Komandir brigady - Robin Bade - E-Book

Komandir brigady E-Book

Robin Bade

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Beschreibung

Sommer 1938. In der Sowjetunion unter Stalin regieren Angst und Hunger das Land. Es ist die Zeit der Großen Säuberung, während in Europa die Fabriken des Deutschen Reichs den 2. Weltkrieg vorbereiten. In Moskau wird der junge Soldat Mischa zum Brigadekommandeur befördert und erhält seinen ersten Auftrag im Dienst der Roten Armee. Der Mann, der erst Tage zuvor aus dem Lazarett entlassen wurde, beginnt noch auf Krücken seine Reise in das fremde Sibirien. Doch bereits die Zugfahrt nach Nord-Osten gerät für den unsicheren General zur Herausforderung. Während die Stunden in seiner neuen Uniform vergehen, tauchen vermehrt Unklarheiten über die Operation in der Ferne auf. Zudem findet er keinen rechten Zugang zu den zwielichtigen Männern seiner Brigade. Und dann macht er inmitten der Tundra einen schrecklichen Fund. (2. Auflage)

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Traditionelles Lied der Jamal-Nenzen

Schienen

Narben

Augen

Tod oder Ehre

Der Matrosenaufstand

Schlitten

Ring

Arzt

Fingernägel

Salz

Am Kamin

Moor

Kartoffelsuppe

Albatros

Riga

Befehl

Traum

Der Schwarze Tod

Steine kennen

Robin Bade

Komandir brigady

Roman

Vom Autor sind außerdem erschienen:

Wie im Juli (2009)

Aasgeier und Schwäne (2013)

verblüht (2014)

Sprachlos – Sammelband (2020)

Das Hotel im Tal (2025)

2. Auflage

© 2017 Robin Bade. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-757581-44-2

Cover: Robin Bade

Stockfoto-ID: 735793978 / Shutterstock-Standard-Lizenz

Lektorat: Milena Franck

Probeleserinnen: Gesine Weichert, Neele Carstensen

Traditionelles Lied der Jamal-Nenzen

“Pflege dein Chum, bevor der Sommer endet.

Es hält deine Familie warm.

Dein Volk hält es beisammen.

Pflege deinen Schlitten, bevor du zu alt wirst.

Er trägt dich bis zum Ende der Welt.

Dein Volk hält er nah bei dir.

Sei gut zu deinen Gefährten,

bevor du von ihnen zu wenige hast.

Nutze Blut wie Fleisch. Nutze Knochen wie Sehnen.

Und nutze auch das Fell nur, wenn du es benötigst.

Dein Volk lebt durch sie.

Entferne dich nie zu weit von den anderen, Mensch.

Werde nicht sesshaft. Sei weder ängstlich noch boshaft.

Denn wächst der Schwarze Tod mit seinen Dornen,

gilt es für dein Volk eine neue Heimat zu finden.

So braucht ihr euer Chum für die Gemeinschaft,

euren Schlitten für die Reise

und euer Ren zum Leben.”

Schienen

12.06.1938

Mischa hatte sieben staubige Lampen aus dem Ruhestand getriezt. Als Abstellkammer schien dieses Zimmer das letzte Jahrzehnt in Vergessenheit geraten zu sein. Möglicherweise war es erst wenige Stunden vor seiner Ankunft am Nachmittag vom Hotelpersonal entrümpelt worden. Und das mehr schlecht als recht. Denn weiterhin befand sich eine kuriose Anzahl ausgedienter Gegenstände in den Ecken, auf dem Tisch und in den Schränken, mit denen kein Gast etwas anfangen konnte. Doch da Mischa aus einfachen Verhältnissen stammte, legte er keinen besonderen Wert auf Komfort. Außerdem hatte er ganz andere Sorgen als den Dreck und die Unordnung, die ihn umgaben. Und was er brauchte, das bot ihm diese Absteige zur Genüge – Licht.

Seit Stunden glühte der Raum wie sein Kopf über den leeren Seiten. Auf dem Boden lagen bereits für Himmel-Arsch-und-Zwirn befundene erste Versuche. Seine Stirn war schwitzig, das Hirn dahinter verzweifelt. Mit den Lederkoffern mit der goldenen Stickerei in der Mitte hatte er sich den Blickkontakt verboten. Hammer und Sichel. Damit hätte er besser umgehen können als mit Stift und Papier, dachte er. In einem der braunen Koffer befand sich seine Kleidung, das war der leichtere. In dem, der mit zwei Gürteln zusammengehalten wurde, lag sein Auftrag und der wog nicht nur symbolisch schwer. Mehrere hundert Blatt, die er würde füllen müssen, und hier saß er und haderte bereits mit der Einleitung. Da man ihm neben einigen Fässchen Tinte auch Farbbänder eingepackt hatte, gab es wohl eine Schreibmaschine im Außenposten, die auf seine ungeübten Tastenschläge wartete. Vor seinem inneren Auge sah er sich dort bis spät in die Nacht fahrig von links nach rechts die Buchstabenreihen absuchen, um ihnen Sätze zu entlocken, welche die Zentrale nicht bereuen lassen würde, ihn mit dieser Operation betraut zu haben. Der schlaksige Mann seufzte über die Situation und erinnerte sich an seine Beförderung vor wenigen Tagen in Moskau, die den Weg in dieses Schlamassel gelegt hatte. Die Worte hallten noch immer durch seinen Kopf.

»Also wenn einer wie Sie zum Komandir brigady erhoben wird, der auf der Hälfte, der mir vorgelegten Dienstberichte, das zweite S unserer schönen UdSSR unterschlägt, muss es schlimm um die Rote Armee bestellt sein!« Von dem gewaltigen Rundtisch aus hatte General Tscherkow Mischa diese Peinlichkeit entgegengeworfen und ihn mit seinen kalten Augen durchbohrt, während sich die anderen Hochdekorierten die Köpfe rot lachten. Zitternd hatte der Soldat die Lippen zu einem Lächeln bemüht. Und auch was dem folgte, hinterließ in Mischas trockenem Mund kaum den Geschmack eines Scherzes. So verzichtete er bei der Instruktion, die man bestenfalls als flüchtig beschreiben konnte, auf Verständnisfragen, und nickte alles untergeben vor dem Komitee ab, um sein letztes bisschen Gesicht zu wahren. Und wäre er nicht solch ein vaterlandstreuer Soldat, nun sogar von höherem Rang, und noch dazu auf Krücken, er wäre sicher davongelaufen.

Nachdem man das Nötigste an Informationen im frischgebackenen Brigadeführer untergebracht hatte, öffneten sich die wuchtigen Flügeltüren in seinem Rücken und dünne Genossen im feinen Zwirn brachten Schnaps-Gläser herbei. Es gab Wodka für alle und zwei Koffer für ihn. In einem seine neue Uniform, in beiden eine ungewisse Zukunft. »Sa znakómstwa!« – Darauf, dass wir uns kennengelernt haben! Und mit einem Kloß im Hals setzte Mischa den Wodka an die Lippen. Auf Glück oder Wohl hätte er lieber angestoßen.

Im Hier und Jetzt hingegen polterte es an die Zimmertür und die Stimme des Portiers erklang. »Genosse, eh? Man holt Sie ab! Soll ich mit den Koffern helfen?«

Mischa erinnerte sich an den Kerl, der nur aus Oberarmen zu bestehen schien, und schluckte seinen Stolz herunter. »Es ist offen! Danke, ja. Ich hab mich noch nicht eingespielt mit dem Bein.«

Die Tür schwang auf und der Türdrücker der Innenseite rumste gegen den Kleiderschrank des beengten Raums wie unzählige Male zuvor, das verriet die eingedrückte Stelle im Holz. Mischa war zusammengefahren. Der Portier deutete einen militärischen Gruß an, grinste mit offenem Mund und griff sich die Koffer. »Sie nehmen noch mal alle Elektrizität mit, bevor’s sich in Sibirien nur noch von Öl und Sprit lebt, was?«

Mischa nickte schneller, als er verstand, dass der Angestellte die Beleuchtung gemeint hatte. Doch bevor er etwas entgegnen konnte, waren seine Habseligkeiten schon die Treppe runter. Er war dankbar für die raue und einfache Art des Portiers. Was er hasste, war das Drumherum-Gerede, das versteckte Interesse an seinem Bein und das Gestarre, das er durch jeden noch so großen Raum spüren konnte. Mischa atmete durch. Er half sich in die Aufrechte und manövrierte die zerknüllten Blätter auf den Dielen mit seiner Gehhilfe zur Wand neben den Mülleimer. Mehr Anstand war ihm momentan nicht möglich. Hastig zog er sich den neuen Kommandeurs-Mantel über, nahm seinen Hut vom Schreibtisch und knipste die Lampen aus.

Unten an der Tür salutierte ihm sein Fahrer und bevor Mischa sich auf die Rückbank des schmalen Wagens schwang, fragte er den Portier: »Wie kommen Sie darauf, dass es mich nach Sibirien verschlägt?«

»Ach, hierher kommt doch niemand, der nicht dorthin muss. Und nur die Wenigsten sehe ich wieder. Aber Sie haben eine Chance, Genosse. Es ist Sommer.« Und mit dem Fuß trat er die Autotür ins Schloss.

Mischa sann diesen Worten nach, während der blaue NAMI-1 mit den breitgewölbten Kotflügeln durch die schlecht gepflasterten Gassen knallte und ihm der Fahrtwind ins Gesicht blies. Die Häuser der Stadt Arsk, von den kreisrunden Lichtern des Wagens geblendet, sahen so elend aus, wie er sich selbst fühlte. Die Hungersnot der vorangegangenen Jahre hatte die Kommunen im ganzen Land ausgezehrt und die Überlebenden verbittert zurückgelassen. Zu allem Übel redeten die Stimmen im Radio nun Tag für Tag hektischer vom deutschen Aufrüsten, wieder einmal. Und er musste nach Sibirien; abgeschnitten von allem einen Außenposten schließen, den Buhmann spielen, noch dazu als Krüppel. Man würde ihn dort hassen, davon war er überzeugt.

Sie kamen ans Ende der Stadt. Plötzlich sprang das Automobil auf ein Feld. Von der Vorderbank des Fahrers kam ein zu spätes »Festhalten!«, da war dem Ruck folgend bereits die Generalsmütze vom Kopf geschlagen und im zusammengeklappten Faltdach gelandet.

»Was tun Sie da, zum Teufel?!«, schrie der Brigadeführer nach vorne und hatte zu tun, seine Krücke im Auto zu behalten.

»Entschuldigung, Herr Kommandeur! Das ist so korrekt.« Der Rotarmist ließ den Wagen langsamer werden, damit man ihn besser verstand, und drehte sich zu seinem bleichen Fahrgast. »Wegen der Schienen.«

»Was, wegen der Schienen? Geben Sie sofort Auskunft, Gefreiter! Ich hätte mir die Zunge bei Ihrem Manöver abbeißen können! Ihr Befehl lautet, mich zum Bahnhof zu bringen. Lebendig! Und wo, wo sind wir hier?«

Der Jungspund am Lenkrad wurde sichtlich nervös. »Man entfernt die Gleise auf Ihrer Strecke. Darum müssen wir sie einholen.«

»Haben Sie getrunken, Genosse?«

»Mein Cousin hat heute geheiratet!«

Der Brigadeführer schnaufte. Der Schreck war verflogen und hatte den goldenen Chevrons auf seinen Ärmeln Platz gemacht. »Schön, schön. Trotzdem dürfen Sie nicht fahren wie ein Besengter. Also, was reden Sie da von den Schienen? Die werden abgebaut?«

»Ich schätze wegen Hitler. Haben Sie von dem gehört? Dieser Reichskanzler aus Deutschland, der so viel auf deren Rasse gibt und dabei selbst aus Österreich kommt.« Er prustete los.

»Reißen Sie sich zusammen, Genosse!«, fluchte Mischa und sofort verstummte der Mann. »Wegen Hitler, wegen Hitler. So tönt es ja aus allen Empfängern! Das können Sie wohl meinen, dass ich als Komandir brigady davon gehört habe. Natürlich! Wir müssen diesem Faschisten die Stirn bieten! Los jetzt, fahren Sie! Und vor Ort suchen Sie mir jemanden mit höherem Dienstgrad, verstanden?«

»Natürlich, Herr Kommandeur!«

Die Fahrt ging weiter und sein Abenteuer wurde mysteriöser. Er hatte nicht einmal genügend Zeit gehabt, über die bevorstehenden Qualen der Tundra nachzudenken, da klang es schon, als würde er dort vielleicht gar nicht hingelangen.

Bauten sie die Schienen im Landesinneren ab, um die Infrastruktur an den westlichen Grenzen zu verstärken, sollte wirklich ein Krieg drohen? Ja, so musste es sein. Doch hätten sie nicht die fünf Wochen warten können, bis er mit seinen Männern und den brauchbaren Rohstoffen zurückkehrte?

Der Typ am Steuer summte einen Schlager, den Mischa nicht kannte. Die Luft war angenehm warm hier. Das würde sich ändern, sobald er in den Zug stieg, dessen Silhouette sich nun in der Ferne vom Mondlicht abhob, wenn er es recht sah. Denn obwohl der Fahrer das Tempo gedrosselt hatte, schwankte der Wagen weiterhin über Stock und Stein. Zwei Tage ohne nennenswerte Pausen gen Nord-Osten standen bevor, falls es noch genügend Gleise gab.

Ihm fiel etwas ein. »Genosse, wissen Sie von den beiden Arbeitern, die mit mir nach Sibirien fahren?«

»Genosse weiß nichts«, kicherte der Fahrer und reichte einen verbeulten Flachmann nach hinten. Mischa nahm an. Nützlicheres hatte er von diesem Kerl eh nicht zu erwarten. Der Wodka war ein schlechter Selbstgebrannter, aber er lockerte etwas in ihm.

Als der NAMI zum Stehen kam und mit dem Motor das Licht erstarb, brauchte der Brigadeführer einen Moment, um sich zu orientieren.

Sie parkten auf dem verwaisten Gleisbett, wie das Regenwasser des Vorabends glitzernd in den leeren Furchen verriet. Der Fahrer hatte also nicht gelogen. Mischa wies ihn an, seine Koffer zu tragen, klemmte sich die Gehhilfe unter den Arm und bewegte sich entlang der hohen, viereckigen Wagons Richtung Lok. Schnarchen drang aus dem Inneren des Passagierabteils. Und vor dem Zugfahrzeug, aus dessen Führerhaus ein wenig pulsierendes Glühen nach draußen ebbte, stand ein Mann und rauchte.

»Sie haben uns also gefunden«, sagte der, so schwarz vom Kohlenstaub, dass der Brigadeführer wusste, dass alles nur auf seine Ankunft gewartet hatte.

Der Lokführer stellte sich als Jegor vor. Mischa reichte ihm die Hand. Und während der Chauffeur die Koffer die Metallsprossen hochhievte, sich über das Gewicht beschwerte und sie im Personenwagen verstaute, standen sie draußen und schwiegen, wie es Männer taten, vor weiten, schicksalsträchtigen Reisen.

Mischa wunderte sich darüber, wie kurz der Zug war, sollte er auf dem Rückweg doch einen ganzen Außenposten transportieren. Und als er zurückblickte, die Eisenbahn entlang ins Dunkel, wo schon keine Schienen mehr lagen, hätte er es fast laut ausgesprochen: Genosse, ein Zug mit nur einer Richtung, klingt das für Sie nach einer vom Glück beseelten Operation?

Doch wie bei der Unterweisung in der Zentrale behielt er seine Bedenken für sich und sog ein letztes Mal die Luft seines geliebten Russlands ein, bevor er die Stufen in das fremde Sibirien nahm.

Narben

13.06.1938

Die beiden Arbeiter schliefen, als würden sie Kraft für die nächsten Wochen sammeln. Mischa beobachtete gedankenverloren ihre ausgestreckten Gliedmaßen, die unbequem über den Sitzbänken hingen. Und immer wieder schaute er aus dem Fenster in den Morgen, der ihm schon kühler vorkam als die letzte Nacht. Seit Stunden war er wach, mittlerweile länger als er geschlafen hatte, und wartete auf ein Zeichen der Natur, dass er tatsächlich in das gefürchtete Sibirien unterwegs war. Aber nichts. Keine Veränderungen. Nur die ewig grünen Nadelwälder seiner Kindheit, Jugend und der Armeejahre zogen dort draußen vorbei. Ab und an, wenn sich das Schienengeräusch änderte, meist wenn sie eine Brücke über einen Fluss nahmen, der sich nach einigen Kilometern schlängelnd in den Weiten der Bäume verlor, atmete er tief ein, blinzelte kräftig und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Doch bisher misslang es ihm.

Bei dem Zug handelte es sich um ein älteres Modell. Das Baujahr mochte rund um die Jahrhundertwende liegen, schätzte der Brigadeführer. Vielleicht hatte es mit fünfunddreißig Jahren sogar genau sein eigenes Alter. Es war ein rostiges, grün angepinseltes Ungetüm mit ausgeblichenen Vorhängen, die im Wind zappelten. Es fehlten die meisten Fenster wie auch der Großteil an Bankreihen, die wahrscheinlich ausgebaut worden waren, um Proviant zu transportieren und, so nahm er an, um bei der Fahrt zurück zusätzlichen Stauraum zur Verfügung zu haben. Einige größere Holzkisten standen gestapelt an den Enden seines Wagons und ächzten bei den vielen Unebenheiten der Strecke.

Jetzt entschied sich der Brigadeführer, Protokollant zu sein. Er streckte sich geräuschvoll, öffnete den Koffer, der ihm gegenüber auf der Sitzreihe lag und griff sich einen Stapel Papier. Gerade war ihm eingefallen, was ein guter Beginn der Aufzeichnungen sein würde. Er war stolz auf den eleganten Generals-Federhalter, den er im Koffer bei seiner neuen Uniform gefunden hatte. Er zog den Korken aus dem Tintenfass und tunkte die Feder in das Schwarz, welche ihm nun wie ein Schnabel der fetten Krähen Dmitrows vorkam, die er als Junge so gerne beobachtet hatte.

--- Erster Bericht ---

Ich frage mich, klingt so jede Fahrt nach Sibirien? Riecht der Weg nach Nord-Osten immer gleich? Neben mir knarren die Proviantkisten, um mich herum quietscht das Metall des Zuges. Die beiden Arbeiter, die man mir zur Verfügung gestellt hat, die noch Fremde sind, schnarchen. Im Geruch, der mir an die Nase weht, erkenne ich die Wälder, aber auch Kohle und Rost. Das Triebfahrzeug ist ein Baldwin, alt und verlässlich. Die wenigen Wagons dahinter scheinen mir bunt zusammengewürfelt, aber alle kurz vor dem Ruhestand, oder aus eben dem geholt.

Ich vermute, dass ein Krieg bevorsteht und hoffe, dass er weiterhin nicht ausgebrochen sein wird, wenn ich wiederkehre. Dies könnte jedenfalls den Zustand des Zuges und den Umstand erklären, dass die Schienen vom Bahnhof bis einige Kilometer aus der Stadt heraus entfernt worden waren, als ich an der Eisenbahn eintraf. Man sichert die Grenze, mit allem, was das Innenland zu geben im Stande ist.

Angehalten wurde ich, Namen von Orten und Menschen, die mir im Laufe dieser Operation begegnen, zu anonymisieren. Ich werde mich selbst darum als Brigadeführer einsetzen.

Ich muss zugeben, ich bin gespalten. Das Amt eines Protokollanten -- und kaum etwas anderes werde ich in Sibirien sein können -- fühlt sich wie eine Degradierung an, der ich rein von meiner Ausbildung nicht einmal voll und ganz gewachsen scheine. Die Graduierung zum Brigadeführer hingegen hätte ich mir nicht träumen lassen, mag sie auch verdient sein, rückblickend. Nur verstehe ich den Zeitpunkt nicht. Nach meiner Verletzung war dies wohl der unwahrscheinlichste Karriereweg, den mir die Rote Armee anbieten konnte. Eine Führungsrolle ... Sicher bin ich nicht mehr fähig einen Einsatz Mann-gegen-Mann zu bestreiten. Ich denke nur, dass dieser Auftrag für einen humpelnden Mann ebenso wenig Ich freue mich allerdings über das Vertrauen und die künftig neuen Aufgaben, die mir übertragen wurden.

Dieser Morgen beschreibt den ersten Tag einer mit rund fünfzig Stunden angesetzten Fahrt in den hohen Norden. Mir obliegt die Leitung zur Schließung des dortigen Außenpostens. Mit Spannung erwarte ich vor allem die Parana aus nächster Nähe betrachten, in die Hand nehmen und natürlich probieren zu können. Ich bin gespannt, wie sie schmeckt. Wann bietet sich einem schon solch eine Gelegenheit? Die Einweisung in der Zentrale war kurz, Fragen waren mir kaum gestattet und die Frucht wurde nur beiläufig erwähnt. Auf den Märkten Moskaus ist sie mir jedenfalls bisher nicht untergekommen. Mütterchen Russland verblüfft mich nach all diesen Jahren weiter mit ihren Schätzen! Wohl noch größer ist jedoch mein Interesse am Lebensalltag der Nenzen, denen ich hoffentlich ebenso während meines Aufenthaltes begegnen werde. Neben dem Rückbau des Forschungs- und Kultivierungsstandortes ist es auch an mir, die Zusammenarbeit mit dieser indigenen Volksschar zu beenden -- vielleicht ja nur vorerst -- und alle Erkenntnisse aus der einjährigen Arbeit sicher zurückzubringen. Mir wurde gesagt, ein Übersetzer im Lager steht mir für dieses Unterfangen bereit. Ich freue mich auf meine Genossen vor Ort und ihre Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr Sibirien.

Ich wurde zudem befehligt, über die Situation im Außenposten Bericht zu führen. Sicher ist mein Blick als Unbeleckter von Wert. Ich werde versuchen auf die Organisation des Camps einzugehen und im Rahmen meines beschränkten landwirtschaftlichen Wissens auch Details über die Kultivierungsprozesse der Parana-Frucht zu Protokoll zu geben. Es wird politisch ruhigere Zeiten geben, in denen meine Aufzeichnungen von Wert sein werden, dessen bin ich mir sicher.

Mischa überflog seine geschriebenen Zeilen noch mehrfach mit krauser Stirn. Dann verstaute er seine Schreibutensilien im Koffer, ließ die Krücke liegen und humpelte an den Schlafenden vorbei in den zweiten Personenwagen. Aus den Säcken, die ähnlich müde wie seine Mitfahrer auf den Sitzen lagen, roch es nach Weizen, bei den größeren meinte er in den Beulen im derben Stoff Kartoffeln zu erkennen. Zum Wagenende hin, wo es weder Bänke noch Tische gab, standen einige schwere Holzfässer, aus denen ein salziger Geruch gepökeltes Fleisch vermuten ließ. Doch was er eigentlich suchte, war eine Toilette. Am Ende des Abteils war Schluss für ihn. Ein ovaler Benzintank war den beiden Passagierwagen angehängt. Wie er annahm, wurden damit die Generatoren im Lager betrieben.

So hielt er sich am Geländer fest und urinierte vom Zug auf die Holzschwellen der Schienen sowie auf die Räder des Schlepptenders. Ein Gefühl von Freiheit umwehte ihn. Mischa hatte die Natur seines Landes, diese Grenzenlosigkeit, die einen nur melancholisch machen konnte, schon immer von ganzem Herzen genossen. Und Eisenbahnfahren, das war trotz des geringen Komforts seit jeher ein Konstrukt aus Eroberungsgeist, technischem Fortschritt und Romantik.

Er ließ den Blick schweifen und als er sich zur Lok drehte, nickten ihm zwei grinsende Gesichter von der Plattform am anderen Ende des Schlafwagens zu. Auch sie ließen Wasser. Fremde, dachte er und winkte mit der Hand, die er entbehren konnte, das waren sie nun wohl nicht mehr.

Kaum setzte sich Mischa wieder in Bewegung, als Kommandeur galt es die Männer nun anständig zu begrüßen, da füllte ihm die Scham erneut die Gedanken. Es war das dumpfe Gefühl aus seinem rechten Knie, diese verdammte Bürde!, die nicht müde wurde, ihn an seine neue Realität zu erinnern. Er würde bei den körperlich schweren Arbeiten, die in den kommenden Tagen unweigerlich von der ganzen Brigade geleistet werden mussten, kaum eine Hilfe sein. Das wog schwer auf seinem Herzen, strotzte er doch vor Monaten noch vor Kraft. Er würde umdenken müssen, wenn er schon selbst nicht mit gutem Beispiel vorangehen konnte. Bei seinen wenigen Einsätzen vor der Graduierung hatte er sich den Ruf eines Vorbilds und unter Gleichrangigen eines Strebers, wenn auch eines beliebten Strebers, verdient gemacht. Auf beides war er stolz. Doch das Feuer zu bändigen, welches nach wie vor in ihm loderte, und seinem neuen Posten getreu zu verwerten, fiel ihm schwer; hatte er doch immer nur Soldat sein wollen. Er war in bescheidenen Umständen bei seiner Mutter aufgewachsen, hatte früh mit anpacken müssen, und daraus den Grundsatz entwickelt, dass man von anderen nur etwas fordern konnte, was man auch selbst zu leisten im Stande war. Das abzulegen, widerstrebte ihm zutiefst und ständig schlichen sich alte Gewohnheiten zurück in seinen Alltag – meist mit demütigenden Auswirkungen. So war er aus dem Stand gestürzt, vor seinen Vorgesetzten, weil er lospreschte, den Befehl sofort erledigen wollte, und das unbewegliche Bein schlicht vergessen hatte. Wenn er bei seiner ersten, eigenen Brigade nicht nur als Protokollant, sondern als Brigadeführer wahrgenommen werden wollte, musste er das richtige Mittelmaß finden. Und diese Operation begann, wenn er sich den beiden Männern vorstellte. Sein Makel zeigte sich zu offensichtlich, also war es sinnlos, ihn zu ignorieren. Humor würde helfen. Wodka half immer, das hatte er im Vorfeld geplant und die zugeteilte Ration verdoppeln lassen. Seit seiner Vereidigung in der Roten Armee hatte er sich rasch als Führungsperson hervorgetan und zwischen den Genossen in der Brigade und den leitenden Kommandeuren als Bindestück gedient. Dieser Kurs lag ihm und so wollte er es weiterführen. Ihm war es wichtig, kollegial zu agieren, immer ein offenes Ohr für seine Männer zu haben und trotzdem Respekt und Distanz zu wahren. Ein General konnte eben nur bei jedem zweiten, dreckigen Witz mitlachen. Zu schnell verwässerte man sonst seine Autorität im Kreise der Brigade. Während Mischa den Passagierwagen durchquerte, legte er sich darum die Worte für den Empfang seiner Arbeiter zurecht.

»Genossen!«, rief der Brigadeführer wegen des Fahrtwinds. Das geübte Lächeln saß ihm im Gesicht, er reichte dem Vorderen die Hand zum Gruß. »Ich hatte schon befürchtet, außer Ihres Schnarchens gar nichts mehr von Ihnen zu hören.«

Schwer zu deutende Mienen schauten zurück. Mischas Hand hing in der Luft. Mit ruppiger Geste zeigte der Ältere in Höhe der Stimmbänder erst auf seinen Hals, dann auf den blonden Nebenmann und formte mit den Lippen stumm das Wort »Nicht«.

Und jetzt sah der Brigadeführer es auch – das Narbengewebe und wie es sich unter den khakifarbenen Armeehemden der Männer bis zum Kinn spannte. Er schluckte. Im dunklen Wagon hatte er es nicht bemerkt, doch hier auf der Plattform zwischen den Wagen war es kaum zu übersehen. Wie Vulkankrater lagen die hellen Male auf der Haut.

»Feuer?«, fragte er steif und erntete ein Blinzeln und ein kurzes Zu-Boden-Blicken anstelle eines Kopfschüttelns.

Doch wenn Hitze diese Wunden nicht verursacht hatte, blieb seines Wissens nur eine Möglichkeit übrig. Und überrumpelt, wie Mischa war, stellte er diese Erkenntnis trotzdem als Frage: »Dann hat Säure Ihnen das angetan?« Das klang nun, als würde es sich bei Säure um eine Person handeln, ging es ihm durch den Kopf, kaum dass die Worte seinen Mund verlassen hatten. Mischa kam sich unprofessionell vor. Schweiß bildete sich auf seiner Oberlippe.

Als Antwort nickten die beiden Arbeiter kurz und hart.

Unter ihnen pochte der monotone Herzschlag der Schienen.

Der Mund des Brigadeführers verbitterte sich. Schrecklich, dachte er und hatte tausend Fragen. Was um Himmels willen war den Männern zugestoßen? Wieso war er davon nicht in Kenntnis gesetzt worden? Und wie sollte er mit dieser Situation bloß umgehen?

Da griff der schmale Alte endlich seine Hand, lächelte wenig zahnreich und machte Platz für seinen jüngeren Kollegen, der die Rechte zum militärischen Gruß an die Schläfe hob.

Gut sichtbar für die Männer atmete Mischa durch und zeigte mit dem Kopf in Richtung des Personenwagens. »Geht Wodka?« Er musste jetzt dringend etwas richtigmachen.

Die Arbeiter lachten, einer tiefer, aber beide kehlig, und schulterten ein »Ja, warum nicht?«. Der mit dem ergrauten Haar klopfte dazu den gestickten Stern auf seiner Brust. Drinnen wies er seinen Brigadeführer an, ihm Schreibzeug zu geben. Mischa öffnete seinen Koffer und suchte Papier und Bleistift heraus. Eilig spitzte er ihn, wischte sich die Holzspäne von den Hosenbeinen und reichte dem Mann die Sachen herüber.

KomBrig, wären wir hier, wenn wir kein’ Wodka mehr trinken könnten? Bin Alexej, der da Iwan. Aber er hat nie Schreiben gelernt. Bring’s ihm bei. Aber er ist mehr stark als schlau. Und ist schwierig ohne Stimme.

Als die beiden begannen ihre Sitzreihen freizuräumen, wurde Mischa bewusst, dass er als Einziger im Besitz einer Decke war; die hatte ihm in der vergangenen Nacht wenigstens den Fahrtwind vom Körper ferngehalten. Ja, womöglich hätte er sonst überhaupt kein Auge zu bekommen. Doch nur ihm als Brigadeführer so etwas mitzugeben, während seine Unterstellten sich mit ihren Jacken und Hemden bedecken mussten, fand Mischa unerhört. Er hatte Mitleid mit seinen Genossen, als er sah, wie sie ihre zerschlissenen Kleider zurück in Säcke stopften, die im anderen Wagon Lebensmittel fassten. Wieder griff er nach den Metall-Schnallen seines Koffers. Er entschied sich den neuen Bekanntschaften eine Flasche Alkohol aus eigenem Vorrat zu spendieren; in der Hoffnung damit wenigstens ein Stück weit den misslungen Einstand auf der Plattform wettzumachen.

Augen

13.06.1938

Mischas Finger waren so lang und dünn wie der Rest seiner Statur. Seine Mutter hoffte bis zur Woche seines achtzehnten Geburtstags, sie würden Interesse an den Tasten des Klaviers im Esszimmer finden, waren sie doch perfekt zum Spielen geformt. Doch wenn der Junge sie beschäftigte, dann schnitzte er, dann schraubte er und wenn er malte, malte er Gewehre, Flugzeuge und Panzer. Er eiferte dem Vater nach, den der Erste Weltkrieg genommen hatte. Das Bild im Flur – der Mann in Uniform mit dem starren Blick nach vorn, die Züge noch jugendlich weich – küsste er täglich beim Verlassen der Wohnung. Mischa hatte die Augen geerbt; der gleiche Ausdruck legte sich über sein Gesicht, wann immer er eine Uniform trug. Er hatte ihn einstudiert, in den Jahren bevor er sein Zuhause verließ. Dass sein Vater eigentlich ein schwermütiger, ein freiheitsliebender Mann war, dessen Augen Furcht vor dem Einsatz zeigten, auf diesem hastig geschossenen Foto, das war Mischa nie in den Sinn gekommen. Und seine Mutter hatte ihn nicht berichtigt. Sie wollte wenigstens den Geist eines Vorbilds mit sich im Haus haben, wenn dieser auch einem anderen Mann gehörte. An dem Tag, als sie die schwarzen Locken im Waschbecken fand, das Einzige, was Mischa von ihr geerbt hatte, setzte sie sich auf ihren kleinen Balkon und starrte auf den Horizont, bis die Sonne über den Blocks des Arbeiterviertels unterging. Sie wusste, die Armee hatte nun auch ihren Sohn zu sich geholt.

Jetzt legten zwei dieser schmalen Finger eine 3 an ihr passendes Gegenstück. Die Männer spielten Domino mit hellen Steinen. Sie hatten eine schmale Holzkiste als Unterlage herbeigeholt und zwischen die Sitzreihen geschoben. Die Steine waren aus Walknochen, uralt und vergilbt, die Spielart war Doppel-Sechs. Der Brigadeführer saß den beiden Arbeitern gegenüber und bevor er ablegte, ließ er seinen Stein ein paar Mal zwischen den Fingern wandern, als ob es galt, eine taktische Finesse zu vollführen. Nachdem er die ersten Runden in Folge gewonnen hatte, hoben sie die Regel auf, dass nur der Gewinner einen Schluck aus der Flasche mit dem blauen Etikett nehmen durfte.

Mischa besaß das Gesicht eines eleganten, aber unscheinbaren Mannes. Eines Mann, der einem in Uniform nachhaltig Respekt einflößte, in der ärmlichen Kleidung des Landvolkes aber schnell aus dem Gedächtnis verschwand. Sein einziger optischer Makel und damit das Charakteristischste an ihm war der Hügel auf seiner Nase, der mit der Symmetrie seines Gesichtes brach. Trank er schon wenige Schlucke Alkohol, löste sich zudem sein Unterkiefer heraus und schob sich genau so weit nach links, dass es anderen auffiel.

Jetzt, wo der Wodka Mischas Dienstgrad aufweichte und er eh bereits ungeschickt auf die Verwundungen seiner Arbeiter gestoßen war, flossen die Worte leichter aus seinem Mund. »Genosse, wenn Sie mir die Frage gestatten, wie kommen Sie zurecht mit dem da?« Er fasste sich zum Adamsapfel. »Muss ich irgendetwas wissen, auf irgendetwas achten?«

Alexej schrieb und drückte so hart auf, dass die Mine splitterte. Er pustete den Bleispan vom Blatt, hielt es Mischa hin und sah auf den Dominostein zwischen seinen Fingern.

Ist in Ordnung mit uns, KomBrig. Machen nicht Probleme. Seit dem Lazarett guck ich genau auf Mundpartien. Weil, ist nicht immer Schreibzeugs da. Kann jetzt schon General von Idiot unterscheiden. Bewegen anders den Mund. Versuch das zu lernen und selber Worte mit Lippen zu machen. Lieber wie KomBrig als wie Bauer. Und lieber so als ganz still.

Mischa nickte in Gedanken. Seine Mutter arbeitete seit über drei Jahrzehnten als Russischlehrerin. Und da sie nicht nur unter einem viel zu guten Herz litt, sondern wie die meisten unter ständigem Hunger, hatte Mischa einen Großteil seiner Jugend mit Kindern verbracht, deren Eltern während der Schwangerschaft dem Alkohol zu nahegestanden hatten. Stets nach Schulschluss mühte seine Mutter sich, den benachteiligten Knirpsen das Notwendigste der russischen Sprache oder ihren stummen Lippen zumindest Schlagworte für die geringste Form der Verständigung beizubringen. Für ihre Dienste bekam sie in den schlimmen Jahren leidlich abgesparte Nahrung sowie ein paar Rubel in besseren Zeiten. Durch diesen Umgang war ihr Sohn aufmerksam geworden, was die Beeinträchtigungen anderer betraf. Das mochte ihm auch mit Alexej und Iwan helfen. Der Brigadeführer erinnerte sich, dass ein Kunststück darin bestand, die Worte für den Gegenüber überspitzt darzustellen. Da sich bei Konsonanten der Mund nur wenig öffnete, musste er die Lippen mit mehr Spannung formen, als er dies mit intakten Stimmbändern getan hätte. Bei Vokalen galt es, darauf zu achten, dass die Position der Zunge sichtbar wurde. Als Mann mit wenigen Zähnen war der Arbeiter dabei im Vorteil, dachte Mischa.

Still spielten sie weiter. Alexej legte eine 3 mit 5 an Mischas letzten Zug. Und als der Brigadeführer das Gespräch bereits eingeschlafen glaubte, griff sein Unterstellter doch noch einmal zum Stift – Mischa prüfte gerade seinen verbliebenen Stein.

Hab Flüche vor Ja und Nein gelernt. Ist immer erst viel Wut da. Nach sowas. Aber wenn man weiterlebt, ist auch immer noch Gewinnen drin, KomBrig.

Mischas Augen verengten sich. Hatte der Arbeiter diese Worte direkt an ihn gerichtet, wegen seines steifen Beins, oder bildete er sich das nur ein? Und was genau war dieses Sowas, von dem er sprach? Er legte den letzten Stein und gewann erneut ohne große Freude darüber. Wieder ging die Flasche herum. Alexej spitzte den Stift an einer scharfen Kante des Fensterrahmens. Mischa spürte, wie der entspannende Nebel zwischen den Ohren ihn langsam in Besitz nahm.

Was der Arbeiter nicht zu Papier brachte, war, dass er den veränderten Zustand im Gesicht seines Brigadeführers erkannt hatte – die Nachdenklichkeit und den leicht schrägen Unterkiefer. Darum schlug er nun vor, um Geld zu spielen.

Mischa sah vom Angebot auf dem Papier zu dem Mann, der es gestellt hatte. Er musste blinzeln und die Augen zusammenkneifen, um ihn halbwegs erkennen zu können. Das Morgenlicht fiel in großen Quadraten durch die fehlenden Fenster auf den Schoß des Arbeiters, der Rest lag im Dunkeln.

»Domino um Rubel, Genosse?«, fragte Mischa skeptisch. »Meinen Sie das ernst?« Es fühlte sich seltsam an, als einziger in der Gruppe zu sprechen. Er hatte das Gefühl, seine Stimme war brüchig geworden, kaum dass der Tag ihm vom Schicksal der Männer berichtet hatte.