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Ein Sammelband mit Veröffentlichungen aus den Jahren 2009 bis 2013. Die vorliegenden Texte wurden vom Autor für diese Publikation überarbeitet. Wie im Juli - Roman: "Als Marko einen Anruf erhält, traut er seinen Ohren kaum. Seine Freundin Marla wurde von den Nachbarn verstört und alleine zu Hause aufgefunden. Von ihren Eltern fehlt jede Spur und ihr Mund scheint vor Schock wie verschlossen. Sofort macht er sich auf den Weg nach Westvill, um zu erfahren, dass ein Juli alles verändern kann." Lukas und der Wal - Kurzgeschichte: "Auf einer Insel in der Nordsee findet eine Ehe am Weihnachtsabend ihr jähes Ende. Inmitten der streitenden Eltern bleibt dem kleinen Lukas nur die Flucht in seine Fantasie. Und so verlässt er unbemerkt das Haus." Aasgeier und Schwäne - Roman: "Ein 16-jähriges Mädchen gräbt wie von Sinnen ein Loch in die Erde eines alten Fabrikgeländes. Ein Blumenladen explodiert – ein Scharfschützengewehr wird in den Trümmern gefunden. Die Frau an der Spitze einer kriminellen Organisation korrumpiert Polizisten und führt ihren Agentenstamm sektengleich auf ein ominöses Ziel zu."
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Seitenzahl: 612
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Inhaltsverzeichnis
Klappentexte
WIE IM JULI
Marko
Marla
Marko
LUKAS UND DER WAL
AASGEIER UND SCHWÄNE
Prolog
Die Organisation
Aufträge
Familie
Eingeholt
Realität
Epilog
Robin Bade
sprachlos
S a m m e l b a n d
Vom Autor sind außerdem erschienen:Wie im Juli (2009)Aasgeier und Schwäne (2013)verblüht (2014)Komandir brigady (2017)Das Hotel im Tal (2025)
© 2023 Robin Bade. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-757581-35-0
Cover: Robin Bade
Stockfoto-ID: 590817530/Shutterstock-Standard-Lizenz
Lektorat: Milena Franck & Peter Bade
Wie im Juli (Roman)
»Als Marko einen Anruf erhält, traut er seinen Ohren kaum. Seine Freundin Marla wurde von den Nachbarn verstört und alleine zu Hause aufgefunden. Von ihren Eltern fehlt jede Spur und ihr Mund scheint vor Schock wie verschlossen. Sofort macht er sich auf den Weg nach Westvill, um zu erfahren, dass ein Juli alles verändern kann.«
Lukas und der Wal (Kurzgeschichte)
»Auf einer Insel in der Nordsee findet eine Ehe am Weihnachtsabend ihr jähes Ende. Inmitten der streitenden Eltern bleibt dem kleinen Lukas nur die Flucht in seine Fantasie. Und so verlässt er unbemerkt das Haus.«
Aasgeier und Schwäne (Roman)
»Ein 16-jähriges Mädchen gräbt wie von Sinnen ein Loch in die Erde eines alten Fabrikgeländes. Ein Blumenladen explodiert – ein Scharfschützengewehr wird in den Trümmern gefunden. Die Frau an der Spitze einer kriminellen Organisation korrumpiert Polizisten und führt ihren Agentenstamm sektengleich auf ein ominöses Ziel zu.«
2009
Eine kurze Treppe, weiß wie Porzellan, führte zu Marlas Haus. Früher, als noch Besucher kamen, fürchteten sie oft, sie könnten sie beschmutzen. Manche zogen schon auf dem Gehweg die Schuhe aus. Heute, an einem windigen Spätsommertag, schien diese Furcht vergessen. Welke Blätter fielen auf die Stufen, verweilten einen Augenblick und wurden hinfort getragen. Die Schaukel im verwilderten Vorgarten ächzte, wenn eine Böe sie erfasste.
Marla bemerkte nichts davon. Sie schlief auf der anderen Seite des Hauses. Sie schlief und träumte. Das tat sie nun schon seit Wochen. Manchmal, wenn sie die Kraft fand, stand sie auf und schlich durch die obere Etage. Wir hörten die Dielen unter ihren nackten Füßen knarren und hielten den Atem an. Sie lebte noch hier, das war sicher. Sie lachte uns aus den Fotos von den Wänden zu. Doch wach angetroffen hatten wir sie schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr. Und stören wollten wir nicht, wenn sie sich überwand, ihr Zimmer zu verlassen. Wir hofften auf Fortschritte in ihrer Stille; dass der Schlaf sie rettete. Zudem hätten wir gar nicht mehr gewusst, was wir zu ihr sagen sollten in solchen Momenten – die vergangene Zeit hatte die Situation im Haus absurd werden lassen.
Die einst so schmucke Veranda war vollgestellt mit jeglichem Kram, den man im nahenden Herbst gut brauchen konnte. Harken, Eimer, alte Handtücher und Schaufeln warteten nur darauf, endlich benutzt oder weggeräumt zu werden. Doch sie fanden keine Beachtung. Jemand hatte sie in weiser Voraussicht vor Monaten hierhergetragen und dann sich selbst überlassen. Und diese Symbolik des Vorhandenseins, ohne einen wirklichen Nutzen zu haben, war nur allzu treffend für unser Leben seit dem schrecklichen Anruf.
Es schien, dass die gesamte Nachbarschaft mittlerweile von Marlas Zustand unterrichtet war. Ja, anscheinend nahm Westvill diese neue traurige Realität einfach schneller an als wir drei, die nun schon seit zwei Monaten in Marlas Haus saßen, abwarteten und irgendwie versuchten da zu sein – da zu sein für jemanden, der nur schlief. Sicher fehlte den Nachbarn das fröhliche Lachen an Sonntagnachmittagen oder Marlas Singen, wenn sie abends mit Kopfhörern nach Hause kam. Denn ganz eindeutig hatte sich etwas verändert und wenn eine Seele in einer kleinen Siedlung erkrankt, schläft dort niemand mehr so fest wie im Jahr zuvor. Die Westviller nickten uns mitleidig über die Zäune ihrer Grundstücke oder beim Entgegenkommen in den schmalen Gassen zu, Hilfe baten sie jedoch keine an, mit Ausnahme von Frau Hinrichs, die anfangs an Freitagen Gebäck brachte und sich nach Marlas und unserem Befinden erkundigte. Die Antwort fiel unverändert knapp aus: »Alles wie bisher.« Zudem hing die Abwesenheit von Marlas Eltern schwer über allem. Dass sich weder Freunde nach ihnen erkundigten, noch Kollegen anriefen, nicht einmal Post für sie kam, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Es schien, als hätte eine dunkle Macht die Familie Porz aus dem Leben tilgen wollen und wäre bei Marla unterbrochen worden.
So konzentrierten wir die Suche nach der Lösung auf unsere Träumerin, die stetig mehr zu einem Geist verblasste; auch weil sie kaum etwas aß. Morgens stellten wir ihr ein Tablett auf den Nachttisch: Eine Frühstücksration für einen nicht gerade hungrigen Menschen, eigentlich. Doch Marla kam damit einen ganzen, manchmal sogar zwei Tage aus.
Und dass selbst uns mittlerweile die Worte ausgingen, war bezeichnend. Zwar hingen wir gemeinsam im Wohnzimmer ab, doch die Stille zwischen uns war bleiern geworden. Ab und an spielten wir Karten oder beschäftigten uns mit Dingen, die wir in den Schubladen fanden. Die anfängliche Scheu, uns in diesem fremden Haus mehr als nur umzusehen, verflog schnell. Doch wirklich Spannendes oder gar Aufschlussreiches fanden wir nicht. Während Patrick und ich stundenlang gedankenverloren in verschiedene Richtungen starrten, fing Eira an zu putzen, bis ihr die Hände rissig wurden, wenn sie die Tatenlosigkeit nicht länger ertrug.
»Ich kann nicht glauben, dass ich bereits zum zweiten Mal diese Woche den Fußboden wische. Und dabei ist es erst Donnerstag!«, hörte ich sie sagen. »Und ich frage mich, nein, ich frage euch, wer hier ständig mit dreckigen Füßen durch die Küche läuft? Ihr Kerle seid echt daneben. Nehmt euch wenigstens selbst mal den Wischer. Ich bin doch nicht eure Hausdame! Das könntet ihr euch nämlich gar nicht leisten!«
Es war aufmunternd gemeint, denn ich wusste, wie sie mich die letzten Tage angesehen hatte. Doch ich konnte nicht mehr als gezwungen lächeln.
Schon vor Wochen hatte es jemand von uns auf den Punkt gebracht, ich hatte vergessen wer: »Wir laufen Gefahr, verrückt zu werden, wenn wir bloß trauern und nichts dagegen tun – doch wo sollen wir ansetzen, ohne das Wissen, was mit ihr geschehen ist?« Die Frage nach dem Warum ging uns auch nachts nicht aus dem Kopf und begrüßte uns morgens zu einem weiteren Tag ohne Erlösung. Dazu malten die Fotos von glücklich verbrachten Momenten so unwirkliche Stellen an die dunkelroten Wände, dass man sich gar nicht traute, sie länger anzuschauen. Mehrfach fand ich Eira stumm weinend vor den Bildern im Flur, die alle Marla zeigten, und schlich mit einem flauen Gefühl zurück die Treppe hoch oder ins Wohnzimmer.
Wir kannten niemanden in dieser Stadt, abgesehen von den Nachbarn, die wir gesehen und später durch die Namen an den Briefkästen zugeordnet hatten. Die Straße, die wir zum Einkaufen langgingen, war typisch für die Gegend: Kleine Vorgärten mit holzvertäfelten Häusern dahinter, die Grundstücke meist abgeteilt durch Lattenzäune oder einfache Hecken, aus denen hin und wieder ein bisschen Maschendraht hervorschimmerte. Vielleicht lag es daran, dass wir hier nicht aufgewachsen waren, denn alles in Westvill schien uns abzustoßen. Es fühlte sich nicht wie zu Hause an. Und zu Hause, das vermissten wir sehr.
Der Kioskbesitzer war ein netter Kerl, etwas über 30 und natürlich einheimisch. Ein rundes Gesicht mit einem sorgfältig geschnittenen Bart saß auf seinem dicken, roten Hals, und entweder hatte er eine unglaubliche Anzahl karierter Baumwollhemden oder er trug stets dasselbe. »Frank riecht wie seine Pommes«, vervollständigte Patrick die Beschreibung.
»Das ist mir auch schon aufgefallen. Er ist bestimmt selbst sein bester Kunde. Aber mal ehrlich, man muss sich ja nur sein Leben vorstellen: Du guckst hier jeden Tag auf diesen stinklangweiligen Weg, höchstens einmal die Stunde kommt jemand vorbei, grüßt aber nur pflichtbewusst. Und alle drei Stunden kauft jemand was. Du hast also über Jahre hinweg rein gar nichts zu tun«, sagte ich. »Doch dann ist im Großmarkt diese Fritteuse im Angebot –«
»Und plötzlich fühlst du dich wieder lebendig. Ja, stehst morgens sogar extra früh auf, um auf die Arbeit zu kommen«, ergänzte Patrick. Unser Humor war kraftlos und schal geworden. Wir erhielten ihn dennoch aufrecht. Und ich wusste, dass wir gemein waren, nur um der Tristesse für einen Augenblick zu entrinnen, aber das Lachen tat gut.
»Meinste, der wollte nie weg aus Westvill?«, fragte ich.
»Nee, ich glaub, dem gefällt’s hier. Das Haus hinterm Kiosk ist doch bestimmt das seiner Mutter.« Wieder grinsten wir uns an. »Das gibt ihm Sicherheit.«
Es war mein größtes Glück, dass ich nicht alleine bei Marla sein musste. Eira und Patrick hatten ohne Zögern zugesagt, als ich sie Mitte Juli anrief. Dass unser Aufenthalt hier so lange dauern würde, hatte natürlich keiner von uns erwartet.
Wir beendeten die Unterhaltung, als wir in Hörweite des Kiosks kamen und das professionelle Lächeln Franks in seinem Häuschen aufflammte. »Morgen, Jungs! Eine Cola – lieber aus der Dose – und ’ne Packung Marlboro wie immer?«, begrüßte er uns. Anscheinend waren wir doch in Westvill angekommen, wenn man sich schon unsere Vorlieben merkte.
Wir nickten beide und befragte ihn nach Freizeitmöglichkeiten hier oder in der näheren Umgebung. Ein Auto hatten wir ja, wenn es auch den Großteil der Woche vor dem Haus wartete.
Er überlegte. »Oh, was unternehmen wollt Ihr? Hm, das ist in Westvill eher schwierig. Ich könnte mein altes Radio lauter drehen und wir machen hier ein bisschen Disko. Wie wär das?« Er lachte los und wir machten solidarisch gute Miene zu seinem Scherz. »Aus dem Stegreif fällt mir tatsächlich nichts ein, was Jungs in eurem Alter interessieren würde. Ist ein ruhiges Örtchen, müsst Ihr wissen.«
»Ja, das haben wir auch schon mitbekommen«, sagte ich, der kaum auf eine aufmunternde Antwort gehofft hatte.
»Und meine besten Jahre liegen leider ’n ganzes Weilchen zurück.« Die Freundlichkeit stand ihm zwar weiterhin im Gesicht, doch überkam uns nun bei der allgegenwärtigen Niedergeschlagenheit auch eine generelle Skepsis bezüglich seiner Aussage. Hatte diese Kleinstadt wirklich einmal bessere Zeiten gesehen? Wir konnten es uns nicht vorstellen.
Da weder Patrick noch ich etwas zu entgegnen wussten, bezahlten wir, wünschten ihm einen schönen Tag und schlenderten die Straße zurück zum Haus.
»Westvill ist echt die perfekte Kulisse für einen traurigen Film«, sagte ich, als sich eine graue Wolkenwand über unsere Köpfe schob.
Patrick sah mich an. Und wie bei einem Streifen von David Fincher zuckte er mit den Schultern, steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und schwieg.
*
Ein kühler Windhauch blies durch das abgeklappte Fenster links von mir. Hatte der gestrige Abend ziemlich warm geendet, begann dieser Morgen umso kälter. Ich stand auf und bereitete mich auf einen neuen, öden Sommertag vor. Einen Tag, den man gut hätte mit der Clique zu Hause verbringen können, würde sich nicht meine beste Freundin ein Zimmer weiter in einem tiefen seelischen Schlaf befinden. Durch den Türspalt drang der Geruch von aufgebackenen Brötchen in mein Zimmer, darum zog ich mich nun schnell an und ging die Treppe runter.
»Na, ausgepennt, Schlafmütze?«, begrüßte mich Eira, die aus mir unbekannten Gründen ziemlich gute Laune hatte. Sie deckte gerade Besteck und Marmelade auf. Patrick saß am Tisch, die Beine überschlagen auf einem leeren Stuhl, und las einen Katalog des örtlichen Reisebüros.
»Ist das kalt heute«, gähnte ich. »Ich glaub, ich hab nicht nur den Rest des Sommers, sondern gleich noch den Herbst verschlafen. Hast du da was Schöneres im Angebot, Pat?«
»Ach, hör bloß auf. Hier drin sind nur scheiß Hotels und scheiß Orte. Diesen Reiseführer hat der Teufel höchstpersönlich herausgegeben. Eigentlich wollen die gar nicht, dass man aus Westvill abhaut. Ich bin mir sicher, die haben Angst, dass man nicht wiederkommt, wenn man erst mal was anderes gesehen hat.« Er legte den Katalog weg und griff zum Nutellaglas.
Der Fernseher schwafelte leise vor sich hin. Küche und Wohnzimmer waren nur optisch mit dicken Holzbalken voneinander getrennt. Als ein Werbespot die Lautstärke anschwellen ließ, schaute Eira ihren Freund bestimmend an. »Mach das Ding doch wenigstens während des Essens aus, Schatz!«
»Och, Eira! Wo Frühstücksfernsehen doch eindeutig das Beste vom Tag ist«, protestierte Patrick gespielt entrüstet. »Wir wollen doch alle unbedingt wissen, ob der 200-Kilo-Mann mit den drei Dackeln endlich genug Spenden für das Magenband zusammenbekommt.« Aber egal wie herausfordernd er seine Freundin ansah, sie blickte ohne mit der Wimper zu zucken auf die Fernbedienung, so dass er schnell nachgab.
Ich schüttelte den Kopf und nahm Platz. Die beiden waren erst zwei Jahre zusammen und kamen mir von Tag zu Tag mehr wie ein altes Ehepaar vor.
Die rot-weiß karierte Plastiktischdecke betrog den Tag, indem sie unsere Runde wie ein Picknick aussehen ließ. Doch eigentlich konnte man unsere Situation eher mit der ängstlichen Ungeduld in einem Wartesaal beim Arzt vergleichen. Patricks Akustikgitarre lag auf der Couch. Aus meinem Zimmer heraus hatte ich ihn noch bis spät in die Nacht klimpern gehört. Nachdem wir die kleine DVD-Sammlung so oft angeschaut hatten, bis keiner mehr hinsah, fiel es uns abends schwer, Schlaf zu finden. Während ich mir eins der dampfenden Brötchen aus der Schale nahm, die Eira jeden Morgen an der selben Stelle platzierte, versuchte ich mich zu erinnern, welcher Wochentag heute war, aber kam nicht darauf. Und als ich in die matten Gesichter meiner Freunde blickte, wie sie apathisch ihr Frühstück kauten, behielt ich die Frage lieber für mich.
Ein weiterer Nachmittag kam. Eira saß im Schneidersitz auf dem schwarzen Ledersessel im Lesezimmer und las einen dicken Schinken, welchen sie vor ein paar Tagen im alten Eichenregal an der Wand entdeckt und interessant gefunden hatte. Es war ein Fachbuch, das Marlas Mutter gehörte. Sie war Ärztin in einem Krankenhaus außerhalb Westvills, auf der psychiatrischen Station.
Früher hatte mir Marla ab und an von einigen besonders krassen Fällen berichtet, die ihr ihre Mutter erzählt hatte. Einmal beispielsweise hatte sich einer ihrer Patienten für einen Vogel gehalten und war aus dem dritten Stock seines Zimmers gesprungen. Als er mit gebrochenen Knochen unten im Busch vor dem Krankenhaus lag, beichtete er den Ärzten mit trockenem Ernst, dass er wohl akzeptieren müsse, dass er ein Pinguin sei und keine Elster, wie er bisher angenommen hatte. Ich kann mich noch so gut daran erinnern, wie Marla mir das erzählte, denn sie hatte vor Lachen Tränen in den Augen und musste die Geschichte mehrfach anfangen, bevor sie bis zum Ende kam.
Hin und wieder überkam mich die Angst, hier auch verrückt zu werden, aber das schrieb ich meinem pessimistischen Verstand zu. Und für solch eine banale Geschichte aus ihrem Mund hätte ich mittlerweile so einiges gegeben.
»Weißt du, Marko, manchmal, wenn du so dasitzt wie jetzt gerade«, begann Eira grinsend und sah abwechselnd ins Buch und zu mir, »lässt das darauf schließen, dass du schon mal jemanden umgebracht hast.« Sie versuchte sich an einem finsteren Blick und lachte. »Serienmörder-Gebaren!«
»Ey, komm. Hör auf, mich mit deinem Halbwissen zu analysieren! Sonst hab ich bald echt wen auf dem Gewissen«, sagte ich und guckte genauso theatralisch zurück.
Patrick kam vom Flur ins Zimmer. Er hatte gerade geduscht und seine strubbeligen Haare ließen kleine Tropfen auf sein T-Shirt fallen. Über der Hüfte trug er ein rosa Duschhandtuch. »Sag mal, baggerst du meine Freundin an?«, fragte er und sah grinsend von Eira zu mir.
»Ich hätte ’ne Morddrohung nicht gleich als Flirten aufgefasst. Aber du kennst sie besser, also ...«
»Mach ruhig weiter. Ich bin gespannt, wer am Ende das Opfer ist. Ich wette auf dich, mein Freund! Wobei, sollten wir das Risiko wirklich eingehen? Wer kocht denn für uns, wenn es sie erwischt?«
Eira warf das Buch mit empörtem Gesichtsausdruck auf den Beistelltisch und ein paar Stifte rollten auf der anderen Seite über die Kante und landeten auf dem Parkett. »Ihr Ärsche, das gibt’s ja wohl nicht! Ab heute esst ihr jeden Tag vegetarisch!« Wieder hatte sie ihr kleinstes Lächeln aufgesetzt und verließ den Raum, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
Patrick sah ihr hinterher. »Ich hoffe, das meint sie nicht ernst. Marko, ich kann unmöglich auf unseren Mettwoch verzichten!« Egal wie blöde, er hielt hier unsere Stimmung hoch.
Ich zuckte mit den Schultern. Der größte Fleischesser von uns dreien war seit jeher Patrick, außerdem war ich durchaus in der Lage, mir selbst etwas in die Pfanne zu hauen, auch wenn man keine großen Wunder erwarten durfte. Plötzlich bekam ich einen Kloß im Hals. Von uns dreien, hatte ich eben gedacht. So weit war es also schon gekommen, stellte ich betrübt fest, dass ich Marla unterbewusst gar nicht mehrdazuzählte. Ich schämte mich und war froh, die Worte nicht laut ausgesprochen zu haben.
Patrick bemerkte meine Miene, kam herüber und wollte mir in die Wangen greifen, wie Tanten es gemeinhin bei Kleinkindern tun. Er säuselte mit hoher Stimme: »Hey, du Sorgenmuffel! Lass doch mal die Sonne rein! Die liebe Eira püriert dir sicher ein Paar Wiener für dein Fläschchen, wenn du nur lange genug so eine Flunsch ziehst.«
Ich wehrte ihn mit den Armen ab. Mir war gerade echt nicht nach Späßen. »Sorgenmuffel, Mann? Ehrlich? Was soll das überhaupt sein? Und wenn schon! Man kann einem die schlechte Laune hier wohl nicht verübeln.«
Er ließ den Kopf kreisen. »Okay, okay. Aufmunterungsversuch gescheitert. Haste denn nachher wenigstens Lust auf ’ne Runde Kicken im Garten? Wir waren gestern, als du oben die Tür zu hattest, auf dem Markt und haben einen Ball gekauft.«
»Klar, können wir machen. In einer halben Stunde, ja? Ich will endlich mal das Kapitel in diesem Buch zu Ende lesen«, sagte ich und deutete auf das Cover eines Jugendromans, den ich in der letzten Woche begonnen hatte und der sich genauso hinzog, wie alles andere in Westvill auch.
Er nickte und verließ das Zimmer. Und kaum dass er verschwunden war, kündigte sich die Sonne mit langgezogenen Rechtecken auf den Holzdielen nahe der Fensterfront an. Vielleicht wurde ja doch ein guter Tag.
*
Ich schreckte hoch. Drangen dort Schreie an mein Ohr?, ging es mir durch den Kopf, oder träumte ich? Nein, tatsächlich! Meine Hand tappte nach der Lampe zu meiner Linken. Es klickte und der Raum um mich herum entstand im Dämmerlicht. Wieder Schreie, wenn auch gedämpft. Eindeutig nahm ich sie nun wahr. Und ich spürte, wie mein Körper anfing, aufgrund dieser Erkenntnis zu glühen.
Was passiert hier nur?, dachte ich, als ich auf den Flur stürmte. Das Holz ächzte. Ich lief die Treppe runter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Ein kalter Hauch wehte mir entgegen. Der Morgen war noch längst nicht wach. Ich sah mich unten um. Die Haustür stand offen.
»Marko!«, sprach mich Patrick an und tauchte aus der Dunkelheit des Wohnzimmers auf.
Ich musterte ihn mit großen Augen. »W-was ist hier los, Mann?«
Auch er war gerade erst aus dem Bett hoch, das offenbarte seine Frisur. »Marla ist weg!«
Es war, als würde die Zeit vor Entsetzen einatmen und alles für einen Moment in ihr verharren. Seine Worte hallten in meinem Kopf und ich bekam eine Gänsehaut. Ich hörte ihn dumpf weitersprechen. Er erzählte aufgeregt, gestikulierte wild und zog seine Jacke vom schweren Holzständer, der mit lautem Knall gegen die Wand stieß. »... Komm, wir müssen sie suchen! Zieh dir was an! Eira ist schon draußen. Los jetzt. Marko, los!«
Wie im Reflex rannte ich nun in die Küche und nahm meinen Pulli vom Tisch, an dem wir letzte Nacht gesessen hatten. Brotreste regneten auf die hellen Fliesen. Kurz bevor ich die Tür zuzog, warf ich einen Blick auf die alte Uhr, welche am Balken über der Treppe hing. Kurz nach halb drei, tickte sie in die rätselhafte Nacht.
Nach zehn Minuten des Herumirrens schlugen unsere Herzen fast so laut, wie wir atmeten. Wir waren gelaufen. Es war so ein Moment, in dem man besser keine Zeit verliert, das war uns klar. Wir kamen gerade an ein paar ungepflegten Schrebergärten vorbei, als Patrick plötzlich »Hast du sie?« rief.
Ich drehte mich zu ihm um und sah den Mond aus den Augenwinkeln. Er stand an seinem höchsten Punkt und schaute wie ein weit geöffnetes Auge zu uns herunter. Ich verfluchte ihn, weil er Marla bestimmt von dort oben sehen konnte und nichts verriet.
»Wo? ... Okay ... ja. Ja, wir kommen!«, sagte Patrick und ich begriff, dass er telefonierte. Er steckte sein Handy weg und sah mich an. »Sie ist auf diesem Spielplatz! Du weißt schon: Den wir entdeckt haben, als wir am ersten Tag auf der Suche nach dem Marktplatz waren. Findest du den Weg?« Seine Mimik baute auf meine Erinnerung.
Ich nickte, keuchte »Folg mir!« und lief los. Alles schwankte. Ich rannte so zielstrebig, als wäre dies mein alter Schulweg, und hoffte still bei mir, dass meine Füße sich genauso sicher waren wie mein Kopf. Nach ein paar wenigen Minuten kamen wir an.
Das Licht, das durch eine alte Lärche brach, raubte dem Spielplatz seinen Sinn. Wie ein Netz lag die Nacht auf diesem Ort, wo vor vielen Jahren noch Kinder spielten. Die Parkbänke, die ihn einrahmten, waren mit Graffiti beschmiert. Die Metallmüllkörbe quollen über. Der Rost an den Geräten erzählte von längst vergangenen Kindertagen. Das Gras glänzte grau und trocken an den Stellen, wo es noch nicht völlig von Dreck und Maulwurfshaufen verdrängt worden war.
Eira kauerte auf einer der Parkbänke. Direkt ihr gegenüber saß Marla auf einer Schaukel. Sie trug ihr weißes Schlafkleid, die Zipfel waren dreckig und nass. Ich konnte nur vermuten, doch ich denke, sie war barfuß hierhergekommen. Sie schaute nach unten, sah uns nicht an. Ihr dunkelblondes Haar verdeckte ihr Gesicht wie ein ausgewaschener Schleier. Auf Zehenspitzen, als fürchteten wir, laute Geräusche würden Marla aufschrecken, gingen wir zu Eira.
»Eira, was ist mit ihr? Hat sie schon was gesagt?«, wollte ich wissen.
Sie wandte ihren Kopf von Marla ab. Ich sah, dass sie geweint hatte. »Ich hab nach ihr geschaut. Hatte so ’n komisches Gefühl irgendwie. Schlafen kann ich ja eh nicht in diesen Betten. Sie war nicht in ihrem Zimmer. Und dann ist die Tür unten zugeknallt. Ich hab mich so erschrocken.« Sie schluckte. Ihre blonden Locken klebten ihr im Gesicht. »Dann bin ich nach unten gelaufen. Ich weiß nicht ... Ich glaub, ich hab sie hinter der Hecke des Nachbargrundstücks verschwinden sehen. Vielleicht hab ich’s mir auch nur eingebildet ...«
Patrick setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um sie.
»Und wer, bitte, hat vorhin so geschrien? Mein Gott, ich dachte, mein Herz bleibt stehen. War das Marla oder kam das von dir? Hat sie denn schon was gesagt? Hast du versucht mit ihr zu reden? Verdammt, Eira, kannst du mal antworten?!«, sagte ich viel lauter und barscher, als ich es eigentlich wollte, und gleich darauf tat es mir leid. Diese Situation war einfach zu viel für mich. Wie Marla dort eingeschüchtert, nicht in der Lage etwas an ihrem Zustand zu ändern, auf der Schaukel saß, brach mir das Herz.
»Ey, Mann, lass sie! Für Eira ist das auch nicht einfach.«
»Ja, ich war’s«, erzählte Eira stockend weiter. »Sie hat noch nichts gesagt. Ich will doch nur wissen, was mit ihr los ist …« Sie brach erneut in Tränen aus und ich zitterte.
Pat wies mich mit einer Handbewegung an, zu Marla zu gehen.
Mein Herz pochte schnell, ich hatte Kopfschmerzen und mir war schlecht vom mitternächtlichen Laufen, als ich vor Marla stand und nach Worten suchte. »Hey, was machst’n hier?«, fragte ich, denn etwas Besseres fiel mir nicht ein. Ich wollte hoffnungsvoll, vor allem einfühlsam klingen, doch meine Fassungslosigkeit ließ sich nicht überspielen und färbte meine Frage schrill und absurd.
Sie sah immer noch nicht hoch. Gerade als ich ihren Arm berühren wollte, fing sie an zu sprechen. Es war nur ein Flüstern. Eira und Pat bemerkten es gar nicht. Es klang nach »Wie im Juli«, doch als ich am nächsten Morgen darüber nachdachte, hätte es auch alles andere sein können.
»Was, Marla? Wie war das?«, fragte ich leise, ging auf die Knie und versuchte ihre Augen zu sehen, die von ihren herunterhängenden Haaren versteckt wurden. So, als wehrte sich der Geist, der sie gefangen hielt, dagegen, jemandem Zugang zu ihrer Seele zu gewähren.
Marla wiederholte die Worte nicht. Und so hielt ich es für an der Zeit, dass wir alle nach Hause gingen. Ich nahm mir ein Herz und berührte Marlas nackten Arm. Ich wollte ihr ein Zeichen geben, dass wir aufbrechen und dass sie von der Schaukel runterkommen soll.
Da zuckte sie plötzlich am ganzen Körper und stieß mich hart weg. Ich fiel völlig überrascht nach hinten und landete im Sand, der kalt und nass vom kommenden Morgen war. Das Paar auf der Bank verstummte. Diese ruckartige Geste war selbst ihnen in dieser starren Nacht nicht entgangen.
Marlas Arme klammerten sich wie besessen an die kleinen Stahlringe, die die Schaukel am Gerüst hielten. Dann, ohne ein Anzeichen, erschlafften ihre Finger und sie fiel rücklings auf den Boden. Trotzdem sie fast neben mir lag, war Patrick als Erster bei ihr. Er zog sie mit Mühe hoch und schleppte sie auf die Bank zu Eira.
»Wo bin ich?«, fragte sie leise und sah sich so verdutzt um, als hätte man einen Schlafenden aus seinem schönsten Traum gerissen. Ihre Stimme klang zart und schwach. Man merkte deutlich, dass sie eine Ewigkeit nicht mehr benutzt worden war.
Wir sahen sie erstaunt an und ich erzählte ihr im groben, was in der letzten halben Stunde passiert war. Doch schon bei den ersten Ausführungen wurden ihre Augen wieder glasig und sie verschwand in ihrer sprachlosen Parallelwelt. Und so gingen wir nach Hause – die Sterne über unseren Köpfen und Marla auf unsere Schultern gestützt.
Es waren nur drei Worte um drei Uhr nachts, doch zumindest für mich waren es Worte, welche die letzten schweren Monate vergessen machten. Nicht so für Eira. Sie wirkte am nächsten Morgen immer noch erschrocken und aufgebracht, und als wir drei am Frühstückstisch saßen und das letzte, viel zu harte Brot aßen, eröffnete sie uns, dass sie gehen will. »Ich halte das nicht mehr aus … Ihr wisst, sie und ihr könnt immer auf mich zählen. Aber ich muss mal wieder in meinem eigenen Bett schlafen und mir über mein eigenes Leben klarwerden. Das zieht mich alles so runter hier.«
Wie wahr, dachte ich und sagte: »Das ist schon okay. Eine Woche werden wir auch ohne dich –«
»Ich rede von länger, Marko. Vielleicht für immer«, unterbrach sie mich. »Ich halte es in diesem Haus nicht mehr aus. Marie ist eine angesehene Ärztin, oder nicht? So jemand muss doch vermisst werden. Und was ist mit der Zeitung, bei der Marla letzten Monat ihr Praktikum beginnen sollte? Keiner ruft an, keiner kommt vorbei! Die Welt kann doch nicht alles zugleich vergessen haben. Das ergibt doch keinen Sinn! Und langsam glaube ich –«
»Dass es an diesem Haus liegt?«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Das meinst du nicht ernst, Eira! Komm schon, wir sind in keinem Film. Klar, ist es komisch, die ganze Zeit in dieser seltsamen Stadt rumzugammeln, wo nichts passiert. Sicher könnte man so viel Besseres anstellen. Doch da oben liegt unsere beste Freundin mit einem riesen Problem in ihrem Zimmer. Und, du hast es selbst gesagt, wer sollte sich denn sonst kümmern, wenn nicht wir?« Ich nahm mir eine weitere Brotscheibe aus dem Korb; mehr zur Beschäftigung meiner Hände als aus Hunger.
Sie stierte mich an. »Verdammt noch mal! Tu nicht so, als wenn ich das nicht wüsste, Marko«, bellte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Trotzdem fällt mir hier die Decke auf den Kopf und ich ertrag es nicht, dass es mit Marla einfach nicht bergauf geht. Ganz im Gegenteil. Was war denn das letzte Nacht? Das ist doch alles nicht normal! Und was haben wir hier eigentlich alleine zu suchen? Das ist was für richtige Erwachsene, für Polizisten – nicht für uns.« Ihre Stimme zitterte und kurz herrschte Stille. Von Patricks Kauen abgesehen.
»Ich bleib jedenfalls hier!«, sagte ich und scheiterte, die Sache ins Lustige zu ziehen: »Marla ist doch schon viel gesprächiger geworden.«
»Und ich werde heute Abend nach Hause fahren, egal, was ihr sagt«, entgegnete Eira mit starrem Blick und legte ihre Hand auf den Arm ihres Freundes.
Der holte tief Luft. Anscheinend dämmerte ihm, dass er dem Thema nicht länger aus dem Weg gehen konnte und sich in den nächsten Sekunden für Marla und mich oder für seine Freundin entscheiden musste. Die Antwortet kam wie erwartet. »Ja, okay ... ich komme mit dir, Schatz«, stotterte er und sah keinen von uns beiden an. »Ist ja auch mein Auto.«
»Wie bitte?!« Ich sprang auf. Mein Besteck landete klirrend auf dem Fußboden. »Leute, echt? Wollt ihr mich verarschen?«
»Hey, tut mir leid, Mann. Ich komm auch in zwei Wochen wieder und bring die Playstation mit. Dann zocken wir die nächste Zeit. Ich muss sowieso ’n paar Dinge zu Hause klären. Verstehste doch, oder?«
»Wir sind doch nicht bloß zum Zeit totschlagen hergekommen, Pat!« Ich konnte nicht glauben, dass ich nun bald alleine mit Marla in diesem traurigen Haus festsaß. Besonders nach dem letzten Vorfall, der erst wenige Stunden zurücklag. »Ja sicher, dann geht halt«, schob ich zähneknirschend nach und hob Messer und Gabel von den Fliesen auf. Auf Streit hatte ich an diesem Morgen wenig Lust. Die letzte Nacht hing mir noch in den Knochen und es war mir eh nie gelungen, dieses Pärchen von etwas abzubringen.
*
Ich kam gerade vom Fußballtraining, und wollte meine verschwitzten Sachen in den Wäschekorb im Keller bringen, als das Klingeln unseres Telefons durch das Treppenhaus schallte. Ich drehte auf halbem Weg um und sprintete die Stufen bis zum dritten Stock hoch, lief durch die offene Haustür direkt zum Telefon im Flur. Als ich den Hörer abnahm, hörte ich bereits jemanden sprechen.
»Ich weiß es auch nicht, Hermann, vielleicht –«
»Hallo?«, fragte ich verdutzt ins Telefon.
»Äh, ja, Guten Tag. Sprech ich da mit Herrn Dorn?« Die Stimme klang aufgeregt.
»Ja, da sind Sie richtig«, antwortete ich.
»Sehr schön. Dann kennen Sie eine Frau Porz aus Westvill, nehmen wir an?«
»Ja natürlich – Marla –, wieso fragen Sie?« Mein Bauch fing an zu kribbeln.
Sie sprach zu jemand, der wohl mit ihr im selben Raum war. »Siehst du, Hermann, er kennt die kleine Porz … Nun wissen Sie«, redete sie weiter, während ihre Stimme zitterte. »Wir haben … Verstehen Sie uns nicht falsch, wir sind nicht diese neugierige Art von Nachbarn, die uns einfach so in fremde Angelegenheiten einmischen würden. Nur, wir waren besorgt, weil wir so lange kein Licht mehr im Haus gegenüber brennen sahen und … Ich hoffe, ich spreche mit dem Richtigen darüber. Wissen Sie, wir haben Ihre Telefonnummer im Haus gefunden. Gehören Sie zur Familie?«
Irgendwas stimmte nicht, das wurde nun allzu deutlich. »Nein, ich bin mit ihr befreundet«, sagte ich aufgeregt und fügte hinzu: »Sehr gut befreundet – was ist mit Marla?«
Man merkte, dass die Frau mit der matt klingenden Stimme ihre Gedanken ordnete. »Ja nun, da wir keine weitere Nummer haben: Also wir wohnen nebenan und wir haben Marla am Gartenhaus gesehen. Sie sah wirklich nicht gut aus, das junge Ding. Und da wird man natürlich aufmerksam. Und wir haben die nächsten Tage weiter drauf geachtet – mein Hermann und ich. Und nun sind schon fast zwei ganze Wochen vergangen, wissen Sie? Und da haben wir uns dazu entschlossen, einfach rüberzugehen und zu klingeln. Wir wollten mal nachfragen, ob alles in Ordnung ist mit ihr. Wissen Sie, wir sind eine kleine, nett–«
Ich wollte, dass sie endlich zum Punkt kam. »Was ist mit ihr?«, fragte ich deshalb erneut lauter und bestimmter nach.
»Nun, sie hat nicht aufgemacht und deshalb ist mein Mann über den Gartenzaun gestiegen. Nicht, dass Sie das Falsche denken, wir konnten ja nicht einfach wegseh–«
»Ja, ja, schon gut.«
Sie hustete laut in den Hörer. Ein langes, krankes Husten, das mich endgültig darauf schließen ließ, dass es sich um eine schrullige Rentnerin am anderen Ende handelte.
»Die Tür hinten am Haus stand offen und so sind wir eingetreten.« Sie schluckte. »Und dann haben wir sie oben in ihrem Bett gefunden. Sie hatte dreckige Sachen an und – oh, es war schrecklich. Können Sie sich das vorstellen?«
Ich war mir sicher, dass sie darauf keine Antwort erwartete, hielt inne und schwebte zwischen Anspannung und Übelkeit. Was war mit Marla?
»Das arme Ding saß einfach nur auf dem Bett. Ihre Hände waren voller blauer Tinte und sie sprach nicht. Ich hab ja schon viel gesehen. Wissen Sie, ich war damals Krankenschwester –«
»Sagen Sie mir bitte einfach, was dann geschehen ist!« Ich hatte wirklich keine Lust mehr auf die ewigen Ausführungen einer alten Frau, in deren Leben schon seit Jahrzehnten nichts mehr passiert war.
Ein Räuspern war zu hören, wahrscheinlich, weil ich sie nicht aussprechen ließ. Und als sie erneut ansetzte, klang ihre Stimme distanzierter: »Nun, wie ich bereits sagte: Sie hat nicht gesprochen bisher. Wir wollten Sie zu Doktor Beier bringen. Er ist der Mediziner bei uns im Städtchen. Aber das junge Ding war nicht in der Lage dazu. Sie wirkte völlig erschöpft. Und so haben wir ihn dann ins Haus der Porz kommen lassen. Er hat ihr Bettruhe verordnet und meinte, wenn die Eltern wiederkommen, sollen sie einen … Ach, Herr Gott! … Wie hieß denn noch dieser Arzt, Hermann?« Keiner antwortete. »Nun, einen Fachmann in der Stadt kontaktieren. Wissen Sie, die Porz’ fahren schon seit einigen Jahren zu dieser Zeit in den Urlaub. Das haben wir auch dem Doktor gesagt. Nur waren sie bisher ja nie so lange fort. Herr Dorn, sind Sie noch dran?«
Ich dachte nach und so vergingen einige Momente, bis ich begriff, dass sie mich angesprochen hatte. »Entschuldigung, ja?«
»Sie wissen nicht zufällig, bis wann genau sich Marlas Eltern noch im Urlaub befinden? Eine Frechheit, nicht vor Ort zu sein, wenn es der eigenen Tochter so schlecht geht.« Sie hustete wieder. »Wir haben unsere Kinder nie aus den Augen gelassen.«
Das Zuhören fiel mir immer schwerer. Mein Kopf tat weh. »Nein, ähm, ich weiß auch nicht, warum sie noch nicht wieder zu Hause sind. Ich werde versuchen nach Westvill zu kommen. Wann, sagten Sie, ist das alles vorgefallen?«
»Wir sind erst seit einigen Minuten wieder daheim. Wissen Sie, wir haben Ihre Nummer im Haus der Porz’ gefunden –«
»Vielen Dank, wirklich! Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Ich werde sehen, dass ich heute noch zu Marla fahren kann. Ich würde Sie dann noch mal kontaktieren, wenn es Ihnen recht ist.«
»Aber natürlich«, antwortete sie nun wieder gefasst. »Hermann und ich bewohnen das grüne Haus mit dem frisch geteerten Dach – Hermann und Ilsa Nahlik. Leider sind die Kinder ja schon groß –«
»Super, Danke noch mal. Ich melde mich bei Ihnen, Frau Nahlik«, unterbrach ich sie erneut, der Zeit zuliebe.
»Auf Wiedersehen.«
Das Telefon schwieg. Ganz im Gegensatz zu meinem Verstand. Ich starrte den Hörer noch eine Weile ungläubig an, bevor ich begriff: Ich musste etwas unternehmen! Dieser Satz nahm alles in meinem Kopf ein. Er verdrängte die Planung der letzten Wochen und überschrieb jegliche Versprechen, Leute zu besuchen, die ich schon Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte.
Es ging um Marla. Es ging um die Person, die mir immer noch am meisten bedeutet. Zum Glück hatte ich die nächsten Monate zur freien Verfügung, bevor mein Auslandsjahr begann. Und so rief ich in derselben Stunde meinen Freund Patrick an und erzählte ihm von meinem Vorhaben. Anschließend packte ich meine Sachen, schrieb meiner Mutter eine lange, wirre SMS und fuhr mit der Bahn Richtung Westvill.
*
Am nächsten Tag stand ich erst gegen Mittag auf. Eira war die treibende Kraft gewesen, uns alle morgens um halb neun am Frühstückstisch zu sehen. Patrick und ich hatten keine Chance, sie vom langen Ausschlafen zu überzeugen. Dabei waren unsere Argumente gut. »Mir egal, ob ihr frei habt. Bei uns zu Hause hat man gesagt: Das gemeinsame Essen hält die Familie zusammen, und das gilt auch für uns in dieser Situation. Außerdem möchte ich nicht, dass Marla aufwacht und es steht kein Essen an ihrem Bett.« Das war mein Stichwort: Das Frühstück für Marla! Schnell zog ich einen Pullover aus dem Eichenschrank gegenüber meines Bettes, ging in die Küche und machte ein spätes Frühstück für sie und mich.
Patrick und Eira mussten die letzten Brötchen im Brotkasten scheinbar übersehen haben, denn für gewöhnlich hatten die zwei einen Mordshunger und ließen kaum mehr als ein paar Krümel übrig. Das war ein Glück für mich, denn so brauchte ich nicht sofort raus in den morgendlichen Sprühregen. Lustlos kauend blickte ich ins Westviller Wetter und fühlte mich einsam – obwohl meine Freunde gerade erst ein paar Stunden weg waren. In den letzten zwei Wochen hatten wir uns zwar kaum mehr etwas zu sagen, aber dennoch war es schön, Pats Gitarrenspiel zu lauschen oder Eira während des Putzens über das Putzen schimpfen zu hören.
Nachdem ich eine Stunde einfach so am Tisch gesessen hatte, raffte ich mich auf und machte mich auf den Weg zum Kiosk. Es tat gut, auch mal woanders über die Dinge nachzudenken, die nun schon fast zwei Tage zurücklagen. So schlenderte ich die Allee wie hunderte Male zuvor entlang und wie meist, war ich der Einzige in dieser Straße. Ich schaute auf meine Schuhe. Der Schlamm von der Nacht auf dem Spielplatz klebte immer noch daran. Ich blieb stehen. Vielleicht ist es albern, dachte ich, aber was, wenn es dort irgendwelche Hinweise gab, die wir übersehen hatten? Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich hatte genügend Zeit und auch wenn ich nicht daran glaubte, dass dieser Ort bei Tageslicht einladender aussah, drehte ich um und begab mich auf den Weg dorthin.
Zehn Minuten später berührten meine Turnschuhe den flüchtig bekannten Sandboden, auf dem nur vereinzelt kleine Grasflecke die Tristesse dieser Kulisse überlebt hatten. Alles war so leblos wie zuvor. Selbst Vögel schienen diesen Ort zu meiden. Und wieder einmal überkam mich das Gefühl, dass hier etwas Schreckliches passiert sein musste. Etwas worüber niemand sprach, vielleicht weil es keine Zeugen dafür gab. Ich stieg über die vermoderte Holzpflock-Begrenzung, die dieses deprimierende Bild im Rahmen hielt. Dort, wo die alten Spielgeräte Schatten warfen, war der Boden immer noch nass. Ich setzte mich auf die Bank, auf der Patrick und Eira gesessen hatten, und grübelte.
Was hatte Marla hier gesucht? Hatte sie überhaupt etwas gesucht? Falls nicht, warum war sie dann hierhergekommen? Oder war es nur die reine Willkür ihres Schlafwandelns? Wieso sah sie so ängstlich aus, als sie bemerkte, wo sie aufgewacht war? Immer wieder blickte ich mich um. Doch Antworten darauf entdeckte ich keine.
Ich versuchte mich, so gut es ging, in ihre Lage zu versetzen, versuchte mir die Nacht wieder ins Gedächtnis zu holen – mit allen Details und jedem Gefühl, was ich hatte und welches ich an Marla feststellen konnte. Ich stand auf und ging zur Schaukel, auf der sie gekauert hatte, wie ein Engel, den Gott in der regnerischsten Nacht, ohne Ziel auf die Erde geschickt hatte. Doch sie lebte schon immer hier, war unsere Freundin, einst meine Marla, und nun einfach nur noch ein trauriges Rätsel.
Kurz bevor ich mich setzte, fiel mir etwas auf, dass jemand vor Ewigkeiten auf die Oberseite der Schaukel geritzt haben musste. Verloren im letzten Juli, findest du dich einen Schnitt entfernt wieder, stand dort im aufgequollenen Holz. Unkenntlich waren Risse hinter diesen Satz geschnitten. Entweder war der Text nicht zu Ende geschnitzt worden oder es handelte sich einfach um natürliche Einkerbungen der Zeit und des Gebrauchs. Auch wenn ich mir schwer vorstellen konnte, dass dies jemals ein gut und gerne besuchter Platz für gedankenlos spielende Kinder gewesen war. Und überraschen sollten mich Schmierereien an diesem heruntergekommenen Ort ebenso wenig.
Doch plötzlich traf es mich. Im Juli, im Juli ... Hatte Marla nicht etwas vom Juli geflüstert? Und hatte sie nicht auf eben dieser Schaukel gesessen?
Der Wind wehte Blätter von der Straße auf den Spielplatz und sprach somit ihr endgültiges Todesurteil. Ich ließ mich vor die Schaukel in den Sand fallen, war wie im Wahn. Ich wollte, dass mein Kopf etwas Sinnvolles ausspuckte oder dass dieser Ort meinem verzweifelt nach Anhaltspunkten suchenden Körper einen weiteren Hinweis gab – einen Lichtstrahl, der die Dinge erhellte: warum ich im schrecklichen Westvill festsaß, warum Marla vor zwei Tagen hierherkam und ob es überhaupt irgendwelche Zusammenhänge zwischen dieser Stadt und ihrer Veränderung gab. Doch der Augenblick schwieg und ich saß in ihm fest.
*
Als es wieder leise zu tröpfeln begann, beschloss ich zurückzugehen. Ich versuchte mir ein Reim auf all das zu machen, beobachtete die Umgebung genau und hinterließ Schuhabdrücke im feuchten Sandboden, der vom Spielplatz weg zu Marlas Haus führte. Ich ging schneller, während die schwachen Tropfen dunkle Kreise auf meinen Pullover zeichneten. Ich sprang über einen alten Holzzaun, um meinen Rückweg abzukürzen. Dass dieses Gebäude leer stand, war offensichtlich, selbst in dieser verlassenen Stadt. Die Fenster waren von den Besitzern mit Holzplatten zugenagelt worden. Man bekam den Eindruck, dass sie so schnell es ging ihre Sachen gepackt hatten, denn auf dem Rasen standen noch Gartenstühle, mittlerweile begrünt und vermodert, sowie ein alter Plastiktisch. Die Wände waren, wie schon der Spielplatz, mit größtenteils dunkelrotem Graffiti verziert worden. Eigentlich ungewöhnlich, wie mir auffiel. War dies mit dem Spielplatz doch der einzige beschmierte Ort in der Stadt. Und mittlerweile war ich mir sicher, ganz Westvill zu kennen. Gähnende Langeweile hatte Patrick und mich damals öfter aus dem Haus in die Umgebung getrieben. Eira war stets daheim geblieben, in der Hoffnung, dass Marla zu ihrem alten Verhalten zurückfinden und einfach die Treppe heruntergerannt käme, um »Hey, warum seid ihr denn schon wieder so früh wach?« zu fragen. Doch bis auf die Nacht vor ein paar Tagen, verließ sie nie die obere Etage.
Eine alte Weide, die auf dem sonst ziemlich leeren, verwilderten Grundstück stand, malte mit ihren dünnen knochigen Ästen und der dicht bewachsenen dunkelgrünen Krone kein wirklich einladendes Bild in den Tag. Wenn es den Begriff Geisterbaum gab, war dieser hier das perfekte Beispiel, fand ich, mit einem flauen Gefühl im Bauch. Ich musterte den Baum genau. Mir fiel auf, dass ich ihn zuvor aus dem Flur von Marlas Haus gesehen hatte. Wenn man sich im ersten Stock vor ihrem Zimmer am Fenster befand, hatte man über ein paar ungeliebte Gärten einen direkten Blick auf diese unheimliche Präsenz. Wie oft ich wohl schon dort oben gestanden und nachgedacht habe?, fragte ich mich, kurz bevor ich das Grundstück durch die ächzende Metalltür verließ. Kurze Zeit später betrat ich dann die weiße Treppe. Mittlerweile war ich vollkommen durchnässt.
Nachdem ich mich umgezogen und meinen Pullover über die Bettkante gehängt hatte – seit Eiras und Patricks Abfahrt wohnte ich im Schlafzimmer der Eltern –, ging ich ins Lesezimmer und stand zum x-ten Mal vor dem Bücherregal. Ich hoffte vielleicht ein Buch zu finden, welches ich noch nicht gelesen oder durchgeblättert hatte. Durch das Fenster neben mir sah ich nach draußen auf den Rasen. Kleine Pfützen hatten sich gebildet und spiegelten den kontrastlosen grauen Himmel. An den rasenfreien Stellen verschluckten kleine Schlammseen zunehmend den Vorgarten.
Mir fielen zwei Bücher aus dem Regal, als ich versuchte, einen der Romane, die Eira gelesen und auf dem ovalen Tisch vor dem Schrank liegengelassen hatte, im überquellenden Regal unterzubringen. Einer der herausgefallenen Wälzer war Moby Dick und erinnerte mich sofort an meine Schulzeit, die nun auch schon eine Weile zurücklag. Das andere war ein dünnes, blaues Buch, das aufgeblättert auf dem Teppich lag.
Was hat denn das hier zu suchen?, fragte ich mich und bemerkte eine Fotografie, die mir aus einem der Bücher gefallen sein musste. Ich hob sie auf.
Marla war darauf zu sehen. Sie mochte zum Zeitpunkt der Aufnahme um die 15 Jahre alt sein, zumindest unterschied sich ihr Äußeres nicht groß von der Marla, die ich damals im Ferienlager kennenlernte. Sie trug ein ausgewaschenes blink-182-Shirt und strahlte auf ihre besondere Art in die Kamera. Ihre Grübchen verpassten mir einen Stich in die Magengegend. Neben ihr saß ein Junge mit blondem Haar. In seinem Lächeln ließ das Sonnenlicht eine Zahnspange aufblitzen. Sie streckten dem möglichen Selbstauslöser ihre Chucks entgegen. Dass die beiden dort so vertraut an einen Baumstamm gelehnt saßen, machte etwas mit mir, auch wenn ich Marla zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte. Denn obwohl wir nur wenige Monate zusammen gewesen waren, hatte sie nie aufgehört, mehr als nur eine Freundin für mich zu sein.
Am typischen Lattenzaun im Hintergrund erkannte ich, dass das Foto irgendwo in dieser Stadt aufgenommen worden sein musste. In der Hoffnung eine Jahreszahl oder einen sonstigen Vermerk darauf zu finden, drehte ich das Bild um, doch bis auf die Spuren alter Flüssigklebe war die Rückseite leer.
Ich legte es auf den Tisch, setzte mich in den Schaukelstuhl am Fenster und betrachtete das abgenutzte Heft in meinen Händen. Es war in blau-gefärbtes Leder gehüllt, eindeutig ein Einzelstück. Das Cover zeigte ein für mich undefinierbares Muster. Es wirkte auf den ersten Blick wie eine Blume. Aber je länger ich es anstarrte, desto mehr ähnelte es einem Hexenzirkel. Ich musste an den Film Blair Witch Project und die aus Zweigen zusammengebundenen Figuren in den Bäumen denken, als ich es endgültig aufschlug, um darin zu lesen.
*
Hey Tagebuch,
gestern hatte ich einen super schönen Abend! Du ahnst es bestimmt: Ich war wieder bei Benjamin. Er ist echt toll. Hat mir ein total süßes Gedicht geschrieben. (Ich schreib’s unten drunter!) Und er hat mich geküsst! Tagelang schlepp ich den Labello auf meinen Lippen und mit mir rum – und gestern lass ich ihn hier liegen und da traut er sich ... Spielt aber auch absolut keine Rolle. Es war kribbelig. Und nur ganz kurz – so als wäre es irgendwie fast gar nicht passiert. Aber ist es! Ich freu mich so. Er ist so lieb und es war total romantisch und ja, – und jaaaa: Wir sind jetzt zusammen! High-Five!
(An diese Stelle hatte Marla ein Herz mit beiden Initialen darin gemalt: M+B.)
Oh, und rate, was gerade passiert ist? Er hat angerufen – kann jetzt also auf gar keinen Fall mehr weiterscheiben –, wir treffen uns gleich bei ihm zu Hause. Seine Eltern sind spontan in die Stadt gefahren. Er klang total süß am Telefon. Ich erzähl dir morgen alles! Muss mich noch chic machen. *grins*
- Marlala
PS: Wir wollen heute Fotos machen.
PS2: Die EMP-Sachen sind auch gekommen. Passt das gut, oder was?!
Ich sah auf. Regentropfen schlugen gegen die Scheibe und liefen schnell zur Fensterkante. Der Himmel war noch viel dunkler geworden, was wohl am voranschreitenden Tag lag. Benjamin hieß der Typ auf dem Foto also. Vielleicht wohnt er ja immer noch hier, kam mir in den Sinn. Aber wenn dem so wäre, warum war er dann noch nie hier aufgetaucht und hatte sich nach Marlas Zustand erkundigt? Mit dieser Frage im Kopf las ich weiter.
Als ich das Buch abends aus der Hand legte, war ich noch längst nicht durch. Ich hatte erfahren, dass Benjamin in Marlas unmittelbarer Nähe wohnen musste und hatte die Stelle gefunden, an der das Foto einst eingeklebt war. Ja, ich hatte alles Mögliche gelesen, was ich über Marla bisher nicht wusste. Und neben der Müdigkeit, die in mir aufstieg, bekam ich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich all das nun wusste, was sie einzig und allein für sich selbst festgehalten hatte, auch wenn es nur die verliebten Zeilen eines 15-jährigen Mädchens waren. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass ich es nur aus der Hoffnung heraus getan hatte, einen Hinweis auf ihren aktuellen Zustand zu bekommen. Und das entsprach schließlich auch der Wahrheit.
So saß ich noch eine Weile im Schaukelstuhl, guckte immer wieder zum Foto und ging schlafen, als es aufhörte zu regnen. Da mir die letzten Stunden, die Marla, die ich vermisste, so lebendig in Erinnerung gerufen hatten, schaute ich vor dem Zubettgehen noch bei ihrem Zimmer vorbei und flüsterte ein Schlaf schön in die Richtung ihres Bettes.
*
Jeden Tag wachte ich im Gästezimmer auf, mit dem ersten Blick auf die scheußlichen Gardinen. Und je nachdem wie sehr sich die Schatten der Bäume abzeichneten – hier in Westvill standen die Häuser noch nicht ganz so dicht zusammen wie andernorts –, konnte ich auf das Wetter schließen. Heute war es windstill und sonnig. Das war schon fast eine Premiere.
Da ich längst nicht alles bei Franks Kiosk bekam und im Kühlschrank gähnende Leere herrschte, hob ich das Rennrad aus der Halterung im Flur, stellte den Sattel, so gut es ging, auf meine Größe ein und fuhr zum Supermarkt im Dorfzentrum. Für gewöhnlich hatten Eira und Patrick das zu zweit mit dem Auto erledigt – auch um mal ein wenig Pärchenzeit außerhalb des Hauses zu bekommen. Zudem konnte Eira hervorragend kochen, wohingegen Patrick und ich nicht mal den Einkauf zufriedenstellend erledigten, wenn es nach ihr ging. Der Weg zu den Geschäften war zwar auch zu Fuß gut erreichbar, doch da ich nun nicht nur autolos, sondern auch alleine hier war, wollte ich Marla nicht allzu lange aus den Augen lassen. Die Böden draußen waren getrocknet und das Rad ihrer Mutter fuhr sich so Eins-A, dass ich keine Stunde brauchte, um einzukaufen und Marlas Tablett fertig um Punkt zehn auf ihren Nachttisch zu stellen. Sie lag wie ein Pharao stocksteif auf dem Rücken, die Decke bis unter das Kinn gezogen, das blasse Gesicht zur Decke gerichtet. Als ich das Essen abstellte, flackerte kurz ein Blick aus ihren ansonsten stets verschlossenen Augen in meine Richtung. Ich fand das unheimlich – diese Person dort im Bett kam mir fremd vor –, nickte ihr mit einem unsicheren Lächeln zu und verließ schnell wieder das Zimmer. Ich ging Duschen und dann, weil das Wetter so gut war, mit dem blauen Tagebuch raus in den hinteren Teil des Gartens.
Mit Patricks Auto, einem uralten Volvo, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte und der schon mehr aus Rost als aus weißem Lack bestand, waren wir zu Beginn mit Marla nach Belbriff gefahren. Sie hatte sich nicht gewehrt, saß allerdings während der gesamten Strecke, ohne einen Ton zu sagen, im Auto und schaute apathisch aus dem Fenster. Zu der Zeit waren wir drei noch völlig überfordert davon, wie wir Marla zu Hause vorgefunden hatten, und versuchten ihr ständig ein paar Worte zu entlocken. Doch da wir keine Fortschritte machten, fassten wir in der zweiten Woche den Entschluss, in die nächstgrößere Stadt zu fahren, um einen Arzt zu kontaktieren. Der Besuch dort erwies sich leider als ernüchternd. Doktor Schwarz war ein alter, hektischer Mann, der mit seinen Fingerkuppen auf der Kante seines Eichentischs herumtrommelte, als würde er die Patienten vertreiben wollen, die zwischen ihm und seiner Rente standen. Seine Praxis war klein und voller antiker Plakate, die seinen Besuchern beispielsweise die Impfung gegen Keuchhusten nahelegten.
»Frau Porz«, begann er damals so monoton zu sprechen, wie es wahrscheinlich nur ein Arzt fertigbrachte, »hat typische Symptome, die auf ein Trauma hindeuten. Physisch geht es ihr einwandfrei. Das zu Ihrer Beruhigung. Leider kann ich Ihnen keine weiteren Auskünfte geben, da Sie nicht zur Familie gehören oder einen gesetzlichen Vormund mitgebracht haben. Und da Frau Porz sich nicht äußert ...« Er machte eine kurze Pause, als er unsere entgeisterten Gesichter sah, und fuhr dann fort: »Ich möchte unter diesen Umständen jedenfalls keine Pferde scheu machen, wie Sie sicher verstehen. Ich würde Ihnen allerdings eine Überweisung zu einem Psychologen ausstellen, da ihr Zustand ernstzunehmend ist. Aber zu dem Termin sollten Sie dann wirklich mit einer betreuungsberechtigten Person erscheinen. Sonst kommen Sie dort ebenfalls nicht weiter. Tut mir leid.« Und das tat es uns auch. Kopfschüttelnd verließen wir die Praxis. Patrick fluchte noch den ganzen restlichen Abend über den alten Sack.
Daraufhin versuchten wir mit Eiras Stiefmutter, die in der Nähe wohnte, mehr zu erreichen. Aber auch das scheiterte an Vorzimmerschwestern und Ärzten, die nicht über ihre Schatten und Regeln springen wollten. Und so saßen wir in Westvill fest, fühlten uns der Situation ausgeliefert und hofften, dass die Zeit das heilen würde, was Marla schweigen ließ.
Der hintere Teil des Gartens war nur ein Drittel so groß, wie alles, was vor der Veranda auf der anderen Hausseite lag. Das Einzige, was dieses Grundstück von den restlichen in dieser Wohnsiedlung unterschied, war der frisch gemähte Rasen, denn das hatte Patrick am Tag vor seiner Abreise noch schnell erledigt. Ansonsten glich eines dem anderen. Zwei Bäume standen auf dem Grundstück, wovon einer ziemlich verkümmert war. Und zwischen ihnen lehnte ein alter, selbstgebauter Schuppen, in dem sich für gewöhnlich der Rasenmäher und all die Dinge befanden, die seit Monaten auf der Terrasse warteten. Ich konnte mich gut daran erinnern, hier vor ein paar Jahren mit Marla Federball gespielt zu haben. Ich blickte zu den Baumkronen. Ein Schläger hatte Patricks Niederlage gegen mich vor ein paar Wochen nicht überstanden und hing seitdem im größeren der beiden Bäume. Ich grinste und vertiefte mich wieder in das Tagebuch vor mir.
Ich las Marlas erste Sommerwochen und wie Benjamin und sie sich verliebten. Er gab sich wirklich Mühe, schrieb ihr Gedichte, schenkte Blumen, machte Komplimente und sang ihre Lieblingslieder mit ihr. Sie betonte oft, wie glücklich sie sei. Doch an einem Montag, wie ich beim Zurückblättern feststellte, begann die Veränderung: In immer kürzeren Abständen musste er ihr absagen, um mit seinen Eltern in die Stadt zu fahren. Als dies nahezu täglich vorkam, schrieb Marla in einem Eintrag:
Hallo Tagebuch,
ich versteh das zurzeit alles nicht.
Was ist das bloß mit Benni? Er hat mich wieder versetzt. Das dritte Mal in den letzten Tagen. Wenn ich vorgestern nicht abends vor seinem Haus gewartet hätte, bis er aus der scheiß Stadt zurückkam, hätten wir uns diese Woche überhaupt nicht gesehen. Wieso muss er da ständig hin? Ich vermiss ihn so. Seine Eltern schleppen ihn nun fast jeden Tag zum Arzt. Das kann doch nicht an seiner Diabetes liegen. Oder ist sie so viel schlimmer geworden? Auf meine SMS hat er heute auch noch nicht geantwortet. Und letzten Samstag war er auch irgendwie anders. Total in sich gekehrt und pampig, als ich einfach nur wissen wollte, wofür sie die ganzen Untersuchungen machen.
Was verheimlicht er mir?
Mama meinte letztens: Ich soll ein bisschen aufpassen bei ihm. Als ich wissen wollte, warum oder wie sie das meint, wusste sie’s auch nicht genau. Aber immer erstmal der bestimmende Ton – ja, nee, klar! Immer ist die so! Aber weißt du was? Es ist mir richtig egal, was sie sagt! Sie kennt ihn gar nicht oder weiß, wie toll er ist. Und Benjamins Eltern können mich auch mal. Die sollen nicht so blöd gucken. Erst liebe, heile Welt und Benjamin Geld für die Fähre zustecken – und jetzt, wo was ist, lassen sie mich vor der Tür warten.
Ich denke, ich werd gleich mal wieder (!) bei ihm vorbeischauen. Vielleicht ist er ja schon früher zurück.
- Marla :-(
Die Seite war leicht gewellt und nach dem Umblättern sah ich, dass Marla geweint haben musste, denn der nächste Eintrag war vollkommen verschmiert und man konnte Tränenflecken im Text erkennen. Mein Herz klopfte und ich beugte mich näher über das Buch.
Tagebuch,
ich kann ich weiß nicht, was da eben passiert ist. Er war da
Ich hab ihn durchs Fenster gesehen, als ich ankam
Er lag auf dem Küchentisch und ich hab angeklopft
Und da war Blut – er hatte Blut an den Armen seinen Handgelenken
Und er lag wie tot da
Also, er hat nicht hochgesehen. Ich bin
Damit endete der Eintrag. Eine Gänsehaut hatte sich von meinen Armen den Rücken hinunter gemacht. Mein Puls schlug schnell. Ich blätterte um – doch das Buch war zu Ende. Das Buch … Das Buch kann unmöglich zu Ende sein! Fassungslos blätterte ich die letzten leeren Seiten durch. Warum hat sie nicht weitergeschrieben? Was hat sie unterbrochen? Was in aller Welt ist dort mit Benjamin passiert? Mein Körper verkrampfte sich. Ich war mir sicher, dass dieser Eintrag beziehungsweise dieser Tag etwas mit Marlas Schweigen zu tun hatte. Ganz egal, ob das nun schon drei Jahre zurücklag. Und ganz egal, dass ich sie kurz danach als einen fröhlichen Menschen kennenlernte.
Vielleicht sind da ja doch noch mehr Tagebücher im Schrank oder wenn nicht im Schrank, dann aber ganz sicher irgendwo im Haus versteckt, hoffte ich. Darum sprang ich auf und rannte durch die Hintertür zum Regal im Lesezimmer.
*
Der Knoten in meinem Bauch straffte sich um ein weiteres Stück, als ich auf meine Armbanduhr sah und bemerkte, dass sie gegen halb acht stehengeblieben war. Wie in einem Horrorfilm, indem das Autoradio beginnt durchzudrehen, wenn der Protagonist dem Unheil zu nahekommt, dachte ich und richtete den Blick zum Himmel. Es musste gegen neun sein, denn es begann langsam dunkel zu werden. Die Luft hatte sich bereits abgekühlt und es war viel angenehmer als auf der Herfahrt. Und um halb acht etwa war ich zum ersten Mal in diesem Jahr in Marlas Straße eingebogen.
Nachdem ich das Tor gemustert und weder ein Schild, das vor einem Hund warnte, noch eine Klingel entdeckt hatte, betrat ich das nächste Anwesen im Orchideenweg. Links und rechts, bis zur Vorderfront des Hauses, war der Vorgarten durch mannshohe Thuja-Hecken vor den Blicken der Nachbarn geschützt. Das Haus hatte sicherlich derselbe Architekt entworfen, der sich auch für die anderen Häuser in der Straße verantwortlich zeichnet – vielleicht sogar in der gesamten Stadt. Denn einen besonders modernen Eindruck hatte Westvill weder heute noch bei meinen vorherigen Besuchen gemacht. Die biedere 08/15-Fertigbauweise der Sechziger Jahre dominierte in nur wenigen Variationen. Jeweils unten Beton, manchmal farbig, die erste Etage dann mit dunkler Holzverkleidung und selten gab es Keller.
Auch dieses Haus besaß eine Treppe. Sie war jedoch kleiner als die von Marlas Familie und wurde von zwei dicken Holzbalken bewacht. Hier war alles in einem cremefarbenen Weiß gestrichen – ganz so wie die Musterhäuser an Bundesstraßen. Auf der nachträglich eingebauten Klingel konnte ich Familie Wilter lesen. Weiter oben saß goldglänzend die Hausnummer 6. Als ich näher an die Tür herantrat, konnte ich von drinnen dumpf einen Fernseher hören. Die Lautstärke des Gerätes ließ mich sofort auf das Alter der Bewohner schließen. Wer weiß, ob sie mich überhaupt hören, dachte ich und drückte den Klingelknopf gleich mehrfach. Es erklang der grässliche Dreiton, den man seit Jahren aus nahezu jeder Wohnung kennt.
Viel schneller als erwartet öffnete man die Tür. Und im nächsten Augenblick stand ein runder Mittfünfziger mit Glatze vor mir. »Guten Abend, junger Freund«, lächelte er mich an. Er hielt eine große, braune Zigarre in der linken Hand und streckte mir die rechte zum Gruß hin. »Wie kann ich dir helfen? Ich bin Herr Wilter – biete so jungen Kerlen wie dir aber sofort das Du an. Karl, der Name. Sehr erfreut. Wenn du meine Frau suchst, die fiebert gerade vorm Weltempfänger mit. Und unter uns: Bevor wir sie stören, solltest du lieber mit mir Vorlieb nehmen.« Er lachte.
Ich war mehr oder weniger überrumpelt von seiner überschwänglichen Art, als ich seine Hand schüttelte. »N’abend auch. Marko Dorn heiße ich, also einfach Marko. Ich bin ein Freund von Marla Porz von nebenan. Ich wollte nur mal fragen, ob Ihnen in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches bei den Nachbarn aufgefallen ist?«
Er überlegte und ließ für einen Moment den Kopf kreisen. Dann sah er mich ernst an. »Komm doch erstmal rein, Marko.«
Der Flur stand voller Zigarrenrauch. Ich folgte Herr Wilter über die knarrenden Dielen in Richtung des lärmenden Fernsehers.
»Sue!«, rief er ins Wohnzimmer. »Sue, hier ist ein Freund von Maries Tochter! Mach doch mal aus, ja, und leiste uns Gesellschaft.«
Ich vernahm ein genervtes »Es muss nicht immer alles sofort sein, Karl« hinter seinen breiten Schultern und im nächsten Augenblick kam eine Frau im Rollstuhl zur Zimmertür gefahren.
Im Gegensatz zu ihrem Mann, der Hawaiihemd samt Leinenshorts trug, war sie weit weniger farbenfroh gekleidet. Und auch ihr Blick wirkte matter. Vielleicht weil ich sie bei ihrem Krimi gestört hatte.
»Was gibt es denn?«, fragte sie gleich ohne Begrüßung.
Und bevor ich antworten konnte, erklärte ihr Karl die Situation: »Er hat gefragt, ob uns was aufgefallen ist, in Bezug auf die Porzels.« Wieder lachte er und verstreute Asche auf den Möbeln im Flur.
Sie strich sich durch das graue Haar und sah nachdenklich aus. Offensichtlich waren ihre Antennen für die aktuelle Situation ausgeprägter als die ihres Mannes. »Lasst uns in die Küche«, sagte sie und ich folgte den beiden. »Dort steht auch der Aschenbecher.«
Wir setzten uns auf Korbstühle.
»Ich will dich nicht zu Black Earl Tee drängen, wie der alte Herm’ es für gewöhnlich tut.« Er zwinkerte mir zu und ich schaute verblüfft zurück. Es kam mir unheimlich vor, dass er anscheinend bereits wusste, dass ich vor ein paar Minuten im Wohnzimmer seiner Nachbarn gesessen hatte. »Also, möchtest du vielleicht einen Orangensaft?«
»Ja, gerne«, sagte ich, wirklich durstig von der langen Bahnfahrt im stickigen Zugabteil und den ellenlangen Ausführungen der Nahliks, aus denen ich kaum schlauer geworden war.