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Daevabad ist gefallen! Nachdem die Stadt durch eine brutale Eroberung ihrer Magie beraubt wurde, müssen die Anführerin der Nahid, Banu Manizheh, und ihr wiederauferstandener Heeresführer Dara versuchen, ihr zerrüttetes Bündnis zu kitten und ein zerstrittenes, kriegerisches Volk zu einen. Doch der Blutzoll des Angriffs auf die Stadt und der Verlust seiner geliebten Nahri haben die schlimmsten Geister aus Daras dunkler Vergangenheit entfesselt. Um sie auszulöschen, muss er sich unangenehmen Wahrheiten stellen und sich der Gnade derer ausliefern, die er einst als Feinde betrachtete. Nahri und Ali, die nur knapp mit dem Leben davongekommen sind und nun im Reich der Menschen Unterschlupf gefunden haben, müssen ebenfalls schwierige Entscheidungen treffen. Während Nahri in ihrem geliebten Kairo versucht, Frieden zu finden, wird sie von dem Wissen verfolgt, dass ihre treuesten Freunde und das Volk, das sie als Retterin betrachtet hat, einem neuen Tyrannen ausgeliefert sind. Auch Ali muss sich im wahrsten Sinne des Wortes seinen inneren Dämonen stellen, denn auf der Suche nach Unterstützung in der Heimat seiner Mutter entdeckt er, dass seine Verbindung zu den Mariden viel tiefer geht als gedacht. Während der Frieden immer schwerer zu fassen ist und alte Feinde zurückkehren, begreifen Nahri, Ali und Dara, dass sie sich gegen diejenigen wenden müssen, die sie einst geliebt haben ... und sich für diejenigen einsetzen müssen, die sie einst verletzt haben, um die Welt neu zu gestalten. Das letzte Kapitel der gefeierten Daevabad-Trilogie von S.A. Chakraborty!
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S. A. Chakraborty
Die Daevabad-Trilogie Bd. 3
Ins Deutsche übertragen von Kerstin Fricke
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2020 by Shannon Chakraborty. All rights reserved.
Titel der Englischen Originalausgabe: »The Empire of Gold« by S. A. Chakraborty, published 2020 by Harper Voyager an imprint of HarperCollins Publishers LLC, New York, USA.
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Deutsche Ausgabe 2022 Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.
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Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Kerstin Fricke
Lektorat: Mona Gabriel
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDCHAK003E
ISBN 978-3-7367-9830-4
Gedruckte Ausgabe: 1. Auflage, Februar 2022, ISBN 978-3-8332-4273-1
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Für meine Eltern, die so hart gearbeitet haben, damit ihre Kinder träumen konnten, und die immer da waren, selbst wenn mich meine langen Wanderungen in die Ferne führten.
ÜBERSICHT DER CHARAKTERE
DIE KÖNIGSFAMILIE
Daevabad wird momentan von der Qahtani-Familie regiert, den Nachfahren von Zaydi al Qahtani, dem Geziri-Krieger, der vor Jahrhunderten eine Rebellion anführte, den Nahid-Rat stürzte und für die Gleichberechtigung der Shafit sorgte.
GHASSAN AL QAHTANI, König über das magische Reich und Verteidiger des Glaubens
MUNTADHIR, Ghassans ältester Sohn von seiner ersten Frau, einer Geziri, und designierter Thronfolger
HATSET, Ghassans zweite Frau und Königin, eine Ayaanle, die aus einer mächtigen Familie in Ta Ntry stammt.
ZAYNAB, Ghassans und Hatsets Tochter, Prinzessin von Daevabad
ALIZAYD, Ghassans und Hatsets Sohn, Prinz von Daevabad
Ihr Hofstaat und die Königsgarde
WAJED, Qaid und Heerführer der Dschinn-Armee
ABU NUWAS, ein Geziri-Offizier
AQISA und LUBAYD, Krieger und Fährtenleser aus Bir Nabat, einem Dorf in Am Gezira
DIE HÖCHSTEN UND GESEGNETEN NAHID
Die Nahid, ursprüngliche Herrscher über Daevabad und Nachfahren Anahids, waren eine Familie außergewöhnlicher, magischer Heiler, die dem Daeva-Stamm angehörte.
ANAHID, Suleimans Auserwählte und die Gründerin von Daevabad
RUSTAM, einer der letzten Nahid-Heiler und ein erfahrener Botaniker, ermordet von den Ifrit
MANIZHEH, Rustams Schwester und eine der mächtigsten Nahid-Heilerinnen seit Jahrhunderten
NAHRI, ihre Tochter, die nichts über ihre Eltern weiß und als Kleinkind im Menschenland Ägypten ausgesetzt worden ist.
Ihre Unterstützer
DARAYAVAHOUSH, der letzte Nachkomme der Afshin, einer Daeva-Familie der Militärkaste, die als rechte Hand des Nahid-Rates diente; bekannt als Geißel von Qui-zi ob seiner Gewalttätigkeit während des Krieges und der späteren Revolte gegen Zaydi al Qahtani
KAVEH E-PRAMUKH, der Daeva-Großwesir
KARTIR, ein Daeva-Hohepriester
NISREEN, Manizhehs und Rustams ehemalige Assistentin und Nahris Mentorin
IRTEMIZ, NOSHRAD, GUSHTAP, PIROZ, MARDONIYE und BAHRAM, Soldaten
DIE SHAFIT
Personen, in deren Adern ebenso Menschen- wie Dschinn-Blut fließt. In Daevabad, wo sie gezwungenermaßen leben müssen, sind ihre Rechte stark eingeschränkt.
SCHEICH ANAS, ehemaliger Anführer der Tanzeem und Alis Mentor, vom König wegen Verrats hingerichtet
SCHWESTER FATUMAI, Tanzeem-Anführerin, die für das Waisenhaus und die wohltätigen Einrichtungen der Gruppe zuständig war
SUBHASHINI und PARIMAL SEN, Shafit-Ärzte
DIE IFRIT
Daeva, die sich vor Tausenden von Jahren weigerten, sich Suleiman zu unterwerfen, und daraufhin verflucht wurden; Erzfeinde der Nahid.
AESHMA, ihr Anführer
VIZARESH, der Ifrit, der in Kairo auf Nahri aufmerksam wurde
QANDISHA, die Ifrit, die Dara versklavt und ermordet hat
SAKHR, Vizareshs Bruder, der von Nahri erschlagen wurde
DIE BEFREITEN SKLAVEN DER IFRIT
Nach Daras Tod durch die Hand von Prinz Alizayd erschütterten grausame Ausschreitungen Daevabad. Nur drei der einstmals versklavten Dschinn, die nun verfolgt und bedroht werden, sind in der Stadt geblieben, wo die Nahid-Heiler sie vor Jahren befreit und wiederbelebt haben.
RAZU, eine Spielerin aus Tukharistan
ELASHIA, eine Künstlerin aus Qart Sahar
ISSA, ein Gelehrter und Historiker aus Ta Ntry
PROLOG
MANIZHEH
Banu Manizheh e-Nahid stand hinter den Zinnen des Palastes, der schon immer der ihre gewesen war, und blickte auf die Stadt ihrer Familie hinab.
Daevabad war in Sternenlicht getaucht und sah wunderschön aus – die gezackten Umrisse von Türmen und Minaretten, Kuppeln und Pyramiden –, aus dieser Höhe nahezu wundersam und wie ein Durcheinander aus mit Edelsteinen besetzten Spielzeugen. Jenseits des schmalen weißen Strands schimmerte der gesprenkelte See, dessen Wasser sich bewegte und der von schwarzen Bergen umgeben war.
Sie breitete die Hände auf der steinernen Zinne aus. Das war kein Ausblick, der Manizheh als Gefangener der Qahtanis gewährt worden war. Schon als Kind hatten sie nervös auf ihren Starrsinn reagiert; die offensichtliche Akzeptanz durch die Magie des Palastes und das große Talent des Nahid-Wunderkinds sorgten dafür, dass ihr Leben entscheidend eingeschränkt wurde, noch bevor sie alt genug war, um zu erkennen, dass die Wachen, die sie Tag und Nacht umgaben, nicht ihrem Schutz dienten. Nur als Ghassans Gast hatte sie sich hier oben aufhalten dürfen – eine Gunst, die er ihr nur ein einziges Mal kurz nach der Thronbesteigung erwiesen hatte.
Manizheh konnte sich noch gut daran erinnern, wie er ihre Hand genommen hatte, als sie auf die Stadt blickten, für die ihre Familien einander umgebracht hatten, und verträumte Worte darüber zum Besten gab, wie sie ihre Völker vereinen und die Vergangenheit hinter sich lassen sollten. Er hatte behauptet, sie seit ihrer Kindheit zu lieben und dass er all die Male, die sein Vater sie und ihren Bruder geschlagen und terrorisiert hatte, traurig und hilflos gewesen sei. Sie musste doch gewiss verstehen, dass Ghassan keine andere Wahl geblieben war, als den Mund zu halten.
Vor ihrem inneren Auge sah Manizheh noch immer sein Gesicht aus dieser Nacht vor sich und wie das Mondlicht seine hoffnungsvolle Miene erhellt hatte. Sie waren deutlich jünger gewesen und er hatte gut ausgesehen und Charme versprüht. Was für ein Paar, hätten die Leute gesagt. Welche Frau wollte denn nicht die geliebte Königin eines mächtigen Dschinn-Königs werden? Und sie hatte in der Tat die Finger mit den seinen verschränkt und gelächelt – denn zu jener Zeit war sie noch dazu fähig gewesen –, bis ihr Blick auf Suleimans Siegel auf seinem Gesicht fiel, das noch nicht lange dort prangte.
Da hatte sie ihm die Kehle verschlossen.
Doch die Wirkung hielt nicht lange an. Ghassan aktivierte das Siegel schneller als erwartet, und sobald ihre Macht schwand, ließ auch der Druck auf seinen Hals nach. Er war wütend gewesen, sein Gesicht war rot angelaufen ob des Verrats und des Luftmangels, und Manizheh wusste noch, dass sie geglaubt hatte, er würde sie schlagen. Oder Schlimmeres mit ihr anstellen. Und dass es ohne Belang wäre, ob sie schrie, da er nun König war und schalten und walten konnte, wie es ihm gefiel.
Doch Ghassan hatte nichts dergleichen getan. Es war auch gar nicht nötig gewesen. Manizheh hatte sein Herz angegriffen, und er tat dasselbe an ihr, mit gnadenloser Effizienz: Er ließ Rustam beinahe zu Tode peitschen, während sie zusehen musste, brach ihrem Bruder die Knochen, ließ sie wieder heilen und tat es gleich noch einmal, folterte Rustam, bis er vor Schmerzen jaulte und kaum noch zu erkennen war, bis Manizheh auf die Knie fiel und Ghassan um Gnade anflehte.
Als er sie ihr schließlich gewährte, ärgerte er sich sogar noch mehr über ihre Tränen als über ihre anfängliche Ablehnung. Ich wollte, dass die Dinge zwischen uns anders stehen, hatte er ihr vorgeworfen. Du hättest mich nicht demütigen dürfen.
Bei dieser Erinnerung schnappte sie nach Luft. Er ist tot, rief sie sich ins Gedächtnis. Manizheh hatte Ghassans blutigen Leichnam gesehen, sich den Anblick eingeprägt und versucht, sich davon zu überzeugen, dass ihr Folterer tatsächlich nicht mehr lebte. Doch sie hatte ihn nicht verbrennen lassen, jedenfalls noch nicht, da sie beabsichtigte, seine Leiche sehr gründlich zu untersuchen, und sich Hinweise darauf erhoffte, wie er in den Besitz von Suleimans Siegel gelangt war. Manizheh war nicht entgangen, dass man ihm das Herz entfernt hatte – es war mit chirurgischer Präzision aus seiner Brust herausgeschnitten worden, womit auch offensichtlich war, wer das getan hatte. Irgendwie war sie sogar ein bisschen dankbar dafür. Obwohl sie Nahri etwas anderes gesagt hatte, wusste Manizheh so gut wie nichts darüber, wie genau der Siegelring weitergegeben wurde.
Nun war ihr dank Nahri jedoch klar, dass der erste Schritt, sobald sie die beiden gefunden hatte, darin bestehen musste, Nahris Dschinn-Prinzen das Herz herauszuschneiden.
Manizheh richtete den Blick abermals auf die Stadt. Es war erschreckend ruhig, was irgendwie unheimlich wirkte. Daevabad hätte durchaus ein friedliches Königreich in tiefster Nacht sein können, das sicher und ruhig von seinen rechtmäßigen Wächtern beschützt wurde.
Ein fernes Jammern strafte diesen Eindruck Lügen. Die Schreie wurden allmählich leiser, während die nächtliche Gewalt Schock und Entsetzen wich. Verängstigte – gejagte – Einwohner schrien nicht. Stattdessen versteckten sie sich mit ihren Lieben in jedem Unterschlupf, den sie finden konnten, und beteten, dass die Dunkelheit sie verschonen möge. Jeder in Daevabad wusste, was geschah, wenn Städte fielen. Sie waren mit Geschichten über Vergeltung und die Raffgier ihrer Feinde aufgewachsen; je nach Abstammung hatte man ihnen haarsträubende Geschichten über Zaydi al Qahtanis brutale Eroberung von Daevabad, Darayavahoush e-Afshins Geißelung von Qui-zi oder die zahllosen Überfälle auf Menschenstädte erzählt. Nein, hier würde es keine Schreie geben. Die Einwohner von Daevabad verbargen sich und weinten lautlos, während sie ihre Kinder an sich pressten und den unverhofften Verlust ihrer Magie als nächste Tragödie dieser Nacht betrauerten.
Sie werden glauben, dass ein weiterer Suleiman eingetroffen ist. Zu diesem Schluss musste jede vernünftige Person gelangen. Hatte Suleimans gewaltiges Urteil nicht damit angefangen, dass ihren Vorfahren die Magie genommen worden war? Wahrscheinlich rechneten sie damit, dass ihr Leben zerstört und ihre Familien auseinandergerissen wurden, während man sie zwang, für einen weiteren menschlichen Meister zu schuften, ohne die Macht zu besitzen, sich dem widersetzen zu können.
Machtlos. Manizheh presste die Handflächen fester auf den kalten Stein und sehnte sich danach, die Magie des Palastes zu spüren. Tanzende Flammen heraufzubeschwören oder das Schimmern von Rauch. Es schien schlichtweg unmöglich zu sein, dass all ihre Fähigkeiten verschwunden waren, und sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie viele Verletzte in der Krankenstube mit Wunden warteten, die sie nicht würde heilen können. Obwohl sie eine Frau war, die alles, was sie liebte, verloren hatte – der scheue Landadlige, den sie vielleicht geheiratet hätte, das dunkeläugige Kind, dessen Gewicht sie zu gern ein weiteres Mal in den Armen gespürt hätte, der Bruder, den sie verraten hatte, ihre Würde, da sie sich Jahr um Jahr den Qahtanis beugte –, schmerzte sie der Verlust ihrer Fähigkeiten doch am meisten. Ihre Magie war ihr Leben, ihre Seele – die der Kraft zugrunde liegende Macht, die es ihr ermöglicht hatte, alles andere zu überleben.
Möglicherweise ist das ein gerechter Preis, da du Heilmagie zum Töten eingesetzt hast, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Manizheh verdrängte sie. Derartige Zweifel würden im Augenblick weder ihr noch ihrem Volk helfen. Stattdessen stützte sie sich auf den Zorn, die Wut, die in ihr brodelten, seitdem sie hatte mitansehen müssen, wie ihre jahrelange Planung von einem Shafit-Mädchen mit flinken Fingern über den Haufen geworfen worden war.
Nahri. Der Trotz in ihren dunklen Augen. Das leichte, fast schon reuige Achselzucken, als sie den kostbarsten Schatz ihrer Familie auf den Finger einer unwürdigen Sandfliege gesteckt hatte.
Ich hätte dir alles gegeben, mein Kind. Alles, was du dir nur hättest wünschen können. Alles, was ich nie hatte.
»Genießt Ihr Euren Sieg?«
Aeshmas spöttische Stimme ging ihr durch Mark und Bein, aber Manizheh ließ sich nichts anmerken. Sie kannte den Ifrit schon lange genug, um zu wissen, wie sie mit ihm umzugehen hatte – eigentlich ließ sich das auch auf alle anderen übertragen. Man bot ihnen schlichtweg keine Angriffsfläche, zeigte weder Schwächen noch Zweifel. Ließ sich nicht anmerken, mit wem man sich verbündet hatte oder wer einem am Herzen lag. Sie blickte stur geradeaus, als er neben sie an die Mauer trat.
»Ich habe sehr lange Zeit darauf gewartet, Anahids Stadt zu sehen.« In seiner Stimme schwang ein grausamer Triumph mit. »Aber sie ist nicht das Paradies, das in den Liedern besungen wird. Wo sind die Shedu, die angeblich am Himmel patrouillieren, und die Gärten mit edelsteinbesetzten Bäumen und Flüssen voller Wein? Wo sind die kriecherischen Marid-Dienstboten, die Regenbögen aus Wasserfällen heraufbeschwören, und was ist mit der Bibliothek, die von den Geheimnissen der Schöpfung nur so überquillt?«
Manizhehs Magen zog sich zusammen. Für Jahrhunderte verloren. Sie war in die großen Geschichten über ihre Vorfahren eingetaucht, doch diese hatten ein Bild von Daevabad aufscheinen lassen, das dem, das sich ihr nun bot, ganz und gar nicht ähnelte. »Wir werden alles zurückholen.«
Eiskalte Freude spiegelte sich kurz auf Aeshmas feurigem Antlitz wider. »Sie hat diesen Ort geliebt«, fuhr er fort. »Er war ein Heiligtum für all jene, die sie zusammenführte, ihr sorgsam gepflegtes Paradies, in dem es keine Sünder geben durfte.«
»Ihr klingt, als wärt Ihr eifersüchtig.«
»Eifersüchtig? Dreitausend Jahre habe ich mit Anahid im Land der zwei Flüsse gelebt und zugesehen, wie sich die Fluten zurückzogen und sich der Mensch erhob. Wir kämpften mit den Marid und reisten gemeinsam mit den Wüstenwinden. Doch wegen des Befehls eines dahergelaufenen Menschen geriet das alles in Vergessenheit.«
»Ihr habt im Umgang mit Suleiman unterschiedliche Wege eingeschlagen.«
»Sie hat sich dafür entschieden, ihr Volk und ihre engsten Freunde zu verraten.«
Sie hat ihr Volk gerettet, und ich habe vor, dasselbe zu tun. »Und ich dachte, wir hätten all das endlich hinter uns gelassen und Frieden geschlossen.«
Aeshma schnaubte. »Wie wollt Ihr das anstellen, Banu Nahida? Glaubt Ihr etwa, ich wüsste nicht, was aus Euren Fähigkeiten geworden ist? Ich bezweifle, dass Ihr im Augenblick auch nur einen Funken entstehen lassen könnt, und da wollt Ihr Euren Handel mit mir einlösen?« Er hob eine Hand, und eine feurige Ranke wand sich zwischen seinen Fingern hindurch. »Jammerschade, dass Euer Volk keine drei Millennien hatte, um andere Formen der Magie zu erlernen.«
Manizheh musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um die Flamme nicht anzustarren, und die Gier fraß sich durch ihre Seele. »Was für ein Glück, dass ich Euch habe, der es mich lehren kann.«
Der Ifrit lachte. »Warum sollte ich das tun? Ich helfe Euch schon seit Jahren, ohne bisher davon zu profitieren.«
»Ihr konntet einen Blick auf Anahids Stadt werfen.«
Aeshma grinste. »Da muss ich Euch wohl recht geben.« Sein Lächeln wurde breiter, und seine rasiermesserscharfen Zähne blitzten auf. »Jetzt gerade könnte ich sogar noch mehr gewinnen. Dazu müsste ich Euch nur von dieser Mauer werfen und ihre vielversprechendste Nachfahrin töten.«
Manizheh zuckte nicht mit der Wimper; sie war es gewohnt, von Männern bedroht zu werden. »Ihr würdet Darayavahoush niemals entkommen. Er würde jeden noch verbliebenen Ifrit aufspüren, foltern und vor Euren Augen abschlachten, um Euch dann ein Jahrhundert lang auf die qualvollsten Methoden, die er nur ersinnen kann, zu töten. Ihr würdet durch die Magie sterben, nach der Ihr Euch am meisten verzehrt.«
Das schien ihn zu treffen, denn Aeshmas spöttisches Grinsen wich einer finsteren Miene. So war es immer, denn Manizheh kannte seine Schwächen ebenso gut wie er ihre Geheimnisse.
»Euer Afshin verfügt nicht über solche Fähigkeiten«, fauchte er. »Er ist der erste Daeva seit Tausenden von Jahren, der von Suleimans Fluch befreit wurde, und doch nichts weiter als ein missmutiger, zu gut bewaffneter Narr. Ihr hättet diese Fähigkeiten auch gleich einem tollwütigen Hund überlassen können.«
Diese Analogie gefiel Manizheh nicht besonders – schon jetzt lauerte unter der absoluten Loyalität, die sie üblicherweise von Dara genoss, für ihren Geschmack etwas zu viel Trotz.
Aber sie ging nicht darauf ein. »Wenn Ihr Daras Fähigkeiten begehrt, solltet Ihr damit aufhören, wertlose Drohungen auszustoßen, und mir dabei helfen, Suleimans Siegel zurückzubekommen. Solange es nicht in meinem Besitz ist, kann ich Euch nicht von diesem Fluch befreien.«
»Wie praktisch.«
»Was habt Ihr gesagt?«
Er senkte den Blick und starrte sie an. »Ich sagte, dass das sehr praktisch ist«, wiederholte er. »Ich stehe Euch seit Jahrzehnten zur Seite und warte auf Eure Hilfe, doch Ihr speist mich immer wieder mit Ausreden ab. Das ist alles sehr beunruhigend, Banu Nahida, denn ich frage mich zunehmend, ob Ihr überhaupt dazu in der Lage seid, uns von Suleimans Fluch zu befreien.«
Manizhehs Miene blieb ausdruckslos. »Ihr seid zu mir gekommen«, rief sie ihm in Erinnerung. »Ich habe Euch stets gesagt, dass ich dafür den Ring benötige. Zudem solltet Ihr inzwischen genug gesehen haben, um zu wissen, wozu ich fähig bin.«
»Das habe ich in der Tat. Demzufolge bin ich auch nicht besonders erpicht darauf, mitansehen zu müssen, wie Ihr meine Art der Magie ebenfalls beherrscht. Insbesondere für das armselige Versprechen einer möglichen zukünftigen Freiheit. Wenn Ihr wollt, dass ich Euch die Blutmagie beibringe, benötige ich dafür etwas Greifbareres als Gegenleistung.«
Etwas Greifbareres. Manizhehs Magen zog sich zusammen. Sie hatte schon so viel verloren, und das Wenige, das sie noch besaß, war ihr sehr teuer. »Was wollt Ihr?«
Der Ifrit ließ abermals das kalte Lächeln aufblitzen und den Blick über Daevabad schweifen, und die darin mitschwingende Begierde war ihr eine überdeutliche Warnung. »Ich denke jeden Tag an diesen Morgen, wisst Ihr. An die ungezügelte Kraft, die durch die Luft toste und in meinen Gedanken schrie. So etwas habe ich nicht mehr gespürt, seit Anahid diese Insel aus dem See gehoben hat.« Er fuhr beinahe zärtlich mit den Fingern über die Zinne. »Es gibt nichts, das mit der Nahid-Magie vergleichbar wäre, nicht wahr? Nahid-Hände haben diese Stadt errichtet und unzählige Kranke und Sterbende von der Schwelle des Todes zurückgeholt. Ein einziger Tropfen ihres Blutes reicht aus, um einen Ifrit zu töten. Ein Nahid-Leben … Nun, stellt Euch nur all die Dinge vor, die das bewirken könnte.« Aeshma bohrte das Messer etwas tiefer in die Wunde. »Und all das, was bereits dadurch geschehen ist.«
Nun zuckte Manizheh doch zusammen. Wie rasch alles über sie hereinbrach. Der Geruch nach verbranntem Fleisch und die Erinnerung an das klebrige Blut auf ihrer Haut. Die funkelnde Stadt schien zu verschwinden und wurde von einer versengten Ebene unter einem verrauchten Himmel ersetzt – die dumpfe Farbe spiegelte sich in den leeren, leblosen Augen ihres Bruders wider. Rustam war mit entsetztem Gesichtsausdruck gestorben, und bei diesem Anblick war der letzte Überrest von Manizhehs Herz gebrochen, denn sie hatte an den kleinen Jungen denken müssen, der er einst gewesen war. An die Nahid-Geschwister, die viel zu früh ihre Unschuld verloren und immer alles gemeinsam durchgestanden hatten, nur um am Ende auseinandergerissen zu werden.
»Raus mit der Sprache.«
»Ich will Eure Tochter.« Aeshma war nun direkt und verzichtete auf jegliche Zurückhaltung. »Da sie sich als Verräterin erwiesen hat, müsst Ihr sie ohnehin beseitigen.«
Eine Verräterin. Wie leicht es dem Ifrit fiel, so etwas auszusprechen. Er hatte die zitternde junge Frau in dem zerrissenen, blutüberströmten Kleid nicht gesehen und auch nicht in die verängstigten, erschreckend vertrauten Augen geblickt.
Sie hat dich verraten. Nahri hatte in der Tat etwas Schlimmes getan und sie mit einem Taschenspielertrick hereingelegt, der einer Shafit-Diebin niedrigen Standes weitaus würdiger war als einer Nahid-Heilerin. Aber Manizheh hätte ihr das vergeben können, es ihr in der Tat verziehen, wenn Nahri den Ring für sich selbst beansprucht hätte. Denn, beim Schöpfer, sie konnte keiner anderen Frau ihre Ambitionen verdenken.
Aber das hatte Nahri nicht getan. Nein, sie hatte ihn ausgerechnet einem Qahtani gegeben. Dem Sohn des Königs, der sie gepeinigt hatte, des Königs, der Manizheh jegliche Chance auf ein glückliches Leben genommen und auf ewig einen Keil zwischen sie und ihren Bruder getrieben hatte.
Das konnte Manizheh niemals verzeihen.
Aeshma deutete ihr langes Schweigen als Zweifel und fuhr fort. »Ihr müsst einige Entscheidungen treffen, Manizheh«, warnte er sie mit tiefer, gefährlicher Stimme. »Eure Geißel ist besessen von diesem Mädchen. Wenn sie clever genug war, um Euch hereinzulegen, wie wird es dann wohl diesem liebeskranken Narren ergehen, wenn sie mit seinem Herzen spielt? Aber all das, was ich Euch lehren kann oder Vizaresh …« Aeshma beugte sich vor. »Ihr müsstet Euch nie wieder Gedanken um Darayavahoushs Loyalität machen oder um die irgendeiner anderen Person.«
»Doch für einen hohen Preis.«
Ein Schimmern erregte Manizhehs Aufmerksamkeit – die ersten feurigen Sonnenstrahlen lugten über die östlichen Berggipfel, und der Glanz raubte ihr den Atem. Im Allgemeinen war der Sonnenaufgang in Daevabad nicht so hell, da der magische Schleier die Stadt auch vor dem wahren Himmel schützte. Allerdings fühlte sich nicht nur die Helligkeit falsch an.
Sondern auch die Stille, die damit einherging. Es erklangen keine Trommeln aus dem Großen Tempel oder den Dschinn-Adhan, und dieses lautlose Scheitern, um das Auftauchen der Sonne zu feiern, erfüllte ihr Herz mit weitaus größerer Angst, als es all das Blut getan hatte, das von ihrem nicht geheilten Finger getropft war. Nichts hielt die Trommeln und den Gebetsruf auf; sie waren Teil des Zeitgefüges in Daevabad.
Bis Manizhehs Eroberung dieses Gefüge zertrümmert hatte. Daevabad war ihr Zuhause, ihre Pflicht, und sie hatte der Stadt das Herz herausgerissen. Somit war es auch ihre Aufgabe, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Was es auch kostete.
Sie schloss die Augen. Manizheh hatte nicht mehr gebetet, seitdem sie mitansehen musste, wie zwei Dschinn-Späher im eisigen Schlamm des nördlichen Daevastana verblutet waren, dahingerafft durch das von ihr geschaffene Gift. Sie hatte ihren Plan Dara gegenüber verteidigt; sie war sogar so weit gegangen, eine noch schlimmere Welle des Todes über Daevabad hereinbrechen zu lassen. Aber die ganze Zeit über hatte sie nicht gebetet. Es hatte sich so angefühlt, als wäre diese Verbindung für immer dahin.
Denn sie wusste, dass der Schöpfer ihr jetzt nicht helfen würde. Sie sah keine Alternative, nur den Weg, den sie geschaffen hatte und auf dem sie bleiben musste – selbst wenn am Ziel nichts mehr von ihr übrig war.
Sie sorgte dafür, dass ihre Stimme ruhig klang; der Ifrit durfte nicht merken, wie tief er sie getroffen hatte. »Ich kann Euch ihren Namen nennen. Ihren richtigen Namen.
Den Namen, den ihr Vater ihr gegeben hat.«
TEIL 1
1
NAHRI
Als kleines Mädchen hatte Nahri im letzten Waisenhaus, das sie noch aufnehmen wollte, einen Geschichtenerzähler kennengelernt.
Es war zu Eid an einem heißen, chaotischen Tag gewesen, der jedoch für Kinder wie sie zu einem der angenehmeren gehörte, da an diesem die wohlhabenderen Einwohner Kairos eher geneigt waren, sich der Waisenkinder anzunehmen, deren Wohlergehen ihnen laut ihrem Glauben am Herzen liegen sollte. Nachdem sie sich in neuer Kleidung – einem hübschen, mit blauen Lilien bestickten Kleid – den Bauch mit Süßigkeiten und gefülltem Buttergebäck vollgeschlagen hatte, war der Geschichtenerzähler aus dem Dunst des Zuckerschocks und der nachmittäglichen Hitze getreten. Nicht lange darauf waren die meisten der Kinder, die sich um ihn versammelt hatten, eingeschlafen, wandelten in ihren Träumen durch ferne Länder und erlebten dank seiner Stimme aufregende Abenteuer.
Nur Nahri war wach geblieben und lauschte fasziniert, da die Geschichten über magische Königreiche und verschwundene Prinzessinnen genau den schwachen Hoffnungsschimmer ansprachen, den ein kleines Mädchen ohne Namen und Familie in der hintersten Ecke seines Herzens noch hegte. Doch die Art, wie sich der Geschichtenerzähler ausdrückte, verwirrte sie. Kan wa ma kan, wiederholte er immer wieder, wenn er fantastische Städte, geheimnisvolle Dschinn und clevere Heldinnen beschrieb. Es war und es war nicht. Die Geschichten schienen zwischen dieser und einer anderen Welt zu spielen, zwischen Legende und Wahrheit zu liegen, und sie hatten in Nahri eine gewaltige Sehnsucht ausgelöst. Sie musste wissen, dass alles echt war. Sie wollte herausfinden, ob es irgendwo einen besseren Ort für sie gab, eine Welt, in der die seltsamen Dinge, die sie mit ihren Händen anstellte, als normal galten.
Daher hatte sie ihn mit Fragen bestürmt. Aber ist das auch wahr?, wollte sie wissen. Ist das auch wirklich passiert?
Der Geschichtenerzähler hatte nur mit den Achseln gezuckt. Nahri erinnerte sich noch genau an die Bewegung seiner Schultern und das Funkeln seiner Augen, da er sich zweifellos über die Beharrlichkeit des Mädchens amüsierte. Vielleicht war es so, vielleicht aber auch nicht.
Nahri hatte nicht lockergelassen und sich des nächsten Beispiels bedient, das ihr einfallen wollte. Dann ist das so wie das Ding in deiner Brust? Das Ding um deine Lunge, das aussieht wie eine Krabbe und dich Blut husten lässt?
Er hatte sie mit offenem Mund angestarrt. Gott steh mir bei, hatte er entsetzt geflüstert, während alle um sie herum leise aufkeuchten. Ihm waren die Tränen gekommen. Das kannst du nicht wissen.
Sie hatte nichts mehr sagen können, da die anderen Erwachsenen rasch eingriffen und sie an den Armen fortzerrten, wobei sie einen Ärmel ihres neuen Kleides zerrissen. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte für das kleine Mädchen, das ständig derart beunruhigende Dinge sagte, im Schlaf in einer Sprache schrie, die niemand je zuvor gehört hatte, und keine blauen Flecken oder Schürfwunden bekam trotz der Prügel von den anderen Kindern. Nahri war aus dem zerfallenden Gebäude geschleift worden, wobei sie noch immer darum bettelte, dass man ihr sagte, was sie falsch gemacht hatte. Sie war in ihrem Feiertagskleid auf der staubigen Straße gelandet und hatte sich dort allein wiedergefunden, während alle anderen Menschen mit ihren Familien in den gemütlichen Häusern feierten, in denen sie nie gelebt hatte.
Als die Tür des Waisenhauses hinter ihr zugefallen war, hatte Nahri aufgehört, an ihre Magie zu glauben. Bis Jahre später ein Daeva-Krieger inmitten von Grabsteinen ihr vor die Füße gefallen war. Aber als Nahri jetzt völlig verständnislos auf die vertraute Silhouette von Kairo blickte, gingen ihr abermals die arabischen Worte durch den Kopf.
Kan wa ma kan.
Es war und es war nicht.
Die Märchenwelt von Daevabad war verschwunden und durch Kairos Moscheen, Burgen und alte Ziegelsteingebäude ersetzt worden, die in der Ferne aus dem Dunst herausragten, während die Hitze über der umliegenden Wüste und den überfluteten Feldern schimmerte. Sie blinzelte mehrmals und rieb sich die Augen. Die Stadt war immer noch da, ebenso die Pyramiden, die stolz vor dem blassblauen Himmel auf der anderen Seite des breiten, blauen Nils aufragten.
Ägypten. Ich bin in Ägypten. Nahri presste sich die Fingerknöchel so fest gegen die Schläfen, dass es wehtat. War das ein Traum?
Möglicherweise war aber auch Daevabad ein Traum gewesen. Ein Albtraum. Denn es war weitaus wahrscheinlicher, dass sie als Mensch in Kairo lebte, als arme Diebin und Betrügerin, die ihre eigenen Ränke schmiedete, denn als jemand, der die vergangenen sechs Jahre als zukünftige Königin eines verborgenen Dschinn-Königreiches zugebracht hatte.
Sie hätte sich das durchaus einreden können, wäre da nicht der keuchende, schwitzende und weiterhin leicht glühende Prinz gewesen, der vor Nahri trat und ihr den Blick auf die Umgebung versperrte. Dann war es also doch kein Traum – es sei denn, sie hatte einen Teil davon mitgenommen.
»Nahri«, flüsterte Ali. Seine Augen waren blutunterlaufen und verzweifelt, und Wasser lief ihm übers Gesicht. »Bitte sagt mir, dass ich mir das alles nur einbilde, Nahri. Bitte sagt mir, dass es nicht das ist, wonach es aussieht.«
Nahri war noch immer ganz benommen und spähte an seiner Schulter vorbei. Sie konnte den Blick nicht von der ägyptischen Landschaft abwenden, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Eine warme Brise spielte mit ihrem Haar, und zwei Honigsauger kletterten zwitschernd in einem dichten Busch herum, der ein zerbröckelndes Lehmziegelgebäude überwucherte. Es war Überschwemmungszeit, was sie, die lange in Ägypten gelebt hatte, anhand der überfluteten Flussufer und des Wassers, das um die Wurzeln der Palmen schwappte, sofort erkannte.
»Es sieht aus wie zu Hause.« Ihre Kehle war entsetzlich zugeschnürt, ihre Heilmagie aufgrund von Suleimans Siegel, das auf Alis Wange prangte, weiterhin blockiert. »Es sieht aus wie Ägypten.«
»Wir können nicht in Ägypten sein!« Ali machte einen Schritt nach hinten und ließ sich gegen die Reste der Innenmauer des Minaretts sinken. Sein Gesicht war gerötet, als hätte er Fieber, und von seiner Haut stieg eine träge Hitze auf. »W-wir waren doch eben noch in Daevabad. Ihr habt mich von der Mauer gezerrt … Wolltet Ihr …«
»Nein! Ich wollte nur weg von Manizheh. Ihr habt gesagt, der See wäre nicht länger verflucht, daher dachte ich, wir würden ans Ufer schwimmen. Ich konnte doch nicht damit rechnen, dass wir uns auf der anderen Seite der Welt wiederfinden!«
»Auf der anderen Seite der Welt.« Alis Stimme klang ganz hohl. »Großer Gott. Großer Gott! Wir müssen zurück. Wir müssen …« Seine Worte gingen in ein schmerzverzerrtes Zischen über, und er griff sich an die Brust.
»Ali?« Nahri legte ihm die Hände auf die Schultern. Aus der Nähe konnte sie erkennen, dass er nicht nur aufgebracht war – er sah krank aus und zitterte und schwitzte mehr, als es ein Mensch in den letzten Zügen der Tuberkulose tat.
Augenblicklich übernahm ihre Ausbildung das Kommando. »Setzt Euch«, befahl sie und half ihm, sich auf dem Boden niederzulassen.
Ali kniff die Augen zu und lehnte den Hinterkopf gegen die Wand. Es sah aus, als koste es ihn all seine Kraft, nicht laut zu schreien. »Ich glaube, es ist der Ring«, stieß er keuchend hervor und presste eine Faust an seine Brust – oder vielmehr an die Stelle über seinem Herzen, wo Suleimans Ring nun ruhen sollte, was Nahris Fingerfertigkeit in Daevabad zu verdanken war. »Er brennt.«
»Lasst mich mal sehen.« Nahri nahm seine Hand – sie war so heiß, dass sie das Gefühl hatte, in einen Kessel mit kochendem Wasser zu greifen – und zog sie von seiner Brust weg. Die Haut darunter sah vollkommen normal aus. Ohne ihre Magie war sie jedoch nicht in der Lage, ihn gründlicher zu untersuchen – Suleimans achtzackiges Zeichen leuchtete noch immer auf Alis Wange und verhinderte, dass sie ihre Kräfte einzusetzen vermochte.
Sie schluckte ihre Angst herunter. »Alles wird wieder gut«, behauptete sie. »Hebt das Siegel. Dann verschwindet der Schmerz und ich kann Euch besser untersuchen.«
Ali schlug die Augen auf, und in seine schmerzverzerrte Miene mischte sich Verwirrung. »Hebt das Siegel?«
»Ja, das Siegel, Ali«, wiederholte Nahri und kämpfte gegen die Panik an. »Suleimans Siegel. Ich kann keine Magie wirken, solange es so auf Eurem Gesicht leuchtet!«
Er holte tief Luft und sah von Minute zu Minute schlechter aus. »Ich … Gut.« Als er sie anschaute, schien es ihm schwerzufallen, sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. »Und wie mache ich das?«
Nahri starrte ihn an. »Was meint Ihr mit wie? Eure Familie ist seit Jahrhunderten im Besitz des Siegels. Wisst Ihr denn gar nichts darüber?«
»Nein. Nur der Emir darf …« Trauer übermannte Ali. »Oh Gott, Dhiru …«
»Ali, bitte!«
Da er ohnehin schon benommen war, schien ihn die Erinnerung an den Tod seines Bruders umso mehr aus der Bahn zu werfen. Ali sackte schluchzend gegen die Mauer und wimmerte Worte auf Geziriyya. Die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, hinterließen deutliche Spuren auf dem Staub und getrockneten Blut auf seiner Haut.
Das Zwitschern der Vögel drang an ihre Ohren, und die Brise ließ die Palmwedel über der zerstörten Moschee rauschen. Nahris Herz drohte zu zerspringen, denn die süße Erleichterung, wieder zu Hause zu sein, rang mit den albtraumhaften Erinnerungen an die Geschehnisse, die überhaupt erst dazu geführt hatten, dass sie hier gelandet waren.
Sie verlagerte das Gewicht auf die Fersen. Denk nach, Nahri. Denk nach. Sie brauchte einen Plan.
Aber Nahri konnte nicht klar denken, denn sie hatte noch immer den vergifteten Geruch von Muntadhirs Blut in der Nase und das Geräusch von Alis durch Manizhehs Attacke brechenden Knochen im Ohr.
Und sie sah noch immer Daras grüne Augen vor sich, der sie durch den zerstörten Palastkorridor flehentlich anschaute.
Nahri holte tief Luft. Magie. Sobald du deine Magie zurückhast, wird alles besser. Sie kam sich ohne ihre Fähigkeiten furchtbar verletzlich vor und auf eine Art und Weise schwach, wie sie es nie gekannt hatte. Ihr ganzer Körper schmerzte, und der metallische Blutgeruch schien in ihrer Nase zu haften.
»Ali.« Sie legte ihm die Hände an die Wangen und versuchte, die – selbst für einen Dschinn – erschreckend unnatürliche Hitze seiner klammen Haut zu ignorieren. Nachdem sie ihm die Tränen abgewischt hatte, brachte sie ihn dazu, dass er sie mit seinen blutunterlaufenen Augen ansah. »Ihr müsst einfach weiteratmen. Wir werden um ihn trauern, um sie alle, das verspreche ich Euch. Aber im Augenblick müssen wir uns konzentrieren.« Der Wind frischte auf und peitschte ihr das Haar ins Gesicht. »Muntadhir hat mir erzählt, dass es einige Tage dauern kann, bis man sich von der Inbesitznahme des Rings erholt hat«, fiel ihr wieder ein. »Vielleicht ist das normal.«
Ali zitterte so heftig, dass es aussah, als hätte er Krämpfe. Seine Haut hatte einen gräulichen Tonfall angenommen, und seine Lippen wurden immer rissiger. »Ich glaube nicht, dass das normal ist.« Dampf stieg wie eine feuchte Wolke von seiner Haut auf. »Er will Euch«, flüsterte er. »Ich kann es spüren.«
»Ich … ich konnte es nicht tun«, stammelte sie. »Ich konnte ihn nicht nehmen. Ihr habt doch gehört, wie Manizheh gesagt hat, dass ich eine Shafit bin. Wenn mich der Ring getötet hätte, wäre sie auf Euch losgegangen und hätte ihn an sich genommen. Das durfte ich nicht riskieren!«
Fast wie eine erboste Antwort leuchtete das Siegel auf seiner Wange noch heller auf. Während Ghassans Zeichen einer Tätowierung ähnlich gewesen war und auf der Haut nachtschwarz ausgesehen hatte, wirkte es bei Ali eher, als wäre es mit Quecksilber gemalt, und die helle Farbe spiegelte das Sonnenlicht wider.
Er schrie auf, als es heller leuchtete. »Oh Gott«, stieß er keuchend hervor und fummelte an den Klingen an seinem Gürtel herum – wundersamerweise hatten Alis Khanjar und Zulfiqar die Reise überstanden. »Ich muss es aus mir rausschneiden.«
Nahri nahm ihm die Waffen weg. »Habt Ihr den Verstand verloren? Ihr könnt Euch doch nicht das Herz herausschneiden!«
Ali erwiderte nichts. Auf einmal schien er gar nicht mehr dazu in der Lage zu sein, auf irgendetwas zu reagieren. Sein entrückter Blick ging ins Leere, und seine glasigen Augen machten ihr Angst. So etwas hatte sie schon viel zu oft bei Patienten sehen müssen, die viel zu spät in die Krankenstube gebracht worden waren.
»Ali.« Für Nahri war es schier unerträglich, ihm nicht einfach die Hände auflegen und den Schmerz nehmen zu können. »Bitte«, flehte sie. »Versucht einfach, das Siegel zu heben. So kann ich Euch nicht helfen!«
Er sah sie kurz an, und ihr wurde das Herz schwer – Alis Augen waren nun derart geweitet, dass die Pupillen das Grau beinahe verschwinden ließen. Er blinzelte, doch seine Miene ließ nicht erkennen, ob er ihre Bitte gehört hatte. Warum hatte sie Muntadhir nicht gründlicher über das Siegel ausgefragt? Er hatte ihr nur erzählt, dass man es aus Ghassans Herz schneiden und verbrennen müsse, dass der neue Ringträger einige Tage brauchen würde, um sich zu erholen, und dass …
Dass der Ring Daevabad niemals verlassen durfte.
Eiskalte Angst machte sich in ihrem Inneren breit, obwohl eine heiße Brise über ihre Haut strich. Nein,bittenicht!Das konnte nicht das sein, was hier passierte. Das war einfach nicht möglich. Nahri hatte Ali nicht einmal um Erlaubnis gefragt – er hatte sogar noch versucht, die Hand wegzuziehen, doch sie hatte ihm den Ring trotzdem auf den Finger gedrückt. In dem verzweifelten Versuch, ihn zu retten, waren ihr seine Wünsche vollkommen gleich gewesen.
Und jetzt hast du ihn dadurch vielleicht umgebracht.
Der sengende Wind wehte ihr das Haar aus dem Gesicht, und Sand peitschte über ihre Haut. Plötzlich stürzte einer der schwankenden Bäume innerhalb der zerstörten Moschee lautstark zu Boden, und Nahri schrak zusammen und merkte erst jetzt, dass die Luft heißer geworden war und dass der Wind jaulend um sie herumpfiff.
Sie blickte auf.
In der Wüste jenseits des Nils zeichneten sich orangefarbene und grüne Wolken am blassen Himmel ab. Vor Nahris Augen verschwand die glitzernde Helligkeit des Flusses und machte einem dumpfen Grau Platz, als die Wolken die sanfte Dämmerung verdrängten. Sand wirbelte über den felsigen Boden, Äste und Blätter sausten durch die Luft.
Der Anblick erinnerte sie an den Sturm, der Dara zu ihr gebracht hatte. Früher einmal hätte Nahri diesen Gedanken als tröstlich empfunden. Heute bekam sie nur noch größere Angst und richtete sich zitternd auf, wobei sie Alis Zulfiqar fest umklammerte.
Mit einem Jaulen kam der sandige Wind näher. Nahri schrie auf und hob einen Arm, um ihr Gesicht zu schützen. Aber das war gar nicht nötig. Als sie weder durchgeschüttelt noch in Stücke gerissen wurde, schlug sie blinzelnd die Augen auf und stellte fest, dass Ali und sie in einem Trichter aus aufgewühltem Sand standen, einem schützenden Auge innerhalb des Sturms.
Sie waren nicht allein.
Ein dunkler Schatten lauerte dort, verschwand mit der Bewegung des Windes und tauchte wieder auf, als er am Rand des zerstörten Minaretts landete wie ein Raubtier, das die Maus im Loch erwischt hatte. Die Kreatur schien sich ihr in unvorstellbaren Einzelheiten zu enthüllen. Ein geschmeidiger gelbbrauner Körper, Muskeln, die unter bernsteinfarbenem Fell zuckten. Klauenbewehrte Krallen in der Größe ihres Kopfes und ein Schwanz, der wie eine Sense durch die Luft schnitt. Silbrige Augen in einem löwenhaften Gesicht.
Und Flügel! Beeindruckende schillernde Flügel, in denen sich alle Farben der Welt wiederfanden. Nahri hätte das Zulfiqar beinahe fallen lassen und stieß ein erschrockenes Keuchen aus. Sie hatte viel zu oft Abbildungen dieser Wesen gesehen, um nun leugnen zu können, was sich direkt vor ihr befand.
Es war ein Shedu, der nahezu mystische geflügelte Löwe, den ihre Vorfahren den Legenden zufolge in der Schlacht gegen die Ifrit geritten hatten und der noch lange, nachdem die geheimnisvollen Kreaturen verschwunden waren, ihr Symbol blieb.
Jedenfalls hatten alle geglaubt, die Shedu wären verschwunden. Doch die katzenartigen Augen waren nun auf Nahri gerichtet und schienen ihr Gesicht zu betrachten und sie zu mustern. Sie hätte schwören können, so etwas wie das Aufblitzen von Verwirrung darin zu sehen. Ebenso von Intelligenz. Tiefgründige, unbestreitbare Intelligenz.
»Hilf mir«, bettelte sie und fühlte sich dem Wahnsinn nahe. »Bitte.«
Der Shedu kniff die Augen zusammen, deren Silberton nahezu durchsichtig wirkte – wie die Farbe von glitzerndem Eis –, während er den Blick über Nahris Haut wandern ließ, das Zulfiqar in ihren Händen und den verletzten Prinzen zu ihren Füßen. Das Zeichen in Alis Gesicht.
Die Kreatur sträubte die Flügel wie ein unzufriedener Vogel und stieß ein dumpfes Knurren aus, das tief aus der Kehle kam.
Augenblicklich umklammerte Nahri das Zulfiqar fester, wenngleich es ihr gegen diese prachtvolle Bestie kaum helfen würde.
»Bitte«, versuchte sie es erneut. »Ich bin eine Nahid. Meine Magie funktioniert nicht, und wir müssen zurück nach …«
Der Shedu sprang vor.
Nahri warf sich zu Boden, doch die Kreatur sauste einfach über sie hinweg und tauchte das Minarett mit ihren schillernden Flügeln in Schatten. »Warte!«, rief Nahri dem Wesen hinterher, das in der goldenen Sandwoge verschwand. Der Sturm zog weiter und schien abzuflachen. »Warte!«
Doch der Shedu war bereits fort, hatte sich wie Staub im Wind aufgelöst. Im nächsten Moment war es, als hätte es nie einen Sturm gegeben, die Vögel sangen und der Himmel sah hell und blau aus.
Ali stieß einen Seufzer aus – einen Atemhauch, der klang, als wäre es sein letzter – und sackte in sich zusammen.
»Ali!« Nahri eilte an seine Seite und schüttelte ihn an der Schulter. »Wach auf, Ali! Bitte wach auf!« Sie überprüfte seinen Puls, wobei Erleichterung und Verzweiflung in ihr rangen, denn er atmete noch, aber sein Herz schlug sehr unregelmäßig.
Das ist deine Schuld. Du hast ihm den Ring auf den Finger gesteckt. Du hast ihn in den See gezogen. Nahri unterdrückte ein Schluchzen. »Du darfst nicht sterben. Hast du verstanden? Ich habe dir nicht ein Dutzend Mal das Leben gerettet, damit du mich hier im Stich lässt.«
Ihre wütenden Worte verhallten. Nahri konnte schreien, so viel sie wollte, doch sie hatte noch immer keine Magie und auch keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Sie wusste ja nicht einmal, wie sie hier gelandet waren. Notgedrungen stand sie auf und schaute zur Stadt hinüber. Zwar war sie keine Expertin, schätzte jedoch, dass sie Kairo mit dem Boot innerhalb weniger Stunden erreichen konnten. In der Nähe der Stadt befanden sich weitere Dörfer, umgeben von überfluteten Feldern und winzigen Booten, die über das Wasser glitten.
Nahri betrachtete die zerfallene Moschee ein weiteres Mal und das, was wie ein niedergebrannter Taubenschlag aussah. Die geborstenen Grundsteine ließen erkennen, wo einst möglicherweise Wohnhäuser gestanden hatten, entlang eines sich dahinschlängelnden überwucherten Pfads, der zum Fluss führte. Während ihr Blick über das zerstörte Dorf wanderte, konnte sie ein seltsames Gefühl der Vertrautheit nicht abschütteln.
Sie blickte auf den angestiegenen Nil hinaus. Kairo lag schimmernd in der Ferne, jenseits der mächtigen Pyramiden. Vom Shedu war nichts mehr zu sehen, und sie fand keinen Hinweis auf Magie, weder in der Luft noch in ihrem Blut.
Dieser Verlust machte sie wütend, und während sie die Pyramiden betrachtete, diese gewaltigen Monumente der Menschen, die schon uralt gewesen waren, bevor sie überhaupt von Daevabad hatte träumen können, brodelte ihr Zorn noch heißer in ihr auf. Sie hatte nicht vor, darauf zu warten, dass die magische Welt sie rettete.
Nahri hatte noch eine andere Welt.
* * *
Ali fühlte sich in Nahris Armen erschreckend leicht an, seine Haut an den Stellen, an denen sie die ihre berührte, kochend heiß, und es war, als wäre er schon zur Hälfte verbrannt. Dadurch fiel es ihr zwar leichter, den sehr großen Prinzen aus dem Minarett zu schleifen, doch Nahri empfand deswegen keinerlei Erleichterung, weil sie der schreckliche Verdacht quälte, dass das kein gutes Zeichen war.
Sobald sie im Freien waren, ließ sie ihn auf den Boden sinken und schnappte erst einmal nach Luft. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn, und als sie sich aufrichtete, knackte ihr Rückgrat.
Abermals überkam sie das seltsame Gefühl, diesen Ort längst zu kennen. Nahri blickte den Weg entlang und versuchte, die flüchtigen Fetzen dieser Vertrautheit zusammenzusetzen, was ihr jedoch nicht gelingen wollte. Das Dorf sah aus, als wäre es vor Jahrzehnten ausgelöscht und verlassen worden, und die Pflanzen hatten sich schon große Teile der Gebäude zurückerobert.
Es ist gewiss nur Zufall, dass zwei feuerblütige Dschinn von allen Orten in Ägypten durch Magie ausgerechnet in einem schaurigen, abgebrannten Dorf auftauchen.
Obwohl Nahri noch immer beunruhigt war, hob sie Ali wieder hoch und folgte dem Weg zum Fluss, als wäre sie ihn schon hundertmal gegangen. Sobald sie am Wasser angekommen waren, legte sie ihn ans Ufer.
Das Wasser kam sofort näher und überflutete das getrocknete Gras unter Alis reglosem Körper. Bevor sie reagieren konnte, wanden sich winzige Rinnsale um seine Gliedmaßen und fuhren wie wässrige Finger über seine Haut. Nahri wollte ihn wegziehen, doch dann seufzte Ali im Schlaf und seine Miene wirkte nicht mehr ganz so schmerzverzerrt.
Der Marid hat also rein gar nichts mit dir angestellt? Nahri erinnerte sich daran, wie Alis Zulfiqar auf einer Welle zu ihm gekommen war und wie er den Wasserfall in der Bibliothek gelenkt hatte, um den Zahhak zu besiegen. Welche Geheimnisse über seine Marid-Besessenheit verbarg er noch?
Und konnten ihnen diese Geheimnisse jetzt gefährlich werden? Ein fliegender Löwe, von dem jedermann dachte, er wäre längst ausgestorben, hatte eben nach ihnen gesehen. Würden als Nächstes etwa Flussgeister auftauchen?
Du hast keine Zeit, um all dem auf den Grund zu gehen. Ali war krank, Nahri verfügte nicht über ihre Kräfte, und wenn Manizheh irgendwie einen Weg fand, ihnen zu folgen, dann wollte Nahri auf keinen Fall ein leicht zu entdeckendes Ziel in einem verlassenen Dorf abgeben.
Gnadenlos führte sie eine Bestandsaufnahme ihrer Situation durch, verbannte jeglichen Gedanken an Daevabad und ging zu dem kalten Pragmatismus über, der ihr Leben schon immer bestimmt hatte. Es fühlte sich beinahe gut an, das zu tun. Hier gab es keine umkämpfte Stadt, keine berechnende Mutter, die eigentlich längst tot sein sollte, keinen Krieger mit flehenden grünen Augen. Nun ging es allein ums Überleben.
Ihre Besitztümer waren überaus armselig. Abgesehen von Alis Waffen, besaßen sie nichts als ihre verschlissene, blutgetränkte Kleidung. Im Allgemeinen trug Nahri in Daevabad derart viel Schmuck, dass man sich damit ein Königreich hätte kaufen können. Aber aus Respekt vor den Traditionen zu Navasatem, die schlichte Kleidung vorschrieben, hatte sie darauf verzichtet. Barfuß und in Lumpen war sie aus Kairo fortgebracht worden, und genauso kehrte sie zurück – und diese Ironie hätte sie durchaus amüsant gefunden, wäre ihr nicht eher nach Weinen zumute gewesen.
Schlimmer noch: Sie wirkten wie leichte Ziele. Ihre Kleidungsstücke mochten zerrissen sein, bestanden jedoch aus Dschinn-Stoffen und sahen demzufolge robust und luxuriös aus. Nahri und Ali wirkten auf den ersten Blick wie gut genährte und gepflegte Personen, und Alis glänzendes Zulfiqar war eindeutig als hervorragende Waffe zu erkennen, die sich eher für einen Krieger aus einem alten Epos eignete, als dass sie von einem menschlichen Reisenden getragen wurde. Ali und Nahri sahen eindeutig aus wie reiche Adlige, die sie ja auch waren, zwar schmutzig und mitgenommen, doch nicht mit einheimischen Bauern zu vergleichen.
Nahri betrachtete den Fluss und ging ihre Möglichkeiten durch. Bisher waren keine Boote vorbeigekommen, und das nächste Dorf war nur als Fleck in der Ferne auszumachen. Sie hätte es vermutlich in einem halben Tag erreichen können, aber Ali konnte sie unmöglich derart weit tragen.
Es sei denn, sie ging nicht zu Fuß. Nahri beäugte die umgestürzte Palme, während in ihrem Kopf eine Idee Gestalt annahm. Dann griff sie nach Alis Khanjar, da sie dessen Klinge für geeigneter hielt als die seines Zulfiqars.
Als sie den juwelenbesetzten Dolchgriff berührte, erstarrte sie. Das war nicht Alis Khanjar – diese Waffe gehörte seinem Bruder. Und wie alles, was Muntadhir gefiel, war auch dieser wunderschön und unfassbar kostbar. Der Griff bestand aus weißer Jade, war mit Gold umwickelt und mit Intarsien aus winzigen Saphiren, Rubinen und Smaragden versehen, die ein Blumenmuster bildeten. Nahri stockte der Atem, während sie den Wert des Khanjars berechnete und die wertvollen Edelsteine zählte. Sie zweifelte nicht daran, dass Muntadhir seinem kleinen Bruder die Waffe als Andenken gegeben hatte. Wahrscheinlich war es grausam, ohne Alis Erlaubnis auch nur darüber nachzudenken, sie zu Geld zu machen.
Was sie jedoch nicht davon abhalten würde. Nahri war eine Überlebende, und es wurde Zeit, genau das zu tun.
Sie benötigte den gesamten Vormittag, und die Stunden verstrichen in einem Nebel aus Trauer und Verbissenheit, wobei ihre Tränen ebenso flossen wie ihr Blut, wann immer sie sich in den Finger oder die Handgelenke schnitt, während sie ein behelfsmäßiges Boot aus zusammengebundenen Ästen baute. Es reichte gerade mal aus, um Alis Kopf und Schultern über dem hüfthohen Wasser zu halten, und als sie hineinwatete, saugte der Schlamm an ihren nackten Füßen und der Fluss zerrte an ihrem zerfetzten Kleid.
Gegen Mittag waren ihre Finger ganz taub, sodass sie das Floß nicht mehr festhalten konnte. Sie band sich mit Alis Gürtel daran fest, was ihr neue Prellungen und Schürfwunden einbrachte. Da sie andauernde körperliche Schmerzen nicht gewohnt war ebenso wenig wie die nicht heilenden Verletzungen und die brennenden Muskeln, schien ihr ganzer Körper sie anzuschreien, endlich damit aufzuhören.
Doch Nahri machte weiter. Sie sorgte dafür, dass jeder ihrer Schritte stabilen Halt fand. Denn wenn sie innehielt, verharrte oder untertauchte, würde sie möglicherweise nicht die Kraft aufbringen, um mühsam den nächsten Atemzug zu tun.
Die Sonne ging bereits unter, als sie das erste Dorf erreichte, und verwandelte den Nil in ein glänzend scharlachrotes Band und das dichte Grün an den Ufern in bedrohlich dornenbewehrte Schatten. Nahri mochte sich gar nicht ausmalen, wie beängstigend sie aussehen musste, und es erstaunte sie nicht im Geringsten, als zwei junge Männer, die ihre Fischernetze eingeholt hatten, mit überraschten Aufschreien zusammenzuckten.
Auf die Hilfe von Männern war Nahri allerdings gar nicht aus. Vier Frauen in schwarzen Gewändern holten gleich hinter dem Boot Wasser, und sie hielt direkt auf sie zu.
»Friede sei mit Euch, Schwestern«, stieß sie keuchend hervor. Ihre Lippen waren aufgerissen, und sie hatte schon seit Stunden den Geschmack von Blut auf der Zunge. Nahri streckte eine Hand aus, auf der drei winzige Smaragde lagen, die sie aus Muntadhirs Khanjar gelöst hatte. »Ich brauche eine Mitfahrgelegenheit nach Kairo.«
* * *
Nahri versuchte, wach zu bleiben, als der von einem Esel gezogene Karren in Richtung Stadt polterte, während die Nacht rasch anbrach und die Außenbezirke Kairos in Dunkelheit tauchte. Das erleichterte ihnen die Reise. Nicht nur, weil die schmalen Straßen relativ leer waren – die Einheimischen widmeten sich ihrer Abendmahlzeit, den Gebeten oder brachten die Kinder zu Bett –, sondern auch, weil sich Nahri im Moment nicht sicher war, ob ihr Herz den uneingeschränkten Blick auf ihre alte Heimat und die vertrauten Wahrzeichen im Licht der ägyptischen Sonne ertragen hätte. Das ganze Erlebnis war auch so schon surreal – der süße Duft des Zuckerrohrs, der am Boden des Karrens haftete, und die Wortfetzen aus ägyptischem Arabisch von Passanten, die an ihr Ohr drangen, standen in starkem Kontrast zu dem bewusstlosen Dschinn-Prinzen, der kochend heiß in ihren Armen lag.
Jedes Holpern jagte erneut Schmerz durch ihren geschundenen Körper, und Nahri bekam kaum mehr als ein Murmeln heraus, als der Fahrer des Wagens – der Mann einer der Frauen vom Fluss – von ihr wissen wollte, welche Richtung er einschlagen sollte. Nur mit Müh und Not schaffte sie es, nicht zusammenzubrechen. Zu behaupten, ihr Plan wäre armselig, grenzte noch an Untertreibung, und wenn sie scheiterte, hatte sie keine Ahnung, ob ihr überhaupt noch Möglichkeiten blieben.
Während sie gegen die Verzweiflung und Erschöpfung ankämpfte, öffnete sie die Hand. »Naar«, flüsterte sie und hoffte wider jegliche Hoffnung, als sie das Wort laut aussprach, wie Ali es sie einst gelehrt hatte. »Naar.«
Nicht der leiseste Hauch von Hitze, geschweige denn die Flamme, die sie nur zu gern heraufbeschwören wollte, stellten sich ein. Ihr kamen die Tränen, doch sie weigerte sich, sie zuzulassen.
Endlich erreichten sie ihr Ziel, und Nahri rutschte im Wagen herum, wobei ihre Gliedmaßen protestierten. »Kannst du mir tragen helfen?«, bat sie.
Der Fahrer sah sie verwirrt an. »Wen?«
Nahri deutete fassungslos auf Ali, der keine Armeslänge vom Fahrer entfernt lag. »Ihn.«
Der Mann zuckte zusammen. »Ich … Wart Ihr nicht allein? Ich hätte schwören können, dass Ihr allein gewesen seid.«
Sorge stieg in ihr auf. Nahri hatte zwar geglaubt, dass die meisten Menschen Dschinn nicht sehen konnten, insbesondere keine reinblütigen wie Ali, doch der Mann hatte ihr dabei geholfen, den Prinzen vor der Abreise in den Karren zu legen. Wie konnte er das in der Zwischenzeit vergessen haben?
Sie wusste zuerst nicht, was sie antworten sollte, und sah deutlich die hinter seinen Augen größer werdende Angst. »Nein«, antwortete sie dann. »Er war die ganze Zeit hier.«
Leise fluchend rutschte der Mann vom Rücken des Esels. »Ich habe meiner Frau gesagt, dass uns Fremde, die von diesem verfluchten Ort kommen, nichts angehen, aber sie wollte ja nicht auf mich hören.«
»Dann ist der Nil neuerdings verflucht?«
Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ihr seid nicht nur aus dem Nil gekommen, sondern auch aus der Richtung dieser … dieser Ruine.«
Nahri war zu neugierig, als dass sie sich die Frage verkneifen konnte. »Meinst du das Dorf im Süden? Was ist dort passiert?«
Der Mann erschauderte und zog Ali vom Wagen. »Es ist besser, nicht über solche Dinge zu sprechen.« Er zischte auf, als seine Finger Alis Handgelenk berührten. »Dieser Mann brennt ja förmlich. Wenn Ihr jetzt Fieber in unser Dorf gebracht habt …«
»Weißt du was? Ich kann ihn den restlichen Weg auch allein tragen«, behauptete Nahri betont fröhlich. »Danke!«
Grummelnd legte der Fahrer Ali in ihre Arme und wandte sich ab. Nur mit Mühe konnte sich Nahri unter der Last noch bewegen und schaffte es, sich Alis rechten Arm um den Hals zu schlingen, um den anstrengenden Weg in Richtung des kleinen Geschäfts am Ende der dunklen Gasse anzutreten – des kleinen Geschäfts, auf das sie ihre ganze Hoffnung setzte.
Die Glöckchen klingelten, als sie die Tür öffnete, und der vertraute Klang, zusammen mit dem Duft der Kräuter und Toniken, bewirkte, dass sie beinahe von ihren Gefühlen übermannt wurde.
»Wir haben geschlossen«, rief eine raue Stimme aus dem Hinterzimmer, und der alte Mann blickte nicht einmal von der Glasphiole auf, die er gerade füllte. »Kommt morgen wieder.«
Beim Klang seiner Stimme verlor Nahri den Kampf gegen die Tränen.
»Es tut mir leid«, schluchzte sie. »Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen sollte.«
Der ältliche Apotheker ließ die Glasphiole fallen. Sie zersprang auf dem Boden, was er jedoch gar nicht zur Kenntnis zu nehmen schien.
Yaqub starrte sie an und riss vor Erstaunen die braunen Augen auf. »Nahri?«
2
DARA
Es war wirklich schockierend, wie leicht er andere töten konnte.
Dara ließ den Blick über das zerstörte Geziri-Lager vor sich schweifen. Das sorgsam gepflegte Gelände, auf dem sich die öffentlichen Palastgärten befanden, war ein wunderschöner Ort und perfekt geeignet für die Ehrengäste eines Königs. Hoch aufragende Dattelpalmen aus ihrem Heimatland standen in riesigen Keramiktöpfen zwischen kleineren Obstbäumen, und glitzernde Spiegellaternen hingen über den mit bernsteinfarbenen Kieseln ausgelegten Wegen. Zwar war die Magie ebenso aus dem Lager wie aus ganz Daevabad verschwunden, doch die Seidenzelte glänzten dennoch im Sonnenlicht und das sanfte Blubbern des Wassers in den Brunnen durchbrach die Stille. Der Duft der Blumen und des Weihrauchs bildete einen scharfen Kontrast zum sauren Geruch des angebrannten Kaffees und verdorbenen Fleisches, der Mahlzeiten, die ruiniert worden waren, als die Speisenden unverhofft den Tod gefunden hatten. Selbstverständlich hing auch das schwerere Aroma von Blut in der Luft und ging von den Wolken aus kupferfarbenem Dunst aus, die noch in der Luft schwebten.
Aber Dara war derart an den Blutgeruch gewohnt, dass er ihn gar nicht mehr zur Kenntnis nahm.
»Wie viele?«, fragte er leise.
Der Diener, der neben ihm stand, zitterte so stark, dass man sich fragte, wie er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. »Mindestens eintausend, H-Herr. Sie waren Reisende aus dem südlichen Am Gezira und zu Navasatem in die Stadt gekommen.«
Reisende. Dara wandte den Blick von den Zelten und den Bäumen ab – einer traumhaften Umgebung für ein märchenhaftes Fest – und betrachtete die mit Blut getränkten Teppiche, aus denen sich winzige Flüsse in die umliegenden Gärten ergossen. Die Geziri-Reisenden – von denen viele nie zuvor in Daevabad gewesen waren, wie er vermutete, und erst vor Kurzem zum ersten Mal die berühmten Märkte und Paläste gesehen hatten – waren schnell, aber nicht augenblicklich gestorben. Viele hatten noch genug Zeit gehabt, um loszurennen, nur um auf den Wegen zusammenzusacken, sich den Kopf zu halten und ihr Leben auszuhauchen. Andere waren einander sterbend in die Arme gefallen, und Dutzende mussten bei einer Art panischer Stampede umgekommen sein, weil sie den kleinen Platz, auf dem Handwerkskünste zu bestaunen waren, schnellstmöglich zu verlassen suchten. Der Nebel, den Manizheh heraufbeschworen hatte, unterschied nicht zwischen Jung und Alt, Mann und Frau, sondern tötete alle mit derselben Gnadenlosigkeit. Junge Frauen in bestickten Kleidern, alte Männer mit Lauten in den Händen, Kinder, die sich an klebrigen Süßigkeiten erfreut hatten.
»Verbrennt sie«, befahl Dara leise. Er hatte es heute noch nicht über sich gebracht, die Stimme zu erheben, denn er befürchtete, die Fassung zu verlieren, wenn er dem Teil von sich, der schreien oder sich in den See werfen wollte, auch nur ein bisschen Raum ließ. »Zusammen mit allen anderen Geziri-Leichen im Palast.«
Der Diener zögerte. Er war ein Daeva und fürchtete den Schöpfer, was das Aschezeichen auf seiner Stirn bezeugte. »Sollten wir … sollten wir nicht wenigstens versuchen, herauszufinden, wer sie sind? Es kommt mir nicht richtig vor …«
»Nein.« Bei Daras knappem Einwurf zuckte der Mann zusammen, und Dara versuchte, es ihm zu erklären. »Es wäre besser, wenn die tatsächliche Opferzahl nicht bekannt würde, falls wir sie später noch anpassen müssen.«
Bei diesen Worten erbleichte der Diener. »Da sind auch Kinder.«
Dara räusperte sich, da es ihm auf einmal die Kehle zuschnürte. Er sah den Diener direkt an und gab ihm wortlos zu verstehen, dass es keinen Raum für Diskussionen gab. »Sucht einen ihrer Priester, damit er für sie betet. Und dann verbrennt sie.«
Der Diener schwankte leicht. »Wie Ihr befehlt.« Er verbeugte sich und huschte von dannen.
Abermals wandte sich Dara den Toten zu. Es war vollkommen still in diesem verdammten Garten, und die erdrückende Luft gab ihm das Gefühl, in einem Grab zu stehen. Die Palastmauern ragten hoch über ihm auf, deren Höhe durch seine Magie verdreifacht worden war. Dasselbe hatte er im ganzen Daeva-Viertel getan und den Tumult ausgenutzt, um seinen Stamm gründlich vom Rest der Stadt abzuriegeln. Heute hatte er mehr Magie gewirkt als jemals zuvor und sich nicht einmal darum geschert, dass er in seiner feurigen Gestalt bleiben musste, um nicht an Kraft zu verlieren.
Als er auf die ermordeten Geziri herabblickte, war er froh, denn wenn ihre Verwandten auf der anderen Seite der Stadt den Dunst überlebt hatten, bezweifelte Dara nicht, dass sie trotz der verlorenen Magie auf Rache sinnen würden.
Teufel, flüsterte eine Stimme in seinem Verstand, während er sich auf den Rückweg zum Palast machte. Sie klang ganz wie Nahri. Mörder.
Geißel.
Er verdrängte diese Stimme. Dara war die Waffe der Nahid, und Waffen hatten keine Gefühle.
Die Flure waren verlassen, und seine Schritte hallten von den uralten Steinen wider – die nun größtenteils Risse durch das Erdbeben aufwiesen, das die Stadt erschüttert hatte, als ihr die Magie entrissen worden war. Die Dschinn, die dem Palastkomplex nicht hatten entrinnen können, waren zusammen mit den Daeva, die sie beschützten, in die zerstörte Bibliothek verfrachtet worden. Viele von ihnen waren unbedeutend – blutende Gelehrte und Beamte, jammernde Haremsdamen und verschreckte Shafit-Diener –, doch inmitten der Gruppe hatte Kaveh auch mehrere Dutzend Adlige entdeckt: Männer und Frauen, die nützliche Geiseln abgaben, falls andere Angehörige ihres Stammes aufmüpfig wurden. Auch eine Handvoll Geziri hatte überlebt, die wenigen, die es abgesehen von Muntadhir geschafft hatten, ihr Relikt rechtzeitig abzulegen.
Dara ging weiter. Das sind die Korridore, in denen deinen Worten zufolge Feierlichkeiten stattfinden würden, nicht wahr? Musik und Freude: der Sieg, den du deinen jungen Kriegern versprochen hattest, die nun erschlagen am Strand liegen, wo sie verrotten werden. Den Kriegern, die dir vertraut haben.
Er kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Hitze durch seine Gliedmaßen jagte. Als er ausatmete, drang rauchende Glut aus seinem Mund, und als er die Augen aufschlug, sah er Flammen auf seinen Handflächen züngeln. Hatte ihn der Qahtani-Emir nicht beschuldigt, in die Hölle zu gehören? Möglicherweise war sein momentanes Erscheinungsbild ja durchaus passend.
Dara konnte die Schreie der Verletzten aus der Krankenstube schon hören, als die dicken Holztüren noch nicht einmal in Sichtweite waren. Darin herrschte organisiertes Chaos. Manizheh mochte ihre Heilmagie verloren haben, doch sie hatte auf ihre energische Art das Kommando übernommen und eine Gruppe zusammengestellt, die ihr zur Seite stand, zu der auch die Anhänger aus ihrem Lager im nördlichen Daevastana gehörten, Diener, die mit Nahri in der Krankenstube gearbeitet hatten, mehrere Näherinnen, die ihre Talente nun an Haut und Fleisch erprobten, sowie eine Hebamme, die aus dem Harem hergebracht worden war.
Nun erblickte Dara sie auf der anderen Seite des Raumes und stellte betrübt fest, dass die wattierte Rüstung, die sie auf sein Beharren hin während des Angriffs getragen hatte, leichterer Kleidung gewichen war, die zuvor jemand anderem gehört haben musste; jetzt trug sie eine Männertunika und eine blutbeschmierte Schürze, in deren Tasche allerlei Werkzeuge steckten. Ihr von Silberfäden durchzogenes schwarzes Haar war zu einem hastigen Knoten hochgesteckt, und einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht, als sie sich über ein weinendes Daeva-Mädchen beugte.
Dara trat zu ihr, warf sich auf den Boden und presste die Stirn auf die Fliesen. Diesen offenkundigen Gehorsam legte er mit Absicht an den Tag. Angesichts einer unvollständigen Eroberung und einer verängstigten Stadt, der die Magie genommen worden war, erschienen die Spannungen zwischen ihnen plötzlich belanglos. Er hätte es nicht gewagt, ihr in der Öffentlichkeit zu widersprechen – das Volk musste den Eindruck gewinnen, dass ihre Herrschaft absolut war.
»Banu Nahida«, intonierte er.
»Afshin.« In ihrer Stimme schwang Erleichterung mit. »Erhebt Euch. Mir wäre es lieber, wenn wir vorerst auf Verbeugungen verzichteten.«
Er tat, was sie verlangte, behielt jedoch einen formellen Tonfall bei. »Ich habe getan, was ich konnte, um das Daeva-Viertel und den Palast vom Rest der Stadt abzuriegeln. Es würde mich wundern, wenn die Dschinn über Ressourcen verfügten, mit denen sie die Mauern in nächster Zeit zu überwinden vermögen, und falls sie es versuchen sollten, ständen Bogenschützen und Vizaresh bereit.«
»Gut.« Sie wandte sich einem Mann in einiger Entfernung zu. »Habt Ihr die Säge gefunden?«, rief sie.
Der Daeva eilte herbei. »Ja, Banu Nahida.«
»Eine Säge?«, wiederholte Dara.
Manizheh deutete mit dem Kopf auf die Patientin vor ihr. Das Mädchen war jung und kniff die Augen zu, denn die Verletzung musste sehr schmerzhaft sein: ein grässlicher Biss in den Arm. Das umliegende Fleisch war rot angelaufen und stark geschwollen.
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