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Eine Heldengeschichte ohne Held. Wenn die Dinge in Jürgen Waldmers Leben besser gelaufen wären, hätte er niemals einen Fuß in diesen Zug gesetzt. Doch als er am Ende der Fahrt durch die Tür des alten Hotels tritt, merkt er schnell, wie anders die Welt im abgeschiedenen Tal tickt und dass er eigentlich keine Wahl hat, als sich darauf einzulassen.
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Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Robin Bade
Das Hotel im Tal
Roman
Vom Autor sind außerdem erschienen:
Wie im Juli (2009)
Aasgeier und Schwäne (2013)
Verblüht (2014)
Komandir brigady (2017)
Sprachlos – Sammelband (2020)
2. Auflage
© 2025 Robin Bade. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-819066-92-4
Cover: Robin Bade
Stockfoto-ID:367-243-919/Shutterstock-Standard-Lizenz
Lektorat: Neele Carstensen
Korrektorat: Louca L. Claude Trouillefou
Probeleser: Ralf Rathsack
Für Gerda und Rudi
/
«Man sitzt ja auf jedem Stuhl etwas anders, nicht?
Das ist ja das Eigenartige.»
Günther Hilmer
1
«Hallo? Geht es Ihnen gut dadrinnen?»
Die Abteiltür wurde gegen ihren Willen aufgeschoben; sie ruckte und quietschte, doch gegen solch starke Arme hatte sie kein Ankommen. Der stämmige Typ kniff die Augen zusammen. Das einzige Licht kam von irgendwo hinter ihm und erschwerte die Sicht. Er räusperte sich, den Hals voller Schleim, und rief noch einmal, diesmal konkreter: «Herr Waldmer, geben Sie doch ein Lebenszeichen von sich, wenn Sie mich hören. Seien Sie so gut!»
Jetzt, beim Namen genannt, kam Bewegung in das Kuddelmuddel auf dem Boden. Neben Decke und Kissen glitten auch zwei Koffer und etwas, das wie Besteck klirrte, zur Seite – darunter erschien ein Mann, abgeworfen von seiner Schlafstatt, begraben von seinen Habseligkeiten am Ende einer holprigen Nacht. Waldmer versuchte sich im Dunkeln aufzurichten, doch stieß sich die Schulter und murmelte etwas Böses. Gebückt streckte er die Arme aus, tastete, orientierte sich. Er klappte das Bettgestell an die Wand und schaffte es trotz seiner Fahrigkeit, dass es in der Halterung einrastete. Endlich konnte er aufrecht stehen. Wackelig hielt er sich mit der Linken im leeren Gepäcknetz fest und wischte sich mit der anderen Hand übers Gesicht. Er blinzelte verwirrt. «Ja, was, was ist denn los? Sind wir entgleist?» Hinter seiner Stirn pochte es.
Ein grummeliges Lachen kam als Antwort, aber nur so kurz wie es im Dienst erlaubt war. «Verflucht, das hätte wohl gerade noch gefehlt. Eine windschiefe Fichte hat sich dem Zug in den Weg geworfen. Sind Sie in Ordnung?»
«Ich denke schon.» Vorsichtig prüfte der Fahrgast seinen Körper auf Verletzungen und erschrak, als er feststellte, dass er nur in Unterhose dastand. «Ich kann meine Uhr nicht finden. Es ist so dunkel. Wie spät ist es?», fragte er und begann in den Häufchen zu seinen Füßen nach seiner Kleidung zu suchen.
«Wir stehen in einem Tunnel. Es ist bereits Morgen. Ihr erster Morgen in Oberalbgau. Der Schaffner hat mich zu Ihnen geschickt. Ihr Glück, dass er sich an seinen letzten Passagier erinnert hat, so durcheinander wie er gerade ist. Normalerweise wären Sie bald angekommen, wenn alles glattgegangen wäre.»
«Der letzte Passagier? Viel mehr der Einzige von Anfang an. Ach, Dreck! Was ist das denn?», schimpfte Waldmer. Beim zweiten Bein war ihm aufgefallen, dass er falsch herum in der Hose stand. Nun stieg er so umständlich heraus, als wäre der unterlaufene Fehler bei solch einer Alltäglichkeit nicht ohne Weiteres umzukehren. Für gewöhnlich verließ er sich auf seine unbewussten Routinen – spontane Hindernisse waren bitte etwas für die Souveränen dieser Gesellschaft! «Und Sie sind?», forderte Waldmer den Kerl auf fortzufahren, als er bemerkte, dass der ihm unverhohlen auf die nackten Beine starrte, während er sich abmühte, wieder der ernsthafte Mann zu werden, der er war.
«Polizist Wühse.» Und obwohl sich die Lichtverhältnisse kaum verändert hatten, konnte man nun, da man im Bilde war, erkennen, dass er eine Dienstmütze mit einem schimmernden Abzeichen trug. Er lehnte in der Tür und zog sich eine Zigarette aus der Uniform. «Auch eine?», bot er an.
Waldmer ging nicht darauf ein. Endlich stand er, endlich war er angezogen. Zerknittert zwar, aber das durfte man nach dieser langen Fahrt ruhig sehen. Er musterte den Diensthabenden – der rauchte doch tatsächlich im Wagon! Ihn ärgerte der bisherige Auftritt dieses Typen; womöglich war das ganze Schlamassel nur passiert, damit der ihn hier, völlig aus dem Konzept gebracht, begaffen konnte. Wenigstens zum Unfallhergang hätte er mehr Worte verlieren können. Ich kann das nicht so stehen lassen, dachte Waldmer. Solch ein unprofessionelles Verhalten! «Polizist, also?» Und wie er seinen Kopf nach vorn bewegte, um die Gesichtszüge des Rauchers auszumachen, fuhr ihm ein Schmerz die Wirbelsäule hoch, der ihm mit Verspätung ins Bewusstsein rief, dass er durch den vorausgegangenen Ruck aus dem Bett gefallen war. «Heißt das nicht Kommissar oder Wachtmeister oder Ähnliches?»
Wühse zog die Schultern in die Höhe. «Was soll die Frage?»
So richtig wusste Waldmer auch nicht, worauf er hinauswollte, als sein Mund schon weitersprach: «Polizist ... Wissen Sie, das klingt wie beim Kindertheater – wie Feuerwehrmann oder Kasper.»
Nun drückte Wühse seinen Rücken durch und machte sich so gerade, dass es im Wagen dunkler und ungemütlicher wurde. «Haben Sie mich gerade einen Kasper genannt?» Er nahm sich die Zigarette aus dem Mundwinkel und löschte sie mit den Fingern.
Waldmer wurde es eng im Hals. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Doch bevor er etwas Ausweichendes antworten konnte, kam ihm der Polizist zuvor: «Ich wüsste nicht, was das hier für eine Rolle spielt. Als einziger Ordnungshüter in Oberalbgau bringt einem Dienstgrad-Getue gar nichts. Ich bin für die Bürger seit bald dreißig Jahren eine Stütze. Man respektiert mich in dieser Gegend. Tun Sie das bitte auch.»
Waldmers trockenem Mund fiel keine angemessene Antwort ein, darum nickte er in der Hoffnung, dass der Mann sein Einlenken verstand.
«In Kindertagen wäre ich auch lieber ein Wolf gewesen. Aber als Sohn eines Ziegenhirten» – Wühse schnalzte mit der Zunge –, «da hätte mein Alter etwas einzuwenden gewusst.» Er drehte sich dem Gang zu und sagte schon im Gehen begriffen: «Ich treffe Sie gleich draußen vor dem Zug. Bitte warten Sie dort. Gehen Sie entgegen der Fahrtrichtung rechts raus. Und beeilen Sie sich, es taut. Sie wollen nachher nicht im Tunnel sein, wenn der Schlamm hindurch rauscht.»
Also packte Waldmer seine Siebensachen und vergewisserte sich mit Griffen in jegliche Fächer und unter das Interieur, dass er alles hatte, bis seine Hände voller Spinnweben waren und an seinem Zeigefinger ein altes Pflaster klebte. Er stieß einen kurzen Laut des Ekels aus und wischte sich den Schmutz am Hemd ab. Schluss jetzt, er würde schon nichts übersehen haben! Ohnehin besaß er nur noch im Preis reduzierte Kleidung und seine Uhr, die er mittlerweile am Handgelenk wiedergefunden hatte.
Er trat in den schmalen Flur des Abteils und folgte der Anweisung des Polizisten. Das Licht zwängte sich in einem kalten Strahl durch die Tür am Ende des Passagierwagens, die er sogleich aufschob und seine Koffer heraus auf die Plattform hievte. Am Geländer glänzte ein frisches Kaugummi; Waldmer hatte es im letzten Moment entdeckt. Angeekelt stieg er die Stufen hinab und hob seine Habseligkeiten herunter. Kühl war es. Ein nimmermüder Wind zog von der einen Tunnelöffnung zur anderen.
Waldmer sah sich um. Ja, wo bleibt denn dieser Wühse?, fragte er sich, nachdem er eine Weile den eigenen Atem beobachtet hatte, der in Wolken vor ihm aufstieg. Der Polizist hatte doch auf ihn warten wollen!
Der Halbkreis, in dem sich der Zug befand, hätte kaum niedriger sein dürfen. Die grob ausgehauene Felsdecke schien an einigen Stellen mit rissigen Fingern nach dem Dach der Bahn zu greifen. Wie alt war dieser Tunnel wohl? Waldmer entschied sich zum kürzeren Ende zu laufen. Schon bei den ersten Schritten platschten seine Schuhe in eine Art kümmerlichen Bach, der hier teils neben den Schienen, weiter vorne aber auch über die Schwellen floss. Waldmer war kein Klaustrophobiker, aber das fand er doch sehr bedenklich. Gerade vom Winter wusste er dank DMAX, welche Kraft Wasser entfalten konnte. Es lief in Ritzen, gefror und ließ selbst die größten Felsen bersten. Waldmer beeilte sich. Zum Glück wurde es schnell heller und so atmete er erleichtert durch, als er die Außenwelt erreichte.
Geblendet vom grellen Morgen, kniff er die Augen zusammen, stellte die Koffer neben dem Wasserlauf auf einen flachen Felsen und sah in die eisige Landschaft. So mitten im Gebirge, am Fuß des Tunnels kam er sich vor wie allein auf Erden. Es war erhaben, aber es bedrückte ihn auch.
Er hatte im Zug lange keinen Schlaf gefunden, da waren sie noch in flacher Landschaft unterwegs gewesen. Jetzt stand er hier, und rechts wie links warf sich das Gestein hunderte Meter in die Höhe. Die Gipfel und Zerklüftungen waren mit Schnee bedeckt und der einzige Weg, wie es schien, verlief eng neben der einspurigen Schiene. Sie wurde von endlosen Nadelbäumen gesäumt, die bis zum Rande des Gebirges reichten. Einzelne Exemplare hatten es geschafft, auf höher gelegenen Ebenen zu wurzeln. Je mehr man den Blick jedoch hob, desto weiter dünnte sich der Wuchs aus. Der Zug stand in einer leichten Rechtskurve. Die Koffer ließ Waldmer an Ort und Stelle. Zwar hatte es begonnen in winzigen Flocken zu schneien, doch im Schutz der Tunneleinfahrt standen seine Sachen trocken.
Waldmer fand den schuldigen Baum. Er lag quer auf der Bahnstrecke und hatte den letzten Wagen, der merkwürdig rund war und metallisch glänzte, ein Stück aus dem Gleis gezogen.
Auf wie viel tausend Metern befanden sie sich bloß, dass er von diesem kurzen Marsch so außer Atem geriet?
Als der Polizist zwischen den Wagen hervortrat, zuckte Waldmer vor Schreck zusammen. «Halt mal, guter Mann, hier geht es nicht weiter! Sie sind wohl einer von der ungeduldigen Sorte. Ich sagte Ihnen doch, wir treffen uns vor Ihrem Wagon.»
«Ja, sicher. Aber Sie kamen nicht. Was soll ich mir da die Beine in den Bauch stehen? Lieber guck ich mir das Unglück an. Sowas sieht man ja auch nicht alle Tage.» Waldmer versuchte demonstrativ an Wühse vorbeizuschauen.
Dieser breitete seine Arme aus, in jeder Hand ein Ende des gestreiften Flatterbands, und bewegte sich auf den neugierigen Passagier zu; er wollte ihn vom Unfallort wegdrängen. Waldmer rührte sich kein Stück. Und als sie nur noch wenige Zentimeter trennten, es war schon unangenehm nah, zeterte der Polizist: «Entschuldigung, gehen Sie jetzt mal zurück?! Ich kann Sie hier momentan echt nicht brauchen.»
Im Morgenlicht konnte Waldmer erstmals das Gesicht seines Gegenübers betrachten. Es wirkte ausgelaugt und rot vor Kälte, noch dazu glühte die große Nase. Der Mann befand sich wie er selbst in den Fünfzigern. Schwer zu sagen, ob er sich besser oder schlechter gehalten hatte. In jedem Fall war ihm die Polizeimütze verrutscht und die Ärmeln seiner dunkelblauen Uniform zeigten Schmutzschlieren.
«Ist es denn gefährlich?»
«Ist es denn gefährlich?», äffte Wühse ihn nach. «Sie haben es wohl nicht so mit Autoritäten.»
Obwohl der Mann wie ein in die Jahre gekommener Boxer aussah, löste sich die Bedrohlichkeit, die er im dunklen Abteil ausgestrahlt hatte, im Hellen auf. Und war Waldmer nicht für ein Abenteuer aufgebrochen? Seinen bisherigen Lebtag über hatte er lieber geschwiegen oder sich weggeduckt, wenn sich Konflikte anbahnten, doch in der frischen Bergluft, an diesem unwirklichen Ort keimte erneut ein unbekannter Widerstand in ihm: «Ich bin nun mal Gast dieses Zuges und heute sehr unsanft aus meiner Koje geschleudert worden!» Vielleicht ist das, was ich gerade unter Mut verstehe, auch nur eine Gehirnerschütterung, überlegte Waldmer, während er selbstbewusst fortfuhr: «Da habe ich doch ein Anrecht darauf zu erfahren, was genau geschehen ist.»
Wühse rollte mit den Augen. «Ich habe es Ihnen ja bereits im Wagon gesagt und es ist von hier aus gut genug zu erkennen; aber bitte, um Ihre Neugier zu stillen – und danach leisten Sie meinen Anweisungen endlich Folge! Erst traf eine umstürzende Fichte den Tankwagen. Anschließend verkantete sich der Stamm zwischen dem Anhänger und den Bäumen dort drüben und brachte so den Zug mit einem Schlag zum Stillstand. Wir können froh sein, dass der Lokführer wegen der Tunneleinfahrt bereits die Geschwindigkeit gedrosselt hatte. Trotzdem ist das alles ein großes Pech! Will meinen: Wäre der Baum nur einen Moment später zu Boden gegangen, es wäre schlicht nichts passiert; zumindest meiner Einschätzung nach.»
Waldmer reckte den Hals. Besonders spektakulär sah die Unfallstelle nicht aus und wo steckte eigentlich das Zugpersonal?
Der Polizist hatte das Flatterband mittlerweile in zwei Bahnen zwischen den Händen und Unterarmen zu einem breiten X gespannt und hob es im Gleichtakt zu Waldmers Sichtbemühungen vor dessen Kopf. Die Uniform spannte ihm an den Schultern und am Bauch, wie er vor dem Passagier hin und her tänzelte. Waldmers Lippen zeigten ein paar kaffeebraune Zähne, so absurd fand er das Gehampel; war er doch ein ganzes Stück größer als der Beamte. Außerdem: Was gab es denn da jetzt noch zu verbergen, was er nicht eh schon gesehen hatte? Als er einen großen, neugierigen Schritt zur Seite tat, ließ Wühse die erhobenen Arme sinken und setzte einen äußerst grimmigen Blick auf. «Herr Waldmer, Sie sind eine schlimme Nervensäge, wissen Sie das? Und Sie denken vielleicht, in Oberalbgau, wo ein Polizist mehr ein Suppenkasper ist als ein Staatsdiener, wäre auch das Kittchen bloß eine Kulisse. Aber ich versichere Ihnen, wenn Sie jetzt nicht kooperieren, beweise ich Ihnen das Gegenteil! Und das wird gänzlich unbequemer, als was Sie sich für Ihren Urlaub vorgestellt haben.» Und innerlich ärgerte sich Wühse nicht nur über die Städter und insbesondere über den hier, sondern auch darüber, dass er die ausgediente Sofalandschaft seiner Cousine seit Monaten in der einzigen Zelle aufbewahrte, anstatt sie zum Recyclinghof zu fahren. «Gehen Sie jetzt zurück, Mann!», bellte er. Und das zeigte Wirkung.
Waldmer drehte sich um. Er wollte kein einziges Wort mehr mit diesem griesgrämigen Mann sprechen, der sich hier viel zu wichtig nahm. Doch dann fiel ihm ein, dass er ohne den fahrenden Zug gar nicht wusste, wie er zu seinem Hotel kam. Auf halber Strecke wandte er sich deshalb zu Wühse, der nur wenige Schritte hinter ihm ging und auf den nächsten Auflehnungsversuch reagierte, als würde er Kühe treiben; er riss sofort die Arme in die Höhe. «Ich geh ja schon, ich geh schon, Herr Wühse. Aber sagen Sie mir bitte: Wie finde ich zu meinem Hotel? Ich muss ja wohl nicht durch den fürchterlich langen Tunnel laufen?» Denn zumindest auf dieser Seite hatte er weder Straßen noch angelegte Wege entdeckt. Hier wuchs bloß ein märchenhaftes Dickicht aus Nadelbäumen, die in der Kälte glitzerten. Da würde er sich unter keinen Umständen blindlings durchschlagen.
«Na sicher. Was denken Sie denn, wo der Zug Sie hingebracht hätte?», erwiderte der Polizist und zeigte zur Verdeutlichung mit dem Fellhandschuh zum Schlund des Berges, in dem die Bahn verschwand. «Nebenbei bemerkt: Wer dort plant abzusteigen, wird sich doch von einer rustikalen Anreise nicht abhalten lassen. Sie wollen mir nicht zufällig verraten, was Sie drüben im Tal zu schaffen haben, oder?»
Also das war nun wirklich das Letzte, was Waldmer an diesem Morgen vorhatte. «Nein, Herr Wühse, auch absichtlich nicht.»
Der Polizist lachte bitter und schüttelte dabei den Kopf, als hätte er die Antwort vorausgesehen. «Dann sind wir hier fertig.»
Waldmer war empört. Er hatte etwas einwenden wollen, wie Zum Hotel wird es ja wohl noch andere Zufahrten geben als dieses Gleis! oder Verraten Sie mir wenigstens, wie ich auf der anderen Seite zur richtigen Straße gelange!, aber so blöd wie ihm dieser Giftzwerg kam – nein, danke, da hielt er lieber den Mund. Missmutig machte er sich auf den Weg, nahm seine Koffer vom Fels und stapfte rein in die tolle Dunkelheit.
«Schönen Aufenthalt!», rief ihm der Polizist doch tatsächlich noch hinterher; eine Frechheit!
Nach wenigen Metern wurden Waldmers Füße so kalt, dass er sich fragte, ob das stechende Gefühl in seinen Schuhen vom eisigen Wasser kam, das den steinigen Untergrund umspülte und Richtung Ausgang lief. Als er anhielt, um die Koffer zu tauschen, glaubte er zu erkennen, wie der Polizist die gesamte Tunneleinfahrt mit Absperrband zuklebte. Da Waldmer seine Brille unauffindbar zwischen seinem hastig zusammengerafften Gepäck vermutete, verengte er die Augen zu Schlitzen, um besser sehen zu können; im fernen Licht flossen die hellen und roten Lichtreflexen zu einem verschwommenen Bild ineinander.
Die Eisenbahn hatte er in seiner Position bereits hinter sich gelassen. Zwei Tage war er in dem alten Ungetüm in den Süden unterwegs gewesen. Seit dem Münchner Hauptbahnhof hatten sie weder einen Zwischenhalt eingelegt, noch war Waldmer bei seinen Streifzügen durch die leeren Wagen einer Zugbegleiterin begegnet. Wofür also hatte er dieses sündhaft teure Ticket gelöst? Er hustete. Der Tunnel stand voller Rauch und wurde zunehmend dunkler. Denn obwohl das Triebfahrzeug mittlerweile seinen Dienst eingestellt hatte, quoll es weiter müde aus dem Kessel. «Ich werde sterben!», sagte Waldmer halblaut zu sich selbst. «Ich kriege eine Kohlenmonoxidvergiftung und werde tot umfallen, bevor ich das andere Ende erreiche. Und dem fürchterlichen Wühse wird nichts passieren! Als einziger Polizist im Tal ist der sicher niemandem Rechenschaft schuldig. Man kennt solche Situationen ja aus dem Fernsehen: Der wird meinen starren Körper finden und ihn irgendwo neben den Schienen in den Wald schmeißen – allein um sich den Papierkram zu sparen. Und das war's dann mit mir. Denn ob Frau Gohreich nach einer losen Verabredung suchen lässt, die gar nicht erst auftauchte, ist mehr als unwahrscheinlich. Falls doch, wird Wühse sagen, da war keiner im Zug, und zack, wäre die Vermisstenmeldung vom Tisch. So würde ich bis in den Tod der Inbegriff eines mustergültigen Bürgers bleiben: Jürgen Waldmer hinterlässt weder eine Leiche, noch muss jemand seinen alten Kram aus der Wohnung räumen! Wie viele Menschen lösen wohl vor ihrem Verschwinden alles so vorbildlich auf wie ich? Selbst die GEZ hat meine Kündigung bekommen; fristgerecht. Und das Beste: Keiner muss um mich trauern! Die letzte Freundschaft ist ja noch zu Schulzeiten eingeschlafen.» Nun wechselte Waldmer in eine höhere Stimmlage, um sich auch aus der dritten Perspektive zu bemitleiden. «Hat immer nett gegrüßt, der Waldmer, aber sonst, hm. Zwanzig Jahre hat der bestimmt im Haus gewohnt. Nee, weiß man nicht, was der gemacht hat. Was mit Steuern vielleicht. So einer sieht aus, wie wenn der was mit Steuern macht. Mit schwarzer Aktentasche morgens immer aus dem Haus gegangen. Nie Besuch gehabt. Bestimmt Steuerermittler. Das sind so Einzelgängertypen. Bei denen kommt's nicht drauf an, wegen Sympathien jetzt. Pakete hat der auch nie angenommen. Das ist doch komisch, so einer. Da fragt man sich schon, mit wem man dort Tür an Tür wohnt. Der ist ausgezogen, sagen Sie? Na, kein großer Verlust fürs Haus!» Waldmer räusperte sich, aber mehr aus Bestürzung über das eigene Leben als aufgrund des Rauches. Doch einen Moment später kehrte die Entschlossenheit zurück in seinen klammen Körper; der Anlass für diese Reise. Reiß dich zusammen, Jürgen! Das hier wird ein Abenteuer, der Weg raus, dein Alles-Neu!
Allerdings kam er nicht weit. Denn etwas brachte ihn zu Fall, kaum dass er zwei mutige Schritte getan hatte. Vom Widerstand in der Dunkelheit überrascht, schlug er lang hin. Es geschah so plötzlich, dass er es nicht mal mehr schaffte, die Arme auszustrecken, um sich abzufangen. Erst als er versuchte, sich wieder in die Aufrechte zu befördern, bemerkte er, dass seine Hände immer noch die Koffergriffe umschlungen hielten. Und auch sein nächstes Manöver ging schief. Beim Drehen auf die Seite landete er im Tauwasser, und staute das Bächlein, das munter zum Tunnelende floss. Als er die Ursache für die nasse Kälte realisierte, sprang Waldmer auf, als wäre er gebissen worden. Überfordert murmelte er vor sich hin; sein Kiefer bibberte zu sehr, um laut zu fluchen. Und da einzig seine Nase zu glühen schien, betastete er sie. Tatsächlich: Er hatte sich mitten im Gesicht die Haut aufgeschürft – am ersten Tag seines Urlaubs! Bedient schüttelte er den Kopf und suchte in der Schwärze nach seinen Koffern. Dabei berührte er unverhofft, was ihn hatte stolpern lassen. Doch durch die Taubheit in den Händen konnte er nicht bestimmen, auf was er dort gestoßen war. Nur dass es so viel wog, dass er beide Arme benötigte, um es ins wenige Licht zu heben. Die Oberfläche des länglichen Gegenstands schimmerte leicht und bestand aus zwei glatten Seiten. Nein, Moment! Waldmer griff um. Ah! Es war eine Art rechter Winkel, wahrscheinlich aus Metall, mit einem langen und einem kurzen Schenkel. Als er die Stolperfalle drehte, fühlte er mehrere scharfkantige Öffnungen samt eines leeren Gewindes. Vor sich auf den Boden gestellt, reichte es ihm bis zum Kinn. Waldmer roch daran; so wenig konnte er verstehen, über was er dort gestürzt war. Aber er nahm nur den Rauch wahr, der zäh durch den Berg zog.
Er lehnte das Objekt an die Felswand. Doch kaum hatte es seine Hände verlassen, fiel es mit einem hämischen Poltern zu Boden, das laut den Tunnel rauf und runter schallte. Um jetzt nicht völlig die Fassung zu verlieren, atmete Waldmer mehrfach tief in den Bauch, bis er Eisen auf der Oberlippe schmeckte. Nasenbluten, das hatte ja gerade noch gefehlt! Er legte den Kopf in den Nacken. Die Muskulatur seines oberen Rückens fühlte sich an, als bestünde sie aus Eisklumpen. Er verharrte eine Weile in dieser Haltung, bis ihm zu elend zumute war, um auch nur eine Minute länger in diesem vermaledeiten Tunnel zu bleiben. Also begab er sich in die Hocke, die Nase weiterhin zur Decke gerichtet, und tastete nach dem Leder seiner Koffer. Sobald er sie gefunden hatte, ging er mit vorsichtigen Storchenschritten auf den Kreis aus Licht zu. Das beanspruchte ihn so sehr, dass er vollkommen erschöpft war, als er zum Ausgang gelangte.
Er versuchte am Pochen in seinen Ohren vorbeizuhören und genoss die Aussicht. Wo auf der anderen Seite des Berges nichts als Wald und Gestein zu sehen gewesen waren, bot das Tal ein weit eindrucksvolleres Panorama. Der Bach floss in einer scharfen Linkskurve den Hang hinunter. Man hörte sogar das Plätschern des Wassers, das auf die Oberfläche des langgezogenen Sees traf. Schnurgerade verlief die Schiene, bis sie in unschätzbarer Weite einen kleinen Schlenker machte und im grauen Fels verschwand. Rechter Hand, nur wenige Gehminuten zu Fuß von Waldmer entfernt, lag das Hotel, eingebettet in grüne Wiesen und vereinzelte Baumgruppen. Ein Herrenhaus in altrosa, das sich nur einen Schritt vom steil ansteigenden Gebirge weggestellt und dort niedergelassen hatte, wo es nicht schöner hätte stehen können – mit zentralem Blick auf den gefrorenen See. Es war wie gemalt.
Aus Erleichterung, nun bald anzukommen, lachte Waldmer laut auf. Und dieses spitze, hohe Geräusch, das so ungeübt klang, brachte kein Echo ins Tal.
2
Waldmer schritt den ausgetretenen Pfad neben den Gleisen her und wunderte sich über das Wetter. Hatte es nicht auf der anderen Seite des Tunnels geschneit oder zumindest gegraupelt? Das Zugunglück hatte ihn ordentlich durcheinandergebracht. In jedem Fall war es grau und kalt gewesen, seine kühlen Finger zeugten noch davon. Hier nun zippte er erst seine Jacke auf und warf sie sich bald ganz über die Schulter. Wenn seine Kollegen aus der Behörde von ihren Winterurlauben erzählt hatten, war er selten aufmerksam gewesen. Ein wiederkehrendes Motiv jedoch war hängengeblieben: Dass es die Regenwolken zum Glück nicht über die Bergkämme ins Skigebiet geschafft hatten.
Doch konnten auf der einen Bergseite geradeso Temperaturen über dem Gefrierpunkt herrschen, während ihn ein paar Gehminuten entfernt frühlingshafte fünfzehn Grad empfingen? So lange war er ja auch nicht im Tunnel unterwegs gewesen!
Das Hotel, musste er zugeben, wurde kaum größer und auch nicht schöner, je näher er kam. Hatte es eben bei seiner Ankunft im Tal noch so majestätisch dagelegen, schien es mit jedem weiteren Schritt, den er darauf zutrat, zu schrumpfen, mit der massiven Höhe des Gebirges im Rücken. Der Untergrund veränderte sich von einem breiten Trampelpfad zu einem Weg, der mit hellen Steinplatten befestigt war, und bald erreichte Waldmer ein kleines abgesperrtes Gebäude – die Haltestelle des Hotels. Er stellte die Koffer ab und öffnete zwei Knöpfe seines Hemds. Dann suchte er sich die Trinkflasche heraus und scharwenzelte um das Häuschen herum. Es war in wirklich schlechtem Zustand, womöglich wurde es seit Jahren nicht mehr betrieben. Dass es nicht mal mehr die Spuren alter Fahrpläne zu entdecken gab, bestätigte seinen Verdacht. Und Fahrkarten, das wusste er ebenfalls aus dem Büro, kaufte der moderne Mensch eh mit dem Handy. Pah, Smartphones!, dachte Waldmer. Das hatte er wie all seinen Krempel in den Nächten vor seinem Aufbruch in den Tonnen der Nachbarschaft entsorgt. Ein Jahr hatte er solch ein Teil besessen und war nie damit warm geworden. Einen Augenblick noch betrachtete er gedankenversunken eine faustgroße lila Blüte, die aus einem rostigen Mülleimer wuchs, wie ein natürliches Zeichen des Widerstands gegen jegliche Trends, dann trank er einen Schluck Eistee, packte seine Sachen und nahm die Stufen, die neben dem ehemaligen Fahrkartenschalter hoch zum rosa Herrenhaus führten.
Ein runder Platz lag vor dem Gebäude. Zwischen den Steinplatten stand das Unkraut knöchelhoch. Es gab eine große Treppe, an deren Ende eine schwere Holztür wartete. Mit den kahlen Sträuchern zu beiden Seiten konnte die Fassade ausgesprochen gut als Kulisse für einen Horrorfilm herhalten. Zum blanken Hohn hatte jemand mit Kreide Mutters erste Rosen, 1965 vor einem trockenen Gestrüpp auf den Boden geschrieben. Na, der Gärtner hat Humor, fand Waldmer und blieb für einen Moment vor dem Hotel stehen. Beziehungsweise dem HOTE, wie er verwundert feststellte. Denn das L im Schriftzug war wohl schon vor Ewigkeiten hinuntergefallen. Eigentlich störte ihn so etwas. Er war in der Erinnerung seiner Kollegen, und die hatten ihm das unverhohlen auf die Nase gebunden, der ewige Pedant. Und tatsächlich, solche Nachlässigkeiten verdarben ihm für gewöhnlich die Laune, egal wie unwesentlich sie waren. Aber hier und heute spielte der fehlende Buchstabe keine Rolle, der sich dem fragwürdigen Gesamtzustand des Hauses anschloss. Es mochte ja sein, dass die Farbe abblätterte und in Fetzen in den vertrockneten Beeten lag, und es war augenscheinlich, dass die hellen Stuckleisten Moos angesetzt hatten und der opulente Löwe, der den einzigen Balkon an der Spitze des Hauses bewachte, schon bessere Tage erlebt hatte, aber er, Jürgen Waldmer, brauchte genau solch einen Ort für seinen Neuanfang: Einen archaischen, abgelegenen Platz im Grünen, wo er sich sammeln und seine neue Aufgabe beginnen konnte, ohne jeglichen Druck – und glücklicherweise hatte die Annonce explizit darauf hingewiesen. Außerdem musste er wirklich dringend auf die Toilette! Also zog er an einem Flügel der verwitterten Eingangstür und als dieser nicht nachgab, versuchte er es anders und schob sie erfolgreich ins Innere auf.
