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Ein Mensch. Ein Monster. Eine verborgene Bestimmung. Die Insel der Menschen bietet Schutz vor dem Imperium der Völker - einem Reich voller Monster, Dämonen und verborgener Magie. Doch als Ory von ihresgleichen verraten und verstoßen wird, strandet sie ausgerechnet an diesem gefürchteten Ort. Bald erkennt sie, dass nicht alle Legenden über das Imperium wahr sind - doch einige sind weitaus grausamer, als sie es sich je hätte vorstellen können. Kar, der grausame Kommandant der Verschollenen, kennt nur eine Pflicht: sein Volk vor dem Untergang zu bewahren. Als die Menschenfrau Ory in seine Welt eindringt, hält er sie für eine Bedrohung. Doch in ihr schlummert eine geheime Gabe, eine Macht, die über das Schicksal seines Volkes entscheiden könnte. Während zwischen ihnen eine gefährliche Anziehung wächst, muss Kar sich fragen: Ist Ory seine Feindin - oder die einzige, die ihn retten kann? "Die Verschollenen" ist der erste Band der "Imperium der Völker"-Reihe; eine Geschichte voller magischer Kräfte, dunkler Geheimnisse und einer Liebe, die das Schicksal eines ganzen Reiches besiegeln könnte.
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Seitenzahl: 419
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für all diejenigen, die aufgrund ihrer Herkunft verfolgt werden.
Kapitel 1
Ory
Kapitel 2
Ory
Chu
Ory
Chu
Ory
Kapitel 3
Ory
Chu
Kapitel 4
Amo
Ory
Kapitel 5
Ory
Kar
Ory
Amo
Kapitel 6
Ory
Kar
Amo
Kar
Kapitel 7
Ory
Kar
Ory
Kapitel 8
Lotai
Amo
Ory
Kar
Ory
Kapitel 9
Ory
Ory
Kapitel 10
Kar
Ory
Kar
Ory
Kapitel 11
Ory
Amo
Ory
Kar
Ory
Amo
Kapitel 12
Ivy
Kar
Amo
Ory
Ory
Kapitel 13
Lotai
Ory
Kapitel 14
Chu
Amo
Kar
Kapitel 15
Ory
Kar
Amo
Ory
Kapitel 16
Amo
Kar
Ory
Kapitel 17
Kar
Ory
Lotai
Ory
Kapitel 18
Kar
Kapitel 19
Ory
Kar
Kapitel 20
Ory
Kar
Kapitel 21
Ivy
Ory
Kar
Kapitel 22
Ory
Amo
Ory
Kapitel 23
Amo
Lotai
Kapitel 24
Kar
Ory
Kapitel 25
Amo
Kar
Kapitel 26
Ory
Lotai
Kar
Ory
Kapitel 27
Ory
Kar
Amo
Ory
Amo
Kapitel 28
Lotai
Kar
Ory
Amo
Kapitel 29
Lotai
Kar
Ory
Amo
Kapitel 30
Ory
Kar
Ivy
Ory
Amo
Hya
Epilog
Kar
Mein Magen knurrte nicht mehr. Er wusste, dass er nichts bekommen würde. Ich sah einen Wassertropfen an einem der Stäbe meines Käfigs hinuntergleiten. Ich drehte meinen entkräfteten Körper so, dass ich ihn mit dem Mund erreichte. Er zerfloss auf meiner Zunge, bevor er den Durst stillen konnte.
Der Gestank des Mannes neben mir brannte in meiner Nase. Oder war es mein eigener Körper, der so roch?
Jeder, der auf diesem Schiff gefangen war, roch nach Verzweiflung und Tod. Vor Tagen hatten wir an der Letzten Hoffnung abgelegt. Ich vermisste meine Heimat. Die Insel der Menschen.
„Hey Mädchen. Zeig mir, was du hast, dann sterb ich als glücklicher Mann.“
Die Zähne des Gefangenen waren braun gefärbt, und ich roch die Fäule aus seinem Mund. Ich kroch auf die andere Seite meines winzigen Gefängnisses. Sein hysterisches Lachen hing in der Luft, als sich die Tür zum Deck knarzend öffnete. Soldaten strömten hinein. Sie marschierten geradewegs auf unsere Kerker zu.
„Na, alle bereit, heute zu sterben?“
Ich kroch weiter in meine Zelle hinein, als mein Käfig mit einem großen Schlüssel geöffnet wurde. Der Soldat griff ohne ein weiteres Wort nach mir.
„Tun Sie das nicht! Bitte, ich bin krank, ich habe nichts verbrochen!“
Ich trat nach dem Mann. Ein erbärmlicher Versuch, meinem Schicksal zu entkommen.
„Schluss jetzt. Komm raus da!“
Ich schluchzte so heftig, dass mir die Rotze aus der Nase lief. Ich nahm kaum etwas wahr, außer der groben Hand des Soldaten, die sich um meinen Arm schlang. Unnachgiebig wurde ich aus dem Käfig gezogen. Der Mann war nicht viel größer als ich. Er hatte dunkles, gepflegtes Haar und einen plumpen Körperbau. Die schwieligen Finger des Soldaten bohrten sich in meine Muskeln, als ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden. Die Planken über uns ließen nur wenig Licht in den düsteren Raum. Es reichte, um sein verschmitztes Grinsen zu erkennen. Er zog mich mit sich. Mein Herz donnerte heftig gegen meine Brust und mein Atem kam stoßweise und abgehakt.
„Ich habe nichts getan“, schrie ich erneut.
In meinen Ohren rauschte es so laut, dass die Schreie der anderen Gefangenen darin erstarben. Ich sah, wie sie sich wehrten, als sie aus ihren Käfigen gezerrt wurden. Von der Decke hingen Seile herab, die vom Moos grün gefärbt waren. Ich griff mit meiner freien Hand nach einem Seil. Es rutschte mir durch die Finger. Immer weiter zerrte mich der Soldat. Meine Füße trafen auf verrostete Metallketten am Boden, die mit dicken Säcken beschwert wurden. Ich wusste weder, was sich in den Bündeln befand, noch, wozu die Ketten und Seile dienten. Nie zuvor war ich auf einem Schiff gewesen und ich wünschte, ich wäre es auch jetzt nicht. Mein Zimmer auf der Letzten Hoffnung blitzte vor meinem inneren Auge auf. Die seidigen Laken, die weiche Matratze und die kleine Pflanze auf dem Nachttisch, der ich jeden Tag einen Schluck Wasser in die Erde schenkte. Und Lio. Ich schluchzte heftig. Lio, der mich morgens vom Fenster aus weckte. Mit seiner schrecklichen Heiterkeit und dem breiten Grinsen, das seine Augen leuchten ließ.
Meine Beine suchten Halt, als der Soldat meinen strampelnden Körper mit Leichtigkeit über die Planken zog. Der Geruch von Meerwasser und Fisch hing in der Luft.
„Mir ist egal, was du angestellt hast. Wer auf dieses Schiff gebracht wird, endet als Fischfutter.“
Die Waffe des Soldaten hing griffbereit an seinem braunen Ledergürtel der adretten Marineuniform. Es war ein kleines, aber effektives Model, das mit einem schlichten Holzgriff ausgestattet war und auf kurze Distanz die höchste Treffsicherheit garantierte. Es wäre ein Leichtes für mich gewesen, meine geschickten Finger zu nutzen, um den Halfter zu lösen. Er würde nicht ein Mal merken, dass ihm seine Waffe fehlte. Ich würde sie an mich nehmen und dann ... was? Es würde mir nichts nützen. Ich war auf einem Schiff voller Soldaten, Kriminellen und Ausgestoßenen gefangen. Selbst wenn ich mich aus dem Griff des Mannes befreite, würde ich nicht weit kommen. Bevor ich den Gedanken zu Ende dachte, stieß mir der Soldat so heftig in die Seite, dass mir die Luft wegblieb.
Wir waren zwei Tage lang gesegelt, was bedeutete, dass wir uns auf hoher See aufhielten. Oder vor dem Kontinent. Mir lief ein Schauer über den Körper.
„Jetzt beweg dich endlich. Wir sind zu nahe. Ich will zurück auf die Insel. Ich gönn mir nach dieser Fahrt erst mal einen Besuch bei den Huren.“
Die anderen Soldaten stimmten in das Lachen meines Peinigers ein.
Er stieß mich immer weiter voran. Ich flog durch eine Tür hindurch, die auf das Deck führte. Eine Meeresbrise fegte mir ins Gesicht und zerzauste mein verfilztes Haar. Die Sonne blendete mich nach Tagen unter Deck. Meine Augen stachen und brannten, doch ich zwang sie, aufzubleiben. Ich hatte mich kaum an das Licht gewöhnt, da flog ich mit einem Ruck nach vorne, als ein anderer Gefangener von hinten an mich geworfen wurde. Nur mit Mühe hielt ich meine Balance. Schon prallte der nächste Todgeweihte an uns. Ein großer Mast ragte in der Mitte des Schiffes in die Höhe. Daran ruhten imposante Segel. Keine Wolke war am Himmel zu sehen. Das Deck war in tadellosem Zustand, ich sah Eimer und Schrubber in den Transportkisten hin und her schlagen und erst jetzt wurde mir bewusst, dass das ganze Schiff wankte. Die Soldaten an Deck schienen unbeeindruckt von dem unruhigen Seegang. Es waren mindestens ein Dutzend Mann. Sie hielten ihre Waffen am Anschlag: Säbel, Schusswaffen, Dolche. Alles, um uns zu zeigen, dass wir keine Chance gegen sie hatten. Ein Knall ließ mich zusammenfahren. Die Tür war zugeschlagen worden. Ich zitterte am ganzen Leib, obwohl die Luft trotz des Windes warm war. Ich blickte ungläubig in die Gesichter der Soldaten. Einige schauten ernst, andere grinsten wissend. Was würde jetzt mit uns geschehen? Ich riss mich zusammen, um mich nicht zu übergeben. Wobei nach zwei Tagen auf See nichts mehr in meinem Magen vorhanden war, dass sich auf dem polierten Deck hätte ergießen können.
Ein Mann erschien auf der Treppe, die zum Oberdeck des Schiffes führte. Seine Uniform war aufwändig verziert. Der Kapitän.
„Hiermit vollstrecken wir die Strafe der Letzten
Hoffnung.“
Seine Stimme war dunkel und tief, wie ein Donnergrollen. Eine Vorwarnung auf das, was geschehen würde. Ein Walross in Gestalt eines Mannes, dachte ich.
„Ihr alle habt Schande über euch, das Volk der Menschen und unsere Insel gebracht. Möge die See gnädig sein und eure Seelen ihre ewigen Strafen erhalten.“
„Du da!“
Ein Soldat mit silbernem Säbel und rostbraunen Haaren zeigte auf den Gefangenen neben mir. „Du zuerst. Ab mit dir über Bord.“
Die anderen Soldaten grölten und johlten und stampften auf die Planken des Decks, das im Rhythmus ihrer Stöße vibrierte. Schon griffen Hände die Lumpen des jungen Mannes und zerrten ihn zu einer Aussparung in der Reling. Ich sah das tosende Meer dahinter.
„Bitte, ich habe Frau und Kinder! Wer wird für sie sorgen! Bitte, ich flehe sie an! Sie werden verhungern, wenn ich nicht –“
Der Soldat trat dem Bettler mitten ins Gesicht und Blut spritzte in alle Richtungen. Ich fiel auf alle Viere und würgte Magensäure auf die Planken. Der Mann schrie und riss an dem eisernen Griff der Soldaten, doch sie schoben ihn immer weiter in Richtung seines Todes.
„Nein, bitte! Nein!“
Er kämpfte und fauchte und spukte um sich. Ein Schuss zerteilte die Luft. Der Mann sackte zusammen. Die Soldaten schmissen seinen geschundenen Körper gelangweilt über Bord. Ich hörte das leise Platsch, mit dem die Leiche das Wasser teilte.
Der Mann neben mir schrie so laut, dass meine Ohren klingelten. Eine Frau mit Geschwüren im Gesicht fiel auf die Knie und betete zu einer Gottheit, die ihr an diesem Ort kaum helfen würde. Der alte Gefangene, der im Käfig neben mir festgehalten wurde, lachte hysterisch und rannte auf einen Soldaten zu, der ihm sein Kurzschwert in den Bauch rammte.
Die Soldaten, die an der Reling gestanden hatten, kamen mit ihren Säbeln und Schusswaffen immer näher. Sie kesselten uns ein. Mein Blick huschte panisch umher.
Weg, weg, ich musste hier weg. Doch wir waren umgeben von See. Todbringender See. Ich rührte mich nicht. Die Gewissheit überzog mich mit eisiger Klarheit. Ich würde sterben. Ich würde Lio nie wieder sehen. Ich hätte ihm sagen sollen, wie wichtig er mir war. Dass er das Einzige in meinem Leben war, das mir etwas bedeutete. Tränen rannen mir über die verdreckten Wangen. In meinem Kopf brummte es und Nebel umwarb mein Gehirn.
Nein, nein, nein, nicht jetzt. Ich konnte nicht ausgerechnet jetzt einen Anfall bekommen. Mein Kopf knallte auf den Holzboden und ich wurde blind vor dröhnendem Schmerz. Ich hatte keinen Trank, nichts, was mir half den Anfall zu stoppen. Ruckartig wurde mein Kopf herumgerissen. Der Soldat mit dem Dolch hatte meine Haare gegriffen und zog mich wie einen Sack Mehl über den Boden. Panisch flogen meine Hände zum Griff des Henkers. Ich riss Hautfetzen von seiner Hand und er fluchte, ließ mich jedoch nicht los. Ich schrie und strampelte mit den Beinen. Der Schmerz an meiner Kopfhaut war nichts im Vergleich zu der Hölle in meinem Schädel.
Plötzlich ließ der Soldat von mir ab und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, mir wäre Gnade gewährt worden. Doch schon versetzte er mir einen heftigen Tritt in den Rücken und ich fiel in die Tiefe.
Das eisige Wasser schlug über mir zusammen, schockte meinen Körper. Wie Nadeln durchdrang die Kälte meine Haut. Ich fiel in eine Stille, die tiefer war als alles, was ich je erlebt hatte. Als hörte das Universum auf zu existieren. Mein Schädel brummte nicht mehr, als hätte das Trauma ihn zum Schweigen gebracht. Das Gefühl der Schwerelosigkeit durchfuhr mich. Ich empfand für einen kurzen Moment Frieden.
Im nächsten Augenblick fingen meine Lungen Feuer. Der Druck in meiner Brust breitete sich aus und ich riss die Augen in panischer Verzweiflung weit auf. Meine Sicht war verschwommen und das Salz stach in meinen Augen. Ich erkannte die Sonne, die wie ein Mahnmal über der Meeresoberfläche leuchtete. Ich schwamm. Höher und höher, bis mein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Panisch zog ich rettende Luft in meine Lungen und der Druck in meiner Brust ließ nach. Ich sah das Schiff, das über mir aufragte und vereinzelte Gestalten im Wasser treiben. Um uns herum war nichts als Meer. Von Nord nach West und Süd und Ost. Ich sah von Horizont zu Horizont blaue raue See.
Das Schiff fuhr mit geblähten Segeln und rasender Geschwindigkeit davon. Verzweifelt strampelte ich mit den Armen in Richtung des Schiffes.
Bitte, flehte ich leise. Bitte, nehmt mich wieder mit!
Das passierte nicht wirklich. So konnte ich nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht heute, in diesem Moment. Ich ließ den Blick erneut schweifen und erkannte, dass einige Gestalten vom Meer verschluckt worden waren. Andere kämpften strampelnd um ihr Leben.
Das Schiff hatte fast den Horizont erreicht. Mein Kopf drehte sich und ... dort, in nördlicher Richtung, erschien das Meer heller, freundlicher. Das Blau des Wassers war das gleiche und doch, erschien mir dieser Weg auf unerklärliche Weise wie die Rettung. Ein Funken Hoffnung blühte in mir auf. Ich begann zu schwimmen.
Ich kämpfte gegen die raue See, die an mir riss und mich in ihre Tiefe zog. Meine Lunge brannte. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung. Ich hatte das Gefühl, als würde ich gegen eine Mauer schwimmen. Als bewegte sich mein Körper kaum voran. Als wäre jeder Zug umsonst. Die Weite war so bedrückend, dass ich mich fragte, ob ich aufgeben sollte. Einfach still halten, bis mich die Tiefe vollständig verschlang. Doch ich war nicht bereit zu sterben. Solange mein Herz schlug, würde ich kämpfen. Meine Muskeln ächzten von der Anstrengung und ich atmete schwer ein und aus. Das salzige Wasser stach mir in die Augen und brannte in meiner Nase. Ich wusste nicht, wie lange ich schwamm. Es hätten Minuten oder Stunden sein können. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel und brannte auf mich nieder. Für einen Moment gestattete ich mir, mich umzublicken. Das gewaltige Schiff, das mich so mitleidslos meinem Schicksal überlassen hatte, war nicht mehr zu sehen. Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich war allein, umgeben von nichts als Meer. Ich würde in diesen Wellen verschwinden und nie wieder auftauchen. Oder eine Bestie würde sich aus der Tiefe erheben und mich mit einem Bissen verschlingen.
Nein, ich durfte nicht daran denken.
Ich richtete meinen Blick wieder auf den Horizont, der mir lächerlichen Trost schenkte und schwamm weiter. Die Bewegungen fielen mir immer schwerer und meine Schultern verkrampften sich. Das Gefühl, gegen eine Mauer zu schwimmen, verstärkte sich. Als würde mein Kopf, meine Arme, mein ganzes kümmerliches Wesen, zurückgedrängt werden. Doch ich kämpfte dagegen an und drang immer weiter vor, bis ich, wie an einem unsichtbaren Band gezogen, nach vorne schnellte. Die Kraft war so gewaltig, dass mein Kopf unter Wasser geriet. Keuchend schnappte ich nach Luft. Ich blinzelte das Salz aus meinen Augen und erstarrte. Vor mir lag Land. Eine Küste erstreckte sich nicht allzu weit von mir entfernt. Mein Inneres tanzte und ich schwamm mit einer Energie, von der ich nicht gedacht hätte, dass ich sie noch besaß. Immer weiter kämpfte ich mich in Richtung des rettenden Ufers.
Verdammt. Warum hielten Vögel nie still, damit ich sie zeichnen konnte?
Die Möwe vor dem Fenster meines Wachpostens pickte ein weiteres Mal, bevor sie ihre Flügel spannte und sich mit zwei festen Schwüngen in den Himmel erhob. Ich seufzte und warf den Stift auf den Zeichenblock vor mir. So eine Scheiße. Ich würde weiter das Meer malen. Man konnte nie genug Bilder vom Meer haben, oder? Ich ließ meinen Kopf auf die Arme sinken. Seit Wochen war ich schon hier stationiert. Dieser Außenposten war der reinste Dreck. Ich hatte mir ausgemalt, dass mein erster Auftrag als Offizier mich an die andere Seite des Imperiums bringen würde oder in die belebten Straßen von Mhios. Nicht an diesen heldenverlassenen Ort. Alles, was es hier zu sehen gab, war Meer, Möwen und ab und an einen Seehund, der sich in der Sonne räkelte. Die Langeweile zerfraß mich. Ich beschloss, mit der Inspektion der Insel zu beginnen, bevor ich einschlief.
Ich erhob mich aus dem unbequemen Stuhl und richtete meine Uniform. Aber ... was war das? Ich griff zu dem Fernglas neben mir. Durch die Gläser suchte ich nach dem Fleck vor der Küste, der mir soeben ins Auge gesprungen war.
Bei den Helden, das konnte nicht wahr sein. Dort schwamm eine Gestalt im Wasser. Ich warf das Fernglas zur Seite und eilte zur Treppe, deren abgenutzte Stufen zum Strand führten. Aufregung durchflutete mich. Ich nahm mehrere Stufen auf ein Mal und landete mit einem Satz auf dem Sand. Meine festen Stiefel bohrten sich in den Untergrund. Verflucht. Woher war dieses Geschöpf gekommen? Der Posten, auf dem ich stationiert war, zeigte in Richtung der Insel des menschlichen Volkes. Sie lag jedoch meilenweit entfernt und selbst wenn ein Schiff so weit hinaussegeln würde, hätte der Schutzwall um unser Land es nicht hindurch gelassen. Diese Insel, so klein und unbedeutend sie sein mochte, gehörte zum Volk der Verschollenen. Meinem Volk. Wenn dieses Geschöpf durch den Schutz gekommen war, verhieß das nichts Gutes.
Meine Hand flog zu dem Dolch an meinem Gürtel. Die Gestalt strampelte und hatte Mühe, sich über Wasser zu halten. Ich ließ die Hand sinken und trat einen Schritt nach vorne. Meine schweren Stiefel teilten das Wasser. Das Wesen war nun so nahe, dass ich schwarzes Haar, weiche, erschöpfte Gesichtszüge und einen schmalen Körper erkannte. Ich hielt Ausschau nach einem Hinweis dafür, dass sie eine grausame Gestalt war, fand jedoch nichts. Nur Verzweiflung und den Willen zu überleben. Ich atmete tief durch und stürzte mich in die Flut. Das Meer war eisig. Es zerrte an meinen Kleidern. Es brauchte nur ein Dutzend Züge und ich war bei ihr. Ihre dunklen Augen weiteten sich, als sie mich sah.
„Bitte“, flehte sie.
Es war nur ein Flüstern. Ich fasste um ihre Brust, drehte sie auf den Rücken und schwamm zum Ufer. Verflucht, sie war schwer. Ihre Kräfte schienen sie völlig verlassen zu haben. Wie eine lebensechte Puppe hing sie in meinen Armen.
Ich zog sie auf den Sand, weit genug, sodass das Wasser sie nicht erreichte, und trat weg von ihr. Sie keuchte und rang nach Luft, bevor sie einen Schwall Meerwasser erbrach. Ich zog den Dolch und hielt ihn einsatzbereit vor mich. Die nassen Haare klebten an meinem Gesicht und die Uniform hatte ihr Gewicht durch die Nässe verdoppelt.
„Wer seid ihr, verdammt?“, fragte ich, als sie ein wenig zu Atem gekommen war.
Sie antwortete nicht sofort. Ihr Blick zuckte von meinem Gesicht zum Dolch und wieder zurück. Ihre Kleidung war abgetragen und löchrig. Sie trug keine Schuhe und ich fragte mich, ob sie eine Waffe am Leib trug, die mir verborgen blieb.
„Danke.“
Es war nur ein Hauchen. Ein leises Röcheln.
„Bitte, tut mir nichts.“
Ich war bereit zum Angriff, doch sie sah jämmerlich aus, wie sie im Sand nach Luft schnappte.
„Das hängt davon ab, weshalb ihr hier seid und woher ihr kommt.“
„Vom Land ...“ Sie würgte erneut, fing sich aber schnell wieder. „Vom Land der Letzten Hoffnung.“
Das Blut wich mir aus dem Gesicht, als ich verstand, was sie da sagte.
„Verdammt! Das kann nicht sein. Das Land der Menschen ist zu weit weg.“
„Ein Schiff. Ich ... bin über Bord gegangen.“
Ich schluckte und trat näher, um sie genauer zu betrachten. Wie war das möglich? Es konnte nicht sein.
„Also seid ihr wirklich ein ...“ Ich schaffte es nicht, den Satz zu vollenden. Mit einem Flehen in den Augen sah sie mich an.
„Ja, ich bin ein Mensch.“
Ich gab mir alle Mühe, meinen rebellierenden Magen zu beruhigen. Das Salzwasser brannte in meiner Speiseröhre. In meinem Kopf drehte sich alles, doch ich bekam Luft. Ich lag auf weichem Sand. Auf festem Boden. Ich wusste nicht, ob ich es geschafft hätte, aus eigener Kraft das Ufer zu erreichen. Doch ich war am Leben. Dank dieses Mannes. Ich erinnerte mich nicht, jemals einen schöneren Mann gesehen zu haben. Kräftige Brauen lagen über mandelförmigen, ausdrucksstarken Augen, die mich ungläubig musterten. Seine dunklen Haare lagen in nassen Wellen um scharfe Kieferknochen, die fest zusammengepresst wurden.
„Menschen können diese Insel nicht erreichen.“
Ein Schauer erfasste meinen Körper, als mir klar wurde, was das bedeutete.
„Was seid ihr, wenn ihr kein Mensch seid?“
Meine Stimme zitterte.
Er hob eine volle Augenbraue, bevor er sprach.
„Ich bin ein Geschöpf des Volkes ... ich bin ein Geschöpf. Ihr befindet euch auf unserem Territorium.“
Ich rang nach Luft.
„Ich bin auf dem Kontinent?“
„Ihr seid auf einer Insel vor dem, was ihr Kontinent nennt. Wir nennen es das Imperium der Völker.“
Gänsehaut überzog meinen Körper.
„Aber ich war mitten im Meer. Ich bin nur aus einer kleinen Hoffnung heraus in diese Richtung geschwommen und ich -“
Der Mann hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
„Moment mal. Verdammt, ihr habt die Insel gespürt?“
„Ich weiß nicht genau. Ich hatte Todesangst, doch ich wollte nicht aufgeben und es erschien mir richtig, in diese Richtung zu schwimmen.“
Der eindringliche Blick, mit dem mich der Mann anstarrte, löste eine neue Angst in mir aus. Ich rappelte mich auf die Beine.
„Ich wollte nicht in euer Land eindringen, ich habe nur nach Rettung gesucht. Ich werde sofort verschwinden, wenn ihr mir sagt, wie ich von hier wegkomme.“
„Das wird nicht möglich sein.“
Mein Herz setzte aus, so tief war seine Stimme, so unheilvoll diese Vorhersehung.
„Bitte, ich hatte doch keine Wahl, ich -“
Wieder hob er die Hand und ich hätte sie am liebsten weggeschlagen. Ich hatte es mir nicht ausgesucht, auf einer Insel zu stranden, und ich hatte mir bestimmt nicht ausgesucht, von einem Schiff geworfen zu werden.
„Wie seid ihr durch den Wall gekommen?“, fragte der Schönling und kam einen Schritt auf mich zu. Seine Augen bohrten sich in meine. Sie suchten etwas.
„Da war kein Wall.“
Der Soldat taxierte mich weiter. „Wer sind eure Eltern?“
Der Themenwechsel ließ mich blinzeln.
„Meine Eltern? Ich bin weder von guter Abstammung noch lässt sich mit mir Lösegeld erpressen -“
Erneut hob er die Hand, die mich zum Schweigen bringen sollte, doch dieses Mal schlug ich danach.
„Hört auf damit und sagt mir, wie ich nach Hause komme!“
„Ihr könnt nicht zurück.“
Es war eine Feststellung, nüchtern ausgesprochen, doch sie ließ etwas in mir zerbrechen.
„Was war das für ein Schiff, von dem ihr gesprochen habt?“
Oh, nein. Er wusste nicht, dass ich für meine Taten zum Tode durch Ertrinken verurteilt worden war. Dass ich von dem Schiff gestoßen wurde, weil mich niemand mehr haben wollte. Mein Blick huschte zu dem Dolch in seiner Hand. Würde er mit mir kurzen Prozess machen und mir die Kehle durchschneiden? Oder brauchte er dazu gar keine Waffe, sondern würde mich mit seinen übermenschlichen Kräften töten? Ich hatte Geschichten über die Bestien auf dem Kontinent gehört, doch dieser Mann sah gar nicht wie ein Monster aus. Er sah aus wie ein Gott. Und er hatte mich gerettet.
„Ein Handelsschiff. Mein Vater ist Händler und es ist gekentert“, log ich.
Seine dunklen Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. „Hier gibt es keine beschissenen Handelsschiffe. Das Imperium treibt keinen Handel mit eurem Volk.“
Er griff seinen Dolch fester. Ich wich einen Schritt zurück.
„Wieso, verdammt noch mal, lügt ihr?“
Mir war nicht entgangen, wie sie meinen Dolch fixierte. Sie hatte Angst. Gut. Eine falsche Bewegung und ich würde meine Waffe nutzen.
Sie konnte unmöglich ein Mensch sein. Der Schutzzauber um unser Land hätte sie nicht hindurch gelassen. Es gab keine Aufzeichnungen, dass jemals ein Handelsschiff in diesem Teil des Meeres gesegelt war.
„Was wollte das Schiff hier? Wart ihr auf dem Weg, das Imperium zu erreichen?“
Ihre dunklen Augen weiteten sich. „Kein Mensch würde freiwillig in die Nähe des Kontinents segeln. Wir kennen Geschichten über ... euch.“
Das letzte Wort schien ihr peinlich zu sein. Ich fragte mich, was sie hatte sagen wollen.
„Was erzählt man sich denn so über ... uns?“
Sie schlug die Augen nieder und fragte leise: „Werdet ihr mich töten, wenn ich es euch verrate?“
„Nicht dafür, dass ihr mir von Gerüchten erzählt.“
Sie zog die Luft scharf ein, sprach aber fest und laut.
„Man erzählt sich, dass auf dem Kontinent Kreaturen und Monster leben, die die Menschen einst vertrieben haben. Es soll dort schreckliche Gestalten geben, die sich gegenseitig zerfleischen und alle schwächeren Monster unterdrücken. Die Magie, die auf dem Kontinent herrscht, soll so grausam sein, als würde sie direkt aus der Hölle stammen.“
Sie hielt meinen Blick. Abwartend. Als würde ich mich vor ihren Augen in eines der Monster aus ihrer Geschichte verwandeln.
„Und, glaubt ihr diese bescheuerten Legenden?“
Sie zuckte mit den nassen Schultern. „Ich hatte keinen Grund, an ihnen zu zweifeln.“
„Aber ihr hattet auch keinen verdammten Beweis.“
Wieder dieses Schulterzucken.
„Ist etwas denn nur wahr, wenn man einen Beweis hat?“
Mir entglitt ein Schnauben. Sie war aufmüpfiger, als ich zunächst angenommen hatte.
„Das Schiff wird diese Insel nicht erreichen, falls das euer Ziel war.“
Zu meiner Überraschung entglitt ihr ein Lachen.
„Niemand wollte euch angreifen, falls ihr das denkt. Es droht euch keine Gefahr.“
Einen Moment sah ich in ihre dunklen Augen und wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Die Fähigkeit des Schönen Volkes, Lügen zu erkennen, war auch in mir verwurzelt.
Ich entspannte meine Haltung. Den Dolch steckte ich an den Gürtel. Die Frau schloss erleichtert die Augen.
Sie hatte die Arme um ihren durchnässten Körper geschlungen. Sie musste frieren bei dem Wind, der über die Bucht zog.
„Ich werde Meldung machen. Kommt, ich gebe euch eine Decke und wir warten drinnen auf meinen Kommandanten.“
„Nein!“
Sie packte meinen Arm mit ihren eiskalten Fingern. Ihre Nägel bohrten sich in meine Haut.
„Bitte, ich will nur weg von hier.“
Bestimmt, aber behutsam, löste ich ihren Griff.
„Ich muss euer Erscheinen melden. Ihr seid eine verdammte Rarität. Amo wird entscheiden, wie es mit euch weitergeht.“
„Wird er mich töten?“
Furcht schwamm in ihren Augen. Ich hatte Mitleid mit ihr.
„Ich sehe, dass ihr die Wahrheit sagt. Er wird nur mit euch reden.“
Vorerst. Doch das sagte ich ihr nicht.
Ich griff nach ihrem Arm, doch sie wich verängstigt zurück.
„Da entlang“, sagte ich sanft und zeigte ihr die Richtung zu meinem Wachposten. Das Gebäude war klein, aber bot alles, was man benötigte. Über die Treppe erreichten wir den Ausguck. Die Frau trat zögernd ein. Ihr Blick blieb an den Waffen hängen, die an der Wand befestigt waren. Daneben führte eine Tür auf das Dach und die Wegsonne darauf. Ihre nackten Füße bildeten eine Pfütze auf dem Steinboden. Sie schritt zur großen Scheibe, die einen beeindruckenden Blick über das Meer bot.
Ich wandt mich von ihr ab und drückte den münzgroßen Transmitter an meiner linken Schulter.
„Kommandant, bitte melden.“
Es dauerte nur einen Moment, bis Amos Stimme erklang: „Schönling, ist dir langweilig auf der Insel?“
Ich seufzte leise. Arrogantes Arschloch.
„Code sechs. Herkunft unbekannt.“
Eine Weile blieb es still und ich schaute an meinen Transmitter, eine kleine goldene Scheibe, eingefasst in ein flaches Gehäuse, welches sich perfekt an meinen Körper schmiegte. Ich wollte schon nachfragen, ob er mich verstanden hatte, als Amos Stimme erneut ertönte.
„Wer ist bei euch?“
Kein Humor lag mehr in seiner Stimme. Ich drehte mich noch ein Stück weiter weg von ihr.
„Ein Mensch.“
Dieses Mal blieb der Transmitter still.
Ich fröstelte. Der Kommandant würde wissen wollen, weshalb ich über Bord eines Schiffes geworfen wurde. Ich war eine schlechte Lügnerin und Lio hatte sich deshalb immer über mich amüsiert. Der Gedanke an meinen besten Freund schnürte mir die Kehle zu. Ich hoffte aus vollem Herzen, dass er sich in Sicherheit befand. Als ich ihn das letzte Mal sah, zerrten die Soldaten mich fort und er blieb zurück. Ich sah seine panisch geweiteten Augen vor mir. Den Mund, der ungläubig meinen Namen formte. Ob er Lady Lux berichtet hatte, was mit mir geschehen war? Sie würde toben. Sie würde ihn für meine Festnahme verantwortlich machen. Immerhin war ich die Quelle ihres Reichtums. Ohne mich musste die Apothekerin einen neuen Goldesel finden. Ich zuckte zusammen, als eine schwere Decke über meine Schultern gelegt wurde.
„Ihr seid eine Frostbeule.“
Ich nickte zum Dank und starrte wieder auf die See. Das Gewicht der Decke gab mir Sicherheit, doch die Kälte wollte nicht weichen. Würde mir der Kommandant glauben, dass ich zur Besatzung des Schiffes gehört hatte? Ich seufzte. Er würde mich sofort durchschauen. Mein Haar war verfilzt und meine Kleidung hing mir in Fetzen am Körper. Niemals war ich auf einem Schiff angeheuert worden. Es blieb nur die Wahrheit oder eine Variante davon.
Ein Zischen wie eine Sturmböe riss mich aus meinen Gedanken und ich duckte mich instinktiv. Etwas war auf dem Dach passiert. Der Soldat straffte die Schultern und blickte Richtung Tür. Ich zitterte so stark, dass ich Mühe hatte, die Decke über meinen Schultern zu halten. Ich kniff die Augen zusammen und hoffte darauf, dass ich es nicht bereuen würde, geschwommen zu sein, statt unterzugehen.
Die hölzerne Tür schwang auf und mir stockte der Atem. Der Mann, der dort stand, füllte fast den gesamten Rahmen aus. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. Die Uniform des Mannes sah ähnlich aus wie die meines Retters. Der Mann, der jetzt den Raum betrat, trug einen Kurzumhang, der an den Schultern befestigt war. Zudem kreuzte ein Schulterband seine Brust, an dem Abzeichen prangten. Doch was mir ins Auge fiel, waren die muskulösen Arme des Mannes. Es schien, als könnte er ganze Baumstämme durchbrechen und Schiffe aus dem Wasser heben. Seine hellen grauen Augen musterten mich von den Füßen bis zum Scheitel, bevor er sich an den Mann neben mir wandt.
„Berichte, Offizier Chu.“
Ich blinzelte schnell, als mir klar wurde, dass ich nicht gewusst hatte, wie der Name meines Retters lautete.
„Ich habe sie im Wasser erspäht und bin in die Bucht gelaufen, um sie aus den Fluten zu ziehen. Sie ist durch den Wall geschwommen. Sie sagt, sie gehöre dem menschlichen Volk an.“
Wieder richteten sich die hellen Augen des Kommandanten auf mich. Sein Gesicht war schmaler als Chus. Sein spitzes Kinn bildete mit der kantigen Nase eine Symbiose, die auf der einen Seite von langen geflochtenen Zöpfen gerahmt wurde, die ihm bis auf die Brust fielen. Die andere Hälfte seines Schädels war kahl rasiert.
„Sprich, Mensch.“
Eingeschüchtert drehte ich mich zu Chu um, der mir zur Bestätigung zunickte. Diese Geste, so klein sie auch war, beruhigte mein pochendes Herz ein wenig.
„Ich ... ich bin über Bord gegangen. Es war überall Meer. Da habe ich mich für eine Richtung entschieden und bin geschwommen. Weil es mir so vorkam, als läge dort ... Hoffnung.“
Der Kommandant verzog keine Miene, als er fragte: „Wie heißt ihr?“
„Ory, mein Name ist Ory.“
Wieder diese Musterung.
„Drei Buchstaben?“, fragte der Kommandant.
Wieder blickte ich Chu an, der mich interessiert betrachtete, als wäre ihm soeben aufgefallen, dass er mich nicht nach meinem Namen gefragt hatte.
„Ja, wieso?“
„Wer sind eure Eltern?“
Schon wieder diese Frage.
„Meine Mutter starb bei meiner Geburt, zumindest hat mir das die Bäuerin erzählt, bei der ich aufwuchs, bis ich elf war. Wer mein Vater ist, weiß ich nicht.“
„Also wisst ihr nicht, ob ihr menschlich seid?“
Die Frage traf mich wie ein Schlag. Natürlich war ich ein Mensch! Ich hatte ein Herz, eine Seele, ich aß, schlief und lebte wie alle Menschen. Doch wenn ich mir diese beiden Männer so ansah, wirkten auch sie nicht wie Monster. Zumindest äußerlich.
„Sie kommt von der verdammten Insel. Es lebt nur das menschliche Volk auf diesem Land. Sie muss ein Mensch sein.“
Ich sah dankbar zu Chu und dann wieder zu dem Kommandanten.
„Sie behauptet, dass sie von dort kommt.“
Diesmal trafen mich seine Augen wie Rasierklingen.
„Ich habe es gesehen. Sie sagt die Wahrheit“, klärte Chu ihn auf.
Der Kommandant wandt sich wieder an mich.
„Tritt vor.“
Ich rührte mich nicht.
„Ich will es selbst beurteilen.“
Meine Beine wollten nicht gehorchen. Ich wagte nicht, zu atmen, krallte meine Finger nur fester in die Decke.
Ich glaubte, ein leises Schnauben zu hören, bevor der Kommandant mit zwei schnellen Schritten bei mir war. Unsanft zog er mich an sich. Ich hätte beinahe geschluchzt, doch dann bemerkte ich, was er tat. Er roch an mir. Ich hörte, wie er tief durch die Nase einatmete. Schon ließ er wieder von mir ab.
„Sie riecht menschlich.“
Ich atmete erleichtert aus.
„Aber da ist noch etwas. Etwas Ungewöhnliches. Habt ihr Kräfte, die ihr uns verschweigt?“
„Ich habe keine Kräfte“, antwortete ich schnell. Ich wollte, dass diese Leibesvisitation endete. Ich war erschöpft und durstig. Mir war nicht aufgefallen, dass mein Körper nach Wasser verlangte.
„Dürfte ich etwas trinken?“, fragte ich an Chu gewandt, der einen Seitenblick auf seinen Kommandanten warf. Dieser nickte und Chu zog eine Flasche aus einem Unterschrank. Ich hätte weinen können, bei dem Gefühl, das die seidige Flüssigkeit in meiner Kehle auslöste. Ich trank und trank, bis die Flasche leer war. Ich reichte sie an Chu zurück.
Die ganze Zeit über hing der Blick des Kommandanten an mir. Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Würde er mich in einen Kerker werfen? Oder zurück ins Meer?
„Wir sollten noch ein Mal beginnen. Ich habe mich gar nicht vorgestellt“, sagte der Kommandant plötzlich und lächelte. Seine geraden weißen Zähne und die geschwungenen Lippen ließen ihn weicher wirken als zuvor.
„Mein Name ist Amo.“
„Drei Buchstaben?“, fragte ich.
Sofort bereute ich die Frage, doch das Lächeln des Kommandanten wurde breiter. Ich kannte viele Menschen, deren Name aus drei Buchstaben bestand. Allen voran Lio und Lady Lux. Wobei sich Lios vollständiger Name aus sechs Buchstaben zusammensetzte und auch Lady Lux war ein Spitzname, den wir uns für die Apothekerin ausgedacht hatten.
„Genau. Ich bin Kommandant im Verschollenen Volk. Meine Familie stammt aus dem Tal und ich verbringe meine Zeit am liebsten zu Pferd. Jetzt ihr.“
Sollten wir uns in einen Kreis setzen und Armbänder flechten? Ich sah ihn stirnrunzelnd an. „Kommt schon, ich möchte etwas über euch erfahren.“
Chu hob leicht die Schultern, als wolle er mir zeigen, dass nichts dabei wäre.
„Okay, ich bin Ory. Ich lebe wie alle Menschen auf der Letzten Hoffnung und ich wünschte, ich hätte trockene Kleider am Leib.“
„Um eure Kleider kümmern wir uns gleich. Aber ich möchte etwas über euch erfahren. Vielleicht habt ihr ja doch eine Kraft und sie ist euch nicht bekannt. Sprecht ihr mit Tieren oder könnt ihr in die Zukunft blicken?“
Ich schüttelte verlegen den Kopf.
„Weder noch. Sogar im Gegenteil. Ich bin krank und die meisten Menschen schrecken vor mir zurück.“
Interessiert hob Amo eine Braue.
„Was meint ihr mit krank?“
„Mein Kopf. Ich bekomme Schmerzen und es hilft ...“ Ich wollte ihm nicht erzählen, was ich für den lindernden Trank von Lady Lux tat und weshalb ich über Bord eines Schiffes geworfen wurde.
„Ich kann nicht mehr gerade denken, wenn diese Schmerzen einsetzen. Aber sonst bin ich fit. Ich kann auf Bäume klettern, Tiere schießen und auf dem Feld arbeiten. Das habe ich alles getan. Ich kann es euch zeigen. Ich bin also nicht unnütz.“
Als ich bei der Bäuerin gelebt hatte, ließ sie mich auf dem Hof arbeiten. Ich war durch meine Tätigkeit für die Lady zwar in diesen Dingen eingerostet, doch ich würde sie schnell wieder beherrschen.
Amo sah mich lange an, seine hellen Augen hatten einen weichen, verständnisvollen Blick angenommen. „Das habe ich auch nicht behauptet.“
Ich zog die Decke fester um mich. Hatte ich zu viel preisgegeben?
„Was war das für ein Schiff, mit dem ihr gesegelt seid?“
Ich seufzte und schloss die Augen, als ich antwortete: „Ich wurde zusammen mit anderen über Bord geworfen.“
„Weil ihr ... unnütz seid?“, fragte er.
Ich nickte. Tränen stiegen mir in die Augen.
„Und der Schutzwall? Habt ihr einen Zauber genutzt, um hindurch zu kommen?“
Bei dem Wort Zauber zuckte mein Kopf und ich sah ihm direkt in die Augen. Allein die Vermutung, jemand hätte einen Zauber gesprochen, wäre ein Todesurteil auf der Letzten Hoffnung gewesen.
„Ich habe es euch schon gesagt: Ich habe keine Kräfte. Ich kann keinen Zauber sprechen. Kein Mensch ist dazu fähig. Ich bin geschwommen, plötzlich tauchte diese Insel auf und dann hat mich Chu aus dem Wasser gezogen.“
Chu nickte erneut knapp. Amo sah mich einen Moment an, bevor er sagte:
„Ich habe genug gehört. Kommt mit, Kar wird euch sehen wollen.“
Bei dem Namen des grausamen Kommandanten lief mir ein Schauer über den Rücken.
„Warum, verdammt, sollte Kommandant Kar sie sehen wollen? Ihr habt doch erkannt, dass sie ein Mensch ist.“
Ich war unwillkürlich zwischen Ory und meinen Vorgesetzten getreten. Sie weckte ein Mitleid in mir, das ich nicht verbergen konnte. Weit weg von ihrer Heimat stand sie zwei Geschöpfen und einer unbekannten Zukunft gegenüber. Meine Reaktion schien Ory verunsichert zu haben.
„Wer ist dieser Kar?“
Ich schluckte und sah ihr in die geweiteten Augen.
„Kar ist, genau wie Amo, Kommandant in unserer Armee. Er ist bekannt für seine -“
Ein Knurren ging von Amo aus, so bedrohlich, dass ich verstummte. Amo und Kar standen sich nahe, doch er konnte nicht verbergen, was Kar war. Er hatte einen verflucht grausamen Teil in sich, der ihn, den Gerüchten zufolge, nicht nur für unsere Feinde zu einer Bedrohung machte.
Ory war zusammengezuckt und sprach zu meinem Kommandanten:
„Wenn er den gleichen Rang hat wie ihr, reicht es doch, wenn ihr mich seht, nicht wahr? Warum die gesamte Armee mit hineinziehen?“
Sie versuchte zu lächeln, doch scheiterte kläglich.
Amo ging nicht auf sie ein.
„Gebt ihr Wechselkleidung, Chu. Wir brechen auf, sobald ihr umgezogen seid.“
Ich nickte steif und führte Ory am Rücken aus der Tür. Ich spürte, wie sie unter der Decke zitterte. Ob aus Kälte oder Angst, vermochte ich nicht zu sagen. Vermutlich beides. Wir stiegen die Treppen hinab und bogen gleich darauf in eine der Kammern ab. Hier lagerte Verpflegung und zusätzliche Kleidung.
„Sollte ich mich vor diesem Kar fürchten?“
Die Frage war kaum lauter als ein Wispern und mir zog sich das Herz zusammen. Ory hatte keine Ahnung, wo sie hier gelandet war.
„Er ist Kommandant, er wird nichts Unbedachtes tun. Nur ...“
„Ja?“
„Verärgert ihn nicht. Er ist zum Teil vom Grausamen Volk und, nun ja, dieses Volk macht seinem Namen alle Ehre. Dieser Teil, er lässt sich schwer kontrollieren.“
Sie schwieg und nickte nur ernst mit dem Kopf. Ich kramte in den Regalen und fand eine schlichte dunkle Trainingshose und ein langärmliges Shirt. Sie würde in den Sachen versinken, aber scheiß drauf, immerhin waren sie trocken.
„Amo sagte, ihr seid vom Verschollenen Volk. Warum ist Kar dann vom Grausamen Volk?“
„Das Volk der Verschollenen setzt sich aus Mischwesen zusammen. Wir alle haben mindestens zwei verschiedene Volksanteile. Manche mehr, so wie Amo. Seine Familie lebt schon lange im Tal und viele Völker vereinen sich in seinem Stammbaum.“
„Im Tal?“
Ich zeigte auf den Raumtrenner. Dort konnte Ory sich umziehen. Sie schnappte sich die Klamotten und verschwand.
„Dort lebt unser Volk.“
Ich hörte Kleidung rascheln und nassen Stoff auf den Boden platschen, bevor sie fragte: „Welche Teile habt ihr?“
„Meine Mutter war vom Schönen, mein Vater vom Reitenden Volk.“
Ory murmelte etwas, dass ich nicht verstand.
„Und warum bleibt ihr nicht bei einem der zwei Völker, von denen ihr abstammt?“
Ich seufzte bei dieser verdammt unschuldigen Frage. Wären die Regeln des Imperiums nicht so gnadenlos, hätten viele Mischwesen eine Zukunft gehabt. Hätte ich eine andere Zukunft gehabt. Aber das war nicht die Welt, in der wir lebten.
„Die Völker akzeptieren keine Vermischung des Blutes. Sie sind da eigen. Und verflucht erbarmungslos. Kommt ein Kind auf die Welt, dass nur teilweise einem Volk angehört ... nun ja. Deshalb sucht das Volk der Verschollenen diese Sprösslinge im Geheimen. Sogenannte Sammler ziehen los und bringen die Kinder in Sicherheit. Auch Amo -“
„Seid ihr fertig? Wir müssen los.“
Amos Stimme hallte in der kleinen Kammer wieder. Mit gebeugtem Rücken kam Ory hinter dem Trenner hervor. Ich legte ihr beruhigend eine Hand auf die schmale Schulter.
Amos Stimme donnerte durch die Tür: „Kar wartet. Auf jetzt!“
Die Menschenfrau hielt Abstand zu mir. Ich verübelte es ihr nicht. Ihr Geruch war ... interessant gewesen. Sie war eindeutig menschlich und doch war da noch etwas anderes. Ich konnte den Geruch nicht greifen, die Menschlichkeit lag wie ein Schleier über ihr, umhüllte sie und verbarg ihr wahres Inneres. Doch was auch immer in ihr schlummerte, sie war ein Mensch, der es geschafft hatte, durch den Schutzwall auf die Insel zu kommen. Auf unser Land. Dieser Gedanke kreiste seit meiner Ankunft in meinem Kopf umher. Wenn unser Land nicht mehr sicher und verborgen lag, waren wir in Gefahr. Das Volk der Verschollenen könnte aufgespürt werden. Das galt es um jeden Preis zu verhindern.
Ich ballte die Fäuste, meine letzte Mission steckte mir noch in den Knochen. Ich hatte einiges aufs Spiel gesetzt, doch ich war erfolgreich gewesen. Die Gesetze dieses Imperiums machten mich krank. Ich spürte, wie die Wut sich einen Weg durch meinen Magen bahnte und atmete tief durch, im Versuch, sie unter Kontrolle zu halten. Ich wünschte, ich könnte mir ein Blättchen Spiks auf die Zunge legen, aber dafür war jetzt keine Zeit. Die beruhigende Wirkung, die die Droge auf mich hatte, musste bis heute Abend warten. Ich wollte wissen, was Kar von dem Menschen hielt. Es stimmte, was Chu gesagt hatte. Kar war Kommandant, genau wie ich, doch er war auch mein engster Vertrauter und Bruder und sah die Dinge oft aus einem anderen Blickwinkel, was sich des Öfteren als hilfreich erwiesen hatte.
Wir waren am Ende der Treppe angekommen, die durch eine Luke auf das Dach des Gebäudes führte.
„Da wären wir. Offizier Chu, halten Sie den Posten. Ich werde Verstärkung schicken, falls es weitere Durchbrüche geben sollte.“
Chu nahm den Befehl nickend entgegen.
„Chu bleibt hier?“, fragte Ory verwundert.
„Der Posten muss besetzt bleiben. Ihr kommt mit mir.“
Ihre Augen weiteten sich und sie trat einen Schritt zurück. „Ich will nicht mit euch gehen. Ich will bei Chu bleiben.“
„Ihr habt keine Wahl“, sagte ich und griff sie am Ellenbogen, während ich die Luke über unseren Köpfen öffnete. Wind wehte in das Treppenhaus und streifte meinen Schädel. Der Geruch von Meersalz und Algen stieg mir in die Nase.
Ory schüttelte den Kopf. Chu trat näher an sie heran und sagte sanft: „Ich schaue, wann ich euch besuchen kann. Sie werden euch nichts tun.“
„Versprecht ihr es?“, fragte sie ihn und ich verdrehte die Augen. Was für eine naive Frage.
Chus Augen fanden meine, doch ich würde kein Versprechen geben. Wir wussten nicht, was in dieser Frau lauerte und ob sie die Wahrheit sprach, auch wenn Chu es annahm.
„Ich bin mir sicher“, sagte Chu und ich trat mit Ory auf das Dach hinaus.
Der Wind zerrte an meinem Haar und ließ meine Augen tränen. Ich war dankbar, dass ich inzwischen trockene Kleidung trug. Zögernd folgte ich Amo. Ob ich die nächste Stunde überleben würde, wusste ich nicht. Mir war nicht entgangen, dass Chu es vermieden hatte, mir ein Versprechen zu geben. Was hatte es mit diesem Kar auf sich?
Erst jetzt bemerkte ich, dass auf dem Dach des Postens Zeichen in den Boden eingelassen waren. Die Schrift, wenn es denn eine war, schien aus Linien zu bestehen: längeren und kürzeren, senkrechten und schiefstehenden. Einige Striche waren ein oder zwei mal zerteilt, wie eine Naht aus Fäden, die in den Boden gefädelt war. In der Mitte des Daches befand sich ein leerer Kreis, auf den Linien zuliefen. Als würden die Striche auf einen imaginären Punkt zulaufen, der in der Mitte des Kreises lag. Amo schritt auf die Fläche zu und blieb stehen, die Hand nach mir ausgestreckt. Ich ging zu ihm und legte meine Hand in seine. Seine Haut war überraschend weich und warm, was mir Hoffnung gab, dass ich doch nicht völlig verloren war.
„Das wird jetzt ein wenig unangenehm“, sagte er und bevor ich ihn fragen konnte, was er meinte, spürte ich ein Kribbeln an den Füßen. Rasend schnell schoss ein Gefühl von tausend Nadelstichen an meinem Körper hinauf. Ich wollte schreien, doch in meinem Kopf drehte sich alles und kleine Lichtblitze flimmerten vor meinen Augen umher. Dann war es vorbei. Meine Füße hatten wieder festen Boden unter sich und ich atmete keuchend aus. Amo ließ meine Hand los und ich beugte mich vornüber, auf die Knie gestützt, um Atem ringend.
„Man gewöhnt sich daran. Außerdem ist es der schnellste Weg von A nach B zu kommen.“
Ich sah auf den Boden und bemerkte, dass wir wieder in dem leeren Kreis umgeben von Strichen standen. Doch kein Wind zerrte mehr an meinen Haaren und es duftete angenehm nach Rosen und Jasmin.
„Was war das?“, fragte ich.
„Wir haben eine Wegsonne genutzt.“
Er zeigte auf die Formation aus Strichen im Boden.
„Überall, wo solche Sonnen existieren, gelangen wir hin. Es ist wie ein unsichtbares Netz aus Straßen.“
Ich kommentierte diese Information mit einem Nicken. Ich hob den Kopf und erstarrte, als ich sah, an was für einen Ort wir gereist waren. Amo stand neben mir in einer Art Innenhof. Die hohen Mauern und vielen Türme ließen vermuten, dass es sich bei dem Gebäude um uns herum um eine Festung handelte. Was mir ins Auge stach, war die Tatsache, dass alles grün war. Pflanzen rankten sich an Steinmauern empor, die Platten des Gehweges waren ordentlich mit Gewächs begrünt, an den Fenstersimsen hingen Grünpflanzen und die Torbögen, die Wege und Gänge markierten, waren überwuchert. Die Luft war warm und trocken, woraus ich schloss, dass wir nicht mehr am Meer waren. Etwas in meinem Herzen öffnete sich und mir stiegen Tränen in die Augen. An einem solchen Ort zu leben kam mir wie ein Traum vor. Ich sah eine Bank inmitten von Rosenbüschen stehen und stellte mir vor, auf dieser Bank mit Lio zu scherzen. Sein strahlendes Lächeln zu sehen. Er hätte die Rosen geschnitten, gebunden und an den Meistbietenden verkauft. Oder er hätte die Rosenbüsche ausgegraben und im Ganzen verschachert. Schnell wischte ich über meine Augen und sah zu Amo, der mich beobachtet hatte.
„Kar erwartet uns.“
Ich folgte dem Kommandanten und starrte abwechselnd auf den roten Kurzumhang an seinem Rücken und den Ort, der uns umgab.
„Wo sind wir hier?“
„Die Stadt heißt Mhios, sie liegt im Tal. Dies ist die Festung des Gouverneurs.“
„Ich dachte, Kar ist Kommandant wie ihr.“
Amo warf mir einen amüsierten Blick über die Schulter zu.
„Das stimmt. Der Gouverneur des Volkes der Verschollenen heißt Lotai.“
„Keine drei Buchstaben?“, versuchte ich den kleinen Scherz wieder aufleben zu lassen, doch kein Lachen war zu hören. Amo sah sich nicht um, brummte aber gedämpft:
„So ist es. Einem Verschollenen wird für tapfere Dienste ein Buchstabe zuerkannt. So erkennen und ehren wir unsere Helden.“
Dieser Lotai musste zwei mal geehrt worden sein. Ich fragte mich, ob das normal war für einen so hohen Würdenträger oder ob er nur deshalb diesen Titel trug. Was diese tapferen Dienste sein mögen, für die Buch staben verliehen wurden? Und ob Chu und Amo darauf hofften, irgendwann einen Buchstaben zu erhalten?
Wir waren mittlerweile im Inneren der Festung angelangt und nahmen eine Treppe, die uns in eine tiefere Etage führte. Die Mauern strahlten eine angenehme Kühle aus. Die Einrichtung war schlicht und unpersönlich gehalten. Die Wandteppiche zeigten Bergmotive und farbenfrohe Feste in Berglandschaften. Auf den Treppenstufen lag ein dicker Teppich, der unsere Schritte dämpfte und eine angenehme Atmosphäre schuf.
Ein kleiner Mann kreuzte unseren Weg. Er war nicht größer als ein achtjähriges Kind, trug weite Hosen und ein locker sitzendes Hemd. Seine blauen Augen sahen aufmerksam erst Amo und dann mich an, wobei er die Stirn leicht runzelte, als sein Blick auf meine Haare fiel. Ich strich mir mit der Hand über den Kopf und verzog das Gesicht, als mir klar wurde, wie ich aussehen musste.
„Kommandant“, nickte der Mann in Richtung Amo.
„Senator“, erwiderte Amo knapp.
Wir eilten immer tiefer ins Innere der Festung und die Atmosphäre änderte sich stetig. Je weiter wir nach unten gelangten, umso dunkler wurden die Stufen. Die Kälte, die von den Wänden ausgestrahlt wurde, war nicht mehr angenehm, sondern ließ mich frösteln.
„Hier entlang“, sagte Amo endlich und wir verließen die Treppe, um durch weite Flure zu schreiten.
Die Wandteppiche zeigten keine Feste mehr, sondern Schlachtszenen, in denen Armeen über Berghänge zogen und von einem weiteren Heer aufgehalten wurden. Auf einem Gemälde war ein Mann zu Pferd zu sehen. Sein Umhang wehte um seine Schultern, ähnlich dem Kurzumhang, den Amo trug. Er hielt einen reichlich verzierten Stock in den Händen, kampfbereit über den Kopf gereckt. Ich fragte mich, ob das Bild Lotai zeigte oder einen verstorbenen Helden dieses Volkes. Als wir weitergingen, blieb ich noch ein Mal stehen und sah mich zu dem Bild um. Erst jetzt erkannte ich, dass der Mann auf dem Gemälde Hörner auf dem Kopf hatte. Sie drehten sich zum Nacken hin und erinnerten mich an einen Ziegenbock. Ich atmete zitternd ein.
„Seid ihr bereit?“, fragte mich Amo, der vor einer großen Holztür stehen geblieben war.
Ich straffte zur Antwort die Schultern und reckte mein Kinn. Es konnte losgehen.
Amo zog die Tür auf, die gedämpft knarrte und ich hörte erst leise Stimmen, die dann aber abrupt verstummten. Amo schaute mich ein letztes Mal forschend an, bevor er eintrat. Ich folgte ihm zögernd.
Der Raum roch nach altem Leder, Wachs und dem leicht metallischen Hauch polierter Waffen. Das Büro selbst war in düsteren, aber eindrucksvollen Farben gehalten. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt, das im Licht des Kaminfeuers, das rechts an der Wand prasselte, fast schwarz wirkte.
In der Mitte des Raumes erstreckte sich ein breiter Schreibtisch aus massivem, dunklem Holz. Seine Oberfläche war mit Karten, Briefen und massenweise Büchern überladen.
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