Das Herz von Paris - Caroline Vermalle - E-Book

Das Herz von Paris E-Book

Caroline Vermalle

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Beschreibung

Paris ist Romantik pur - oder nicht?

Guillaume ist heimlich verliebt in die eigenwillige Edie, die tausend Ideen für ein Leben ohne ihn zu haben scheint. Mit ihr arbeitet er für die Touristik-Agentur I LOVE PARIS - und wartet Tag für Tag auf den perfekten Augenblick, um ihr seine Gefühle zu gestehen.
Als der Agentur das Aus droht, schmieden die beiden einen kühnen Rettungsplan: Mithilfe einer einflussreichen japanischen Bloggerin wollen sie jenes von nostalgischem Zauber kündende Paris inszenieren, das von jeher die Träume von Touristen aus aller Welt beflügelt hat. Dabei kommen ihnen ein ums andere Mal die Wunder der Liebe dazwischen. Mit ungeahnten Folgen für alle Beteiligten ...

Vom Suchen und Finden der Liebe in Paris - Caroline Vermalle entführt die Leserinnen und Leser in ein ganz anderes, aber nicht weniger schönes Paris.

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INHALT

CoverInhaltGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelWidmungZitatePROLOGKapitel 1, in dem wir unseren Helden kennenlernenDER ANFANGKapitel 2, in dem erzählt wird, wie Guillaume sich – ohne es zu wollen – verliebt hatKapitel 3, in dem wir feststellen, dass Paris eine ganz normale Stadt istKapitel 4, in dem mir eine schwierige Frage gestellt wirdKapitel 5 – Exkurs über Reiselust und die Ängste eines FremdenführersKapitel 6, in dem ich einen seltsamen Anruf erhalteKapitel 7, in dem nicht immer diejenigen die Unglücklichsten sind, von denen man es am ehesten vermutetKapitel 8 – Exkurs über JosianeKapitel 9, in dem ich Überlegungen zum 10. Arrondissement anstelleKapitel 10, in dem wir etwas über das Paris-Syndrom erfahrenKapitel 11, in dem Josiane mir ihr zweites Gesicht zeigtKapitel 12, in dem ich schlechte Nachrichten erhalteKapitel 13 – Selbstgespräch mit Blick auf den EiffelturmKapitel 14, in dem Edie uns mit einer Idee überrascht, die vielleicht von mir stammtKapitel 15, in dem es komplizierter wirdDIE FORTSETZUNGKapitel 16, in dem ich lerne, dass einige Schritte zählen, andere jedoch nichtKapitel 17, in dem Louis-Jean sich etwas von der Seele redetKapitel 18, in dem Omar vergebens auf den richtigen Moment wartetKapitel 19, in dem ich die Schriftstellermontur anprobiereKapitel 20 – Exkurs über Das Herz von ParisKapitel 21, in dem das Telefon erneut läutetPARENTHESEKapitel 22, in dem ich Paris verlasseKapitel 23, in dem von Abschied und von Wiedersehen die Rede istKapitel 24, in dem sie mir fehltKapitel 25, in dem ich mein Versprechen halteKapitel 26, in dem ich das Glück auf Segeln genießeDER ANFANG VOM ENDEKapitel 27, in dem die Japaner landenKapitel 28, in dem ich in meiner Schriftstellermontur glänzeKapitel 29, in dem alles erlaubt ist, im Krieg und in der LiebeKapitel 30, in dem Voltaire schuld istKapitel 31, in dem ich an einem Schild hänge und aus allen Wolken falleKapitel 32, in dem Katzuko das wahre Paris entdecktKapitel 33, in dem ich das Leben durch eine rosarote Brille betrachteKapitel 34, in dem ich das Leben nicht länger durch eine rosarote Brille betrachteKapitel 35, in dem ich mich verirreDAS ENDEKapitel 36 – Am EiffelturmEPILOGDIE FORTSETZUNG DES ENDES1. Januar2. Januar3. Januar4. Januar7. Januar9. Januar10. Januar11. JanuarDAS ENDGÜLTIGE ENDEDER ANFANGDer Morgen, an dem ich erwacheÜber die AutorinWeitere Titel der AutorinImpressum

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ÜBER DIESES BUCH

Paris ist Romantik pur – oder nicht?

Guillaume ist heimlich verliebt in die eigenwillige Edie, die tausend Ideen für ein Leben ohne ihn zu haben scheint. Mit ihr arbeitet er für die Touristik-Agentur I LOVE PARIS – und wartet Tag für Tag auf den perfekten Augenblick, um ihr seine Gefühle zu gestehen.

Als der Agentur das Aus droht, schmieden die beiden einen kühnen Rettungsplan: Mithilfe einer einflussreichen japanischen Bloggerin wollen sie jenes von nostalgischem Zauber kündende Paris inszenieren, das von jeher die Träume von Touristen aus aller Welt beflügelt hat. Dabei kommen ihnen ein ums andere Mal die Wunder der Liebe dazwischen. Mit ungeahnten Folgen für alle Beteiligten …

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Caroline Vermalle

Aus dem Französischen von Ulrike Werner

Für meine Pariser Freunde: Petit Ska, Caro, Paco, Kate und Co. Allesamt Pariser … und alle auf der Durchreise.

Man ist nicht Pariser, nur weil man sich in Paris befindet. Nie dürfen Sie Leute (…), die Ihnen sagen: »Paris … oh, Paris! – Für mich gibt es nur Paris! – Mein Paris« usw. für Pariser halten.

So viel Begeisterung zeigt man nur für Dinge, die man erhofft oder denen man nachtrauert, aber nie für solche, die man besitzt. Man ist Pariser, so wie man witzig ist oder gesund – ganz unbewusst. Ein echter Pariser liebt seine Stadt nicht, aber er kann nirgendwo sonst leben.

Alphonse Karr

Le Diable à Paris, 1845

Paris will leben; es will leben um jeden Preis.

George Sand

La Rêverie à Paris, 1867

PROLOG

Kapitel 1,

in dem wir unseren Helden kennenlernen

Wären Sie zufällig am Sonntag, dem 20. April, durch die Rue de Belleville geschlendert, hätten Sie durch das Fenster des Restaurants Foodie Nam Nam vielleicht einen Blick auf die Gestalt eines nachdenklichen Mannes erhascht. Er mag nicht besonders auffällig gewesen sein, dieser Mensch, das stimmt, aber er saß ganz allein an einem Tisch und sah aus, als warte er auf etwas, obwohl auf der Schiefertafel an der Tür das Wort »Geschlossen« stand. Neben ihm lagen ein großes, in knallblaues Papier gepacktes und mit blasslila Geschenkband verschnürtes Paket und ein kleines flaches Päckchen in einer goldenen Hülle. Der Mann betrachtete das Paris draußen vor dem Lokal, ohne es wirklich zu sehen. Kein Zweifel: Er war ein Pariser.

Aber was bin ich doch dumm: Sie waren sicher nicht dort und konnten ihn folglich auch nicht beobachten, den guten Kerl. Man spaziert über die Champs-Elysées oder durch das Marais-Viertel, aber niemals durch Belleville. Für den Besucher ist Belleville weniger ein Stadtviertel als vielmehr eine klägliche Episode, etwas, das man später erzählt, um sich wichtig zu machen – obwohl man sich in der Situation selbst alles andere als sicher war. Dabei genügen ein verrückt spielendes GPS, die schönen Augen eines Straßenjungen oder dass einem schlicht das Geld ausgegangen ist, und siehe da, Paris präsentiert uns Belleville – das lumpigste Stadtviertel, Orientierungspunkt der letzten Mohikaner, mit seinen wütenden Graffiti, seinen übervollen Mülltonnen, seinem Multikulti-Gewimmel und seinen Bars, die viel zu spät schließen. Wenn Paris eine vornehme Dame ist, dann ist Belleville die geschwätzige Waschfrau, die ihr mit lautem Lachen einen Klaps auf den zart besaiteten Hintern versetzt.

Aber selbst Leute, die sich verlaufen, folgen nur selten der Rue de Belleville bis kurz vor die Metrostation Pyrenées. Zwischen einem indischen Gewürzladen und einem algerischen Kebab liegt der Impasse Emile Ajar, ein winziges, gepflastertes Sträßchen, das als Sackgasse endet. Gegenüber, vor der Rue de Belleville Nummer 72, sind auf drei etwas schiefen Stufen winzige rosafarbene Mosaiken eingelassen, eines davon hat die Form eines Herzens. Auf diesen Stufen wurde Edith Piaf geboren, und zwar »in bettelarmen Verhältnissen«, wie uns die Gedenktafel an der Hauswand wissen lässt. An der Ecke des Impasse Emile Ajar und der Rue de Belleville befindet sich besagtes Foodie Nam Nam, mit seiner alten roten Wandverkleidung und dem Träumer im Innern. Eigentlich schade, dass Tagesbesucher sich so gut wie nie hierher vorwagen, denn wenn sie sich umdrehten, würden sie das entdecken, weswegen sie manchmal von weit her nach Paris gekommen sind: Am Ende der leicht kurvigen, abschüssigen Straße sieht man in weiter Ferne kerzengerade zwischen den Dächern, kokett und stolz darauf, sich endlich einmal fast von der Spitze bis ganz unten zeigen zu können … den Eiffelturm.

Aber kehren wir zu unserem Helden zurück. Ja, wir können es auch gleich verraten: Er ist der Held dieses Buches, auch wenn er nicht wirklich wie ein Held wirkt.

Er ist hochgewachsen, hat gerade Schultern und hält sich gut. Seine Finger sind lang und fein, sein Haar ist braun, lockig und einen Tick zu lang, sein ovales Gesicht hat nichts Auffälliges, seine Haut ist eher blass, er hat sich gestern das letzte Mal rasiert, sein sehr feiner Mund zeigt ein etwas schiefes Lächeln, am rechten Augenwinkel hat er eine winzige Narbe, und der Blick aus seinen grünbraunen Augen ist offen und wohlwollend (dass er Kontaktlinsen trägt, verrät er nicht gern). Mit seinem grauen, fadenscheinigen Kaschmirpulli, der dunkelblauen Jeans und den braunen Derby-Schuhen, die mehr erlebt zu haben scheinen als er selbst, wirkt er ein wenig wie ein Yuppie. Dreimal in der Woche joggt er fünf Kilometer durch Paris. Er hat zwei Strecken, eine für gutes und eine für schlechtes Wetter. Nie weicht er von den zur Gewohnheit gewordenen Laufwegen ab. Er heißt Guillaume Degénicour, und er feiert an diesem Tag seinen sechsunddreißigsten Geburtstag.

Seine nur scheinbar entspannten Bewegungen deuten darauf hin, dass ihm die Tatsache zu altern an sich zwar keine Furcht einflößt, dass es ihn aber durchaus nachdenklich macht, ein Jahr älter zu werden, wenngleich es ein Jahr ist, das nicht weiter zählt. Vor allem, wenn man an einem Sonntagnachmittag ganz allein ist und die Sonne sich bereits anschickt unterzugehen. Und vor allem, wenn man sich viel für sein Leben vorgenommen hat und mit sechsunddreißig plötzlich merkt, dass man weniger erreicht hat als ursprünglich geplant. Obwohl er die besten Voraussetzungen hat, denn er spricht mehrere Sprachen.

Er wirft einen Blick auf seine Uhr, zieht kurz eine Grimasse und kratzt sich an der Stirn. Dann schaut er wieder aus dem Fenster. Ich weiß, was sich jenseits des Fensters befindet: Es ist nicht Paris, nein. Es ist der rote Faden seines Lebens. Und auf diesem Faden setzt er einen Fuß vor den anderen, sagt sich: »Bisher ist alles gut gegangen«, und zwingt sich, nicht in die Tiefe zu sehen, wo sich die große alltägliche Leere ausbreitet: die Vorwürfe seiner Mutter, die Prophezeiungen verbitterter Leute, die Wege, die ins Nichts führen. Guillaume Degénicour spielt den Seiltänzer.

Woher ich das weiß? Weil ich selbst Guillaume Degénicour bin.

Es gibt übrigens auch eine Heldin, und sie ist in dieser Geschichte sehr wichtig. Ebenso wie der Held ist es nicht die Person, von der man es annimmt. Sie können mir ruhig glauben, denn davon kann ich ein Lied singen.

DER ANFANG

Kapitel 2,

in dem erzählt wird, wie Guillaume sich – ohne es zu wollen – verliebt hat

»Wo bleiben unsere Leute denn bloß?«

Omar, ein hochgewachsener Schwarzer, betritt, in eine Kochjacke gekleidet, den Gastraum. Hinter seinem Ohr klemmt eine Zigarette. Omar ist ein unverfälschtes Produkt von Belleville, zugleich aber auch wieder nicht, denn er hat sich seine kulinarischen Sporen in New York und Singapur verdient. Von dort kam er mit einem Konzept für ein Restaurant mit »Fusionsküche« zurück, in der nacheinander vegetarische, vegane, glutenfreie und laktosefreie Kost serviert wird – die Art von Gerichten, die uns glauben machen, wir könnten hundertfünfzig Jahre alt werden. Foodie Nam Nam fördert gewissermaßen das Vorrücken der Reichen und Schönen ins Viertel, von Leuten also, die bisher noch in der Minderheit gegenüber denen sind, die schon immer da waren: unter ihnen vor allem Chinesen, aber auch ganz Afrika und der Mittlere Osten, Moslems, Juden und Konfessionslose. Omar wirft einen entrüsteten Blick auf die altmodische Pendeluhr an der mit weißen Metrokacheln verkleideten Wand. »Immerhin schon zwanzig Minuten.«

So sieht es aus. Wir haben den 20. April, es ist 16:21 Uhr, und ich bin offiziell der letzte pünktliche Mensch in Paris. Auf der Einladung zur Feier meines Geburtstages im Restaurant unseres Freundes Omar stand 16 Uhr. Mein altes, ziemlich zerkratztes Smartphone vibriert seit einer halben Stunde, die rührendsten Entschuldigungen treffen ein.

»Also wirklich! Nicht ein Einziger schafft es, pünktlich zu erscheinen. Das ist schon ganz schön abgedreht.«

Ich muss über diese Ironie lächeln. Wenn Omar von sich behauptet, pünktlich zu sein, dann nur, weil er sich physisch an Ort und Stelle befindet. Aber auch er hat mich zwanzig Minuten allein gelassen, um mit seinem Kellner Alexandre irgendwelchen Papierkram zu erledigen.

»Mach dir keinen Kopf«, sage ich und tue so, als hätte ich gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht. »Ich fühle mich wie vor zwanzig Jahren. Erinnerst du dich noch an die Fete zu meinem sechzehnten Geburtstag?«

»Leider ja«, erwidert Omar und schaltet die minimalistischen Hängeleuchten über der alten Metzgertheke an.

Auf der anderen Straßenseite hebt ein Hund drohend sein Bein an der fast komplett mit Graffiti besprühten Fassade eines chinesischen Gemischtwarenladens. Der Eigentümer gestikuliert hinter der Scheibe, um das Tier zu verjagen, das sich aber, als echter Pariser Straßenköter, keinen Deut darum schert.

»Siehst du«, erkläre ich seufzend, »und jetzt koste ich das Glück aus, alt genug zu sein, um mich nicht mehr damit zu beschäftigen.«

Omar gluckst. Über Omars Lachen haben wir im Freundeskreis schon oft debattiert. Unser Freund hat den Körperbau eines Footballstars, seine maskuline Präsenz schüchtert Kundinnen ein, und seine dunklen Augen strahlen eine ruhige Autorität aus. Aber sein Lachen … tja, sein Lachen. Gemeinsam sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es klingt wie das Lachen eines kleinen Mädchens, das Spaß daran hat, seine Barbie im Toaster zu grillen; es ist ein eigenartiges, absolut lächerliches Gackern, das Omars Charme aber erstaunlicherweise nicht den geringsten Abbruch tut, eher im Gegenteil.

»Zum sechzehnten Geburtstag«, sagt Omar, »hättest du eine Spielekonsole, eine Langspielplatte oder eine Marsupilami-Boxershorts haben können. Aber wo wären die heute? Stattdessen …«

»… bekam ich eine Universallektion über die Frauen, die Freundschaft und die Anziehungskraft schöner Schwimmbäder.«

»Unbezahlbar.«

»Der wahre Reichtum der Alten, Omar, ist die Perspektive.«

»Dank ihrer können wir darüber lachen. Vor zwanzig Jahren fanden wir es weniger lustig.«

Omar macht sich an der Stereoanlage zu schaffen. Angesagte Experimentalmusik klingt durch den Gastraum. Er reckt den Hals und schaut zum Fenster hinüber.

»Schau mal: Ich glaube, das ist für dich.«

Auf der anderen Straßenseite erleichtert sich der Hund mit fröhlicher Ungezwungenheit. Auf dem gegenüberliegenden Trottoir steht Amanda. Amanda ist dreißig, hat ein sorgfältig geschminktes, hübsches, rundes Gesicht und langes schwarzes Haar, das auf einen teuren Anorak fällt. Ihre großzügig bemessenen Waden stecken in gewienerten Lederstiefeln und blassrosa Strumpfhosen. In ihrem Blick spiegelt sich Unruhe, in den behandschuhten Händen hält sie einen von Post-its strotzenden Paris-Führer. Amanda war noch nie in Belleville, ganz klar. Ich weiß genau, dass sie jetzt gerade um die Perlen in ihren Ohrläppchen, ihre Vuitton-Tasche und ihre Würde als Amerikanerin fürchtet.

»Ach, sie ist tatsächlich gekommen«, sage ich. (Ich wirke ein wenig verkrampft, aber dagegen kann ich nichts tun.)

»Wer ist das?«

»Amanda. Sie ist Praktikantin in unserem Reisebüro. Kommt aus Connecticut oder Massachusetts, ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls von der East Coast. Sie ist seit letztem Monat in Paris.«

Omar wirft mir einen prüfenden Blick zu. Ich bemühe mich, ihn nicht anzusehen, aber ich spüre genau, dass er weiß, dass ich ihm etwas verberge.

»Und?«

»Nein, nichts ›und‹. Das ist Amanda, sie ist gekommen, das ist alles. Juhu!«

Omar formt seinen Hühnerpopomund und sein Doppelkinn, und ich kapituliere:

»Ich vermute, dass Edie mich mit ihr verkuppeln will und sie deswegen eingeladen hat. Aber ich bin nicht sicher, dass ich … also, dass sie … du weißt schon.«

»Zunächst einmal würde es mich wundern, wenn Edie die Absicht hätte …«, beginnt Omar.

»Du willst doch jetzt nicht etwa behaupten, das wäre nicht ihre Art«, falle ich ihm ins Wort, froh darüber, das Thema wechseln zu können. »Darf ich dich daran erinnern, dass du ihr deine glückliche Beziehung verdankst?«

Omar übergeht meine Bemerkung, aber das hatte ich erwartet.

»… und zweitens sieht diese Amanda ausgesprochen schnuckelig aus.«

»Das ist nicht das Problem.«

»Ach nee. Ist bei deiner Internetsuche schon irgendwas rausgekommen?«

»Ja, Falten. Ich schwöre dir, ich bekomme davon Falten. Sieh mal«, sage ich und kneife die Augen zusammen.

Omar kneift ebenfalls die Augen zusammen. Dann bemerkt er, dass ich mich über ihn lustig mache, und schüttelt den Kopf.

»Moment«, protestiere ich. »Diese Datingseiten wirken auf den ersten Blick ganz harmlos, aber in Wirklichkeit setzt du all deine Hoffnungen auf eine Gleichung. Wie durch ein Wunder gerätst du an ein Profil, bei dem du alle möglichen Kästchen ankreuzen kannst, du lässt dich dazu verführen, und schließlich triffst du eine Frau und bist enttäuscht. Mich deprimiert es, von anderen Leuten enttäuscht zu werden, denn dann habe ich plötzlich das Gefühl, alt zu sein. Als ich noch jung war, fand ich alle Menschen toll.«

Wir beobachten, wie Amanda die Straße überquert. Ich glaube, sie hat uns gesehen.

»Hast du dich schon einmal gefragt, ob Liebe nicht vielleicht doch etwas mehr ist, als Kästchen anzukreuzen?«, sagt Omar wie zu sich selbst.

»Ich weiß es nicht. Der Algorithmus fordert mich auf, die ideale Frau zu beschreiben, und ich reagiere wie ein folgsamer Schüler. Ich antworte.«

»Du antwortest …«

»Na gut, wenn du es genau wissen willst: Sie soll um die dreißig sein, dunkelhaarig, Kurzhaarschnitt …«

Omar verdreht die Augen, aber ich hatte nichts anderes erwartet.

»Lach du nur«, sage ich. »Frauen mit langen Haaren sind eine Werbelüge. Fünf Minuten lang sehen sie richtig hübsch aus, aber dann raffen sie ihr Haar mit Klammern zusammen, machen einen Knoten oder ziehen diese hässlichen Gummidinger um den Kopf, was nach gar nichts aussieht. Außerdem liegen überall im Bad Haare, und das will wirklich niemand. Kurzes Haar dagegen ist prima. Du weißt, woran du bist, sogar wenn es Bindfäden regnet.«

»Ich nehme an, dass du außerdem angekreuzt hast: ein Meter fünfundsechzig, getrennt, ein Kind, Vegetarierin, ehrgeizig, Früh-zu-Bett-Geherin, Diplomabschluss, steht auf asiatische Kunst, Jogging und amerikanische Serien in Originalversion und wohnt im 20. Arrondissement. Es ist drei Jahre her, Guillaume! Solltest du den Algorithmus nicht vielleicht mal verändern?«

»19. Arrondissement wäre auch okay«, murmele ich.

Ich konzentriere mich auf das, was draußen passiert. Amanda kann ich nicht mehr sehen. Vielleicht hat sie unsere deprimierten Gesichter wahrgenommen und sich umentschieden. Ich muss gestehen, es wäre mir fast lieber.

»Du hast leicht reden, du mit deiner Charlie …«, sage ich schließlich.

»Von wegen leicht«, antwortet Omar.

»Ach ja?«

Die Türglocke des Foodie Nam Nam beginnt zu läuten. Es ist Amanda. Sie sieht mich und lächelt erleichtert, als befände sie sich endlich wieder auf sicherem Terrain.

»Hallo!«

Es folgt eine sehr ungeschickte Begrüßung. Ich beuge mich zu den in Paris üblichen zwei Wangenküssen vor, während Amanda im gleichen Augenblick zu einer amerikanischen Umarmung ansetzt und sich zu spät daran erinnert, dass man hier Küsse tauscht. Ihre Lippen treffen meinen Hals zu einem unfreiwilligen Kuss, der beinahe frech gewirkt hätte, wäre da nicht die Befangenheit, die er bei uns beiden hervorruft. Um davon abzulenken, taucht Amanda mit hochrotem Kopf in ihre Handtasche ab, aus der sie eine winzige orangefarbene Tüte mit dem Logo von Louis Vuitton zutage fördert.

»Herzlichen Glückwunsch, Guillaume!«

Ich nehme das Päckchen stumm, schuldbewusst und mit einfältigem Lächeln an mich.

»Das musste aber doch nicht sein, Amanda. Das wäre doch nicht nötig gewesen. Ich … äh … ich öffne es erst, wenn die anderen da sind, okay?«

Als ich bemerke, dass sie mich beobachtet, immer noch so rot wie ein amerikanisches Feuerwehrauto und immer noch in ihrem Anorak, beschließe ich, die von der französischen Etikette vorgeschriebenen Dankesküsse lieber zu vergessen. Aber was soll ich stattdessen tun?

»Okay, okay«, sagt sie hastig und knetet ihre Hände. »Edie ist noch nicht hier, oder?«

Omar schreitet ein. Gestikulierend und mit lauter Stimme erklärt er, dass alle sich verspätet haben. Dann nimmt er Amanda den Anorak ab, bittet sie, neben mir Platz zu nehmen, und serviert ihr ein Glas Rotwein, ohne vorher zu fragen, was sie trinken möchte. Omar hat wesentlich mehr Ahnung von Frauen als ich.

Amanda und ich sitzen am Tisch und bemühen uns erfolglos um ein einigermaßen intelligentes Gespräch. Sie erklärt mir die Gründe für ihre Verspätung. Mit der Energie der Verzweiflung versucht sie es auf Französisch.

»Die Metro, da waren viele Leute, und dann sie ist stehen geblieben, like paff!« (Sie wirft sich vorwärts gegen den Tisch wie eine Metro, die gegen etwas fährt. Reflexartig greife ich nach dem schwankenden Weinglas.) »Und ich so.« (Sie setzt den Gesichtsausdruck einer Frau auf, die sich fragt, was gerade passiert.) »Und ein Mann in Metro macht yaha, yaha, yaha.« (Ein schimpfender Franzose mit gerunzelten Augenbrauen und aufgeplustertem Gehabe.) »Ich sage no, no, no.« (Sie stellt eine Frau dar, die beschließt, möglichst schnell das Weite zu suchen.) »Ich also gehe auf der Straße, you know, ich gehe und gehe eine lange Zeit« (Frau außer Atem), »aber die Straße, you know« (Straße geht bergauf), »und …« (sie lässt die Zunge heraushängen). Und so weiter.

Ich klammere mich noch immer an mein Weinglas wie an einen Rettungsring. Auch ich bin außer Atem nach diesem Anstieg durch die Rue de Belleville und auf den unerreichbaren Gipfel der französischen Sprache. Edie hat mir erzählt, dass Amanda an ihrem ersten Tag bei I LOVE PARIS (dem Reisebüro, bei dem wir alle drei beschäftigt sind) darum gebeten hat, in der Folge nur Französisch mit ihr zu sprechen, um schneller Fortschritte zu erzielen. Aber Fortschritte kommen immer langsamer, als man glaubt. Ich kann ein Lied davon singen, denn ich spreche acht Sprachen, wenn man die toten mitrechnet. Es juckt mich in den Fingern, ihr auf Englisch zu antworten, das ich fließend beherrsche, aber hier wie auch sonst bleibe ich der höfliche Junge, der sich an alles hält, worum man ihn bittet.

Nachdem wir das Wetter, den neuesten Klatsch über die Inhaberin unseres Reisebüros und die Steigungen der Pariser Straßen durchgehechelt haben, wissen wir nicht weiter. Schließlich flüchte ich mich in Vertraulichkeiten, um die starre Atmosphäre zu brechen.

»Ich muss gerade an meinen sechzehnten Geburtstag denken. Vor genau zwanzig Jahren. Damals habe ich eine Fete geschmissen. A Birthday Party. Ich hatte ungefähr vierzig Leute eingeladen. Es war sehr heiß, fast wie im Sommer.«

Mit einfachen Worten und unter Betonung jeder Silbe erzähle ich ihr von meiner Jugend in der Vendée, am Meer. Omars Großmutter wohnte ebenfalls dort. Als wir klein waren, sahen wir uns nur während der Ferien, aber später zog er zu seiner Großmutter, und wir gingen zusammen zur Mittelschule und aufs Gymnasium. Je mehr ich erzähle, desto klarer kommen mir die Ereignisse ins Gedächtnis zurück. Das Haus meiner Eltern in Les Sables d’Olonne, die exotische Tapete im Wohnzimmer, wo wir tanzen wollten, der Duft des von Omars Großmutter gebackenen Schokoladenkuchens, der nie ganz durch, aber unglaublich lecker war. Ich sehe mich wieder zwischen vielen Colaflaschen, Luftballons und den auf der Stereoanlage meines Vaters aufgestapelten Singles. Ich hatte mich aufgebrezelt, Gel in die Haare geschmiert und trug einen neuen Pulli, den meine Großmutter schrecklich fand. Völlig unvorbereitet überrollt mich eine Welle der Nostalgie, und das vor dieser Frau, die ich kaum kenne und die ganz offensichtlich die Hälfte ohnehin nicht versteht. Von der Theke aus erkennt Omar, dass ich ins Melodramatische abgleite, und ruft:

»Der Absturz, Guillaume, der Absturz. Erspar uns die Madeleines und den ganzen Kram.«

Bis ich Amanda erklärt hätte, dass es sich bei den Madeleines um eine Anlehnung an Marcel Proust und die Lebhaftigkeit der Erinnerung an längst vergangene Dinge und verlorene Zeit handelt, während der Kram … nun gut. Schließlich seufze ich:

»Kurz und gut: Von den vierzig geladenen Leuten kamen nur fünf. Only five people came.«

»Oh«, macht Amanda, wobei ihr ein wenig gezwungen wirkender, bestürzter Gesichtsausdruck weit über das notwendige Maß hinausgeht. Ehe sie jedoch hastige Schlüsse zieht (was ich an jenem schrecklichen Nachmittag vor zwanzig Jahren weiß Gott zur Genüge getan habe), fahre ich fort:

»Am nächsten Tag in der Schule habe ich erfahren, dass ein Mädchen, mit dem ich einmal ausgegangen war – dated, you know –, das ich aber nicht eingeladen hatte, die ganze Klasse zu sich nach Hause gebeten hatte. Ihre Eltern hatten ein Schwimmbecken. A swimming pool. Revenge. Rache.«

In diesem Moment erstrahlt Amandas Gesicht in einem seligen Lächeln. Während ich mich noch frage, wie meine todtraurige Geschichte der Grund für einen wie auch immer gearteten Jubel sein kann, ruft sie aus:

»I know! An dem Tag hast du Edie kennengelernt!«

»Das werden wir bestimmt nie vergessen«, sagt Omar und setzt sich zu uns.

»Meine vier besten Freunde waren trotzdem da …«, fahre ich fort. »Unter ihnen Omar, der damals noch Dreadlocks trug. Und einer kam mit seiner neuen Freundin. Sie war blond, komplett verrückt und trug total abgedrehte Klamotten, heute würde man Vintage dazu sagen, und außerdem Pailletten auf den Lidern. Totally crazy. Das war Edie. Alle sind später ins Ausland gegangen, außer Edie und mir. Wir sind nach Paris gezogen.«

»All das macht uns leider nicht jünger«, meint Omar und streicht sich mit der Hand über seinen haarlos glatten Schädel.

Als er wieder hinter seinen Tresen zurückkehrt, schaue ich wie von selbst zur Uhr. Amanda bemerkt es. Sie lehnt sich zu mir herüber, versenkt ihren Blick in meinem und erklärt mir sanft auf Englisch, dass ich mir keine Sorgen machen solle und dass meine Freunde heute bestimmt kämen. Ich protestiere vielleicht ein wenig zu heftig, dass das Erlebnis kein Trauma bei mir hinterlassen habe. Danach schweigen wir uns wieder an, aber dieser kleine Satz von Amanda, dieser authentische Moment hat mich gerührt. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel. Sie ist wirklich hübsch. Sollte Omar etwa recht haben? Vielleicht sollte ich den Algorithmus tatsächlich verändern.

Das Vibrieren meines Handys reißt mich aus meinen außer Kontrolle geratenen Gedanken.

»Eine SMS von Edie«, rufe ich zu Omar hinüber. »›Rassistischer Taxifahrer Place de la République‹.«

Omar bricht in sein absurdes Lachen aus, aber sein Gegluckse wird schnell vom ohrenbetäubenden Röhren eines schweren Motorrads übertönt. Sogar die veganen Törtchen mit Erdbeeren und Rosenblättern erzittern unter ihrer Glasglocke. Eine Harley-Davidson parkt genau vor einer Ausfahrt und einem Parkverbotsschild in der Sackgasse um die Ecke. Ein Typ steigt ab, gedrungen, glattes aschblondes Haar, das Gesicht einer Bulldogge, die Kunstlederjacke mit Perlen und Nieten besetzt, die unterschiedliche Zeichen bürgerlichen Ungehorsams darstellen. Louis-Jean. Er ist mit seinen dreißig Jahren der Jüngste von uns und erst vor fünf Jahren zu diesem Freundeskreis gestoßen, als er die Wohnung über dem Foodie bezog. Dort wohnt er zwar inzwischen nicht mehr, aber es ist sein Heimathafen geblieben. Er leitet ein kleines Grafikbüro, das hauptsächlich für Autohersteller arbeitet. In seiner Freizeit produziert er experimentelle Kunstfilme, die seine gesamten Ersparnisse verschlingen. Er zeichnet gern großformatige Pin-ups und schenkt seine gesamte, angeblich nicht existente Zärtlichkeit seinem schwarzen Kätzchen Pabst.

Mit dem Helm in der Hand tritt er ein. Eine Bö von Männlichkeit weht durch das Foodie Nam Nam. Ich habe den Eindruck, dass Amanda den Blick senkt.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagt Louis-Jean. »Die Bullen haben mich angehalten. Rond-Point des Champs-Elysées. Sogar am Sonntagnachmittag wird da gefahren wie beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans. Ein Riesenbus mit achtzig Männeken hat die Kurve so schnell genommen, dass er nur noch auf zwei Reifen unterwegs war. Ehrlich, nur noch auf zwei Reifen! Aber wer wird angehalten? Natürlich, der gute Opi, der auf seinem Chopper ganz gemütlich seine dreißig Sachen fährt! Klar. Aber wer einen Helm trägt, muss ja Dreck am Stecken haben. Und hopp, her mit den Papieren. Wir leben in einem Land voller Faschos. Grüß dich, Großer.«

Louis-Jean küsst Omar auf beide Wangen. Der Biker und der große Schwarze wirken dabei wie zwei Mädchen. Amanda registriert es.

»Du bist dreißig gefahren?«, erkundigt sich Omar der Form halber.

»Nee, das habe ich nur so gesagt. Ich war vielleicht mit sechzig Sachen unterwegs, aber das ist immer noch ungefährlicher als diese Verrückten im Touristenbus. Sag mal, ich dachte, wir wären heute Nachmittag unter uns?«, fährt er mit einem Blick auf Amanda fort, die angelegentlich ihr Weinglas studiert.

»Eine Kollegin von Edie«, flüstert Omar. »Amerikanerin. Man muss lang-sam mit ihr sprechen.«

Louis-Jean kommt zu mir und packt mich mit so viel Schwung an den Schultern, dass es mich vom Stuhl reißt.

»Na, mein Kleiner, sechsunddreißig, findest du das etwa nicht toll? Doch, es ist toll. Sag, das es toll ist.«

»Es ist toll, Louis-Jean. Darf ich dir Amanda vorstellen? Amanda, das ist Louis-Jean.«

»Guten Tag, Mademoiselle. Lassen Sie sich bloß nicht von der gallischen Syntax das Maul stopfen. Wie sagt der Dichter? Wen schert es, was die Lippen reden, wenn man die Antwort der Herzen hört. Nicht wahr?«

Amandas Lächeln gefriert vor Panik.

»Wie bitte?«

»Louis-Jean is very happy to meet you«, flüstere ich ihr zu.

»Okay. Ich auch«, erwidert sie beruhigt.

Ich werfe Louis-Jean einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Was denn! Ich lasse doch nur unsere französische Kultur erstrahlen, genau wie die Ministerin es verlangt. Schau mal, da ist Charlie.«

Ich sehe, wie Omar den Blick zum Fenster erhebt und beunruhigt zu unserem Tisch eilt.

»Kein Wort über das, was ich euch erzählt habe. Sie weiß noch nichts. Okay?«, murmelt er.

»Was, du hast es ihr noch immer nicht gesagt?«, entgegne ich bestürzt. »Das ist jetzt einen Monat her!«

Draußen geht Charlie mit großen Schritten an den Graffiti vorbei und verschmilzt fast damit. Eine enge schwarze Jeans betont ihre langgliedrige Figur, ihre Hände stecken in den Taschen eines schwarzen Sweatshirts. Mit ihren Doc Martens und ihrer gebräunten Haut aus fernen Ländern, die im Schatten der Kapuze kaum zu erkennen ist, erinnert sie an die Sorte Mädchen, die kleinen bürgerlichen Jungs wie mir auf dem Schulhof immer Angst machten. Man muss ein zweites Mal hinschauen – aber wer tut das schon? –, um die gerade Haltung der ehemaligen Balletttänzerin, die Sanftheit ihrer mit Kajal umrandeten Augen und ihre leise, immer die Wahrheit sprechende Stimme wahrzunehmen. Charlie verfügt über eine Weisheit, die weit über ihre siebenunddreißig Jahre hinausgeht, und wir alle – ausnahmslos alle – haben uns ihr irgendwann in schwierigen Stunden anvertraut und ihrem immer gerechten Urteil gelauscht. Sie arbeitet als Beraterin beim Arbeitsamt, aber der Job befriedigt ihren Wunsch, die Welt zu verändern, nicht mehr wirklich. Charlie ist ein ganz besonderer Mensch, und von uns allen besitzt zweifellos sie die schönste Seele.

»Es ist noch nicht der richtige Moment, Leute«, warnt Omar. »Vertraut mir, es passt noch nicht.«

»Nein, klar sagen wir nichts, das ist doch selbstverständlich«, beruhigt Louis-Jean ihn. »Schnauze jetzt, da ist sie.«

»Omar«, spricht er lauter weiter, »was ist das für eine Plörre, die du uns hier servierst? Hast du nicht vielleicht einen Sancerre da? Ah, grüß dich, Charlie!«

»Entschuldigt, dass ich so spät komme. Ich habe mich da unten noch mit einem Typen unterhalten.«

Ein Typ. Wir alle wissen, was das heißt: ein Penner in der Metro.

»Herzlichen Glückwunsch, Guillaume«, fährt sie fort und küsst mich auf die Wangen. »Dieser Pulli steht dir wirklich gut.«

»Dieser Pulli …«, unterbricht Louis-Jean. »Du sagst das so, als besäße er noch andere.«

Charlie ignoriert ihn und wendet sich mit einem breiten mütterlichen Lächeln an Amanda.

»Alles klar, Amanda?«

»Ja, danke«, entgegnet Amanda dankbar. Endlich redet jemand langsam und in leicht verständlichen Sätzen mit ihr.

»Gewöhnst du dich an Paris? Liebst du Paris?«

»Ah …«, beginnt Amanda, ehe sie die Schultern zuckt, um zu sagen, dass sie sich weder auf ein Ja noch auf ein Nein festlegen will. »Nicht so, wie ich dachte. Schwierig, ich … Schwierig.« Mir scheint, als hätten ihre Lippen beim zweiten »Schwierig« gezittert.

»Mit der Zeit wird es bestimmt besser, da bin ich ganz sicher«, sagt Charlie und legt Amanda die Hand auf die Schulter.

Amanda schenkt ihr ein unendlich dankbares Lächeln, als hätten Charlies Worte wie eine Wärmflasche gewirkt. Ich frage mich, wie Charlie es immer schafft, selbst bei Banalitäten so überzeugend zu wirken. Hätte ich dieselben Worte verwendet, hätte man mich für einen herablassenden Einfaltspinsel gehalten. Charlie aber nicht. Vielleicht liegt es daran, dass Charlie seit Menschengedenken niemals gelogen hat und wir instinktiv die Unschuldigen erkennen, welche die Wahrheit sagen.

Ich sehe, wie Charlie auf Omar zugeht, senke aber den Blick, als sie sich küssen. Auch wenn es nur ein flüchtiger Kuss auf den Mund ist. Ihre Lippen berühren sich kaum. Es ist der Kuss eines eingespielten Paares. Trotz einiger Unebenheiten dauert und hält die Liebesgeschichte zwischen Charlie und Omar seit mittlerweile acht Jahren. Lange genug, dem ansonsten aus Singles bestehenden Freundeskreis Hoffnung zu machen. Charlie bedient sich an einem Stück Bioschokolade aus fairem Handel von der Auslage auf der Theke und fragt:

»Auf wen warten wir noch?«

Aber niemand hat Zeit zu antworten, weil die Tür mit einem triumphierenden Kriegsgeheul aufgerissen wird, ein Wirbelwind durch das Restaurant tobt, auf mir landet und mich fast samt Stuhl umreißt.

»Herzlichen Glückwunsch, Papa.«

Während mir die Ärmchen meines Petit Baz, sechseinhalb Jahre alt, beinahe die Luft abdrücken und seine Küsse so laut in meinem Ohr explodieren, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, bemerke ich Juliette. Sie hält zwei Taschen aus geblümtem Stoff und einen Ninja-Schulranzen in den Händen.

Juliette.

Fünfunddreißig Jahre alt, braunes kurzes Haar, ein Meter fünfundsechzig, Vegetarierin, ehrgeizig, Früh-zu-Bett-Geherin, Diplomabschluss, steht auf asiatische Kunst, Jogging und amerikanische Serien in Originalversion.

Sie ist nicht geschieden, weil wir nie geheiratet haben, und wohnt im 20. Arrondissement, nur zwei Straßen von mir entfernt. Mit ihrem Verlobten, Marc.

Juliette begrüßt die versammelte Mannschaft und stellt die Taschen auf einem Stuhl in meiner Nähe ab.

»Ich warne dich, er ist ausgesprochen hibbelig«, seufzt sie und küsst mich auf beide Wangen. »Ich habe ihm vorsichtshalber ein Entwurmungsmittel verabreicht, aber ich weiß nicht, ob es daran liegt. Vielleicht liegt es auch am Vollmond.«

Petit Baz stürzt mit seinen wilden Locken und seiner roten Brille auf der Stupsnase in Richtung Tisch, schnappt sich das große Paket und fragt:

»Was ist in dem Geschenk drin?«

»Ach ja, herzlichen Glückwunsch«, sagt Juliette. »Wir haben übrigens auch etwas für dich.« Sie greift nach einer Plastiktüte der Buchhandlung Fnac. »Tut mir leid, aber ich hatte keine Zeit mehr, es einzupacken. Baz hat es ausgesucht.«

Petit Baz greift nach der Tüte und hält sie mir mit vor Aufregung leuchtenden Augen hin. Basile ist noch zu klein, um zu verstehen, dass diese Augen mein schönstes Geschenk sind, ganz gleich, was in der Tüte ist. Aber weil in seinem Alter Geburtstagsgeschenke etwas Heiliges sind, sage ich mit meiner Glücklicher-Papa-Stimme:

»Was ist denn in dieser Tüte? Oh! Eine Harry-Potter-DVD!«

»Mama hat gesagt, ich darf sie mir mit dir anschauen, auch wenn es mehr was für Große ist.«

Juliette verdreht die Augen, als wolle sie sagen: »Du schaffst das schon.« Und so funktioniert unsere Übereinkunft: Wir wechseln uns wochenweise mit der Betreuung von Basile ab. Das Glück unserer merkwürdigen Familie beruht darauf, dass wir gegenseitig darauf vertrauen, dass jeder sein Bestes tut.

»Kann man wohl sagen, dass er hibbelig ist«, lässt sich Louis-Jean vernehmen, der den Jungen kitzelt. Petit Baz lacht laut und macht Ninja-Bewegungen.

Juliette verkündet, dass sie nicht bleiben kann, weil Marc auf sie wartet (mein Magen krampft sich zusammen), gibt Petit Baz einen Kuss, winkt uns allen zu, und dann ist alles, was von ihr zurückbleibt, der flüchtige Duft eines Parfüms, das mich verrückt macht, und die Spur ihres Lippenstifts auf der Wange meines Sohnes.

»Wann pustest du die Kerzen aus?«, erkundigt sich Petit Baz.

»Wir warten noch auf einen Gast.«

Die Uhr zeigt 16:50. Omar grummelt: