ein. »Ich möchte nur Mary retten. Die Nebel haben sie mitgenommen. Ich will Mylady Muerte bitten, sie freizulassen.«

Über die Lippen des Kaminkönigs huschte ein Lächeln, das nach einem Wimpernschlag erstarb und sich in eine spöttische Miene wandelte. »Mylady Muerte gibt niemanden frei, den die Nebel zu ihr bringen. Ich weiß es, denn mein Rauch gibt dem Nebel die Gestalt, die er dafür braucht. Mein Rauch berichtet mir.«

Er machte eine ausladende Geste, die ganz London erfasste. »Ich weiß alles, was in den Häusern der Stadt geschieht. Der Qualm bringt es mir, und ich bringe meinen Qualm Mylady Muerte.«

»Warum tut Ihr das?«, fragte Stella, die nicht begreifen konnte, wie jemand dem Tod bei seinem Tun helfen konnte.

»Der Preis stimmt«, sagte der Kaminkönig nur, und als er Stellas zornfunkelnden Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Der Tod ist wichtig.«

»Nicht für Mary«, flüsterte Stella nur. »Nicht jetzt.«

»Es gibt nie ein Jetzt, das richtig ist«, meinte der Kaminkönig. Stella schwieg. Sie wusste, dass er Recht hatte. Sie blickte dem Kaminkönig fest in die Augen.

»So sei es. Ich werde dir den Weg zu Mylady Muerte weisen, auch wenn es unnütz sein wird. Niemals lässt sie gehen, was zu ihr gekommen ist. Nie.«

Stella dachte, dass man niemals nie sagen sollte.

Der Kaminkönig fuhr fort. »Aber du wirst keine Leistung von mir umsonst erhalten. Ich bin der Kaminkönig. Ich handle.«

Stella nickte.

»Ich werde dir erst sagen, was der Preis ist, wenn du eingewilligt hast. Dann gibt es kein Zurück mehr. Weder für dich, noch für mich.«

Stella nickte wieder. Reichte dem Kaminkönig die Hand. Der Handel wurde beschlossen. McWhistle wimmerte leise und angsterfüllt.

Der Kaminkönig lächelte erneut. Dann griff er in seine Tasche, aus der er eine Streichholzschachtel hervorholte. Er öffnete sie und sah hinein. Dann nickte er zufrieden und gab sie Stella.

»Diese drei Streichhölzer will ich dir geben. Das erste zeigt dir, wo Mylady Muerte ihren Sitz hat. Wo sie ist, sind die Nebelkinder, in denen die Seelen wohnen. Das zweite öffnet dir die Tür der Kamine. Durch die Kamine reist man am schnellsten, denn die Kamine führen überall hin, über die Grenzen der Häuser hinaus.«

Einen Moment zögerte er. »Das dritte bringt dich zurück, sollte es ein Zurück geben.«

Er sah sie an. »Nimm jemanden mit. Es ist nicht gut, allein zu gehen. Und kein Elfenwesen wird Mylady Muerte beehren können.«

Stella nahm die Schachtel und bedankte sich. Dann sah sie den Kaminkönig erwartungsvoll an. Er griff sich mit einer Hand an das Kinn und dachte nach, neigte den Kopf mal nach links und mal nach rechts.

»Du magst Lieder«, stellte er fest.

Stella dachte darüber nach. Als Mary noch da gewesen war, hatte sie immer gesungen. Doch mit Marys Verschwinden waren auch die Lieder fort.

»Ich habe sie gemocht«, sagte sie schließlich, aber der Kaminkönig schüttelte den Kopf.

»Du magst sie immer noch. Sie schweigen nur.« Er atmete tief durch, dann sagte er: »Sie sollen mein Lohn sein.«

Stella nickte und fragte sich, was das bedeuten würde. Sie wusste es, sobald sich der Kaminkönig mit einer Verbeugung von ihr verabschiedete und in der dichten Rauchwolke verschwand, die sich bald darauf auflöste.

McWhistle sah sie fragend an, und Stella wollte ihm sagen, dass alles in Ordnung sei, aber sie konnte nicht.

Der Kaminkönig hatte ihre Stimme genommen.

Erschrocken barg sie das Gesicht in den Händen und schluchzte lautlos, denn zum Weinen braucht man keine Stimme.

»Wir können Mary retten«, sagte McWhistle nach einer Weile tröstend, auch wenn seine Stimme von Traurigkeit erstickt wurde, und Stella folgte ihm hinab in die Straßen von London.

Sie musste jemanden finden, der mit ihr gehen würde.

Little Eric. Niemand sonst.

Sie fand den Schornsteinfeger am Ufer der Themse, nahe der Tower Bridge. Dort trafen sie sich immer.

Unterwegs hatte Stella darüber nachgedacht, wie sie ihm sagen sollte, dass Mary im Reich von Mylady Muerte gefangen wäre. Sie hatte keine Stimme, und selbst wenn sie eine gehabt hätte — zu seltsam würde klingen, was sie erzählen würde.

Nicht einmal Mary hatte sie etwas vom Kuss des Koboldkönigs erzählt. McWhistle war es, der ihr half, zumindest die Stimme wiederzufinden. Wenn auch auf ganz andere Weise. Er wühlte in einem Mülleimer und reichte ihr eine zerknitterte Ausgabe der Times. »Was immer du sagen willst, zeig es anhand der Buchstaben. Schreibe die Worte mit deinen Fingern.« Stella hatte ihm einen Kuss auf die kleine Nasenspitze gegeben und der Brownie war rot angelaufen.

Jetzt saß sie neben Little Eric auf einer Bank und erklärte ihm, was sie ihm erklären musste. Er sah sie ungläubig an, aber am Ende nickte er.

»Ich habe gespürt, dass etwas nicht stimmt«, meinte er. »Ich wusste nur nicht, was es war.«

»Du liebst sie«, baute Stella die Worte auf dem Zeitungspapier, indem ihr Zeigefinger von Buchstabe zu Buchstabe flog.

McWhistle saß auf ihrer Schulter. Unsichtbar. Er ging erst, als Little Eric sagte: »Zünde das erste Streichholz an. Wir müssen herausfinden, wo Mary ist.«

Hoffnungsvoll fragte Stella: »Du kommst mit?« Ihre Finger huschten immer sicherer über den Artikel, als hätten sie die Position der Buchstaben auswendig gelernt.

Little Eric nickte. »Ich liebe sie«, sagte er und Stella entzündete das erste Streichholz. Im Schein der flackernden Flamme erschien ein Bild.

»Dort also müssen wir hin«, dachte sie.

Der Kaminkönig hatte gesagt, das zweite Streichholz würde ihnen den Weg durch die Schornsteine eröffnen. Also mussten sie zurück auf die Dächer. Mit flinken Fingern sagte sie es Little Eric. Der lächelte, denn nichts war leichter für einen Schornsteinfeger, als einen Kamin zu finden.

Stella entzündete das zweite Streichholz auf den Dächern der Stadt. Neben ihr ragte St. Paul’s Kuppel in den Himmel. Sie hatte nach Little Erics Hand gegriffen, und als die zweite Flamme die Dunkelheit der Nacht wie ein kurzes Aufblitzen erhellte, war plötzlich alles anders und sie fühlte, wie sie von dem Dach hinfort gerissen wurde, in den Kamin hinein, neben dem sie gestanden hatten. Wie Rauch flogen sie durch Schwärze, nur ab und zu blitzen Lichter vorbei, ehe sie wieder verschwanden. Es ging hinauf, hinab, geradeaus und querbeet, und dann standen sie mit einem Male im Herzen des Ortes, den die Welt den Tower von London nannte.

Hier, so hatte das Zündholzflammenbild ihnen verraten, sollte Mylady Muerte zu finden sein.

Fast erwartete Stella, eine der Wachen in ihren schwarzroten Uniformen zu sehen, oder wenigstens einen der Kolkraben, die an diesem Ort seit langer Zeit gehalten wurden. Verließen die Raben den White Tower, so hieß es, würde das Königreich untergehen.

Doch nichts und niemand war zu sehen, nicht Rabe, nicht Wächter. Wie ausgestorben lag der Tower da.

Nur Little Eric stand neben ihr.

Und die Nebel waren plötzlich da. Graue Dunstschleier, aus denen sich hier und da ein Schemen zu bilden schien. Stimmen begannen zu flüstern, schienen von überall zu kommen. Stella und Little Eric sahen sich nervös um. Mit einem Male stellte Stella fest, dass selbst die Pixies fort waren. Was hieß, dass sie im Reich der Mylady Muerte sein mussten, weil die Pixies ihr dorthin nicht folgen konnten.

Stella sah sich um. Auch das Licht, das in den Innenhof des Towers fiel, war kein herkömmliches. Viel matter war es, als ob auch die Sonne vom Nebel verschleiert wäre, und fliederfarben.

Sie deutete Little Eric darauf hin. Der Schornsteinfeger sah blass aus. Und genauso ängstlich, wie auch Stella sich fühlte.

»Für mich ist der Himmel grün«, sagte er.

»Für jeden ist der Himmel hier so, wie man es sich wünscht«, erklang auf einmal eine Stimme hinter ihnen.

Erschrocken fuhren sie herum.

Die Frau, die dort stand, umgeben von eben jenen Kolkraben, die Stella schon vermisst hatte, konnte nur Mylady Muerte sein. Die Nebel, die eben noch gewispert hatten, schwiegen und verwandelten sich in schemenhafte Gestalten, die sie umringten. Stella sah Gesichter. Sie erkannte keines. Little Eric barg die Augen in den Händen. Er war es nicht gewohnt Dinge zu sehen, die es nach normalem Ermessen nicht geben konnte. Stella blickte Mylady Muerte entgegen. Wunderschön war sie. Schwarze Locken umrahmten ein blasses, ovales Gesicht, das denen von Porzellanpuppen glich, nur dass nichts ihre Wangen rötete. Ihre Augen waren durch und durch dunkelblau, sie hatte keine Iris, es tanzten nur goldene Punkte durch das Blau, als wären sie die Sterne in einer ewig währenden Nacht. Unwillkürlich verbeugte sich Stella. Die Frau, die ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid trug, das an der Taille von einer Korsage geschnürt war und am Rock durch einen Reif weit von ihrem Körper fiel, nickte leicht und trat dann einen Schritt zur Seite, woraufhin sie den Blick auf die Person freigab, die bislang hinter ihr verborgen war: Mary. Ohne weiter auf Mylady Muerte zu achten, stürzte Stella mit einem stummen Schrei auf den Lippen zu ihrer Freundin. Die beiden Mädchen umarmten sich mit Tränen in den Augen. Marys Stimme, die sie freudig begrüßt hatte, verstummte, als sie begriff, welches Opfer es der Freundin gekostet hatte, hierher zu kommen und sie erklang erneut, als sie Little Eric erkannte, der immer noch mit den Händen vor dem Gesicht da stand. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und griff dann mit der anderen Hand nach der seinen, als er sie hatte sinken lassen und auch sie sich in die Arme gefallen waren. So standen sie zu dritt da, umwoben von den Nebelgestalten, die immer wieder ihre Form verloren. Stella begriff, dass sie dafür den Rauch der Schornsteine brauchten. »Noch nie kam jemand zu mir, um die Seele eines anderen zu befreien«, sagte Mylady Muerte. Auf ihren Lippen lag ein leises Lächeln. »Aber es wurde auch nicht jeder vom König der Kobolde geküsst.« Mary und Little Eric sahen Stella fragend an, aber sie blickte nur auf die Frau in Schwarz mit den Augen der Nacht.

»Du hast deine Lieder beim Kaminkönig gelassen«, meinte diese gerade. Stella nickte. »Das war sehr großherzig von dir.«

Stella wollte sagen, dass Mary ihr das Wichtigste sei, aber dann ließ sie ihre Finger auf dem Zeitungspapier ruhen, weil sie wusste, dass das Mylady Muerte längst bekannt war. Stattdessen ließ sie ihre Blicke neben sich huschen, wo Mary und Little Eric in einer Umarmung standen, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht umarmt hätten. Stellas Herz schlug vor Freude ein wenig schneller, als sie das Glück ihrer besten Freundin sah. Aber dann räusperte sich Mylady Muerte und führte ihr wieder vor Augen, dass es mitnichten ein Happy End war. Weil es noch nicht zu Ende war. »Nichts endet«, meinte Mylady Muerte und Stella fragte sich, wo sie das bereits gehört hatte, aber sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn die Lady fuhr bereits fort: »Und doch — auch wenn es mir imponiert, dass ihr, ohne auch nur einen Moment zu zögern für die, die ihr liebt in mein Reich gekommen seid, ich kann euch euren Wunsch nicht erfüllen. Wen ich einmal zu mir rufe, der bleibt bei mir.« Stella sah, wie Mary sich von Little Eric löste und ihm ein Lächeln schenkte, als ob sie sagen wollte, dass das schon in Ordnung sei, jetzt, da sie wusste, dass er sie auch liebte. Aber Stella fand es nicht in Ordnung. Sie trat vor, auf Mylady Muerte zu und ihre Finger hasteten über das Stück Zeitungspapier, das ihr als Stimme diente. Als sie innehielt, sah die Lady sie eine ganze Weile an, wog das Angebot, das Stella ihr gemacht hatte, ab.

»Das ist ein hoher Preis, den du zu zahlen bereit bist, Stella Koboldprinzessin«, meinte sie schließlich. Stella nickte, und neben ihr schnappte Mary nach Luft, denn sie hatte verstanden, was die Freundin tun wollte. »Nein«, entfuhr es ihr, aber Mylady Muerte befahl ihr mit einer Geste zu schweigen.

»Ich glaube, ich würde dein Angebot sogar annehmen«, meinte sie. »Aber ich kann es nicht. Du bist die Prinzessin des Koboldkönigs.«

Traurig sank Stella in sich zusammen. So einfach wäre dieser Handel gewesen. Mary hätte mit Little Eric und dem Streichholz gehen sollen, und sie wäre geblieben. Die Raben krächzten, als es zu lange still blieb im Kreis der Nebelkinder.

»Ich bleibe«, sagte Little Eric auf einmal. Die ganze Zeit hatte er kein Wort gesagt, hatte nur seine Mary gehalten und ihr ab und an einen Kuss ins blonde Haar gedrückt, der mehr gesagt hatte, als tausend Worte es vermochten. Mary japste erschrocken auf, Stella tat es ihr nach.

Die Mylady Muerte wandte sich dem jungen Schornsteinfeger zu. Ihre Nachtaugen musterten ihn. »Auch das ist ein hoher Preis«, meinte sie.

Little Eric nickte. »Warum willst du ihn zahlen?« Stella sah, dass auch Little Eric längst wusste, dass Mylady Muerte den Grund schon kannte. Aber er sagte ihn trotzdem. »Ich liebe Mary«, begann er, »und ich weiß, dass Mary Stella liebt wie eine Schwester. Keine von beiden könnte ohne die andere glücklich werden.« »Aber Mary liebt auch dich«, sprach die Lady aus, was Mary Little Eric bislang nur durch Blicke gesagt hatte. »Gerade deshalb. Ich bin glücklich, und schon mein Vater hat gesagt, dass wenn man so glücklich ist, dass einem das Herz zerspringt, man beruhigt vom Dach fallen kann.« Mary drückte sich an ihn, und Stella betrachtete traurig Mylady Muerte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass Mary und Little Eric glücklich sein sollten. Aber scheinbar hatte die Banshee ihr Lied nicht für sie gesungen. Würde es vielleicht niemals singen. Mylady Muerte räusperte sich. Ihre Nachtaugen leuchteten wie Sterne, hell und dunkel zugleich. »Ich würde euch gerne alle zurück in die Stadt an der Themse lassen«, sagte sie leise, »aber das geht leider nicht. Denn auch ich habe die Regeln nicht gemacht. Ich kann keine Seele einfach so loslassen. Eine andere muss dafür bleiben. Und auch das ist nur eine Ausnahme.« Little Eric nickte.

Mary gab ihm einen Kuss, der so schwer wog, dass alle Küsse einer großen Liebe in ihm Platz fanden. Dann löste sie sich von ihm und stellte sich neben Stella. Little Eric blieb einfach stehen, und Mylady Muerte trat neben ihn.

»Ich will euch ein Geschenk machen«, sagte sie, »denn wenn die Koboldprinzessin ihre Lieder gibt, darf dies nicht umsonst geschehen. Doch gut Ding will Weile haben — Nebel müssen fließen und Raben singen. Es wird kommen, wenn es an der Zeit ist.«

Sie neigte den Kopf zum Abschied und dann verschwanden sie alle: Mylady Muerte mit ihren Raben, die Nebelkinder und Little Eric.