Das Horn des Untergangs - Ludo Tabor - E-Book

Das Horn des Untergangs E-Book

Ludo Tabor

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Beschreibung

Nectans Ziel war einfach: einen zweiten Rat der Magier in der Burg Setan zusammenbringen, nach dem Vorbild des legendären ersten Rates, der vor langer Zeit nach einem bitteren Verrat auseinanderbrach. Ein Splitter des ursprünglichen Kristalls des Rates würde einen Ruf aussenden. Diese wurde junge, magiebegabte Menschen zur Burg Setan locken und man würde gemeinsam lernen, wachsen und den Bedrohungen der Welt entgegentreten. Die anderen Splitter des Kristalls könnten wiedergefunden und zusammengefügt werden. Jedoch: ein Ruf dieser Art wird von vielen gehört, und manches wird aufgeweckt, was lange geschlafen hat. Ob Nectans Plan gelingt, hängt nun aber von den Magiern ab, die er gerufen hat, und von den Plänen, die andere haben mögen.

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Es begann mit Wind, der durch Zweige fuhr. Es waren Buchenzweige, und es war viel frisches, grünes Laub an ihnen. Ein junger Mann lag unter den Zweigen im Gras und beobachtete sie mit einer Intensität, die fast beängstigend war. Es waren die ersten Zweige, die er sah. Er atmete den Duft von Blumen und Gras ein und genoss das Unbekannte in ihnen. Auch die Geräusche, die an seine Ohren drangen, waren unvertraut. Eines der Geräusche wurde von einem kleinen Federball in den Zweigen über ihm verursacht. Das war ein Vogel, fiel ihm ein. Der Name klang gut, auch wenn er keine Ahnung hatte, woher er gekommen war. Auch die anderen Namen, die langsam in seinem leeren Gedächtnis auftauchten, ohne dass er wusste, woher, klangen gut und richtig: Baum, Gras, Blume, Zweig, Fluss – ja, das musste das entfernte Rauschen eines Flusses sein, das er vernahm. So hörte sich ein Fluss an; und wenn er dem Geräusch nachging, würde er auch bald wissen, wie ein Fluss aussah. Er lachte leise; damit war keine Eile. Wichtiger war, dass er selbst benannt wurde – doch in seinem Gedächtnis war kein Name für ihn. Wohl für das, was er sah: Hände, Füße, Arme, sogar für das, was staubig und verschlissen an seinem Rumpf herunterhing: Kleidung; aber nicht für das, was er war. Nirgends gab es Anhaltspunkte, da war niemand wie er auf dieser Welt. Das erste Gefühl einer unglaublichen Freiheit wich, und er wurde einsam. Langsam kam er auf die Füße und sah sich um. Eine Wiese zog sich vom Waldrand, an dem er gelegen hatte, bis zu den hohen, wuchtigen Mauern einer Burg. Er beschloss, dort nachzusehen.

Als er aus dem Schatten des Waldes trat, erweiterte sich der Horizont. Links und rechts von sich konnte er in der Ferne Berge ausmachen, deren Gipfel über den Dunst eines jungen Tages – oder eines alten Tages? – hinausragten. Er erreichte die Burgmauer und blickte an ihr hoch.

Die ihres Weges ziehenden Wolken erweckten den Eindruck, als würde die Mauer sich neigen und im nächsten Moment über ihm zusammenstürzen. Vorsichtig trat er einen Schritt zurück, doch als nichts geschah, ging er wieder nahe an die Mauer heran. Es war eine alte Mauer, ohne Mörtel aus groben, unbehauenen Steinen zusammengesetzt und baufällig wirkend. Doch als er versuchte, einen der Steine aus seinem Verbund herauszulösen, gelang es ihm nicht. In einigen Ritzen und Spalten wuchsen kümmerliche Pflanzen, das Gras am Fuß der Mauer jedoch war lang und saftig. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte der junge Mann eine Bewegung und schaute sich um. Hinter ihm saß ein kleines, mageres Tier mit grauem, glattem Fell und hellgrünen Augen (eine Katze! – so hieß das Tier!) und blinzelte neugierig zu ihm hinauf. Er beugte sich nieder und kraulte sie vorsichtig zwischen den Ohren, was sie mit einem befriedigten Schnurren aufnahm. Dann schien sie genug zu haben, denn sie drehte sich um und trottete über die Wiese davon, einem kleinen, gelben Schmetterling hinterher. Die Szene kam ihm vertraut vor, doch als er nicht herausfinden konnte, woher, ließ er es auf sich beruhen. Er wandte sich wieder der Mauer zu und ging an ihrem Fuß entlang, bis er an ein großes, weit offen stehendes Tor kam, dessen Flügel aus hellem Holz waren und dessen Beschläge in der Sonne glänzten.

»Willkommen, Davin.« sagte eine ruhige Stimme.

DAVIN. Das klang vertraut, mehr noch: es klang richtig. Er dachte einen Augenblick darüber nach und beschloss, dass Davin ein Name war; sein eigener Name.

»Ich bin Davin.« sagte er. Seine Stimme war rau, die Stimmbänder ungeübt, doch seine Zunge fand schnell und ohne große Mühe die richtigen Worte für seine Gedanken.

Mehrere Menschen traten aus dem Schatten des Torbogens in die Helligkeit des Tages, zwei junge Frauen und ein Mann. Davin erkannte sofort, dass der Mann es gewesen war, der ihn begrüßt hatte, und nahm sich viel Zeit, ihn genau zu betrachten. Er sah auf den ersten Blick nur wenig älter aus als die beiden Frauen, doch das täuschte. Seine Hände waren älter als sein Gesicht und seine hellgrünen Augen drückten Erfahrung und Weisheit aus. Blondes, etwas struppiges Haar hing ihm bis in den Nacken und ein ebenso blonder, struppiger Schnurrbart bedeckte die Oberlippe unter einer kantigen, großen Nase.

Alle drei waren ähnlich bekleidet, mit hellbraunen Wämsern und Hosen und Sandalen an den bloßen Füßen. Die Sandalen des Mannes wiesen die Spuren einer ungeschickten Reparatur auf, und das Wams, das er anhatte, war geflickt. Die Kleidung der beiden Frauen war dagegen in einem besseren Zustand.

Die Frau, die zur Linken des Mannes stand, hatte kurze, dunkelbraune Haare und Augen von der gleichen Farbe. Das ockerfarbene Stirnband, das die Haare aus ihrem Gesicht hielt, wirkte angesichts der Kürze ihrer Haare überflüssig. Auf ihrem Gesicht lag ein etwas spöttischer Zug, als sie Davin betrachtete. Der Gürtel, den sie trug, zog Davins Aufmerksamkeit an: Er war aus beschlagenem Leder und hatte einen blutroten Edelstein in der Schnalle, der im Licht der Sonne sein ganzes Feuer entfaltete.

Die zweite Frau war kleiner als ihre beiden Begleiter. Auch sie trug einen Gürtel, nur hatte dieser statt eines roten Edelsteins einen hellblauen in der Gürtelschnalle. Auch ihre Augen waren hellblau und Davin wunderte sich fast darüber, dass ihre Haare es nicht ebenfalls waren. Dunkelblond und weich umflossen sie ein offenes, freundlich lächelndes Gesicht. Impulsiv streckte sie ihm ihre schmale, von der Sonne gebräunte Hand entgegen.

»Noch einmal willkommen, Davin.« sagte sie. »Ich bin Elenis. Dies sind Marcuila und Nectan.«

»Wir haben schon auf dich gewartet, Davin.« sagte Nectan. »Komm, du wirst sicher hungrig sein.«

Er fasste Davin am Arm und führte ihn in den Burghof. Davin war viel zu verwirrt, um etwas zu sagen; willenlos ließ er sich führen. Niemand fragte, woher er kam, niemand erklärte ihm etwas.

»Deine Fragen, die du gewiss hast, werde ich dir nach dem Essen beantworten.« sagte Nectan. Es war fast so, als habe er Davins wirre Gedanken gelesen. Als er aber sah, wie Davin herzhaft gähnte, änderte er seine Meinung.

»Nein,« meinte er, »wenn ich dich so sehe, denke ich, das Essen kann warten. Ich glaube, etwas Schlaf würde dir nicht schaden.«

Seltsam, dachte sich Davin. Was habe ich denn bis gerade eben getan?

Nectan führte Davin durch einige Korridore bis zu einer Kammer, in der ein frisch bezogenes Bett, ein Tisch und zwei einfache Stühle standen. Davin legte sich gehorsam auf das Bett; trotz seiner Müdigkeit glaubte er nicht, sofort einschlafen zu können. Doch kaum hatte sein Kopf das Kopfkissen berührt, schlief er auch schon.

Sein erstes Erwachen in der Burg wurde dadurch ausgelöst, dass sich jemand in der Kammer, in der er geschlafen hatte, zu schaffen machte. Mühsam öffnete Davin die vom Schlaf verklebten Augen und sah einen alten, grauhaarigen Mann mit einem Gesicht wie ein runzliger Apfel, der gerade Kleidung in der Art, wie Elenis, Marcuila und Nectan sie getragen hatten, bereitlegte.

»Wo bin ich?« fragte Davin. Er konnte sich nur verschwommen an den Vortag erinnern. Aber wenigstens war es ein Fortschritt im Gegensatz zu gestern, als er sich an überhaupt nichts hatte erinnern können.

»Dies ist die Burg Setan.« entgegnete der Mann, ohne den Blick von seiner Arbeit zu wenden. »Ehemals Sitz des edlen Herrn Sagramor und seines Magierrates, nun von den meisten Menschen vergessen.«

Davin verstand zwar kein Wort, brummte aber trotzdem ein zustimmendes »Aha«, um den Alten nicht zu verärgern.

»Wo sind denn meine Kleider?« fragte er dann, als ihm aufging, wer all das anziehen sollte, was der Alte da zurechtlegte.

»Welche Kleider?« Der alte Mann drehte sich das erste Mal zu Davin um. »Meint ihr die Lumpen, in denen ihr hier angekommen seid? Das war kaum genug, eure Blöße zu bedecken! Darum habe ich sie verbrannt.«

Jetzt ahnte Davin, warum die Frau namens Marcuila ihn so spöttisch angeschaut hatte und er schämte sich etwas. Doch dann ging ihm auf, dass der alte Mann in seiner Hilfsbereitschaft jeglichen Beweis einer früheren Existenz Davins vernichtet hatte. Nun würde er nie mehr etwas über sich erfahren.

»Stimmt etwas nicht?« fragte der Alte.

»Doch, doch, es ist alles in Ordnung.« beeilte sich Davin zu sagen.

Der Mann nickte freundlich und verließ die Kammer. Davin stand auf, wusch sich mit Wasser aus einer Schale, die neben dem Bett stand, und trocknete sich mit dem daneben liegenden Leintuch ab.

Während er die bereitliegende Kleidung anzog (und erfreut feststellte, dass sie sehr gut passte), nahm er sich die Zeit, seine Kammer genau zu betrachten. Sie war durchaus nicht so klein, wie es noch am Abend geschienen hatte. Der Tisch stand unter einem Fenster, durch dessen grüne und goldfarbene Butzenscheiben helles Licht in die Kammer fiel. Einige geräumige, aber leere Nischen in den beiden Seitenwänden boten Stauraum für – ja, für was eigentlich? Einer der Stühle war etwas wackelig, der andere dafür umso stabiler. Davin gefiel das Zimmer in seiner klaren, glatten Einfachheit. Es war ein Raum, der mit Leben erfüllt werden konnte.

Als er es endlich verließ, wartete Nectan schon auf ihn.

»Du bist sicher hungrig.« meinte er. »Komm, das Frühstück ist fertig.«

Sie gingen einen Gang entlang, an den Davin sich nicht erinnern konnte (das sollte ihm noch lange so gehen), und eine breite Wendeltreppe hinunter, die in einen kleinen Raum mit drei Türen mündete. Nectan ging durch die mittlere Tür und Davin folgte ihm. So kamen sie in eine große, hohe Halle, deren Decke mit ihren rußgeschwärzten, wuchtigen Holzbalken gut fünfzehn Meter vom Boden entfernt war. Durch eine Reihe knapp unterhalb der Decke sitzender Fenster, die dem Fenster in Davins Kammer nicht unähnlich waren, fielen gelbe und grüne Lichtstrahlen wie zarte Schleier in das Dämmerlicht, das sonst vorherrschte. In den vier Ecken der Halle standen leere, flache Metallbecken, die wohl dazu dienten, bei Nacht, mit Holz oder Kohlen gefüllt, Licht und Wärme zu spenden. Bei jedem Becken war ein kleiner Vorrat an Holzscheiten gestapelt. Gegenüber der Tür, durch die sie gekommen waren, war der Haupteingang zur Halle, ein großes, doppelflügeliges Portal, schlicht und schmucklos wie alles, was Davin bisher von Setan gesehen hatte. Die Tür, durch die sie die Halle betreten hatten, führte auf ein leeres Podest. Das Frühstück stand auf einem Tisch in der Mitte der Halle bereit, um den etwa zwanzig hölzerne Stühle mit hohen, lederbespannten Rückenlehnen standen. Trotz der nicht unbeträchtlichen Größe des Tisches wirkte er an diesem Ort eher klein und verloren. Außer Elenis, Marcuila und dem Alten saßen zwei Männer auf den Stühlen, die Davin nicht bekannt waren. Der jüngere der beiden betrachtete Davin sehr aufmerksam, fast abschätzend, bevor er nickte und auf einen leeren Stuhl neben sich wies. Dies war, wie Davin später von Nectan erfuhr, Jaceeran von den Aoithaara. Jaceeran, der es ohne ein einziges Wort und mit völlig unbeweglichem Gesicht fertigbrachte, dass Davin sich willkommen fühlte, trug die gleiche Kleidung wie alle anderen, auch wenn er das Wams stets offenließ und sich Lederschnüre in sein langes, schwarzes Haar flocht. Er war auf eine seltsame Art wortkarg und mitteilsam zugleich; meistens sagte eine Geste bei ihm mehr als eine ganze Rede bei anderen.

Der Ältere der beiden war gesprächiger als Jaceeran; er erhob sich freundlich lächelnd von seinem Stuhl, kam etwas unbeholfen auf Davin zu und sagte leise: »Verzeih, aber ich sehe nicht sehr gut.«

Er begann, mit den Fingerspitzen Davins Gesicht Zug für Zug und Linie für Linie nachzuzeichnen. Schließlich war er fertig und bedankte sich. Dann lud auch er Davin zum Sitzen ein.

Dieser Mann hieß Phaol. Er sprach nie laut, und Lärm und Hektik stießen ihn ab. Farben waren das Einzige, was er noch gut wahrnahm, doch seine anderen Sinne führten ihn gut und im Allgemeinen auch sicher durch die Welt.

»Iss etwas.« sagte Phaol. »Das Brot schmeckt wunderbar, du wirst sehen. Hyans Frau hat es gebacken.«

»Wer ist Hyan?« fragte Davin.

»Das bin ich.« warf der alte Mann ein. »Meine Frau heißt An-Chio. Und das Brot ist wirklich gut. Greif zu.«

Noch einmal ließ Davin sich das nicht sagen. Hungrig, wie er war, blieb von dem Brotlaib auf seiner Seite des Tisches nicht viel übrig. Auch der andere Brotlaib wurde alle, wenn auch mehr Menschen von ihm aßen. Als Davin sich schließlich aufseufzend zurücklehnte, musste Hyan lachen.

»Mein Weib wird sich freuen.« sagte er. »Lange schon haben wir hier niemanden mehr mit einem solchen Appetit gehabt.«

Davin wurde rot und stammelte etwas von einem langen Tag und einem Mordshunger, wobei er sich nur bei Letzterem völlig sicher war, dass es stimmte. Die Anderen nickten verständnisvoll.

Nectan stand auf.

»Komm.« sagte er. »Ich zeige dir Burg Setan.«

Sie gingen durch das Hauptportal hinaus in den Hof. In der Mitte des Burghofes stand ein alter Brunnen. Von ihm ausgehend, bildeten die Pflastersteine des Hofes konzentrische Kreise – wie Wellen in einem Teich, wenn ein Stein hineingefallen ist. Dort, wo der Hof nicht an Gebäude grenzte, umgab ihn eine Mauer, die von einem Wehrgang gekrönt war. Über eine von mehreren schmalen Treppen kletterten sie hinauf. Von oben hatte man einen wunderbaren weiten Blick über eine tiefe Klamm hinweg auf dichten Wald und einige Hügel, die sich im Dunst in der Ferne verloren. Durch die Klamm rauschte und tobte der Fluss, den Davin tags zuvor schon gehört hatte. Es ging sehr tief und sehr steil hinunter und Davin musste unwillkürlich schlucken. Nectan grinste.

»Diese Burg ist noch nie durch Waffengewalt eingenommen worden. Unschwer zu erkennen, weshalb. Nicht wahr?«

Er schwieg einen Moment und führte Davin dann weiter den Wehrgang entlang. Burg Setan war auf drei – nein, zweieinhalb Seiten – von dieser Klamm umgeben. Auf der vierten Seite befand sich das Tor, auf der übriggebliebenen halben Seite zog sich ein schmaler Pfad in Windungen einen steilen Hang hinab, bis etwa auf die Höhe des Flusses.

»Was für ein schönes Land!« entfuhr es Davin.

»Nicht wahr?« sagte Nectan erneut. »Aber auch diese Schönheit hat ihre Schatten. Zum einen ist dies hier nicht der Mittelpunkt der Welt – um die Wahrheit zu sagen, für etwas mehr als drei Viertel des bewohnten Lands ist Setan kaum mehr als eine ferne Sage und für den Rest eine winzige Burg ohne jede Bedeutung. Die aber, die von unserer Bedeutung wissen, sind uns nicht freundlich gesonnen.«

»Ich verstehe nicht ganz.« meinte Davin.

Nectan verzog das Gesicht. »Erklärungen sind nicht meine Stärke. Außerdem entnehme ich deinem Verhalten, dass du im Moment nicht über dein gesamtes Gedächtnis verfügst …«

»Absolut nicht!« unterbrach ihn Davin.

Nectan machte ein betroffenes Gesicht. »So schlimm? Ich dachte mir wohl, dass du mit ein paar Gedächtnislücken hier auftauchen würdest, aber – wieviel weißt du?«

Davin zuckte die Schultern. »Meinen Namen und dass ich gestern unter einem Baum vor dem Burgtor aufgewacht bin.«

»Na.« meinte Nectan. »Das ist nicht gerade viel.«

Er zwirbelte gedankenverloren an seinem Schnurrbart herum. Dies war ein völlig sinnloses Unterfangen, da der Schnurrbart weder die nötige Länge noch die nötige Dichte zum Zwirbeln aufwies.

»Dann müssen wir ganz von vorne anfangen.« meinte er. »Hm. Am einfachsten wird es wohl, wenn ich dir erkläre, was wir sind und was wir machen. Also, wir sind eine Art Schule.«

Das Wort sagte Davin nicht viel.

»Ein Seminar.« versuchte Nectan zu erklären, »Eine Unterrichtsstätte. Nun ja, in gewisser Weise – und das schließt dich mit ein, denn sonst wärst du nicht hier – sind wir alle, mit Ausnahme Hyans und An-Chios, Magier.« Freudestrahlend blickte er Davin an, der immer noch nicht genau wusste, worum es ging.

»Weißt du, ich habe einen Ruf ausgeschickt.« fuhr Nectan fort. »Einen sehr mächtigen Ruf, einen, der die begabtesten Menschen dieser Welt zusammenbringt, hierher nach Setan. Leider konnte ich nicht verhindern, dass dieser Ruf ein wenig ausufert, das heißt, aus dieser Welt heraustritt und sich wer weiß wo herumtreibt. Und deshalb bist du hier.«

»Das heißt, du hast mich von irgendwo weggerissen und hierher gebracht, nur mit einem Ruf?« fragte Davin ungläubig. »Kannst du mich auch zurückbringen?«

Nectan schlug die Augen nieder und druckste ein wenig herum.

»Nun, äh,« meinte er. »Wenn ich wüsste, von wo dich der Ruf hergebracht hat, vielleicht. Aber das weiß ich nicht. Wie gesagt, so ein Ruf ist schwer zu beherrschen und zieht unvorhergesehene Kreise.«

Davin spürte Ärger in sich aufwallen, als er Nectans unbeholfene Versuche einer Erklärung anhörte.

»Aber dass auch du ein Magiebegabter bist,« beeilte sich dieser zu sagen, »ist offensichtlich. Vielleicht war es eine höhere Macht, die dich hierher brachte …«

Gerade in diesem Moment tauchte Elenis auf dem Wehrgang auf, und das war gut so, denn Davin war wirklich wütend und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

»Wirst du bleiben?« fragte sie Davin, doch als sie seinen Gesichtsausdruck sah, wandte sie sich an Nectan.

»Was hast du ihm erzählt?«

»Äh, er hat sein Gedächtnis verloren.« erklärte Nectan sichtlich niedergeschlagen.

»Ach herrje.« meinte Elenis und blickte Davin mitfühlend an.

»Ohne deine Erinnerungen haben wir gar keine Chance, herauszufinden, wo du herstammst. Ich fürchte, du hast im Moment gar keine Wahl, als hierzubleiben, solange, bis dein Gedächtnis wiederkehrt.«

Sie legte ihre Hand beruhigend auf seinen Arm und Davin hatte schon gar nicht mehr so viel dagegen, zu bleiben.

»Ich erkläre ihm das Ganze.« sagte Elenis zu Nectan, der das sehr erleichtert aufnahm. Sie fasste Davin bei der Hand und zog ihn mit sich bis zu einem Eckturm, in dem ein umlaufender Steinsims in Kniehöhe zum Sitzen einlud.

»Wo soll ich anfangen?« meinte sie. »Was wir sind, hat Nectan dir erzählt?«

Davin nickte.

»Gut.« sagte Elenis. »Das mit dem Ruf, das war seine Idee, Nectans, meine ich. Phaol hat ihm dabei geholfen, aber wir anderen alle sind durch den Ruf erst hier, von näher oder ferner, wenn auch keiner von so weit wie du. Übrigens bist du noch lange nicht der letzte, den wir erwarten. Dreizehn oder vierzehn sollen es insgesamt werden. Der Zweck des Ganzen ist nicht leicht zu erklären. Vereinfacht gesagt ist es so, dass Nectan versucht, einen Rat der Magier aufzubauen, wie er vor Jahrhunderten hier einmal bestanden hat. Dieser Rat soll ein Gegengewicht bilden gegen die Bedrohung aus Moraygh.«

Davin fröstelte ein wenig.

»Dieser Name kommt mir bekannt vor.« meinte er. »Aber ich weiß nicht, woher.«

»Moraygh ist eine Festung hoch im Norden; einst war es der Sitz der Sarkhan, einer Rasse mächtiger und machtbesessener Wesen, die heute von vielen als Götter verehrt werden – aber das zu erklären, müsste ich die gesamte Geschichte der Welt erzählen, und das führt jetzt zu weit. Es genügt vorerst, wenn du weißt, dass es einige menschliche Erben dieser Sarkhan gibt, die genauso machtbesessen sind und die gerne über die Welt herrschen würden.«

Elenis überlegte, wie sie die Situation klar darstellen konnte, ohne dass ihre Erklärungen allzu sehr ausufern würden.

»Da es kaum fähige, ausgebildete Magier mehr gibt,« fuhr sie fort, »beschloss Nectan, der der Enkel eines der alten Ratsmitglieder ist, einen Ruf auszuschicken, der noch unverdorbene Talente anlocken sollte. Er benutzte dazu den Grundstein Setans, den Silbersplitter. Das ist ein Stück eines alten, mächtigen Kristalls, der gegen Ende der Zeit des ersten Rates in fünf Teile zerbrach. Nur einer dieser Teile ist noch hier, die anderen gingen verloren. Jetzt weißt du ungefähr über die Lage Bescheid.«

Davin dachte nach. Er hatte nichts mehr dagegen, in Setan zu bleiben, was nur zum Teil auf Elenis’ Charme zurückzuführen war. Davin war neugierig geworden auf den Beginn dieser ganzen Geschichte, die Elenis angedeutet hatte – und auf ihr Ende.

»Gut, ich bleibe.« sagte er und fügte schnell hinzu: »Zumindest bis ich wieder klar denken kann.«

Elenis strahlte über das ganze Gesicht. »Das ist wunderbar. Komm, ich führe dich weiter herum. Vor allem die Bibliothek musst du kennenlernen, das ist ein Ort, an dem du deinen Wissensdurst so richtig stillen kannst.«

Die Bibliothek war ein hoher, mit dicken Teppichen ausgelegter Raum, in dessen Regalen sich die Bücher bis zur Decke türmten. Es gab ein Regal, in dem nur Karten aufbewahrt wurden, ein anderes barg nur alte Schriftrollen in schützenden Lederhüllen. Mehrere Regale waren mit Büchern über Geschichte vollgestopft, auch ein nicht unansehnliches Arsenal an Werken über die Magie war dort. Mit einem Wort, für jemanden mit der entsprechenden Wissbegier war es ein Paradies.

»Ich lasse dich wohl erst einmal alleine suchen.« meinte Elenis, nachdem sie ihm in groben Ansätzen den Aufbau der Bibliothek erklärt hatte.

Davin hatte ein Buch zur Hand genommen und bemerkte schon kaum noch, dass sie sich entfernte. Es war ein Buch über die Anfänge der Kultur und Gesellschaftsordnung, wie sie noch zur Zeit des ersten Rates bestanden hatten. Davin hatte – nach kurzem Überfliegen – den Eindruck, dass ihn dieses Buch wohl am ehesten an ein Verständnis der Situation, in der er sich befand, heranführen würde. Er nahm sich einen Stuhl und begann zu lesen.

Nach kurzer Zeit hatte er etwas über jene Wesen gelernt, die später (viel später) von einem Großteil der Bevölkerung als Götter verehrt werden sollten: die Solhan. Im Buch war die Rede von neun namentlich bekannten Solhan, aber eine Randnotiz besagte, dass es ursprünglich wohl einmal mehr gewesen seien. Diese Solhan waren von einer anderen Welt in diese Welt gekommen und hatten nahe einem heiligen Quell – wobei nicht klar wurde, ob sie diesen Quell entdeckt oder erschaffen hatten – ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Dort hatten sie dann einige Zeit gelebt und gingen ihren eigenen Angelegenheiten nach, ohne sich viel um die in den Westlanden ansässigen Bewohner zu kümmern. Diese Bewohner, so las Davin mit Erstaunen, teilten sich in vier Völker auf: die Van, die in den Wäldern lebten und ganz für sich blieben, die Airi, die damals die mächtigste Rasse waren, die Menschen, von denen viele aus dem Osten in das Land der Airi eingewandert waren, und das Feenvolk, die Durubhani.

Besonders die Menschen siedelten sich nahe der Quelle, in einem Land namens Scomej an. Aber auch einige Airifürsten hätten gerne Anteil am Wissen der Solhan gehabt, vor allem an dem Wissen über das Geheimnis der Unsterblichkeit, das die Solhan besaßen. Die Solhan jedoch hüteten dieses Wissen gut; einige von ihnen fürchteten um die Folgen, die dieses Wissen für die Westlandvölker haben könnte, andere aber dachten eher an die Macht, die es ihnen verlieh.

Dann kam jener Tag, als die Contari landeten.

Davin rückte seinen Stuhl näher zum Fenster, denn die Sonne war weiter gewandert und in der Bibliothek wurde es rasch dunkler.

Die Contari waren wohl Menschen, die von jenseits des Meeres kamen – von dort, wo die Solhan herstammten. Sie landeten südlich der Quelle in drei großen Schiffen, auf denen jeweils einhundertundzwei von ihnen waren, und zerstreuten sich rasch. Mit Ausnahme der Mischehen zwischen Menschen und Durubhani oder Airi waren sie die einzige Ursache für das Auftreten von magischen Fähigkeiten unter den Menschen, denn diese waren bis dahin kein magisches Volk gewesen. Die Solhan sahen diese Entwicklung mit Neid oder Sorge, je nach Veranlagung. Es kam zum ersten Mal seit ihrer Ankunft zum Streit unter ihnen, doch dieses Mal einigten sie sich noch: Sie verboten die Mischehen zwischen Menschen und Contari und gewannen unter den Contari einige Anhänger, die so dachten wie sie. Aus diesen bildeten sie die Quellwache, die das Leben spendende und unsterblich machende Wasser des Quells vor dem Zugriff aller anderen schützen sollte. Doch einem Contari gelang es, ein Fass Wein mit Quellwasser zu mischen; und während eines Festes tranken beinahe alle Contari und viele mit ihnen befreundete Airi davon. Von jenem Zeitpunkt an gab es nicht nur sehr viele Unsterbliche in Scomej, sondern auch zwei miteinander zerstrittene Solhangruppen. Eine Gruppe schließlich zog aus Scomej fort und gründete Moraygh.

Davin überschlug einige Kapitel, die ihm nicht wichtig erschienen, auch die Beschreibung des Krieges zwischen den verbliebenen Solhan und den neu benannten Sarkhan, und klappte das Buch in der Gewissheit zu, dass in jenem verheerenden Krieg beinahe alle Solhan und Sarkhan den Tod gefunden hatten. Dennoch – so hieß es – würden Sarkhan, Solhan und Contari weiterhin die Geschicke der Welt beeinflussen.

Da es jetzt in der Bibliothek zu dunkel zum Weiterlesen geworden war, ging er durch eine Tür hinüber in einen zweiten Saal. Dieser war etwas kleiner als die Bibliothek, aber noch gemütlicher eingerichtet. Mittlerweile, so verkündete ihm sein knurrender Magen, dürfte er wohl das Mittagessen verpasst haben. Die Fenster dieses Saales schauten in eine andere Richtung als die der Bibliothek, so dass es hier mehr als genug Licht gab.

Davin versuchte, seinem Magen keine Beachtung zu schenken, und nahm ein zweites Buch zur Hand, das er aus dem ersten Saal mitgebracht hatte. Es knüpfte – soweit er es beurteilen konnte – fast nahtlos an das erste Buch an.

In diesem Augenblick betrat jemand die Bibliothek. Es war Marcuila, und sie trug ein Tablett mit Speisen.

»Glaub’ bloß nicht, dass das jetzt zur Gewohnheit wird.« meinte sie, als sie Davins hungrigen Blick bemerkte. »Aber du bist neu, also geht es an, dass du mal das Mittagessen verpasst.«

Davin bedankte sich bei ihr, etwas verwirrt durch den spöttischen Tonfall Marcuilas. Marcuila ließ ihn rasch wieder allein; die Entscheidung zwischen Essen und Lesen fiel ihm nicht schwer. Als er das Buch wieder aufschlug, war eine weitere halbe Stunde des Tages verstrichen.

Das Buch begann mit der Neuordnung der Welt nach dem Krieg. Es waren die Airi gewesen, die den Krieg am besten überstanden hatten, und ihre Kultur erlebte eine relativ lange, ungestörte Zeit der Blüte in ihrer Seestadt benannten Hauptstadt und den angrenzenden Landen, bis der letzte übriggebliebene Sarkhan von Moraygh aus eben diese Kultur bedrohte und schließlich auch zerstörte. Dieses Buch wimmelte von Namen und Daten, die Davin sich beim besten Willen nicht merken konnte. Einige aber tauchten immer wieder auf. Der Name des Airikönigs Margaw zum Beispiel, der bei jenem legendären Fest wie viele seiner Gefolgs leute in den Genuss der Unsterblichkeit gekommen war. Ein anderer Name war der eines der drei Männer, die die Contarischiffe über das Meer bis nach Scomej gesteuert hatten. Dieser Mann hieß Cairran. Er war, so hieß es, ein Bruder von Emrys, ebenfalls einem Steuermann; und Emrys war es gewesen, der damals den Wein mit dem Quellwasser vermischt hatte.

Margaw fiel in einer der vielen Schlachten, und Cairran wurde gefangen genommen und an eine der Säulen Morayghs gekettet. Dort, so stand es in dem Buch, warte er noch heute auf Rettung. Der letzte Sarkhan dehnte seine Macht weit über die Welt aus, nur das Reich Agarth und einige wenige, entlegene Burgen widerstanden – unter ihnen auch Burg Setan. Hier hatte Sagramor der Weise eine Enklave gegründet, die von ihm selbst und einem Rat aus zwölf weiteren Magiern geleitet wurde.

Burg Setan war vieles zu dieser Zeit: Schule, Fluchtburg und Waffenschmiede. Von hier aus startete der Befreiungsfeldzug, der erst vor den Toren Morayghs zum Stehen kam.

Das Buch sprach von Verrat, und dass der Kristall aus der Quelle des Lebens, den Sagramor besaß, zerstört wurde. Im Laufe der Zeit, und weil auch Sagramor, der Leiter des Rates, vor Moraygh verschollen war, löste sich der Rat von Setan auf. Vier der fünf Teile des Kristalls gingen dann auf den Reisen einzelner Magier verloren.

Hier endete dieses Buch. Davin schloss es und ließ in Gedanken die Geschehnisse noch einmal Revue passieren. Den Kristall wieder zu vereinen, was Nectan vielleicht vorhatte, die einzelnen Splitter zu suchen und einer erneuten Bedrohung aus Moraygh zu widerstehen war mehr als eine Lebensaufgabe.

Davin streckte sich, schnitt eine Grimasse wegen seiner schmerzenden Rückenmuskeln und stand auf. Er brauchte Nectan nicht lange zu suchen; der neue Leiter von Setan saß mit Phaol in der großen Halle. Als Davin eintrat, blickten beide auf, Nectan mit ängstlicher Erwartung im Blick, Phaol mit nichts als purer Freundlichkeit. Davin lächelte sie an.

»Ich bleibe.« sagte er.

Nectan fing schon am nächsten Tag an, Davin die Grundbegriffe der Magie beizubringen. Er meinte, es gebe keine Zeit zu verlieren. Sie begannen damit, dass er Davin beibrachte, ein Bewusstsein für das zu entwickeln, was in ihm magisch war und was nicht. Das war gar nicht so einfach – vor allem war es nicht einfach, die dafür erforderliche Konzentration aufzubringen. Dennoch lernte Davin bald, seine verschiedenen Arten der Wahrnehmung, das heißt, die Wahrnehmung durch seine fünf Sinne und die Wahrnehmung durch seine Magie, auseinanderzuhalten. Die magische Wahrnehmung war dann am stärksten vorhanden, wenn alle Sinne ausgeschaltet waren – das tat Nectan, indem er Davins Augen und Ohren verband und ihn auf einen Stuhl in einen völlig abgedunkelten Raum setzte. Nach einer Weile der Adaptation (er brauchte dafür länger, als seine Augen gebraucht hätten, sich von hellem Tageslicht auf völlige Dunkelheit umzustellen) nahm Davin dann auch tatsächlich Dinge mit seiner »magischen Sicht« wahr. Er wusste, wo Nectan stand, auch, dass eine weitere Person im Zimmer war, deren Ausstrahlung er aber nicht einordnen konnte. Es war entschieden nicht Elenis, deren Ausstrahlung er überall wiedererkannt hätte, auch nicht Phaol. Es musste Marcuila sein.

Davin teilte den beiden Wartenden mit, was er wahrnahm, und Nectan nahm ihm die Binden ab, mit denen sein Kopf umwickelt gewesen war.

»Sehr gut.« meinte er. »Das hast du erstaunlich schnell gelernt. Nun müssen wir ein wenig von den Grundlagen abweichen, und herausfinden, in welchem Bereich der Magie deine größte Begabung liegt.«

Marcuila lächelte ihr sprödes Lächeln und verließ die beiden wieder.

»Es gibt eine Menge verschiedener magischer Fähigkeiten,« erklärte Nectan, »und jeder von uns hat – neben seinem allgemeinen Können – eine besondere Begabung auf einem dieser Gebiete. Das heißt, er kann das, was alle anderen auch können – je nach Begabung und Ausbildung mehr oder weniger – und eine Sache kann er besonders gut. Kannst du mir soweit folgen?«

Davin fand zwar, dass Nectan etwas weitschweifig war, nickte aber bloß.

»Gut.« meinte Nectan. »Elenis’ besondere Begabung ist – wie du vielleicht schon gespürt haben wirst – die Heilkunst. Eine äußerst seltene und kostbare Begabung! Ihre Ausstrahlung allein bewirkt schon, dass sich ihre Umgebung wohl fühlt.«

Davin dachte bei sich, dass er jetzt wohl auch jenes seltsame Gefühl, das ihn in Elenis’ Gegenwart immer beschlich, einordnen könne: es war einfach ihre natürliche Ausstrahlung!

Nectan fuhr unterdessen fort zu erklären: »Jaceeran ist ein Sheom; das ist jemand, der in Träumen und Visionen Bilder aus kommenden Zeiten sieht. Leider fehlt ihm meist die Erkenntnis, diese Bilder einzuordnen, sonst gäbe er sicher einen guten Propheten ab; und die Welt hätte einen nötig, das kann ich dir sagen! Wo war ich? Ach ja, Phaols Spezialität ist die innere Ruhe, er ist gewissermaßen ein in sich geschlossenes Universum. Wenn er Magie nach außen dringen lässt, kommen manchmal Ergebnisse dabei heraus, die sogar mich noch verblüffen.«

»Und Marcuila?« fragte Davin.

»Marcuila kann über eine kurze Distanz hinweg Dinge bewegen; sie hat das so perfektioniert, dass sie als Kriegerin kaum noch zu schlagen ist. Es genügt, wenn sie im Duell dem Gegner im entscheidenden Augenblick einen Schubs gibt, nun ja, wie soll ich dir ein Duell erklären …«

»Das sagt mir etwas.« unterbrach ihn Davin.

»Wirklich?« sagte Nectan. »Hast du etwas von deiner Erinnerung zurück?«

Davin musste das verneinen.

»Aber vieles von dem, was du sagst, ist mir irgendwie … vertraut.« meinte er. »Vieles taucht dann auf, wenn ich es brauche. Ein Duell – das ist ein Kampf mit Waffen zwischen zwei Menschen. Waffen … nun, ich denke, das weiß ich auch. Nur wie sie das macht mit dem Schubs, also..«

»Das ist auch erst einmal nicht so wichtig.« sagte Nectan. »Das bringt Marcuila dir schon bei. Deine Begabung scheint sowieso woanders zu liegen, wenn ich auch noch nicht weiß, wo. Nicht genau, jedenfalls, denn dass du irgendetwas mit Erkennen zu tun hast, scheint mir recht klar nach dem heutigen Tag.«

Er seufzte leise und stand dann auf.

»Aber morgen ist auch noch ein Tag.« sagte er. »Jetzt hängt mir erst einmal der Magen in der Kniekehle und dir geht es wohl ähnlich. Lass uns nachsehen, ob An-Chio aus dem, was Jaceeran von der Jagd mitgebracht hat, etwas Vernünftiges kochen konnte.«

Er blinzelte Davin zu. »Das würde ich übrigens weder vor Jaceeran noch vor unserer guten Köchin sagen; sie haben nämlich eins gemeinsam: sie sind sehr empfindlich und leicht beleidigt.«

Nach dem Abendessen, das alle zusammen in der großen Halle zu sich nahmen, ging Davin auf den Hof und stieg von da zum Wehrgang hoch. Wenn er die Augen schloss, und die Übungen des Nachmittags rekapitulierte, konnte er die Anwesenheit der anderen spüren wie einen Lufthauch oder ein kleines Licht. Noch etwas spürte er: ein helles, klares Feuer, das wie die Strahlen einer Sommersonne immer dann auf seiner Stirn glühte, wenn er das Gesicht dem Bergfried zuwandte. Dort musste der Silbersplitter sein.

Das dumpfe Grollen eines fernen Gewitters riss ihn aus seinen Grübeleien; über dem Meer, das in der Abenddämmerung nur undeutlich zu erkennen war, zogen dunkle Wolken auf. Der Fluss mündete nur wenige Meilen entfernt in dieses Meer, das westlich von Burg Setan lag. Man musste einen nicht unbeträchtlichen Höhenunterschied überwinden, wollte man zu diesem Meer und den Fischerdörfern an seiner Küste gelangen, hatte Nectan ihm erzählt. Davin reizte die Aussicht auf einen Ausflug ans Meer, doch verschob er diesen Plan auf später.

Wind war aufgekommen, und die Luft roch nach Feuchtigkeit. Das war das Gewitter, das Hyan am Morgen angekündigt hatte. In der zunehmenden Dunkelheit sah Davin plötzlich einen Lichtstreif über den Himmel huschen; instinktiv fröstelte er und sagte halblaut:

»Glück und Gnade allen Menschen auf See.«

Im selben Moment spürte er die Kraft dieses Segens, der sich von dem Ort, an dem er stand, strahlenförmig zum Meer hin ausbreitete. Hinter ihm holte jemand tief Luft; er drehte sich um und sah Phaol an der Brüstung lehnen.

»Ein uralter Segenswunsch.« sagte Phaol. »Ein Zauber mit Kraft dahinter. Fast so alt wie der Reisesegen der Airi. Es wundert mich, dass du ihn kennst, wo du doch nicht von hier bist.«

»Ich kannte ihn bis eben auch nicht.« antwortete Davin. »Irgendetwas in mir erinnerte sich an ihn.«

Phaol nickte nur nachdenklich.

»Noch mehr wundert es mich, wie leicht, und mit wieviel Gehalt du den Zauber gewirkt hast.« sagte Phaol. »Du bist nicht unausgebildet. Du hast wohl nur viel vergessen.«

Er schloss kurz die Augen, was angesichts seiner schlechten Sicht unnötig erschien.

»Willst du nicht wieder in die Halle gehen?« fragte er dann. »Hier wird es wohl gleich zu ungemütlich für einen längeren Aufenthalt.«

»Ja, ich komme gleich.« sagte Davin und sah Phaol zu, wie er mit erstaunlicher Sicherheit die Treppe hinunterging.

In der folgenden Woche trafen zwei weitere Gerufene ein, ein Mann und eine junge Frau. Die Frau war ein zerbrechlich wirkendes Geschöpf mit rotblonden, langen Haaren und übergroßen, blaugrünen Augen. Nectan nannte sie Yverle. Ihre Haut, weiß und von schmalen, hellblauen Adern durchzogen, schien dünner zu sein als das Pergament der alten Bücher der Bibliothek, und ihre Ohren waren spitz und hatten keine Läppchen.

Der Mann hieß Mattil und war fast das genaue Gegenteil von Yverle: beinahe sieben Fuß groß und entsprechend breitschultrig, sah er aus wie ein Berg am Ufer eines Meeres. Er hatte Hände, die doppelt so groß waren wie die Yverles, und in seinem kantigen Gesicht war genug Platz für das breite Lächeln, das oft seine Züge erhellte.

Wo Yverle übermäßig scheu war, zeigte Mattil eine Direktheit, die in Verbindung mit seiner permanent guten Laune geradezu nervtötend wirkte. Er hatte nicht eine Spur Feingefühl, außer vielleicht Yverle gegenüber, aber er war ein guter Kamerad und für jeden Ulk zu haben.

Marcuila und Mattil waren bald wie Hund und Katze: sie reizte ihn mit spöttischen Blicken und trockenen Bemerkungen, und er schüttete ein ums andere Mal eine gute Portion seines derben Humors über sie aus.

Drei Wochen nach ihrer Ankunft waren sie dann zu neunt. Mitten in der Nacht war eine weitere Frau eingetroffen, und Nectan, der als einziger aufgeblieben war, um sie zu begrüßen, hätte sie fast übersehen, so sehr passte sich ihre dunkle Hautfarbe den nächtlichen Hintergründen an. Ihre dunkelbraune Kleidung trug nicht dazu bei, sie besser sichtbar zu machen. Es war sonnenklar, welches Gebiet der Magie ihr am nächsten lag, nämlich das der Tarnung. Ihr Name war Krihs.

Die meisten der Bewohner von Setan sahen zum ersten Mal einen Menschen wie Krihs. Sie kam aus dem Süden, von sehr weit her – es war weiter weg als Jaceerans Heimat weit im Osten, und das wollte etwas heißen. In ihrer Heimat gab es eine glühende Sonne, die sich mit Regenschauern abwechselte, die die Kraft von Wasserfällen hatten. Die Wälder zuhause dampften, sagte Krihs. Und es war dort immer warm, im Gegensatz zu Agarth oder Naraim oder gar Windesan. Sie lehnte die Sandalen ab, die die anderen trugen, und bestand auf ihren gefütterten Stiefeln.

Das einzig wirklich Helle an ihr waren die Zähne und das Weiße in ihren Augen. Sie war schmächtig von Gestalt und von zurückhaltendem Wesen. Die Haare auf ihrem Kopf rasierte sie bis auf die Kopfhaut ab und ließ nur am Hinterkopf einen kleinen, kurzen schwarzen Zopf stehen.

Da Nectan sich am nächsten Tag ausschließlich mit Krihs beschäftigte, kümmerten sich Elenis und Phaol um die beiden nächsten Neuankömmlinge, denn sie waren nach Nectan die, die am längsten in Setan waren. Elenis’ Schützling hieß Lira – mit einer ganzen Menge klingender Silben hintendran, die keiner aussprechen konnte, weshalb sie in der Folge einfach weggelassen wurden. Ihr Teint lag irgendwo zwischen dem Jaceerans und Nectans – die Farbe goldbraun kam ihm wohl am nächsten. Sie war zu Beginn sehr vorsichtig und etwas ängstlich, fügte sich aber rasch in die Gemeinschaft ein und war überall da anzutreffen, wo es Arbeit gab, die erledigt werden musste. An-Chio war begeistert über die Hilfe, und Hyan selbst lobte Liras viele handwerkliche Talente. Sogar Nectans Kleidung wurde gründlich überarbeitet und sah nicht mehr nach einer Ansammlung von Flicken aus.

An Tonila – der anderen Frau, die im Laufe des Spätnachmittags eintraf – war so viel Bemerkenswertes wie an einem Feldstein am Rande eines mit Feldsteinen eingefassten Weges. Sie wirkte fast schlicht, wenn man die leichte Aura nicht beachtete, die sich immer dann einstellte, wenn sie auf ihrem Instrument, einer Fiedel, spielte. Davins mittlerweile verfeinerten Sinne bemerkten die magische Aura bald auch in ruhigen Momenten. Auch ihre Stimme konnte sich durchaus hören lassen; in der Tat hatte sie bislang ihr Brot mit ihrer Stimme und ihrer Fiedel verdient. Ihre täglichen Übungsstunden allerdings machten nicht Allen Freude; insbesondere Mattil, dessen Zimmer unweit ihrem lag, bekam so lange Tobsuchtsanfälle, bis Nectan eingriff und Tonila umquartierte. Sie erhielt ein Zimmer, das auf einem anderen Gang als die der meisten anderen lag, mit Ausnahme der Räume von Marcuila und Phaol. Marcuila machte ihr Spiel nichts aus. Im Gegenteil, oft besuchte sie Tonila, wenn diese übte – und Tonila spielte dann für sie. Phaols Gelassenheit war sowieso unerschütterlich.

In der Woche darauf gab es noch mehrere Gewitter, eines war sogar ein richtiger Sturm, der ungeheure Wassermassen über den Zinnen der Burg niedergehen ließ. Keiner traute sich nach draußen, alle hatten sich in der Bibliothek versammelt und starrten trübselig nach draußen oder versuchten, sich zu unterhalten. Tonila griff nach ihrer Fiedel, doch ein böser Blick von Mattil ließ sie das Instrument wieder weglegen.

In jener Sturmnacht lernte Davin das Rupajspiel. Rupaj ist ein sehr komplexes und schwieriges Spiel, mit mehr Regeln als alle anderen Spiele, die Davin noch kennenlernen sollte. Würfel und Karten sind ein unterhaltsamer Zeitvertreib und für einige Menschen eine Sucht, doch das Rupaj ist mehr. Viele Herrscher der alten Zeit waren eher für ihre brillante Spielweise als für ihr kriegerisches Engagement bekannt, und manch eine Krone wechselte ihren Besitzer nicht auf dem Schlachtfeld, sondern an einem Rupajbrett. Ein echter Rupajspieler ist häufig ein Philosoph, immer ein Stratege und nie mit einem Spielverlauf voll und ganz zufrieden.

Das Rupaj besteht aus einem quadratischen Brett mit zehn mal zehn Feldern und einer bestimmten Anzahl verschiedener Spielfiguren. Im Osten ist eine kleinere Ausgabe mit neun mal neun Feldern üblich. Die Spielfiguren haben gewisse Rangstufen, deren Spielwert und Beweglichkeit zu Anfang genau festgelegt sind. Die Werte können sich aber während des Spiels durchaus ändern, je nach Konstellation auf dem Brett, Position der Figur oder benachbarten Figuren. Pro Runde darf ein Spieler zwei Figuren bewegen, es sei denn, er bewegt die höchste Figur, den Heerführer. Bestimmte Felder auf dem Brett verändern das Schlagrecht, das heißt die Figuren auf diesen Feldern dürfen dann nur noch von gleich- oder höherwertigen Figuren geschlagen werden. Ansonsten gilt das einfache Schlagrecht. Sieger ist der, der alle Figuren des Gegners geschlagen oder bewegungsunfähig gemacht hat.

Außer diesen Grundregeln gibt es noch eine Vielzahl von Sonderregeln, die meistens erst durch häufiges Anwenden im Spiel gelernt werden. Sie betreffen meist bestimmte Spielkonstellationen oder den Austausch einzelner Figuren.

Am Morgen nach der Sturmnacht schlief Davin sehr lange, denn Nectan hatte darauf bestanden, ihm die Grundbegriffe richtig beizubringen. Davin schwirrte zwar der Kopf, dennoch wagte er sich an eine erste Partie, die er natürlich schnell verlor, ebenso wie eine zweite Partie, die allerdings schon etwas länger als die erste dauerte. Sein spätes Aufstehen hatte zur Folge, dass er nicht nur das Frühstück verpasste, sondern auch der Erste war, der den nächsten Gerufenen erblickte. Als er nämlich das Fenster öffnete, um frische Luft in die Kammer zu lassen, sah er auf dem Weg zur Burg eine dunkle Gestalt. Davin zog sich schnell etwas an und eilte hinunter in die Halle, wo er niemanden antraf. Auf dem Hof hatten sich Nectan, Mattil, Phaol und Elenis zusammengefunden, um den Neuankömmling zu begrüßen. Davin schloss sich ihnen an.

Es war ein Mann, der mit kräftigen Schritten der Burg zustrebte, den Kopf gesenkt und das Haar mit Staub bedeckt. Die schwarze Farbe, die es eigentlich hatte, schimmerte nur leicht durch den dicken grauen Belag. Auch seine Kleider waren staubbedeckt, doch in einem relativ guten Zustand. Einige wenige Risse waren fachkundig genäht worden und die Stiefel sahen geradezu neu aus – wenn man den Staub nicht beachtete, der auch auf ihnen haftete. Alles in allem sah er nicht so aus, als habe er die vergangene Sturmnacht im Freien verbracht, denn der Regen hätte gewiss allen Staub fortgespült.

Am Tor blieb er stehen, musterte die Anwesenden flüchtig und nickte, als Nectan seinen Namen nannte: Arthan.

Er ließ nicht zu, dass Phaol sein Gesicht berührte, um sich ein Bild von seinen Zügen zu machen, auch Davins zur Begrüßung ausgestreckte Hand übersah er einfach. Wie geistesabwesend betrachtete er die Burg rings um sich, bis sein Blick am Bergfried haften blieb. Erst da glomm in seinen Augen so etwas wie Freude oder vielleicht auch nur Überraschung.

Davin stellte fest, dass ihn Arthans Verhalten tief verletzte, tiefer, als er es sich bei einem Unbekannten hätte vorstellen können. Nectan führte Arthan zu seinem Zimmer, das auf dem Gang lag, auf dem Tonilas Raum war.

Als Arthan schon schlief, traf Davin unten in der Halle mit den anderen zusammen, die genau wie er noch keine Lust hatten, schlafen zu gehen. Mattil machte seinem Unmut über den Neuankömmling in starken Worten Luft, und Nectan sprach etwas unglücklich über die Zeit, die eben ein jeder brauche, um sich einzugewöhnen. Elenis sagte gar nichts, sie wirkte genauso nachdenklich wie Marcuila, die rittlings auf einem der Stühle saß und vor sich hin starrte.

»Woher kenne ich ihn bloß …« hörte Davin Marcuila sagen, als er an ihr vorüber zu Elenis ging.

»Und was sagst du zu ihm?« fragte er Elenis, was er schon bald bereute, denn sie schnitt eine Grimasse und antwortete ziemlich ungehalten.

»Frag das mal lieber Mattil.« sagte sie. »Seine Meinung scheint heute Abend die einzig Wichtige zu sein.«

»Entschuldige mal.« entgegnete Davin beleidigt, »Ich frage ja bloß. Ich habe außerdem nicht vor, Mattil zu fragen, mir liegt etwas an deiner Meinung.«

»Verzeih.« Elenis schüttelte den Kopf. »Ich bin etwas gereizt. Was denkst du also über ihn?«

»Ich habe dich gefragt.« erinnerte sie Davin.

»Ach so, ja.« Elenis schloss die Augen und dachte sehr lange nach.

»Ich kann es nicht beschreiben.« meinte sie schließlich. »Es ist irgendetwas mit ihm, was ich nicht beschreiben kann. Etwas Vertrautes … Marcuila rätselt schon den ganzen Abend, sie denkt, sie hat ihn schon einmal gesehen, Mattil schimpft sich die Seele aus dem Leib und sogar Phaol ist unruhig, das kann ich bis hierher spüren. Keinem von uns ist er gleichgültig.«

»Mir schon.« sagte Davin. »Es hat mich verletzt, dass er mir nicht die Hand gegeben hat.«

»Aber es hat dich tiefer verletzt, als es normal wäre.« sagte Elenis. »Es bringt dich sogar um den Schlaf, genau wie uns alle.«

»Das stimmt.« erwiderte Davin. Er wurde unterbrochen, als sich die Tür zum Treppenhaus öffnete und ein gesäuberter, in Kleidung aus Setan gehüllter Arthan in die Halle trat.

Er wandte sich an Nectan. »Ich würde gerne den Kristall sehen.« sagte er.

»Jetzt??« war alles, was Nectan hervorbrachte. Auch die anderen, sogar Mattil, waren sprachlos vor Staunen. Bislang hatte Nectan alle mit dem Hinweis vertröstet, sie würden den Silbersplitter dann sehen, wenn alle Gerufenen in Setan eingetroffen seien. Marcuila fand die Fassung als Erste wieder.

»Wir wollten warten, bis alle da sind.« sagte sie.

Arthans Gesicht blieb völlig ausdruckslos, als er »Gut.« sagte, sich umdrehte und ging. Danach ging die Diskussion natürlich erst recht los. Elenis war die Erste, die zu Bett ging, Davin hielt es nicht viel länger aus. Phaol, Marcuila und Nectan aber fanden erst in den frühen Morgenstunden in ihre Betten, zumal sich ihre Stimmung, als sie nur noch zu dritt waren, erheblich aufheiterte. Was diesen Stimmungswandel bewirkte, hätten sie nicht sagen können, doch waren sie ziemlich gutgelaunt und glücklich, als sie schließlich die Treppe hinaufstiegen. Davin spürte diesen Wandel im Schlaf; seine Träume veränderten sich, und er wachte am Morgen mit Hochstimmung auf.

Am Frühstückstisch wirkte nur Elenis erschöpft und übernächtigt.

Arthan war nicht da.

»Ratet, wo er ist.« sagte Elenis, als die ersten Mutmaßungen laut wurden.

»Auf dem Turm.« sagte Phaol.

»Spielverderber.« meinte Elenis. »Ja, auf dem Turm steht er. Und das schon die ganze Nacht.«

»Aber was macht er bloß da?« fragte Krihs.

»Ich habe ihn das auch schon gefragt.« antwortete Elenis. »Eine Antwort habe ich leider nicht bekommen – jedenfalls keine Antwort mit Worten.«

»Mit was denn?« mischte sich Mattil ein.

»Mit Gefühlen.« sagte Elenis. »Und jetzt lacht bitte nicht: Ich hatte das deutliche Gefühl, beschützt zu werden.«

»Wovor?« fragte Marcuila. »Keiner von uns zweifelt das an, was du sagst, Elenis; es ist etwas Seltsames um ihn. Aber ich habe da eine ganze Menge Fragen und keine Antworten. Nectan, vielleicht kannst du uns helfen, du hast ihn doch gerufen.«

»Der Ruf war die Sache des Silbersplitters.« wehrte Nectan ab. »Ich gab nur den Auftrag. Und ich erhalte vom Splitter auch wenig mehr als die Namen der Gerufenen.«

Für einen Moment redeten alle durcheinander, bis Nectan sagte:

»Und da ist noch etwas Merkwürdiges.«

»Was?« fragte Marcuila in die entstandene Stille hinein.

»Als ich die Namen erfuhr, erfuhr ich sie alle mehr oder weniger gleichzeitig.« erklärte Nectan. »Nur Arthans Name wurde mir später übermittelt. Phaol weiß, wie das gewesen ist: Der Ruf ist mehr eine Art Gefühl, eine Berührung. Jedesmal, wenn wir jemanden gefunden hatten in dieser Nacht, haben wir ihn oder sie berührt. Bei Arthan war es umgekehrt. Ich hatte das Gefühl, dass er uns berührt hat, nicht wir ihn.«

Keiner von ihnen kam auf eine Lösung der Frage, was das nun alles zu bedeuten hatte, und ob es überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Phaol schlug vor, man möge doch erst einmal abwarten und die Angelegenheit ruhen lassen. Und wenn Arthan auf dem Turm glücklich wäre, sollte man ihn ruhig dort lassen – der Hunger würde ihn noch früh genug herunterbringen. So gingen alle wieder ihren Beschäftigungen nach.

Diese Beschäftigungen waren in keiner Weise ungewöhnlich: Die eine Hälfte des Tages wurde gearbeitet, die andere gelernt. Am Abend setzte man sich meist zu einem Gespräch, einer Partie Rupaj, oder einem Becher Peschere zusammen. Das war ein berauschendes Getränk, das Hyan aus diversen Getreidearten braute. Die Arbeit in Setan umfasste hauptsächlich Feldarbeit auf der einen und Hausarbeit auf der anderen Seite. Zur Burg gehörten mehrere Felder, auf denen Getreide wuchs. Einige Felder lagen brach. Auch Vieh gehörte zur Burg Setan, wie auch einige Wiesen, auf denen es weidete. Das Melken der Kühe war eine von den Aufgaben, die die Gerufenen übernahmen, eine andere war das ganz normale Tagewerk auf den Feldern. An-Chio beschäftigte sich hauptsächlich mit Kochen, dem Zusammennähen von Kleidungsstücken und der Pflege ihres Gemüsegartens, der zwischen Küche, altem Speisesaal und Hauptgebäude in einem eigenen kleinen Innenhof lag. Einen Kräutergarten gab es auch, aber der lag außerhalb der Burg unweit des Haupttores, schon am Abhang über der Klamm. Elenis hatte ihn in Ordnung gebracht und verbrachte viel Zeit damit, dort Heilkräuter und Gewürze zu ziehen. Hyan selbst kümmerte sich um die Stallungen, die wenigen Pferde, mit eigener Wiese und eigenem Stall, und darum, die angehenden Magier bei ihrer Arbeit anzuleiten sowie die vorhandene Arbeit gerecht einzuteilen. Zwar ging es nicht immer ohne kleine Reibereien und gedämpfte Flüche über diese oder jene Arbeit ab, doch im Großen und Ganzen hatte Hyan keine Probleme. Auch Arthan verließ – wenn auch widerstrebend – seinen Posten auf dem Turm und legte mit Hand an. Wie Elenis und Nectan hatte auch er offenbar Erfahrung mit der Landwirtschaft, weswegen er so gut wie nie abwaschen oder die Treppe putzen musste. Jaceeran war der einzige taugliche Jäger unter ihnen; den größten Teil des Fleisches, das sie aßen, war von ihm erlegtes Wild. Fisch lieferten ihnen die Bewohner zweier Dörfer, die in der Nähe, nach Westen hin, lagen. Die Reparaturarbeiten, die an einigen Gebäuden manchmal auszuführen waren, fielen Mattil zu. Er war der Sohn eines Zimmermanns aus Aliamhan und hatte dieses Handwerk von Grund auf gelernt, außerdem kannte er sich mit der Schreinerei aus. Für Mattil hatte das Ganze den Vorteil, nicht aus der Übung zu kommen. Zudem konnte er immer ein wenig Magie bei der Arbeit anwenden.

Die beiden letzten Mitglieder des in den Geschichtsbüchern später so genannten Neuen Rates von Setan erreichten die Burg am siebten Tag des dritten Sommermonats, der in den Westlanden einheitlich Tirona hieß. Amathin, der größere und wesentlich ältere von ihnen, hatte eine sonnengebräunte Haut und dunkelbraune, goldgesprenkelte Augen. Diese Augen waren etwas Besonderes, daran konnte niemand zweifeln, der sie sah. So wusste Amathin auch genau, was seine spezielle Begabung war, nämlich das Sehen über große Entfernungen. Seine Begabung ähnelte der Jaceerans, doch konnte Amathin weder in die Zukunft noch in die Vergangenheit sehen.

Der Zweite war ein »mageres, käsiges Menschlein«, wie Mattil ihn äußerlich sehr treffend beschrieb und damit ziemlich verärgerte. Er war höchstens zwölf Jahre alt und somit bedeutend jünger als alle anderen, was naturgemäß ein paar Probleme mit sich brachte. Bendis – so hieß er – war unbefangen, neugierig, experimentierfreudig und zugleich sowohl naiv als auch altklug; alles in allem eine explosive Mischung. Er war bald der Liebling von Hyan und seiner Frau und eine Art Adoptivsohn dazu, denn die beiden hatten keine eigenen Kinder. In dieser Stellung konnte er sich mancherlei herausnehmen, ohne dass es sofort eine verbale oder körperliche Zurechtweisung nach sich zog.

Bendis’ Begabung schlummerte in ihm, denn er war noch zu jung. Davins Begabung schlummerte ebenso, bis zu dem Tag, an dem Nectan sie mit in jene Kammer tief unter der Burg nahm, in der der Silbersplitter lag.

Sie stiegen mehrere Stockwerke hinunter, vorbei an den Vorratsräumen, vorbei auch am Weinkeller, bis zum Ende der Wendeltreppe. Die Kammer, die sie durch eine schwere Eisentüre betraten, war aus dem Grundfels unter der Burg herausgehauen worden; sie hatte dreizehn Wände, die in das silbrige Licht des Kristalls getaucht waren. Eine andere Beleuchtung war unnötig. In der Mitte des Raumes lag der Silbersplitter auf einem massiven, steinernen Podest. Der Podeststein war nachträglich in die Kammer gebracht worden; Nectan erzählte ihnen, er stamme aus Scomej und habe dort als Altar gedient. Die Airi hatten ihn nach der Zerstörung ihrer alten Heimat hierher mitgebracht. Die Kammer war schon vorher für irgendein anderes Geheimnis aus dem Felsen gehauen worden.

Die Wirkung des Kristalls auf die mit seiner Hilfe Gerufenen war hier unten noch einige Male stärker als oben. Da der Silbersplitter die Tendenz zeigte, andere Magie außer seiner eigenen eher zu behindern, als zu fördern, war die Kammer durch in die Wände und in die Tür eingewobene Bannzauber magisch versiegelt worden. Dies hatte leider auch die Folge, dass eine zweite Wirkung des Splitters, die dem Verfall entgegenwirkende Aura, abgeschwächt wurde. Deshalb waren im Laufe der Zeit einige Teile von Burg Setan schwer oder gar nicht mehr bewohnbar geworden.

Eine Hauptwirkung dieses Splitters, die das Altern der auf ihn eingestimmten Menschen verlangsamte, blieb von den Bannzaubern dagegen unbehelligt. In einem kurzen Zeremoniell, in dem sich jeder der Gerufenen mit dem Splitter vertraut machte und seine eigene Magie mit der des Splitters verband (das ging sehr schnell, da der Stein und nicht der Mensch die Hauptarbeit machte), wurde diese Einstimmung vollzogen. Nun waren sie wahre Mitglieder des zweiten Rates, auf den Silbersplitter und ihre Gemeinschaft eingeschworen und mit dem Stein verbunden. Nectan hatte ihnen viel erklärt, doch die meisten von ihnen waren sich des Ernstes, mit der ihre Einstimmung vollzogen wurde, nicht richtig bewusst. Sie gaben ein Versprechen, doch sie wussten nicht, ob sie es jemals würden einlösen müssen.

Als Davin an der Reihe war, nahm er wie alle anderen den Splitter in beide Hände und schloss die Augen. Der Kontakt war schnell geschlossen. Es überraschte Davin, wie intensiv die Gefühle waren, die ihm vom Kristall zuflossen. Gleichzeitig geschah etwas Seltsames: während er noch in Verbindung mit dem Splitter war, tastete er vorsichtig hinaus zu den anderen, um sich ihrer Anwesenheit bewusst zu werden. Doch statt der Auren der anderen flossen ihm nun ihre Gedanken zu. Erschrocken brach Davin den Versuch ab und versenkte sich erneut in den Splitter. Schließlich war das Band zwischen ihnen vollkommen, Davin legte den Stein zurück und überließ dem Nächsten seinen Platz.

Am nächsten Tag erst vertraute er sich Nectan an.

»Ein Gedankenseher bist du also.« sagte dieser und zupfte gedankenverloren an seinen Schnurrbartenden. »Das ist eine sehr nützliche Gabe, wenn man sie verantwortungsbewusst und weise einsetzt. Du musst wissen, dass ich deine Fähigkeit gestern bereits gespürt habe – jaja, einen unerfahrenen Gedankenseher spürt man recht deutlich, versuche also bitte nicht, deine Gabe ohne Erlaubnis des, äh, Opfers zu trainieren. Des Gegenübers, meinte ich. Aber ich wollte warten, bis du es mir selbst sagst.«

»Ich will gar kein Gedankenseher sein.« entgegnete Davin. »Es ist wie das Lauschen an Türen – ungehörig.«

»Es ist immer der Zweck, der das Ungehörige ausmacht.« sagte Nectan. »Aus reiner Neugierde jemandes Gedanken zu durchforsten, ist sicherlich ungehörig. Wenn aber dieser Jemand ein Feind ist, von dem du glaubst, er wolle dir etwas antun, oder wenn jemand dich belügen will – das merkt ein Gedankenseher sofort – dann ist es nicht ungehörig. Aber was du letztendlich daraus machst, ist deine eigene Sache. Ich kann dir höchstens bei der Ausbildung helfen, und selbst das nicht sehr gut. Fang mit Tieren an; sie haben zwar keine Gedanken, aber Instinkte, die du lesen kannst. Und dann frag jemanden, ob er sich zur Verfügung stellen will. Elenis vielleicht, sie dürfte da recht aufgeschlossen sein.«

»Elenis?« fragte Davin und spürte, wie ihm beim Gedanken an einen Blick in den Geist der Heilerin das Blut ins Gesicht schoss.

»Warum nicht?« fragte Nectan zurück, ohne auf Davins Verlegenheit einzugehen – ja, ohne sie überhaupt zu bemerken. »Als Heilerin sieht sie darin vielleicht eine gute Methode zur Heilung geistiger Krankheiten.«

Dann wurde Nectan von Marcuila gerufen. Er brüllte eine Antwort durch das Treppenhaus, in dem sie standen, und machte sich dann seufzend auf den Weg. Davin ging erst einmal in seine Kammer, um in Ruhe nachzudenken.

Am Abend hatte er noch keine Entscheidung getroffen; er ging in den Kartenraum neben der Bibliothek, um dort ein Spiel Rupaj mit Nectan zu spielen. Doch wie erstaunt war er, als er dort Arthan auf dem Platz vorfand, auf dem er zu sitzen pflegte! Nectan und Arthan hatten gerade eine Partie begonnen, und so setzte sich Davin auf einen anderen Stuhl, um ihnen zuzuschauen. Er wusste, dass es nicht gut war, einen Spieler in seiner Konzentration zu stören, doch einmal wäre ihm fast ein Ausruf entfahren, als nämlich Arthan seinen Heerführer an einen Platz setzte, an dem er völlig nutzlos war. Überhaupt schien Arthan gerade einmal die Grundbegriffe des Spiels zu beherrschen, denn er verlor ziemlich rasch hintereinander mehrere hohe Figuren gegen mehrere niedere Figuren Nectans. Davin war zwar selbst noch ein Anfänger, doch musste er den Kopf schütteln über so viele taktische Fehler – Fehler, wie er sie nie gemacht hätte.

Das Licht des Feuers, das im nahen Kamin knisterte, spiegelte sich deutlich in Arthans Augen, die – das bemerkte Davin erst jetzt – einen violetten Schimmer aufwiesen. Davin vergaß dies aber sofort wieder, als Nectan, wie schon fast erwartet, Arthans Heerführer schlug. Nectan spielte keinesfalls nachlässig oder übermütig, wie Davin es fast für angebracht gehalten hätte, er dachte sogar länger über seine Züge nach als sonst. Arthan dagegen brauchte nie lange, um einen Zug zu machen. Arthans Aufstellung war seltsam und scheinbar wenig durchdacht, doch im Verlauf des Spiels, das Davin immer weniger verstand, zeigte sich, wie vollgestopft mit Fallen sie war. Nectan, der zuerst bei jeder der von ihm eroberten Figuren die Stirn gerunzelt hatte, war nun dazu übergegangen, auf seinen Schnurrbartenden zu kauen – was bei ihm ein Zeichen für große Nervosität war. Als schließlich Arthans Herzog fiel, war da plötzlich eine Lücke in Nectans Reihen; eine so große Lücke, dass Arthans Prinz bis ins feindliche Lager marschieren konnte, wo er einen Rang aufstieg und damit den Platz des zu Beginn geschlagenen Heerführers einnahm. Ein feindlicher Heerführer im eigenen Lager ist die größte Katastrophe, die einem Spieler passieren kann, denn dann werden seine Züge von zweien auf einen pro Runde reduziert. Das Spiel lief noch eine Weile so fort, doch von diesem Schlag erholte sich Nectans Aufstellung nicht mehr; nach dem Verlust mehrerer hoher Figuren gab er schließlich auf.

Arthan stand auf, nickte Davin höflich zu und ließ einen völlig konsternierten Nectan am Tisch zurück.

»Er hat gespielt wie ein Meister.« sagte Nectan und schüttelte den Kopf. »In den letzten zehn Jahren habe ich nicht ein einziges Spiel verloren, nicht einmal gegen Gracian den Sänger, den besten Rupajspieler der Welt, der mir ein Unentschieden anbot. Und jetzt das.«

Versonnen wog Nectan seinen geschlagenen Heerführer in der Hand.

»Einen Spieler dieser Qualität hätte ich kennen müssen.« fuhr er fort. »Ich kenne die Namen aller Rupajmeister im Westen und im Osten, gegen die meisten habe ich sogar schon gespielt.«

»Kann er nicht neu sein?« fragte Davin.

»Nein.« Nectan schüttelte den Kopf. »Neu ist er bestimmt nicht. Und ich kriege ganz bestimmt heraus, wer außer ihm noch eine solche Taktik verwendet. Er muss einen genialen Lehrer gehabt haben. Gracian nicht, der spielt aggressiver; vielleicht Bravaig den Alten?«

»Den Namen kenne ich irgendwoher.« sagte Davin. »Ich habe ihn in einem Buch gelesen, aber ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang.«

»Im Zusammenhang mit den Contari.« sagte Nectan. »Bravaig der Alte ist ein Contari. Er lebte – oder lebt, das weiß ich nicht genau – irgendwo im Osten, auf einer einsamen Insel, wo er das Meer beobachtet und seinen Studien nachgeht. Nein, Bravaig war es auch nicht, es sei denn, er hätte seinen Stil im Laufe der Jahre erheblich verändert.«

Nectan begann, wieder auf seinen Schnurrbartenden zu kauen, und Davin ließ ihn allein mit seinen Gedanken.

Niemand weiß mehr genau, welches Volk auf die Idee kam, die Zeit zu zählen, zu messen und die Messungen aufzuschreiben. Wer auch immer es war, sie haben es sich ziemlich einfach gemacht. Sie zählten die vier Jahreszeiten, die immer wiederkehrten, zusammen und nannten sie ein Jahr. Dann teilten sie die Jahreszeiten in drei Teile und nannten die Teile Monate. Sie richteten die Monate so ein, dass jeder von ihnen dreißig Tage hatte, und so jedes Jahr dreihundertundsechzig. Jedoch gab es auch vor diesem Kalender eine Benennung der Zeiten, die manchmal noch verwendet wurde, und einige dieser besonderen Zeiten haben sich bis heute in dem neuen Kalender festgesetzt. Eine dieser Zeiten wird Khuura genannt und hat mit der Ernte zu tun. Sie beginnt im zweiten Herbstmonat, dem Vidara, wenn sich die Blätter des Khuurstrauchs rot färben. Manchmal färben sich die Blätter auch schon etwas früher, dann spricht man von Mie-Khuura, und es zeigt einen schweren Winter an.