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Was, wenn das Loch in deinem Garten immer größer wird? Werner Malwitz ist empört. Das ganze Leben war er durch die Hallen seines Baumarktes gelaufen und hatte diesen sonderbaren Menschen die Natur nähergebracht. Er hatte mit seinem Garten Preise gewonnen und jetzt, wo er pensioniert war, fraß sich diese dunkle Macht in seinen Rasen und wollte nicht aufhören zu wachsen. Zentimeter um Zentimeter drängt das Unheil den alten Eigenbrötler in eine fremde Welt, die sich ganz plötzlich wahnsinnig für ihn interessiert. (Überarbeitete Fassung)
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Seitenzahl: 170
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Inhaltsverzeichnis
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Nachwort
Robin Bade
verblüht
Roman
Vom Autor sind außerdem erschienen:
Wie im Juli (2009)
Aasgeier und Schwäne (2013)
Komandir brigady (2017)
Sprachlos – Sammelband (2020)
© 2014 Robin Bade. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-7584-0088-9
Vertrieb: epubli - ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Überarbeitete Fassung
Coverfoto: Willy Behnke
Lektorat: Milena Franck
Werner Malwitz war entsetzt. Zugegeben, das passierte oft, seit er pensioniert war. Doch heute war die Sache wirklich ernst! Es ging dabei weder um die schrecklich lauten Kinder der Nachbarn, deren Feingefühl, was Sonntage oder Tage überhaupt anbelangte, gehörig zu wünschen übrig ließ, noch bezog sich sein missfälliger Blick auf die Einträge in der Zeitung, wo sowieso alle Idioten waren. Nein, hier zu dieser frühen Stunde betraf es eine Herzensangelegenheit. Er schnaubte, wie er sich auf dem Rasen seines Grundstücks, schon auf den Knien, weiter den grünen Halmen näherte oder dem, wo sie eigentlich in Reih und Glied stehen sollten. Mein Gott, so etwas, noch vor dem Mittag!
Ein golfballgroßes Loch prangte dort schwarz und lästerlich im Boden. Werner Malwitz bewegte seine höckrige Nase zum morgendlichen Übel, so als könne er den Geruch des Biestes wahrnehmen, das über Nacht die Klauen ins Grün geschlagen hatte, während er in der Annahme schlief, sein Garten sei so unversehrt und preisgekrönt wie an jedem Tag der letzten drei Jahrzehnte. Er erhob sich mühsam und stampfte vor sich hin murmelnd und kopfschüttelnd zurück ins Haus. Werner brauchte seine Brille, sowie, um sicher auch keine Spur zu verpassen, eine Lupe. Und noch dazu seine alte Leica zur Beweissicherung. Dieses Mal würde keiner der Polizeibeamten ihn amüsiert nach Hause schicken!
Es war ein schrecklicher Morgen, entschied Werner zurück am Loch, ein warmer im Frühsommer noch dazu. Den eisigen Winter über hatte er ab Sonnenaufgang an seinem grünen Paradies gewerkelt: Stetig hatte er das Eis im Teich kleingehackt und mit Wasser aus dem Teekocher anschließend die Kristalle geschmolzen, die sich anmaßten starr, stur und kalt zu bleiben. Er hatte die Kunstblumen – sein kleines Geheimnis in dieser Jahreszeit –, die dummerweise über Nacht eine feine Eisschicht ansetzten, mit einem Fön wieder zu ihren sommerlichen Farben bewegt. Wöchentlich hatte er die Hecken um wenige Millimeter gestutzt – als einziger in seiner Straße, wahrscheinlich als einziger in der gesamten Stadt – und auch sonst wurde alles getan, um der Natur zu zeigen, dass er hier der Chef war. Er hasste den Winter wie die Menschen, weil dieser ihm jedes Jahr aufs Neue seinen Lebensinhalt streitig machen wollte. Ja, Werner wusste, dass ihn seine Nachbarn belächelten, wenn er im Januar um 8 Uhr früh die riesigen Plastikfolien vom Rasen zog. Natürlich amüsierte sie es, wussten sie doch rein gar nichts über den Gartenbau und dessen Pflege! Und weil Werner Malwitz es sich aussuchen konnte, war er lieber der verrückte Rentner mit dem schönen Garten als einer der jungen Karrieretypen mit löchrigem Grün vor der eigenen Haustür.
Werner war mal wer. Der Bilderrahmen wusste es, wenn es auch die restliche Welt vergessen zu haben schien. Hinter dem Glas zwischen den Holzleisten las man in wenig majestätischen Lettern: Die gesamte Gartenabteilung des Erwin Schmeling Baumarktes verabschiedet ihren pedantischsten Abteilungsleiter in den Ruhestand.
Jeden Morgen stand Werner gerührt mit einem schwachen Milchkaffee in der Hand vor dieser Erinnerungstafel. Er pustete den Staub vom oberen Rand und seufzte. Er hatte dieser Welt viel gegeben. 22 Jahre hatte er Pflanzen in allen erdenklichen Farben bestellt, Düngestäbchen empfohlen, war mit der Sprühpistole durch die großen Hallen seines Arbeitgebers gelaufen, um seine Freunde vor der tödlichen Trockenheit zu bewahren, hatte klapprige Leitern bestiegen, sich sogar einmal den Arm gebrochen, beim Versuch besonders lichtempfindlichen Kirschlorbeer mit einer Fensterfolie zu schützen, und war trotz unzählbarer Tipps, wie man Blumen am besten frisch hielt, und welche Gesellschaft manche von ihnen besonders schätzten, dabei selbst welk und einsam geworden. In seinen wehmütigen Minuten schmerzte ihn dazu die Gewissheit, dass wohl keines der von ihm verkauften Gewächse noch am Leben war.
In diesen Augenblicken vor seiner Abschiedskarte ließ er sich amüsante und traurige Episoden seiner Karriere durch den Kopf gehen. Er erinnerte sich an schwierige Blumen wie an Problemkinder. Manchmal schloss er die Augen und stellte sich ein allumfassendes Grün vor, dazu das Weiß des Holunders, den rissigen Stamm des Elefantenbaums, sowie seinen größten Moment – die Gestaltung des Bürgermeister-Gartens, 1997 – und weitere hundert Szenen eines Lebens im Dienste der Natur.
Am heutigen Tag nicht und so schoss er ein erstes Foto, rückte die Brille auf seiner Nase zurecht und suchte in der Grasnachbarschaft nach Sand, Kot oder Haaren. Er flüsterte: «So einfach kommst du mir nicht davon, Mistvieh!»
Aber er konnte einfach keinen Hinweis aufspüren, auch nach 15 Minuten nicht. Also sinnierte er über die notwendigen Ausbesserungsmöglichkeiten. Doch ein miesepetriger Gedanke nach dem anderen zerstörte seine Ideen, kaum dass er sie zu Ende gedacht hatte. Und so blieb ihm bis zum Geistesblitz nur eine vorübergehende Lösung. Er hatte einen vorläufigen Schlachtplan erdacht. Er würde den Gartenzwerg, den er zusammen mit der Abschiedskarte bekommen hatte, auf das Loch stellen, jawohl! Diese Abscheulichkeit würde ihm nicht den Tag verderben, und wenn er Glück hatte, würde das Loch bei guter Pflege bald wieder ein makelloser Teil Rasen sein. Solange der kleine Mann mit weißem Bart die Stellung hielt, würde Werner in den nächsten Baumarkt fahren und Erde, Samen und Dünger kaufen. Er ärgerte sich über die schlechte Organisation seiner Gartenutensilien. Früher wäre ihm so etwas nicht passiert!
Erschöpft von der Fahrt mit dem Rad saß Werner nun wieder auf der Veranda seines bescheidenen Hauses und gönnte sich eine Verschnaufpause; trank kalten Kamillentee und blätterte in der Tageszeitung. Seine Augen waren nicht mehr die besten. Daran konnten auch die marmeladenglasdicken Brillengläser nichts ändern – ein Termin beim Doktor vielleicht schon, aber ach! Fest stand: Das Loch hatte seinen ganzen Tagesablauf durcheinandergebracht! Er hatte vor Aufregung vergessen zu frühstücken und auch die Zeitung bisher außer Acht gelassen. Auf dem Rückweg mit 50 Kilo Blumenerde auf dem Gepäckträger war ihm zudem deutlich geworden, dass er den physikalischen Kräften nicht mehr viel entgegenzusetzen hatte. So war er bergab eine Straße weiter geradeaus gefahren, anstatt, wie ursprünglich geplant, abzubiegen, und einem Bettler über die Mütze gerauscht, so dass dessen Tageseinnahmen munter in alle Richtungen, besonders aber in die des Gullys verschwanden. Quietschend rieb sich der Gummi der Bremsklötze an Werners Hinterreifen ab, während der Rentner mit weit geöffneten Augen auf eine wunderschöne Zypressenhecke zu preschte. In den Sekunden vor dem Aufprall versuchte Werner den Schaden zu kalkulieren. Eine grüne Bastardzypresse in der Höhe würde, sollte er frontal in sie hineinfahren, um und bei etwa 100 Euro kosten. Der psychologische Wert läge weit höher. Dazu könnte ihm im schlimmsten Fall der Sack mit der Erde aufreißen – 25 Euro. Das Rad biss in den Asphalt, wurde zwar langsamer, doch die Distanz bis zum Einschlag verkürzte sich ebenfalls. Werner Malwitz schloss die Augen, wie er mit seinen Sandalen und zitternden Knien in den Pedalen stand. Teile der Muttererde könnte der Besitzer der bald ramponierten Hecke direkt für die Pflanzungen der neuen benutzen. Er würde ihm als freundschaftlichen Akt unter Gärtnern natürlich die kompletten 50 Liter überlassen. Vielleicht würde der Leidtragende darüber auch vergessen, dass Zypressen eigentlich anderen Boden bevorzugten. Seine knittrigen Hände griffen nun zusätzlich zur Vorderbremse. Sicherheitshalber sollte er sich keine allzu großen Hoffnungen machen, sich so günstig aus der Affäre zu ziehen. Jemand mit solch einer gepflegten Hausbegrenzung, würde ihn gewiss als Laien beschimpfen, beim Versuch ihn mit der falschen Erde zu täuschen. Während Werner resümierte, solch eine Betitelung wäre das Allerschlimmste an diesem Unglück, blieb sein Fahrrad einen knappen Meter vor den grünen Zweigen stehen. Er öffnete die Augen, atmete auf und wischte sich den Schweiß von Stirn und Oberlippe.
Der hagere Bettler, dem Großteil seines Geldes beraubt, auf Schadensersatz aus, erreichte den alten Mann vor Wut kochend. «Meine ganze Kohle ist weg, Mann! Was halten wir denn davon?»
Werner Malwitz sah ihn nüchtern an, während er den Sack Erde auf seinem Rücksitz tätschelte und antwortete: «Na das ist ja noch mal gut gegangen. Und dafür, dass Sie Ihr Portemonnaie so offen zur Schau stellen, kann ich nichts. Und nun entschuldigen Sie. Ich muss nach Hause, dort warten echte Probleme auf mich, außerdem habe ich Hunger.» Dann rückte er sein Rad in die richtige Position und fuhr davon.
Nun saß er satt von einem Käsebrot im Schaukelstuhl und genoss die Stille des Nachmittags. Er war niemand, der wichtige Aufgaben vor sich herschob, aber hier und jetzt hatte er sich ein wenig Zerstreuung verdient. Er gab sich einen kleinen Schubs und breitete die Zeitung mit ausgestreckten Händen vor seinem Gesicht aus, als würde er Röntgenbilder in die Sonne halten. Seine Sitzgelegenheit war noch nicht lange wieder zur Ruhe gekommen, da war Werner schon eingeschlafen und die Presse knitterig in seinen Schoß gesunken.
Eine Angewohnheit, die ihn seit Kindestagen verfolgte, war ein Schnarchen, das lauter wurde, je näher er dem Aufwachen kam. Im Alter hatte dieses Schauspiel noch an Imposanz und vor allem an Lautstärke gewonnen. Auf dem Nachbargrundstück wurden bereits demonstrativ laut die Fenster geschlossen, während Werners Kopf von den Lippen geschüttelt wurde wie ein Ballon, dem die Luft entweicht. Seine Mutter konnte stets abzählen, wann es so weit war und ihr Sohn die Augen aufschlug. Bei vielen Feiern war der kleine Werner so ein kurzes, liebenswürdiges Highlight. Denn eines seiner vorherrschenden Attribute war die Schläfrigkeit.
In seiner Kindheit als jugendliche Gammlerei verkannt, und erst im Alter von 32 Jahren durch Zufall bei einer Routineuntersuchung, als Mutter und Vater schon lange tot waren, als chronische Eisenmangelanämie diagnostiziert, war ein Fehlen von Enzymen schuld an Werners permanenter Abgeschlafftheit. So schlief er selbst bei der lautesten Party seiner Eltern – und diese feierten oft und ausgelassen – im Garten ein.
Elisabeth Malwitz, die der Überzeugung war, frische Luft helfe ihrem schlappen Sohn, schickte ihn, kaum dass er fünf Minuten im Haus war, sofort wieder ins Freie. Sie war in armen Verhältnissen aufgewachsen und hatte durch ihren Gatten, den sie schneller heiratete, als ihm lieb war, ihre gesellschaftliche Stellung auf ein beachtliches Maß erhöht. Elisabeth, unter ständiger Sorge, dieses Ansehen wieder loszuwerden, schämte sich beizeiten für ihren Spross und schränkte seine eh schon von Natur aus gehemmte persönliche Entwicklung weiter ein, indem sie ihn wie einen Hund im weitläufigen Garten vor der Villa hielt.
So kam es, wie es kommen musste: Werner freundete sich mit dem an, was ihm blieb, beziehungsweise was seine Mutter ihm ließ. Schon bald mauserte er sich zum in der ganzen Nachbarschaft gern gesehenen Spezialisten für Gartenkunde. Man wusste nicht genau, wie man mit dem matten Eigenbrötler umgehen sollte, aber sein Wissen bezüglich Grünkram stellte jeden angestellten Gärtner in der Umgebung in den Schatten. So sparte Werner von seiner Nachbarschaftshilfe einen großen Haufen Geld an, den er im Gartenhaus vor seinen Eltern verbarg. Diese Hütte mochte zwar nichts weiter als eine Abstellkammer sein, doch für ihn war es ein vertrauterer Ort als das eigene Kinderzimmer.
Im Alter von 14 Jahren ergaben sich dann einige tragische Wendungen. Der junge Werner, nun zwar im Alter eines arbeitsfähigen Mannes, aber keineswegs in der körperlichen Verfassung (oder geistigen, da war man sich nicht so sicher), wollte Gärtner werden. Elisabeth war dagegen und ignorierte sein Talent aufgrund der Tatsache, dass Gärtner ein Arme-Leute-Beruf war. «Und zwar von armen Leuten, die nicht besonders helle sind, sonst würden sie ja früher oder später zu reichen Leuten werden oder wenigstens jemand Wohlhabenden heiraten.» Sie verstummte. «Wie auch immer! Mein Sohn, du wirst unter keinen Umständen Gärtner! Lächerlich!» Allerdings musste sie sich auch eingestehen, dass ihr Kind keinesfalls in der Lage dazu war, die Stahlfabrik ihres Gatten, Ludwig Malwitz, zu übernehmen. Doch da Werner ja irgendetwas tun musste, sah sich Elisabeth einer großen Misere gegenüber. Herrje! «Geh raus, Werner, deine Mutter muss nachdenken!» Da der Junge dieses Spiel schon kannte, hatte er sich längst in Richtung des Gartens gedreht, noch bevor die tiefrot bemalten Lippen die Anweisung ahnten. Wütend und mit einer für ihn äußerst ungewöhnlichen Energie schlug und trat er alles im Gartenhaus kurz und klein, was je durch einen zu Boden fallenden Amboss beendet wurde, der Werner am Kopf traf und einige Wochen schlafen ließ. Diesen Amboss hatte Ludwig Malwitz von seinem Vater Walther Ludwig Malwitz geerbt, der Schmied gewesen war und dessen Lebenswerk den Grundstein für die enorm erfolgreichen Malwitzer Stahlwerke gelegt hatte. Beim Einzug in die Villa – «Mir kommt kein solch hässlicher Stahlklotz ins Haus, Ludwig! Denk doch nur an die Leute!» – sollte dieser auf einer hohen Borte im verwitterten Gartenhaus seinen Ruhestand finden. Eigentlich. Denn nach all den Jahren hatte Werners Wahn das Andenken zurück ins Gedächtnis des Fabrikleiters gerufen, während er im gleichen Moment das eigene für einige Zeit auf Pause setzte. Als er wieder erwachte, waren die Schwellungen abgeklungen, die Fäden längst gezogen und die Narben nur noch blasse Erinnerungen. Doch bekam der Junge die Worte nicht mehr so zusammen wie vor seinem Unfall. Hatte er früher schon äußerst motivationslos genuschelt, war man trotzdem überzeugt gewesen, dass er die Sache im Grunde beherrschte. Nun jedoch gab er Kauderwelsch von sich und guckte seine Eltern und Ärzte mit großen Eulenaugen fragend an. Obwohl man in der Umgebung scherzte, die Überdosis Eisen im Schuppen müsste der Bildung seiner roten Blutkörperchen auf die Sprünge geholfen haben, hatte sich nichts an Werners Gesundheitsbild geändert. Nein, es verzögerte zusätzlich die Genesung seiner Eloquenz.
Erst zu seinem 16. Geburtstag wurde er wieder der Öffentlichkeit vorgestellt. Fast zwei Jahre waren vergangen. Werner war so schmächtig geblieben, wie vor seinem Unfall. Und er war aufgeregt – seine Mutter hatte ihm geholfen, den Garten mit Girlanden und Kerzen zu schmücken –, weil so viele Menschen nur seinetwegen gekommen waren. (Die ganze Nachbarschaft war freiwillig erschienen, ihre Gärten sahen dilettantisch, wenn nicht sogar verwildert aus. Noch dazu hatte Ludwig Malwitz einen Haufen Leute in Werners Alter, die in seiner Firma arbeiteten, zum Fest seines Sohnes zitiert.)
Werners Dankesrede sprühte nicht gerade vor Geist – und je mehr er sich verhaspelte, umso verkrampfter starrten die Anwesenden auf ihre Teller und warteten auf das Ende – und sie blieb dann auch das Einzige, was er an dem Abend von sich gab. Denn schnell schwang seine Aufregung in Müdigkeit um und er legte sich unter die sieben Schwarzpappeln, die er kurz vor dem Zusammenstoß mit dem Amboss gepflanzt hatte. Sie waren in seiner Abwesenheit zu seiner Größe herangereift und er wusste, dass das ein gesundes, gutes Wachstum für diese Art von Baum war. Er fühlte sich glücklich und inmitten ihrer blassen, unauffälligen Stämme in bester Gesellschaft.
Als seine Mutter ihn vermisste, suchte und fand, waren die Leute in Werners Alter (von Ludwig Malwitz vom Grundstück geworfen, weil «besoffen bis unter die Hutschnur!») und auch der Großteil der Nachbarschaft bereits verschwunden. So saß Elisabeth in der Hocke im Gras unter den Pappeln, das Gesicht von den Händen gestützt und schaute ihren sonderbaren Sohn an, und wusste, dass er erwachen würde. In 3, 2, 1 …
Werner Malwitz schlug die Augen auf. Das letzte, lauteste Schnarchen war durch seinen alten Körper gefahren wie ein Zug durch einen Tunnel und hatte ihn aufschrecken lassen. (Mittlerweile waren alle Fenster der umliegenden Gebäude geschlossen.) Es kam einer schicksalhaften Fügung gleich, denn was er im ersten buchstäblichen Augenblick sah, ließ ihn an seinen Sinnen zweifeln. Er wollte sich perplex die Augen reiben, doch die Brillengläser waren davor. Er ließ die Arme auf die Zeitung in seinem Schoß sinken.
Da war es wieder! Die rote Mütze des Gartenzwergs bewegte sich. Sie wackelte hin und her. Werner richtete sich in seinem Schaukelstuhl auf. Nun bewegte sich alles. Er ächzte, aber kam nicht richtig aus dem Stuhl. Aber doch, der ganze Zwerg vollführte taumelnde Bewegungen. Werner stellte die Füße auf den Boden und stabilisierte seinen Sitz, beugte sich mit zusammengekniffenen Augen nach vorne. Erst lehnte sich die kleine, bärtige Figur nach links, dann nach rechts, nach hinten, nach vorne. Dabei verzog sie keine Miene. Das Kreiseln wurde schneller. Jetzt saß Werner nur noch auf den letzten Zentimetern seines Stuhls. Was für Zauberei ging da in seinem Garten vor? Im folgenden Moment passierte nun dreierlei:
Zum einen zwang Werners Körper ihn dazu, endlich einmal zu blinzeln. Außerdem traf eine Erkenntnis seinen Geist. Hier musste es sich um den Täter, den elendigen Rasenrüpel, handeln, womöglich um einen Maulwurf, der an den Füßen seines Abschiedszwergs zog, als wäre es nicht so schon der Frechheit genug! Zum Dritten verschwand nun die Keramikfigur komplett, als hätte sie unter größtmöglicher Eile ihren Arbeitsplatz vom Garten unter die Erde verlegt.
Der alte Herr sprang auf und konnte sich nicht recht entscheiden, ob er zuerst zum Loch laufen, oder vielleicht doch besser etwas zum Totschlagen aus dem Haus holen sollte. Seine Extremitäten zuckten in entgegengesetzte Richtungen, bevor er sich loseisen konnte und direkt seinem Zwerg zu Hilfe eilte.
Was er schon auf dem Weg erkennen konnte, war: Es war größer geworden! In seiner Gegenwart. Er beugte sich argwöhnisch über die Verunstaltung seines Rasens und sah den Zwerg auf der Seite am Boden des Loches liegen. Und wie es gewachsen war! Zum Teufel! Werner musste sich lang aufs Grün legen und berührte selbst dann nur mit den Fingerkuppen die Nasenspitze des gestürzten Gartenwächters. Er hatte schon einige von Tieren gebuddelte Löcher gesehen, hatte oft genug eigenhändig mit einem Spaten in den Boden gestochen und hier sah er etwas, das keiner dieser Ursachen ähnelte. Es war viel zu exakt. Nicht einmal Maschinen waren zu so etwas in der Lage. Es war wie ausgestanzt, ohne dass sich die Erde rundherum beschwert hatte. Werner rutschte weiter mit dem Oberkörper ins Loch und betastete die Wände und den Boden. Sie waren fest, fast wie Gestein. Er drückte sein Ohr gegen die Erde. Sie war warm, das war so weit normal, doch er vermochte auch eine winzige, konstante Vibration zu erkennen. Er half sich wieder auf die Beine und lief ins Haus, kramte in einer der Küchenschubladen und kam mit einer Packung bunter Party-Spieße wieder. Dass er in diesem Leben noch mal Gäste haben und diesen Käsehäppchen anbieten würde, kam ihm äußerst unwahrscheinlich vor. Es wurde Zeit, ihnen eine Aufgabe zu geben. Also drückte er sie sanft eng um den tellerrunden Rand des Loches in die Erde und setzte sich dann im Schneidersitz in einigem Abstand davor auf den noch intakten Rasen. (Werner tat das, um sicherzugehen, dass das Loch ihn nicht mit einem Happs verschluckte.) Alle 30 Sekunden verlagerte er seine Sitzhaltung. Zum einen, weil ihm die Beine einschliefen, sobald er vermutete, nun habe er endlich eine bequeme Position gefunden und zum anderen, weil er nervös und aufgeregt war.
Im Zeitraffer musste Werner Malwitz erkennen, wie die Plastikstäbchen sich mehr und mehr zur Mitte der Öffnung neigten – in eben dieser Geschwindigkeit sanken auch seine Mundwinkel – und schließlich ganz verschwanden.
Es war nicht nur größer geworden, es wuchs weiter, stellte der pensionierte, desillusionierte Gartenfreund fest und versuchte auf den alten Bahnen seines Gehirns eine Erklärung für dieses wundersame Schauspiel zu finden. Doch nichts. Er konnte noch so angestrengt nachdenken. Von einer Sache wie dieser hatte er nie zuvor gehört. Wenigstens nicht im Gartengewerbe. Und so tat er erst einmal, was ihm am logischsten erschien. Er kippte den gesamten Inhalt Pflanzenerde, den er gekauft hatte, hinein, es reichte gerade so, und griff dann zum Telefon und rief seinen Halbbruder in Neuseeland an. Da er noch nie selbst eine Nummer auf dem Apparat gewählt hatte und Neuseeland ziemlich weit von Billingstedt entfernt war, lauschte Werner ehrfürchtig jedem Laut, den das Gerät von sich gab. Heute schien ihm alles Unerdenkliche möglich. Wenn sein für gewöhnlich perfekter Rasen plötzlich von einem unaufhaltsamen Lochfraß befallen wurde, wer wusste schon, was die Eingabe einer falschen Nummernkombination ihm anstelle der Stimme Waldemars bringen konnte?
Nach einer Weile ertönte tatsächlich ein Freizeichen und nach penetranten drei Minuten Klingeln, klang ein verschlafenes, aber nicht minder böses «What the fuck?» durch den Hörer.
«Werner hier. Ich habe ein Loch im Garten, das wächst und wächst. Hast du eine Idee? Ich hab nämlich keine. Und das soll schon was heißen», präsentierte der alte Mann sein Anliegen.
«Werner? What? Weißt du, wie spät es ist?»
Ein Blick auf die Küchenuhr. «Kurz vor sieben. Ich habe es mit Käse-Spießen bewiesen. Es wird größer!»
«Hier ist es um sechs, zum Teufel. Morgens! Werner was redest du da? Wie lange haben wir nichts mehr von dir gehört? Ich muss schlafen. Würdest du so freundlich sein und in ein paar Stunden noch mal anrufen?»
«Auf keinen Fall, bis dahin hat es vielleicht schon mein Haus verschluckt. Außerdem geh ich früh zu Bett.»