Das Imperium - Kevin J. Anderson - E-Book

Das Imperium E-Book

Kevin J. Anderson

4,4
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ruinen auf einer fremden Welt

Zu Beginn des 22. Jahrhunderts verlassen die Menschen mit Generationenraumschiffen ihr Sonnensystem und treffen auf die Ildiraner, ein hochentwickeltes Volk unter der Herrschaft eines weisen Imperators. Menschen und Ildiraner verbünden sich, und die Menschen profitieren von diesem Bündnis. Eines Tages stoßen menschliche Xenoarchäologen auf die Überreste einer anderen hochtechnologisierten Spezies, die insektoiden Klikiss. Nur noch Ruinen zeugen von ihrer Existenz, nicht einmal die „Saga der Sieben Sonnen“, dem zentralen, die bekannte Geschichte umfassenden Epos der Ildiraner, werden die Klikiss erwähnt. Als die Archäologen dieses Rätsel lösen wollen, werden sie mit einer weiteren, höchst aggressiven Spezies konfrontiert, deren Lebensraum die Menschen, ohne es zu wissen, zerstört haben. Die Auseinandersetzung könnte die Menschen und das Ildiranische Reich vernichten …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 864

Bewertungen
4,4 (22 Bewertungen)
13
4
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KEVIN J. ANDERSON

DAS IMPERIUM

Die Saga der Sieben Sonnen

Erster Roman

Für IGOR KORDEY,

einen einfallsreichen, hart arbeitenden und sehr

talentierten Künstler.

Während der frühen Entwicklungsphase von

Die Saga der sieben Sonnen half er mir dabei, vielen

Schlüsselelementen dieses Universums

Struktur und Form zu geben.

Ohne seine Fragen und Hinweise hätte die Serie

DANKSAGUNG

Während der Entwicklung, des Schreibens und des Redigierens dieser Serie haben mir viele Personen mit Rat und Begeisterung zur Seite gestanden. Mein besonderer Dank gebührt Betsy Mitchell und Jaime Levine von Warner Aspect und John Jarrold von Simon & Schuster, UK; Matt Bialer, Robert Gottlieb, Maya Perez und Cheryl Capitani von der Trident Media Group; Larry Shapiro von der Creative Artists Agency; Jeff Mariotte und John Nee von Wildstorm/DC Comics; und den Künstlern Stephen Youll und Igor Kordey.

Catherine Sidor von WordFire, Inc., hat – wie immer – 150 Prozent gegeben, um meine Bänder der einzelnen Kapitel niederzuschreiben und dabei mit mir Schritt zu halten. Außerdem hat sie Korrektur gelesen und sparte nicht mit allgemeinen Kommentaren. Auch Diane Jones half mit klugen Fragen, Vorschlägen und Ideen. Gregory Benford half mir dabei, die Technik der Klikiss-Fackel zu entwickeln. Brian Herbert leistete von Anfang an Hilfe und Unterstützung.

1 * MARGARET COLICOS

Hoch im sicheren Orbit über dem Gasriesen blickte Margaret durchs Fenster auf die kontinentgroßen Stürme und Wolken hinab. Sie fragte sich, wie lange es nach dem Beginn des Experiments dauern würde, bis der ganze Planet brannte.

Oncier war eine pastellfarbene Kugel aus Wasserstoff und anderen Gasen, etwa fünfmal so groß wie Jupiter. Monde umgaben den riesigen Planeten wie eine Schar junger Hunde, die sich an ihre Mutter drängten. Die vier interessantesten von ihnen waren große Eis- und Felsbrocken namens Jack, Ben, George und Christopher, benannt nach den ersten vier Großen Königen der Terranischen Hanse. Wenn der heutige Test erfolgreich verlief, würden sich die Monde durch Terraforming in erdähnliche Kolonien verwandeln.

Wenn die Klikiss-Fackel versagte, würde es auch mit der steilen Karriere von Margaret Colicos abwärts gehen. Aber sie würde überleben. Als Xeno-Archäologen waren sie und ihr Mann Louis daran gewöhnt, in herrlicher Abgeschiedenheit zu arbeiten.

Aus Anlass des Experiments hatten sich viele Wissenschaftler, Techniker und politische Beobachter auf der technischen Plattform eingefunden. Mit dem eigentlichen Test hatte Margaret nichts zu tun, aber ihre Präsenz war trotzdem erforderlich. Sie galt als Berühmtheit und musste sich bewundern lassen. Immerhin war sie es gewesen, die den Apparat der Fremden in den Ruinen entdeckt hatte.

Sie strich sich das von grauen Strähnen durchsetzte Haar hinters Ohr zurück und sah, dass Louis wie ein Junge grinste. Sie waren seit Jahrzehnten verheiratet und hatten nie ohne den Partner gearbeitet. Zum ersten Mal seit Jahren trug Louis wieder einen eleganten Abendanzug. Margaret spürte, wie sehr er die Aufregung genoss, und sie lächelte um seinetwillen.

Sie beobachtete die Leute lieber, anstatt einen direkten Kontakt mit ihnen zu haben. Louis hatte einmal scherzhaft behauptet, seine Frau wäre deshalb so sehr von der Archäologie auf fremden Welten fasziniert, weil es dort kaum nötig wurde, mit jemandem ein Gespräch zu führen.

Mit viel Schmutz unter den Fingernägeln und bahnbrechenden Entdeckungen in ihren Lebensläufen hatten Margaret und Louis Colicos auf zahlreichen von den insektenartigen Klikiss verlassenen Welten geforscht und nach Hinweisen darauf gesucht, was mit ihrer verschwundenen Zivilisation geschehen sein mochte. Von dem Sternenreich der Fremden waren nur Geisterstädte und einige käferartige Roboter übrig geblieben, die über keine nützlichen Erinnerungen an ihre Schöpfer verfügten. In den gespenstischen Ruinen von Corribus hatte das Colicos-Team jene erstaunliche Technik entdeckt und enträtselt, die einen ganzen Planeten brennen lassen konnte: die so genannte »Klikiss-Fackel«.

Jetzt vibrierte Aufregung in der gefilterten Luft der Beobachtungsplattform. Eingeladene Funktionäre drängten sich an den Fenstern und sprachen miteinander. Nie zuvor hatten Menschen versucht, ihre eigene Sonne zu schaffen. Die Konsequenzen und geschäftlichen Möglichkeiten waren enorm.

Der Vorsitzende Basil Wenzeslas bemerkte, dass Margaret sich von den anderen separiert hatte. Als ein kleiner Kompi mit einem Tablett vorbeikam, das teuren Sekt anbot, nahm der mächtige Vorsitzende der Terranischen Hanse zwei Gläser aus stranggepresstem Polymer und näherte sich ihr, stolz und strahlend. »Weniger als eine Stunde.«

Margaret nahm das Glas pflichtbewusst entgegen und erwies dem Vorsitzenden die Freundlichkeit, einen Schluck zu trinken. Die wiederaufbereitete Luft der Beobachtungsplattform beeinflusste den Geruchs- und Geschmackssinn – ein billigerer Sekt hätte vermutlich ebenso gut geschmeckt. »Ich bin froh, wenn es vorbei ist, Vorsitzender. Ich verbringe meine Zeit lieber auf leeren Welten und lausche dort dem Flüstern längst vergangener Zivilisationen. Ein solches Gedränge wie hier mag ich nicht.«

Auf der anderen Seite der Plattform bemerkte sie einen grünen Priester, der still und allein dasaß. Der Mann mit der smaragdfarbenen Haut sollte unmittelbare telepathische Kommunikation ermöglichen, falls es zu einem Notfall kam. Jenseits der Beobachtungsplattform hing eine Zeremonienflotte fremder Kriegsschiffe im All: sieben spektakuläre Schiffe der ildiranischen Solaren Marine. Die Ildiraner waren ein gütiges Volk von Humanoiden, die der Menschheit dabei geholfen hatten, sich in der Galaxis auszubreiten. Ihre prächtig geschmückten Schiffe waren dort in Position gegangen, von wo aus sich der spektakuläre Test gut beobachten ließ.

»Ich verstehe Sie«, sagte der Vorsitzende. »Auch ich versuche, mich vom Rampenlicht fern zu halten.« Wenzeslas war ein vornehmer Mann und schien mit jedem verstreichenden Jahr attraktiver und kultivierter zu werden, so als lernte er die Kunst der Höflichkeit immer besser, ohne dabei zu vergessen, wie man körperlich fit blieb. Er nippte an dem Sekt so zurückhaltend, dass die Flüssigkeit kaum seine Lippen berührte. »Das Warten fällt immer schwer, nicht wahr? Sie sind nicht daran gewöhnt, sich an einen starren Zeitplan zu halten.«

Margaret antwortete mit einem höflichen Lachen. »Archäologie erfordert keine Eile – bei Geschäften hingegen sieht die Sache anders aus.« Sie wünschte sich, einfach an die Arbeit zurückkehren zu können.

Der Vorsitzende berührte mit seinem Sektglas behutsam das von Margaret; es war wie ein kristallener Kuss. »Sie und Ihr Mann sind eine Investition, die sich zweifellos für die Hanse gelohnt hat.« Die Xeno-Archäologen erhielten seit langem Fördermittel von der Hanse, aber die von Margaret und Louis entdeckte sonnenerzeugende Technik war viel mehr wert als alle Archäologiebudgets zusammen.

Bei ihrer Arbeit in der kühlen Leere von Corribus hatte Margaret die Ideogramme an den Wänden der Klikiss-Ruinen analysiert, die Koordinaten von Neutronensternen und Pulsaren im Spiralarm ermittelt und sie mit den Karten der Hanse verglichen.

Diese eine Korrelation löste eine Lawine weiterer Durchbrüche aus: Indem Margaret die aus den Klikiss-Zeichnungen abgeleiteten Koordinaten von Neutronensternen mit der bekannten stellaren Drift in Beziehung setzte, hatte sie das Alter der Karten berechnen können. Auf diese Weise fand sie heraus, dass die Klikiss vor fünftausend Jahren verschwunden waren. Der technischer orientierte Louis nahm die Koordinaten und Diagramme als Schlüssel, fügte ihnen die bei vielen anderen Ausgrabungen gewonnenen Informationen hinzu und entschlüsselte die mathematischen Notationen der Klikiss. Das wiederum ermöglichte es ihm, die Grundfunktionen der Fackel zu verstehen.

Der Glanz in den grauen Augen des Vorsitzenden wurde kühler und geschäftsmäßiger. »Ich verspreche Ihnen dies, Margaret: Wenn die Klikiss-Fackel wie erwartet funktioniert, können Sie das Ausgrabungsgelände und den Planeten frei wählen, auf dem Sie forschen möchten – ich persönlich werde dafür sorgen, dass Sie die notwendigen Mittel bekommen.«

Margaret erwiderte die vertrauliche Geste mit ihrem Sektglas. »Auf das Angebot komme ich zurück. Louis und ich haben bereits einen viel versprechenden Planeten ausgewählt.«

Die unberührte Geisterwelt Rheindic Co, mit vielen Geheimnissen, unerforschten Gebieten und nicht katalogisierten Ruinen … Aber zuerst mussten sie hier ihre Pflicht erfüllen und die politischen Ehrungen nach der Zündung des Gasriesen über sich ergehen lassen.

Margaret trat neben Louis und hakte sich bei ihm ein, als er ein Gespräch mit dem geduldigen grünen Priester begann, der neben dem Topf mit seinem jungen Weltbaum saß. Sie konnte das Ende des Experiments kaum abwarten. Eine leere alte Stadt war für sie viel interessanter als ein brennender Planet.

2 * BASIL WENZESLAS

Still und unauffällig wanderte Basil Wenzeslas durch die Menge. Er lächelte und machte scherzhafte Bemerkungen, wenn man es von ihm erwartete, und die ganze Zeit über prägte er sich Details ein. Außenstehenden zeigte er nie mehr als nur einen Bruchteil seiner Gedanken und komplexen Pläne. Das Wohl der Terranischen Hanse hing davon ab.

Er war ein älterer Mann, der sich gut gehalten hatte und dessen Alter sich selbst bei genauem Hinsehen kaum abschätzen ließ. Er unterzog sich wirkungsvollen Antialterungsbehandlungen und griff auch auf spezielle Zellulartherapien zurück, um geschmeidig und gesund zu bleiben. Der elegante, vornehme Basil trug Anzüge, die mehr kosteten, als manche Familien in einem ganzen Jahr verdienten, aber er war keineswegs eitel. Alle Personen auf der Beobachtungsplattform wussten um seine Macht, doch er hielt sich bedeckt.

Als ihn eine übereifrige Mediencirce mit mahagoniroter Haut um ein Interview über die Klikiss-Fackel bat, dirigierte er die Frau und ihre Aufzeichnungscrew zum Chefwissenschaftler des Projekts, wich dann in die Menge zurück, um zu beobachten und nachzudenken.

Er blickte zu dem riesigen Ball aus ockerfarbenen Wolken, die Oncier wie ein schlecht gerührtes Konfekt aussehen ließen. In diesem Sonnensystem gab es keine bewohnbaren Planeten, und Onciers Gasmischung eignete sich nicht für das Sammeln von Ekti, jenes exotischen Wasserstoffallotrops, das die Ildiraner in ihrem Sternenantrieb verwendeten. Dieser abgelegene Gasriese eignete sich bestens dafür, die Klikiss-Fackel an ihm auszuprobieren.

Der Chefwissenschaftler Gerald Serizawa sprach glatt und leidenschaftlich über den bevorstehenden Test, und die Medienleute hörten aufmerksam zu. Neben ihm saßen Techniker an Schaltpulten. Basil ließ seinen Blick über die Displays gleiten. Alles lief offenbar nach Plan.

Dr. Serizawa war vollkommen haarlos; den Grund dafür kannte Basil nicht. Kosmetische Vorliebe kam als Erklärung ebenso infrage wie genetische Veranlagung oder eine exotische Krankheit. Der hagere und energische Chefwissenschaftler sprach mit den Händen ebenso wie mit dem Mund und unterstrich seine Worte durch Gesten. Jeweils nach einigen Minuten geriet er in Verlegenheit, faltete die Hände und versuchte, sie nicht mehr zu bewegen.

»Gasriesen wie Jupiter in unserem eigenen Sonnensystem befinden sich am Rand eines Gravitationsgefälles, das sie zu einem stellaren Kollaps führen könnte. Jeder planetare Körper zwischen dreizehn und hundert Jupitermassen verbrennt in seinem Kern Deuterium und beginnt zu leuchten.«

Mit einem eigenwilligen Zeigefinger deutete Serizawa auf die Journalistin, die zuvor Basil angesprochen hatte. »Mit dieser wieder entdeckten Technik können wir einen Gasriesen wie Oncier über die Massegrenze stoßen, um nukleares Feuer in ihm zu zünden und ihn zu einer Sonne werden zu lassen …«

»Bitte erklären Sie unseren Zuschauern, woher die zusätzliche Masse kommt«, sagte die Journalistin.

Serizawa lächelte und freute sich darüber, den Vortrag fortsetzen zu können. Ein dünnes, amüsiertes Lächeln umspielte Basils Lippen und er dankte seinem Glück dafür, dass der haarlose Doktor ein so begeisterter Redner war.

»Nun, die Klikiss-Fackel verankert die beiden Enden eines Wurmlochs, eines zehn Kilometer breiten Tunnels.« Die Medienleute verstanden natürlich nichts von der Mechanik eines Wurmlochs und von den Schwierigkeiten, eine so große Lücke in der Raum-Zeit zu schaffen. »Das eine Ende öffnen wir bei einem superdichten Neutronenstern, das andere im Kern von Oncier. Innerhalb eines Augenblicks wird der Neutronenstern ins Zentrum des Planeten transferiert. Mit so viel zusätzlicher Masse kollabiert der Gasriese, und in seinem Kern beginnt das atomare Feuer zu brennen. Dadurch wird genug Licht und Wärme erzeugt, um die größeren Monde bewohnbar zu machen.«

Ein Journalist richtete einen Imager auf die weißen Punkte über dem Gasriesen, als Serizawa fortfuhr: »Leider brennt die neue Sonne nur für hunderttausend Jahre, aber das dürfte genug Zeit sein, um die vier Monde in produktive Kolonien der Hanse zu verwandeln. Es ist praktisch eine Ewigkeit, soweit es uns betrifft.«

Basil nickte vor sich hin. Typisches kurzfristiges Denken, aber nützlich. Die Erde gehörte jetzt zu einem größeren galaktischen Netzwerk, was bedeutete, dass wahre Visionäre in völlig neuen zeitlichen Maßstäben denken mussten. Die menschliche Geschichte war nur der winzige Teil eines größeren Ganzen.

»Die Klikiss-Fackel eröffnet der Hanse völlig neue Möglichkeiten. Mit ihr können wir Habitate schaffen und so dem Bedürfnis der Menschheit nach mehr Lebensraum gerecht werden.«

Basil fragte sich, wie viele Leute diese Erklärung schluckten. Sie war natürlich korrekt, zumindest zum Teil, aber die prächtig geschmückten ildiranischen Kriegsschiffe jenseits der Beobachtungsplattform erinnerten ihn an den wahren Grund für diese einzigartige Demonstration.

Die Klikiss-Fackel sollte nicht getestet werden, weil die Menschheit unbedingt mehr Lebensraum brauchte – es gab mehr als genug Planeten, die sich für eine Besiedelung durch Menschen eigneten. Nein, es steckte politische Überheblichkeit dahinter. Die Hanse wollte beweisen, dass die Menschen zu so etwas in der Lage waren. Es handelte sich um eine extravagante Geste.

Vor hundertdreiundachtzig Jahren hatte das Ildiranische Reich die ersten terranischen Generationenschiffe auf ihrer ziellosen Reise durchs All gerettet. Die Ildiraner hatten den Menschen ihren Sternenantrieb angeboten und die Erde in die große galaktische Gemeinschaft aufgenommen. Die Menschen hielten das Ildiranische Reich für einen wohlwollenden Verbündeten, doch Basil beobachtete die Fremden schon seit einer ganzen Weile.

Ihre uralte Zivilisation stagnierte. Es gab in ihr jede Menge Rituale und Traditionen, aber kaum neue Ideen. Menschen verbesserten den ildiranischen Sternenantrieb. Eifrige Kolonisten und Unternehmer – selbst die Weltraumzigeuner der Roamer-Clans – füllten schnell die alten sozialen und wirtschaftlichen Nischen der Ildiraner. Innerhalb weniger Generationen gelang es den Menschen, fest Fuß zu fassen.

Die Hanse wuchs sprunghaft, während die schwerfälligen fremden Wohltäter immer mehr verblassten. Basil war sicher, dass die Menschen das alte, kränkelnde Reich bald übernehmen würden. Der Test der Klikiss-Fackel sollte die Ildiraner von den terranischen Möglichkeiten überzeugen und sie davon abhalten, den Eifer der Menschen auf die Probe zu stellen. Bisher hatte es bei den Ildiranern keine Anzeichen von Aggression gegeben, aber Basil vertraute den altruistischen Motiven der gemütlichen stellaren Nachbarn nicht ganz. Er hielt es für besser, die Ildiraner auf mehr oder weniger subtile Weise an das technische Potenzial der Menschheit hinzuweisen.

Während der Countdown weiterlief, holte sich Basil ein zweites Glas Sekt.

3 * ADAR KORI'NH

Im Kommando-Nukleus des ersten Kriegsschiffs dachte Adar Kori'nh, Oberster Admiral der ildiranischen Solaren Marine, über die Torheit der Menschen nach.

Zwar würde das Ergebnis dieses grotesken Tests erhebliche Auswirkungen auf die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Ildiranischen Reich und der Terranischen Hanse haben, aber der Adar hatte nur eine Septa mitgebracht, eine Gruppe aus sieben Kriegsschiffen. Der Weise Imperator hatte ihn angewiesen, nicht zu großes Interesse an dem Ereignis zu zeigen. Kein Ildiraner sollte sich zu sehr von den Aktionen jener Emporkömmlinge beeindrucken lassen.

Trotzdem hatte Adar Kori'nh seine Schlachtschiffe schmücken lassen, denn das war eine Frage des Stolzes: Die Außenhüllen trugen nun Symbole und prächtige Lichterstreifen als primäre Hoheitszeichen. Die Raumschiffe sahen aus wie verzierte Tiefseegeschöpfe bei einem exotischen Paarungsritual. Die Solare Marine verstand sich auf Prunk und militärische Schau besser als die Menschen.

Der Vorsitzende der Hanse hatte Kori'nh zur Beobachtungsplattform eingeladen, um von dort aus die Zündung des Gasriesen zu beobachten. Aber der Adar hatte beschlossen, an Bord seines Schiffes zu bleiben, im Kommando-Nukleus, fern von den Menschen. Doch wenn der Test begann, wollte er die Plattform aufsuchen, mit politisch akzeptabler Verspätung.

Kori'nh war ein Zweiblut, eine Mischung aus den Geschlechtern des Adels und der Soldaten, wie alle wichtigen Offiziere der Solaren Marine. Sein glattes, schmales Gesicht wies menschenartige Züge auf, denn die höheren Verwandten ähnelten den einblütigen Menschen. Trotz der physischen Ähnlichkeiten gab es fundamentale Unterschiede zwischen Ildiranern und Terranern; sie betrafen vor allem das Herz und den Geist.

Kori'nhs Haut hatte einen grauen Ton, und auf dem Kopf trug er einen Haarknoten, Zeichen seines Rangs. Die einteilige Uniform des Adar bestand aus einem langen Umhang mit sich überlagernden grauen und blauen Schuppen sowie einem Gürtel an der Hüfte.

Als Hinweis auf die geringe Bedeutung dieser Mission hatte er darauf verzichtet, seine zahlreichen militärischen Auszeichnungen an der Uniform zu befestigen. Aber die Menschen würden das ohnehin nicht verstehen, wenn er ihnen schließlich gegenübertrat. Mit einer Mischung aus verächtlicher Erheiterung und Sorge beobachtete er die große wissenschaftliche Aktivität.

Zwar hatten die Ildiraner dem jungen Volk der Menschen während der beiden letzten Jahrhunderte oft geholfen, aber sie hielten sie noch immer für ungeduldig und ungezogen. Kulturelle Kinder, adoptierte Mündel. Vielleicht brauchte die Menschheit ein gottartiges, allmächtiges Oberhaupt wie den Weisen Imperator. Das goldene Zeitalter des Ildiranischen Reiches dauerte schon seit Jahrtausenden. Die Menschen konnten viel von diesem älteren Volk lernen, wenn sie ihm Beachtung schenkten, aber stattdessen bestanden sie darauf, ihre eigenen Fehler zu machen.

Kori'nh verstand nicht, warum die ungestümen und viel zu ehrgeizigen Terraner so sehr daran interessiert waren, weitere Welten zu terraformen und zu besiedeln. Warum sich bemühen, einen Gasriesen in eine Sonne zu verwandeln? Warum einige öde Monde bewohnbar machen, wenn es so viele gute Welten gab, die alles andere als überbevölkert waren? Die Menschen schienen zu beabsichtigen, sich überall auszubreiten.

Der Adar seufzte, als er zum Hauptschirm sah, der ihm das All zeigte. Frei verfügbare Planeten und Sonnen … Wie terranisch diese Einstellung war.

Aber selbst für all die Auszeichnungen, die ihm der Weise Imperator noch verleihen konnte, hätte er dieses Ereignis nicht versäumen wollen. Vor langer Zeit hatte die Solare Marine gegen die schrecklichen und geheimnisvollen Shana Rei gekämpft. Die militärische Streitmacht war auch nötig gewesen, um in einem herzzerreißenden Bürgerkrieg vor zweitausend Jahren gegen andere, irregeleitete Ildiraner zu kämpfen. Aber seit damals diente die Flotte nur noch dazu, Eindruck zu machen. Zum direkten Einsatz gelangte sie nur noch bei Rettungs- oder zivilen Missionen.

Ohne Feinde und ohne interplanetare Konflikte im Ildiranischen Reich hatte Kori'nh seine berufliche Laufbahn in der Solaren Marine vor allem mit Zeremonien-Gruppierungen verbracht. Seine Erfahrungen in Kampf und Taktik beschränkten sich auf das, was er in der Saga gelesen hatte, was natürlich nicht das Gleiche war.

Der Weise Imperator hatte ihn als offiziellen Repräsentanten des Reiches nach Oncier geschickt und natürlich war er bereit gewesen, dem Gott und Oberhaupt seines Volkes zu gehorchen. Die schwache telepathische Verbindung mit allen Untertanen erlaubte es dem Weisen Imperator, die Ereignisse durch Kori'nhs Augen zu beobachten.

Ganz gleich, was er davon hielt: Dieses kühne menschliche Experiment würde eine interessante Erweiterung des ildiranischen historischen Epos Die Saga der Sieben Sonnen sein. Dieser Tag und vermutlich auch Kori'nhs Name gingen ein in Geschichte und Legende. Kein Ildiraner konnte sich mehr erhoffen.

4 * ALTER KÖNIG FREDERICK

Umgeben von der Opulenz des Flüsterpalastes auf der Erde spielte der Alte König Frederick seine Rolle. Basil Wenzeslas hatte ihm Anweisungen übermittelt, und der große Monarch der Hanse kannte seine Pflicht. Er nahm die Befehle des Vorsitzenden entgegen und befolgte sie.

Um ihn herum schrieben Funktionäre des Hofes Dokumente, zeichneten Dekrete auf, gaben königliche Order weiter und verteilten Wohltaten. Der Flüsterpalast musste wie ein Ort aussehen, an dem immer rege Aktivität herrschte, bestimmt von Ordnung und Kompetenz.

Frederick trug eine schwere Amtstracht und eine leichte Krone, geschmückt mit holographischen Prismen, als er im Thronsaal auf eine Nachricht von Oncier wartete. Er hatte gebadet und sich parfümiert. Die vielen Ringe an seinen Fingern glänzten. Seine Haut war mit Lotionen und Ölen eingerieben werden. Das Haar zeigte Perfektion; alle Strähnen befanden sich dort, wo sie sein sollten.

Zwar hatte man ihn ursprünglich wegen seines Aussehens, Charismas und seiner Rhetorik ausgewählt, aber Frederick verstand das Fundament der Monarchie besser als die aufmerksamsten Schüler der Staatsbürgerkunde. Echtzeit-Politik in einem so riesigen galaktischen Gebiet war mit offensichtlichen Problemen verbunden, und deshalb brauchte die Hanse eine sichtbare Symbolfigur, die Dekrete und Gesetze erließ. Die Bevölkerung benötigte eine konkrete Person, der man Loyalität entgegenbringen konnte. Für ein vages gemeinsames Ideal wäre niemand bereit gewesen, bis zum Tod zu kämpfen oder einen Bluteid zu leisten.

Wie seine fünf Vorgänger existierte König Frederick hauptsächlich dafür, gesehen und verehrt zu werden. An seinem Hof gab es prunkvolle Kleidung, glänzenden Marmor, erlesene Teppiche, kostbare Tapisserien, Kunstwerke, Schmuck und Skulpturen. Er verlieh Medaillen, veranstaltete Empfänge und erfreute das Volk, indem er es am Reichtum der Hanse teilhaben ließ. Frederick hatte alles, was er brauchte oder sich wünschte – abgesehen von Unabhängigkeit und Freiheit.

Basil hatte ihm einmal gesagt: »Die Menschen neigen dazu, das Treffen von Entscheidungen charismatischen Personen zu überlassen. Dadurch zwingen sie andere, Verantwortung zu übernehmen, und sie können die Schuld für ihre Probleme weiter oben in der Hierarchie suchen.« Er hatte auf den König gedeutet, der einen so schweren Ornat trug, dass er kaum mehr gehen konnte. »Wenn man diesen Gedanken bis zur logischen Schlussfolgerung fortsetzt, so entwickelt letztendlich jede Gesellschaft die Monarchie, früher oder später.«

Nach sechsundvierzig Jahren auf dem Thron entsann sich Frederick kaum mehr an sein früheres Leben oder seinen ursprünglichen Namen. Während seiner Amtszeit war es in der Hanse zu erheblichen Veränderungen gekommen, doch nur wenig davon ging auf ihn selbst zurück. Inzwischen fühlte er die Bürde der Jahre.

Der König hörte das Plätschern der Springbrunnen, das Summen der Luftschiffe und das Stimmengewirr der Menge auf dem königlichen Platz, die immer weiter anschwoll und darauf wartete, dass er sich von seinem bevorzugten Balkon aus an sie wandte. Der Erzvater des Unisono ließ die vielen Besucher bereits die vertrauten Gebete sprechen, was die Menge jedoch nicht daran hinderte, nach vorn zu drängen, in der Hoffnung, einen Blick auf den prächtigen Monarchen zu erhaschen. Frederick wollte so lange wie möglich im Innern des Palastes bleiben.

Nach ihrer Erbauung in der Frühzeit der terranischen Expansion hatte die riesige königliche Residenz Besucher so sehr beeindruckt, dass es ihnen die Sprache verschlug – daher die Bezeichnung »Flüsterpalast«. Die immer erleuchteten Kuppeln bestanden aus einzelnen Glasflächen, gehalten von Streben aus vergoldetem Titan. Als Ort hatte man das frühere Südkalifornien gewählt, wegen des sonnigen Wetters. Der Palast war größer als jedes andere Gebäude auf der Erde, groß genug, um zehn Städte von der Größe Versailles aufzunehmen. Später, als die Hanse der enormen Architektur des Ildiranischen Reiches begegnete, war der Flüsterpalast erweitert worden, um mithalten zu können.

Schönheit umgab den König, aber derzeit konnte sie ihn nicht auf andere Gedanken bringen. Ungeduldig wartete er auf eine Mitteilung von Basil beim fernen Planeten Oncier. »Bedeutsame Ereignisse geschehen nicht sofort«, sagte er so, als wollte er sich selbst überzeugen. »Heute werden wir den Lauf der Geschichte ändern.«

Ein Kammerherr des Hofes schlug einen ildiranischen Gong, der aus einer Kristalllegierung bestand. Der König reagierte sofort auf das Geräusch. In seinem Gesicht erschien ein väterliches Lächeln, ein gut einstudierter Ausdruck, der freundliche Zuversicht zeigte.

Als die musikalischen Vibrationen verebbten, schritt Frederick durch die königliche Promenade und näherte sich dem großen Sprechbalkon. Aus reiner Angewohnheit blickte er in einen ultraklaren Kristallspiegel in einem Alkoven. Einige Sekunden lang musterte er sich, sah die nicht ganz verborgene Müdigkeit in den Augen und einige weitere Falten, die nur ihm auffielen. Wie lange würde Basil ihn noch diese Rolle spielen lassen, bevor aus dem »väterlichen« König ein »tatteriger« zu werden drohte? Vielleicht entließ ihn die Hanse bald in den Ruhestand.

Die breite Solartür öffnete sich. Der König atmete tief durch und straffte die Schultern.

Botschafterin Otema, die alte grüne Priesterin vom Waldplaneten Theroc, stand neben dem schulterhohen Weltbaumschössling, der in einem verzierten Topf wuchs. Durch das Netzwerk des intelligenten Weltwaldes konnte Otema unmittelbar mit einem anderen grünen Priester auf der fernen technischen Beobachtungsplattform kommunizieren.

Frederick klatschte kurz in die Hände. »Es wird Zeit. Übermitteln wir die Nachricht, dass ich, König Frederick, die Erlaubnis für den Beginn des Tests erteile. Teilen Sie mit, dass das Experiment mit meinem Segen eingeleitet werden soll.«

Otema verneigte sich höflich. Die ernste Botschafterin hatte so viele Statustätowierungen im Gesicht und ihre grüne Haut wirkte so wettergegerbt, dass sie fast ebenfalls wie ein knorriger Baum aussah. Sie und Basil Wenzeslas waren oft aneinander geraten, aber Frederik hatte sich aus ihren Streitereien herausgehalten.

Otemas schwielige Finger tasteten nach dem schuppigen Stamm des Weltbaums und sie schloss die Augen, um mithilfe der Bäume einen Telkontakt mit dem grünen Priester bei Oncier herzustellen.

5 * BENETO THERON

Bei Oncier breitete sich erwartungsvolle Stille unter den Beobachtern und Gästen aus, als Beneto seinen Griff am Weltbaum lockerte. Er strich mit den Fingerkuppen über die Borke der Pflanze, spendete und empfing Trost. »König Frederick schickt seinen Segen«, sagte er. »Das Experiment kann beginnen.«

Applaus erklang wie das Pochen von Regentropfen. Mediengesandte richteten Imager auf den Gasriesen, als rechneten sie damit, dass nach dem Befehl des Königs sofort etwas geschah.

Dr. Serizawa eilte zu den Technikern, und auf sein Zeichen hin wurden die Endanker vom Orbit aus gestartet. Helle Lichter senkten sich dem Gasriesen entgegen und stießen dorthin vor, wo sich ein Wurmloch öffnen sollte. Die Sonden waren nach alten Klikiss-Entwürfen konstruiert und verschwanden spurlos in den Wolken.

Beneto beobachtete alle Einzelheiten und gab sie im Gebet an den neugierigen und wissensdurstigen Weltwald weiter. Zwar war er der zweite Sohn der regierenden Familie von Theroc, aber hier bei Oncier bestand seine Aufgabe nur darin, Nachrichten über den ehrgeizigen Test mithilfe der Weltbäume weiterzugeben. Diese Kommunikation war viel schneller als jede elektromagnetische Variante – EM-Signale breiteten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und hätten Monate oder gar Jahre gebraucht, um den nächsten Außenposten der Hanse zu erreichen.

Mithilfe der untereinander in Verbindung stehenden Bäume konnten grüne Priester direkt und unmittelbar miteinander kommunizieren, ungeachtet ihres jeweiligen Aufenthaltsorts. Jeder einzelne Baum war eine Manifestation des ganzen Weltwalds, ein identisches Quantenbild aller anderen. Was ein Baum wusste, das wussten auch die anderen, und grüne Priester konnten dieses Wissensreservoir anzapfen, wann immer sie wollten. Sie nutzten es, um Mitteilungen auszutauschen.

Während die Zuschauer beobachteten, wie die Anker in den Wolken von Oncier verschwanden, berührte Beneto erneut den Baum. Er ließ sein Bewusstsein durch den Stamm treiben, bis seine Gedanken andere Teile des Weltwalds erreichten. Als sein Selbst kurze Zeit später zurückkehrte und er aufsah, begegnete er dem Blick des Vorsitzenden Wenzeslas.

Beneto wahrte eine ruhige, würdevolle Miene. Sein tätowiertes Gesicht wirkte attraktiv und edel. Die Augen wiesen Reste von Epikanthusfalten auf, wodurch sie runder aussahen. »Mein Vater Idriss und meine Mutter Alexa entbieten die Gebete aller Theronen für einen Erfolg des Tests.«

»Freundliche Worte Ihrer Eltern nehme ich immer gern entgegen«, sagte Basil. »Obwohl es mir lieber wäre, wenn Theroc in einer formalisierteren Verbindung mit der Hanse stünde.«

»Die Pläne und Wünsche des Weltwalds lassen sich nicht immer mit den Erfordernissen der Hanse vereinbaren, Vorsitzender«, erwiderte Beneto in einem neutralen Tonfall. »Wie dem auch sei: Sie sollten diese Angelegenheiten besser mit meinem älteren Bruder Reynald oder meiner Schwester Sarein besprechen. Sie sind dem Geschäftlichen mehr zugetan als ich.« Er berührte die fedrigen Blätter des Weltbaums als Hinweis auf seinen Priesterstatus. »Als zweiter Sohn war es mir immer bestimmt, dem Weltwald zu dienen.«

»Und dabei leisten Sie bewundernswerte Arbeit. Ich wollte Ihnen kein Unbehagen bescheren.«

»Mit der Hilfe und dem Wohlwollen der Weltbäume spüre ich nur selten so etwas wie Unbehagen.«

Der junge Mann konnte sich keine andere Berufung vorstellen. Er war hochgeboren, und deshalb erwartete man von ihm Präsenz bei prunkvollen Ereignissen wie zum Beispiel diesem Test. Allerdings wollte er seine priesterlichen Pflichten nicht nur erfüllen, um Eindruck zu schinden. Es wäre ihm viel lieben gewesen, dabei zu helfen, den Weltwald im Spiralarm auszubreiten und es Ablegern zu ermöglichen, auf anderen Planeten zu wachsen.

Es gab nur wenige grüne Priester, und ihre Telkontakt-Fähigkeiten waren so gefragt, dass manche missionarische Priester in luxuriösen Villen wohnten, zur Verfügung gestellt von der Hanse oder von Kolonieregierungen. Sie bekamen viel Geld dafür, Nachrichten zu senden und zu empfangen. Andere Priester hingegen führten ein einfacheres Leben und verbrachten ihre Zeit mit dem Pflanzen und der Pflege von Ablegern. Dieser Aufgabe hätte sich auch Beneto gern gewidmet.

Die Hanse war bereit, so viele grüne Priester in ihre Dienste zu nehmen, wie Theroc zur Verfügung stellen konnte, aber in dieser Hinsicht mussten Geschäftsleute und Politiker immer wieder Enttäuschungen hinnehmen. Gesandte der Hanse wiesen darauf hin, dass sich die Priester den Bedürfnissen der Menschheit unterordnen sollten, aber Vater Idriss und Mutter Alexa hatten kein Interesse an einer Ausweitung ihrer persönlichen Macht. Sie erlaubten es den Priestern, selbst über ihren Tätigkeitsbereich zu bestimmen.

Mit großer Sorgfalt wählten die Priester gesunde Schösslinge aus dem intelligenten Wald auf Theroc, pflanzten sie auf Kolonialwelten oder nahmen sie an Bord von Handelsschiffen mit. Der Weltwald sehnte sich nicht nur nach Sonnenlicht und fruchtbarem Boden, sondern noch mehr nach Informationen, nach Daten, die er in sein wachsendes Selbst aufnahm. Die Mission der grünen Priester bestand darin, den Weltwald so weit wie möglich zu verbreiten – sie dienten nicht den Interessen des Handelskonglomerats der Erde.

Über Generationen hinweg hatten Forscher der Hanse die unmittelbare Quantenkommunikation durch die miteinander verbundenen Bäume zu verstehen versucht. Ohne Erfolg. Nur die Weltbäume konnten Telkontakte ermöglichen und nur die grünen Priester waren imstande, mithilfe des Netzwerks der Bäume zu kommunizieren. So sehr sich die Wissenschaftler auch bemühten, das Rätsel zu lösen – schließlich mussten sie aufgeben.

Trotz all ihrer Technik und Manpower, die die Hanse in den Test der Klikiss-Fackel investiert hatte: Ohne einen einzelnen mystischen Priester und seinen Baum konnte das Experiment nicht beginnen …

Auf der Beobachtungsplattform klatschte der Vorsitzende Wenzeslas in die perfekt manikürten Hände. »Nun gut, Beneto, setzten Sie sich mit dem grünen Priester beim Neutronenstern in Verbindung. Das Wurmloch soll dort geöffnet werden.«

Beneto streckte erneut die Hand nach dem Weltbaum aus.

6 * ARCAS

Auf halbem Wege durch den Spiralarm wartete ein anderer grüner Priester in der Gesellschaft von sechs Technikern der Hanse. Sie befanden sich an Bord eines kleinen Scoutschiffs, weit genug vom gravitationellen Zerren des Neutronensterns entfernt.

Der superdichte Stern war der Rest eines kollabierten Roten Riesen, der genug Masse und Bewegungsmoment verloren hatte, um nicht zu einem Schwarzen Loch zu werden. Er krümmte die Raumzeit mit seiner enormen Schwerkraft und rotierte mit hoher Geschwindigkeit um die eigene Achse. Ströme aus hochenergetischen Partikeln spritzten von den Polen, wie Wasser aus einem Schlauch. Die Kugel aus zusammengepresster Materie durchmaß weniger als zehn Kilometer, aber es gingen gewaltige Energien von ihr aus.

Die sechs Techniker an Bord des Scoutschiffs waren nervös und schwitzten. Außerhalb des kleinen Raumschiffs wartete die Sonde mit den Ankern des Wurmlochs darauf, in den Gravitationsschacht des Neutronensterns gestoßen zu werden. Die Techniker sahen Arcas so an, als könnte der grüne Priester sie beruhigen oder die Wartezeit verkürzen.

»Zeit?«, fragte einer von ihnen und es klang wie eine Bitte.

Der Weltbaum hatte noch nicht gesprochen. Arcas seufzte. »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas höre.«

Bald würde er nach Theroc zurückkehren, und dann gaben ihm die Priester eine andere Aufgabe, um dem Weltwald zu dienen. Arcas begegnete diesem Umstand mit Gleichmut, obgleich er die aktuelle Mission ganz bewusst gewählt hatte – hier war er weit entfernt und bekam es nur mit wenigen Personen zu tun. Als grüner Priester blieb ihm gar nichts anderes übrig, als dem Weltwald zu dienen. Er war ein Einzelgänger, aber eben auch ein grüner Priester, mit dem Wald verbunden. Gern hätte er mit jemandem getauscht, der solchen Aufgaben mehr Eifer und Hingabe entgegenbrachte.

Er schloss die Hand um den rauen Stamm des jungen Weltbaums, spürte aber keine eintreffende Telkontakt-Nachricht. Nichts. Das Warten dauerte an. »Keine Mitteilung.«

An Bord des kalten Scoutschiffes gab es zu wenig Platz und die Wände waren zu kahl. Die Luft roch nach Wiederaufbereitungsfiltern; ihr fehlte die feuchte Würzigkeit, die Arcas im dichten Wald atmete. Doch selbst auf Theroc fühlte er nicht die Leidenschaft, die die meisten grünen Priester erfüllte. Vielleicht hätte er einen ganz anderen Lebensweg beschritten, aber inzwischen zeigte seine Haut das Grün des Symbionten, einer subkutanen Alge, die ihm die Photosynthese von hellem Licht gestattete. Die Veränderung war irreversibel. Für immer würde er mit dem Weltwald verbunden bleiben, obgleich er eigentlich gar kein grüner Priester sein wollte.

Arcas war zu einem Akolythen geworden, um ein Versprechen einzulösen, das er seinem Vater am Sterbebett gegeben hatte – eigenes Interesse spielte dabei keine Rolle. Die Nachfrage nach grünen Priestern war so groß, dass selbst mittelmäßige wie Arcas zahllose Angebote bekamen.

Auf Theroc halfen die älteren Priester bei der Auswahl; Vater Idriss und Mutter Alexa verhandelten mit der Hanse. Doch jeder grüne Priester, auch Arcas, konnte sich mit dem Geist des Waldes verbinden, um selbst zu wählen und zu entscheiden. In dem großen Angebot aus wichtigen Positionen, bedeutenden diplomatischen Missionen und zentralen Kommunikationsposten hielt Arcas immer wieder nach der Möglichkeit Ausschau, fernab des geschäftigen Treibens tätig zu sein. Deshalb befand er sich hier, an Bord des Scoutschiffs.

»Zeit?«, fragte ein anderer Techniker. Er klang noch unruhiger als der Erste. »Warum warten sie so lange?«

Arcas kommunizierte durch den Telkontakt und sah dann auf. »Bei Oncier ist alles vorbereitet. Sie können die Sonde starten.«

Die Techniker der Hanse arbeiteten mit Geräten, die für den grünen Priester unverständlich waren, als sie den Klikiss-Apparat aktivierten, der ein Wurmloch erzeugen sollte. Die Sonde löste sich von der Außenhülle des Scoutschiffs, beschleunigte und flog in Richtung des Neutronensterns. Durch das steile Raum-Zeit-Gefälle wurde sie immer schneller.

Die Techniker jubelten, als der Anker in unmittelbarer Nähe des Neutronensterns Bereitschaft meldete. Atemlos und hastig lasen sie die Anzeigen der Displays ab – niemand von ihnen wusste, wie lange die Sonde der gewaltigen Schwerkraft standhalten konnte.

Arcas beobachtete das Geschehen und prägte sich bestimmte Bilder ein, um sie später den Weltbäumen und allen anderen grünen Priestern zu übermitteln. Die Bäume hatten mehr Interesse als er.

»Aktivierung erfolgt jetzt!«, sagte der Cheftechniker.

Die Sonde verwendete Klikiss-Technik, als sie das Gefüge der Raumzeit zerriss und ein Loch in ihr schuf. Die Öffnung des Wurmlochs war groß genug für den superdichten Stern.

Arcas murmelte und schilderte dem Weltbaum die Einzelheiten des Vorgangs – bis es auch ihm die Sprache verschlug, als das Wurmloch den gleißenden Neutronenstern verschlang. Er verschwand in dem Loch, wie ein Kiesel in einem Abflussrohr.

Damit verausgabte die Sonde ihren Energievorrat. Das Wurmloch schloss sich wieder, ohne dass etwas zurückblieb. Leere erstreckte sich dort, wo eben noch ein exotischer Himmelskörper existiert hatte.

»Es ist vollbracht.« Arcas sah zu den Technikern, die noch lauter jubelten als zuvor.

Die schleierförmigen Reste der aus Gas bestehenden Akkretionsscheibe trieben wie dünne Schalen fort, als sie nicht mehr von der Gravitation festgehalten wurden.

Wie eine Bombe mit unvorstellbarer Sprengkraft jagte der Neutronenstern Oncier entgegen.

7 * MARGARET COLICOS

Louis drängte die anderen Leute geschickt beiseite, damit Margaret und er die Implosion des Planeten von einem guten Platz aus beobachten konnten. Basil Wenzeslas stand neben ihnen. »Gleich wissen wir Bescheid«, sagte er. »Der grüne Priester hat darauf hingewiesen, dass sich das Wurmloch auf der anderen Seite öffnete. Der Neutronenstern ist unterwegs.«

Kleine Schweißperlen glänzten auf Dr. Serizawas kahlem Kopf, als er den Blick vom Fenster abwandte und zu den Medienrepräsentanten sah. »Das hiesige Ende des Wurmlochs ist im Kern des Gasriesen verankert. Wenn der superdichte Stern Oncier erreicht, kommt es zum größten Energieschub, den die Menschheit jemals ausgelöst hat.« Er gestikulierte wieder, als er hinzufügte: »Aber seien Sie unbesorgt. Die Druckwelle wird stundenlang durch die dichten Schichten der Atmosphäre unterwegs sein. Wir sind weit genug von Oncier entfernt, um keine Auswirkungen zu spüren.«

Die unglaubliche Masse des Neutronensterns erreichte den metallischen Kern des Gasriesen wie eine Kanonenkugel und brachte genug Masse und Energie, um das nukleare Feuer zu zünden. Serizawa sah die Anzeigen und strahlte. Sonden maßen Druck, Temperatur und Strahlung und die von ihnen übermittelten Werte bildeten führten zu dramatischen Ausschlägen in den Mustern auf den Bildschirmen. Die Techniker klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Von außen betrachtet blieb Oncier ruhig und unbewegt, aber in den innersten Bereichen des Planeten kam es jetzt zu titanischen Veränderungen. Basil Wenzeslas applaudierte und die Würdenträger folgten seinem Beispiel.

»Der Neutronenstern ist viel kleiner, aber weitaus dichter, wie ein Diamant in einem Marshmallow. Onciers Materie stürzt jetzt nach innen.« Serizawa sah erneut zu den Displays und dann aufs Chronometer. »In maximal einer Stunde wird die Dichte so groß sein, dass die Wasserstofffusion beginnt, der Energie erzeugende Prozess, der auch in einem gewöhnlichen Stern stattfindet.«

Margaret blickte zum Planeten, der genauso aussah wie vorher. Zwar befand sich jetzt ein Neutronenstern in seinem Innern, aber angesichts der gewaltigen Größe des Gasriesen würde es noch eine Weile dauern, bis die Veränderungen sichtbar wurden. Sensoren und Detektoren in verschiedenen Wolkenschichten orteten die Stoßwelle aus Strahlung.

Margaret beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf Louis' raue Wange. »Wir haben es geschafft, alter Knabe.« Die beiden Archäologen hatten ihre Arbeit geleistet. Jetzt konnten sie sich zurücklehnen und das Endresultat beobachten. Kosmisches Chaos entfaltete sich in den Tiefen von Oncier.

»Nun, Doktor, es genügt also, genug Gewicht hinzuzufügen, um den Planeten zu zünden?«, erklang hinter Margaret die Stimme eines Journalisten.

»Genau genommen ist es kein Gewicht, sondern Masse«, antwortete Serizawa. »Aber wie dem auch sei: Der plötzliche Transfer des Neutronensterns ins Innere des Planeten gibt ihm negative Energie – potenzielle Energie, genauer gesagt. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie erfordert einen enormen Zustrom von kinetischer Energie, die in der Wurmloch-Thermodynamik als Wärme erscheint. Dadurch werden die Reaktionen ausgelöst, die den Gasriesen in eine Sonne verwandeln. Es geschieht vom einen Augenblick zum anderen.« Diesen Worten folgte eine Geste, die vage Verlegenheit zum Ausdruck brachte. »Nun, es dauert einige Tage, aber man muss die Dinge aus der richtigen Perspektive sehen.«

Normalerweise ging der Wärmetransport in einer Sonne extrem langsam vonstatten. Photonen brauchten tausend Jahre, um vom Kern auf einem langen Zickzackkurs die Oberfläche zu erreichen, denn unterwegs stießen sie immer wieder mit Gasmolekülen zusammen, wurden absorbiert und erneut emittiert, um dann mit einem anderen Gasatom zu kollidieren.

»Beobachten Sie einfach«, sagte Serizawa. »Dann werden Sie bald sehen, was ich meine.«

Im Verlauf der nächsten Stunden ließ das Interesse der Journalisten nach. Die Veränderungen waren sehr langsam, obgleich die gigantische Gaskugel implodierte. Die von den Detektoren tief im Innern der Atmosphäre übermittelten Daten wiesen darauf hin, dass sich der nukleare Brand wie eine Flutwelle ausbreitete. Wenn diese Welle die Oberfläche erreichte, begann Oncier zu leuchten.

Das erste Flackern von Blitzen und Feuer zeigte sich in Lücken zwischen ausgedehnten Sturmsystemen. Hier und dort kam es zu Verfärbungen, was auf dramatische Ereignisse tief unten hinwies. Margarets Übersetzung der Klikiss-Aufzeichnungen hatte diese spektakuläre Verwandlung ermöglicht, aber sie wusste nicht, ob sie stolz oder entsetzt sein sollte von dem, was sie sah.

Die ildiranische Septa nahm den Erfolg der Klikiss-Fackel zum Anlass, einen Repräsentanten zur Beobachtungsplattform zu schicken. Adar Kori'nh kam mit einem Shuttle und in Gesellschaftsuniform, um den weiteren Kollaps des Gasriesen zu beobachten. Margaret begegnete ihm mit Neugier und auch Unsicherheit, denn sie hatte noch nie mit einem Ildiraner gesprochen.

»Ihr Englisch ist ausgezeichnet, Adar«, sagte sie. »Ich wünschte, meine Fremdsprachenkenntnisse wären ebenso gut.«

»Alle Ildiraner sind durch eine gemeinsame Sprache miteinander verbunden, aber jene von uns, die vermutlich in Kontakt mit Menschen treten werden, lernen Ihre Handelssprache. Der Weise Imperator verlangt es von uns.«

Louis nutzte die gute Gelegenheit, um Kori'nh von ihrer Arbeit auf den Klikiss-Welten zu erzählen. »Das Ildiranische Reich existierte, lange bevor die Menschen mit der Erforschung des Alls begannen, Adar. Warum hat Ihr Volk nie Prospektoren oder Archäologen ausgeschickt, um mehr über die verschwundene Spezies zu erfahren? Sind Sie nicht neugierig?«

Kori'nh sah ihn so an, als wäre die Frage außerordentlich seltsam. »Ildiraner schicken keine einzelnen Forscher los. Wenn wir eine Kolonistengruppe entsenden, ›Splitter‹ genannt, so ist sie groß genug, um die Struktur unserer Gesellschaft nachzubilden. Einsamkeit ist ein menschlicher Aspekt, den wir kaum verstehen können. Ich würde niemals beschließen, weit von anderen Angehörigen meines Volkes entfernt zu sein.«

»Meine Frau hier ist so gern allein, dass sie manchmal sogar mir aus dem Weg geht und in einer anderen Sektion einer Ausgrabungsstätte arbeitet.« Louis wechselte einen Blick mit Margaret und lächelte.

Sie nickte verlegen. »Soweit ich weiß, gibt es bei den Ildiranern eine schwache telepathische Verbindung. Es ist kein kollektives Selbst, sondern eine Art Hilfssystem. Stimmt das, General?«

»Wir nennen es Thism«, sagte Kori'nh. »Es geht vom Weisen Imperator aus. Er ist der Knoten, der die Fäden unseres Volkes miteinander verknüpft. Wenn sich ein Individuum zu weit von den anderen entfernt, so könnte der Faden reißen. Menschen halten es vielleicht für einen Vorteil, allein zu reisen. Ich hingegen bemitleide Sie dafür, ohne das Sicherheitsnetz des Thism leben zu müssen.« Kori'nh verbeugte sich mit undeutbarer Miene.

Am Fenster wurden überraschte Stimmen laut. Ein helles Etwas wuchs aus den Wolkenbändern des Gasriesen, wie ein Geysir aus superheißem Gas. Es war ein sehr ungewöhnlicher Vorgang, doch als die Erscheinung verblasste, ließ auch das Interesse der Zuschauer nach. Nach einer Stunde stand Margaret allein am breiten Fenster. Sie empfand den brodelnden Zorn von Oncier als hypnotisch. Der Planet glühte nun. Photonen gingen von der immer noch implodierenden Welt aus.

Margaret beobachtete die helle Wölbung des Planeten vor dem Hintergrund des Alls, jenseits der ildiranischen Kriegsschiffe und der Beobachtungsplattform. Plötzlich schossen mehrere unglaublich schnelle kugelförmige Objekte wie Schrotkörner durch den Weltraum. Sie kamen tief aus dem Innern von Oncier und innerhalb weniger Sekunden verschwanden sie in der ewigen Nacht zwischen den Sternen.

Margaret stockte der Atem, doch die Personen in der Nähe schienen nichts bemerkt zu haben. Ein natürliches Phänomen kam als Erklärung wohl kaum infrage, aber was sonst?

Verwirrt und beunruhigt drehte sie sich um. Louis unterhielt sich noch immer mit Adar Kori'nh und Basil Wenzeslas. Sie sprachen über Einzelheiten der bevorstehenden Expedition nach Rheindic Co, über die vielen Geheimnisse der Klikiss, ihre seltsamen Roboter, die noch immer funktionierten und behaupteten, nichts über ihre Schöpfer zu wissen. Dr. Serizawa stand bei den Technikern und überwachte den visuellen Datenstrom vom Planeten. Ihre Gesichter wiesen darauf hin, dass sie die Erscheinung ebenfalls gesehen hatten.

Margaret trat zu ihnen. »Was war das, Dr. Serizawa? Haben Sie gesehen …«

Der Wissenschaftler sah sie an und lächelte geistesabwesend. »Es ist natürlich eine genaue Analyse erforderlich, aber lassen Sie sich davon nicht beunruhigen. Die sekundären und tertiären Effekte der Klikiss-Fackel sind noch nicht untersucht. Und denken Sie daran: Der extrem hohe Druck eines Gasriesen kann gewöhnliches Gas zu Metallen pressen und Kohlenstoff zu Diamanten.«

Er blickte wieder auf die Bildschirme, die eine Aufzeichnung des Phänomens zeigten. Leider waren die seltsamen Objekte auf der anderen Seite des brennenden Planeten zum Vorschein gekommen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn wir einige aus Onciers Kern stammende metallische Klumpen gesehen haben, exotische Materie, die nach der stellaren Zündung ausgestoßen wurde. Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Colicos. Ihre Klikiss-Fackel hat alle unsere Erwartungen erfüllt und sie sogar übertroffen.«

Margaret runzelte die Stirn. »Für mich sahen die Objekte wie Raumschiffe aus, wie Konstruktionen.«

»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, erwiderte Serizawa und seine Stimme klang dabei fast herablassend. »Ich meine, welche Art von Leben könnte unter dem hohen Druck eines Gasriesen existieren?«

8 * RAYMOND AGUERRA

Jubelnde Mengen zogen durch den Palastdistrikt. Straßenhändler boten Souvenirs und teure Leckereien an. Überall gab es Blumen, deren herrlicher Duft die Luft erfüllte. Ganze Heerscharen von Wartungsarbeitern und Gärtnern würden sie entfernen, bevor ihre Farbenpracht verblassen konnte.

Raymond Aguerra huschte agil durch den Wald aus Ellenbogen und Armen. Der Junge fürchtete keine Taschendiebe, denn er spürte ihre Nähe und vertraute darauf, ihnen rechtzeitig ausweichen zu können, bevor sie zupacken konnten. Außerdem waren seine Taschen leer. Raymond wollte nur den Auftritt des Königs sehen.

Er war vierzehn Jahre alt, intelligent und sehr attraktiv, mit dem schwarzen Haar, seiner schlanken Gestalt und seinem strahlenden Lächeln. Raymond hatte nur wenige Freunde und noch weniger gute Gelegenheiten, abgesehen von denen, die er sich selbst erarbeitete. Ein hartes Leben hatte ihn so muskulös wie einen Windhund werden lassen, was oft Personen überraschte, die ihn herausforderten. Allerdings regelte er Auseinandersetzungen lieber durch Gespräche, anstatt sich auf eine Prügelei einzulassen.

Er duckte sich und glitt so geschickt nach vorn, dass die Zuschauer in der ersten Reihe den Neuankömmling gar nicht bemerkten. Raymond musste jeden Tag nicht nur um den eigenen Lebensunterhalt kämpfen, sondern auch um den seiner Mutter und seiner Brüder. Deshalb schenkte er der Politik kaum Beachtung. Aber er beobachtete gern die Veranstaltungen. Weit oben trugen Luftschiffe, Gleiter und Ballons jene, die sich einen Blick aus der Vogelperspektive auf das Palastgelände leisten konnten. Gongs wurden geschlagen und ihr Donnern war noch lauter als der Jubel des Publikums.

Raymond sah die hellen Uniformen des königlichen Hofes: Wächter und Geistliche, die eine Sprechbühne auf einem großen Balkon des Flüsterpalastes errichteten. Als ein Unisono-Diakon das bekannte Bittgebet sprach, wurde das schimmernde Banner der Terranischen Hanse entrollt. Es zeigte die Erde im Zentrum von drei konzentrischen Kreisen.

Ein alter Mann trat auf den Balkon und wirkte nicht beeindruckender als die Funktionäre des Hofes, sah man einmal davon ab, dass er zu extravagante Kleidung trug. Seine Schritte waren gemessen, wie einstudiert. Als der König die Arme hob, glitten die weiten Ärmel bis zu den Ellenbogen zurück. Sonnenschein spiegelte sich auf den Ringen und den geschliffenen Edelsteinen der Krone.

»Heute verkünde ich Ihnen einen großen Sieg menschlicher Genialität und Entschlossenheit.« König Fredericks Worte hallten aus Lautsprechern über den Platz. Er sprach mit der tiefen, vollen Baritonstimme eines Gottes. »Im Oncier-System haben wir eine neue Sonne geschaffen, die ihr Licht und ihre lebensspendende Wärme vier unberührten Welten schenkt, auf dass sie von Menschen besiedelt werden können.«

Das Publikum hörte ehrfürchtig zu und jubelte dann erneut. Raymond lächelte angesichts der geheuchelten Überraschung – es war vorher bekannt gewesen, aus welchem Grund sich der König an die Öffentlichkeit wandte.

»Die Zeit ist gekommen, vier weitere Fackeln im Palastdistrikt zu entzünden!« Als das Echo dieser Worte verklang, winkte der König. Seine Hand war für Raymond kaum zu sehen, obgleich er gute Augen hatte.

Auf den meisten Türmen, Säulen und Kuppeln brannten ewige Feuer, ebenso in den Schalen der langen Lampenkette auf dem Boden. Jedes einzelne Feuer symbolisierte einen terranischen Kolonialplaneten, der die Charta der Hanse unterzeichnet und somit dem Alten König Treue geschworen hatte.

»Ich gebe Ihnen diese vier neuen Monde, die nach meinen Vorgängern benannt sind, den ersten vier Großen Königen der Terranischen Hanse: Ben!« Mit lautem Donnern wuchs eine Flammensäule aus der Spitze eines hohen Turms an der Wanderbrücke, die über den Königlichen Kanal führte. »George! Christopher! Und Jack!« Bei jedem Namen züngelten Flammen auf Türmen, auf denen bisher kein Feuer gebrannt hatte.

Das Eis auf den vier Monden war noch nicht geschmolzen und die ersten Terraforminggruppen konnten erst landen, wenn das tektonische Chaos neuer Stabilität gewichen war. Trotzdem freute sich Raymond zusammen mit den anderen Zuschauern und beobachtete, wie der König Anspruch auf vier neue Welten erhob. Welch eine Show!

Musik erklang. Funkelnde Glimmerspreu flog wie Schwärme aus Löwenzahnflocken umher, freigesetzt von den Luftschiffen. König Frederick proklamierte einen Feiertag, und das Publikum jubelte einmal mehr – ihm war jeder Grund recht, um ausgelassen zu feiern. Vielleicht erfreute sich der König deshalb so großer Beliebtheit.

Frederick kehrte in die Stille des Flüsterpalastes zurück, und dabei gewann Raymond den Eindruck, dass der König einsam und auch unglücklich wirkte. Er schien es müde zu sein, sein ganzes Leben vor so vielen Augen zu verbringen. In gewisser Weise konnte Raymond den König verstehen, obwohl er den ganzen Tag über für den größten Teil der Welt unsichtbar blieb.

Er wanderte zwischen den Verkaufsständen umher. An den Fassaden des Flüsterpalastes zeigten breite Friese historische Ereignisse: den Start der elf riesigen Generationenschiffe; den ersten Kontakt mit den Ildiranern, die den Menschen ihren Sternenantrieb und ihre galaktische Zivilisation anboten. In regelmäßigen Abständen bewegten sich die Friese und erfüllten die dargestellten Szenen in der Art eines Glockenspiels mit Leben. Statuen bei den Springbrunnen gerieten in Bewegung: Steinerne Engel schlugen mit ihren Flügeln; historische Generäle ritten auf Pferden, die sich aufbäumten.

Ein Strom aus Fußgängern ergoss sich über die Brücke, die zum Palastgelände führte. Raymond beobachtete ihn aus großen Augen und bemerkte die Gefahr eine halbe Sekunde zu spät.

Jemand packte ihn am Nacken. Finger drückten wie ein Schraubstock zu. »Er kommt also hierher, um zu stehlen, wenn die Leute nicht hinsehen. Aber er lässt uns im Stich, wenn es um eine größere Sache geht.«

Raymond drehte den Kopf weit genug, um festzustellen, von wem diese Worte stammten. Ein älterer Junge namens Malph stand hinter ihm, während sein stärkerer Freund Burl die Finger noch fester um Raymonds Hals schloss. Mit einer raschen Bewegung gelang es dem Vierzehnjährigen, sich aus Burls Griff zu befreien, aber er lief nicht fort. Noch nicht. »Tut mir Leid, aber ich habe nicht vor zu stehlen.«

»Oh, Diebstahl ist unter seiner Würde!«, schnaufte Burl abfällig.

»Nein, er ist zu einfach«, erwiderte Raymond. »Sich den Lebensunterhalt mit harter Arbeit zu verdienen – das ist eine Herausforderung. Ihr sollte es einmal versuchen.«

Um sie herum tanzten die Leute. Manche küssten sich, andere standen bei den Delikatessenverkäufern Schlange. Malph sprach leise, aber selbst wenn er geschrien hätte – es wäre kaum jemandem aufgefallen. »Raymond, Raymond, warum wirst du nicht Diakon, wenn du solche moralischen Probleme hast? Und warum konntest du nicht vorher darauf hinweisen, anstatt uns zu verraten?«

»Meine Güte, Malph, ich habe nein gesagt. Sechzehnmal, wenn ich mich recht entsinne. Aber du wolltest nichts davon hören. Bei jemandem einzubrechen und ihm das Ersparte zu stehlen – das entspricht nicht meiner Vorstellung von einer Laufbahn. Wenn man einmal damit anfängt, fällt es einem immer leichter.«

»Oh, ich bin durchaus dafür, dass es leichter wird«, sagte Burl und lachte bitter. »Es war ganz schön mühsam, den Greifern zu entkommen, nachdem du den Alarm ausgelöst hast.«

»Wenn ihr so gut seid, wie ihr behauptet, wären euch die Greifer nicht so nahe gekommen.« Raymond richtete den Zeigefinger auf seinen Kontrahenten. »Siehst du, Malph, ich habe mich auf dein Geschick verlassen, und jetzt gibst du mir zu verstehen, dass alles Angeberei war.« Er holte tief Luft, die Muskeln gespannt, bereit zur Flucht oder zum Kampf. »Ihr glaubt mir vermutlich nicht, wenn ich sage, dass es ein Unfall war, oder?«

Burl ballte die Fäuste und schien größer zu werden. »Nachdem wir Hackfleisch aus dir gemacht haben, kannst du deiner Mami sagen, dass es ebenfalls ein Unfall war.«

»Lass meine Mutter aus dem Spiel.« Raymond stellte sich Rita Aguerra mit Tränen in den Augen und voller Sorge um ihren ältesten Sohn vor – dieses Bild war schmerzvoller als Prügel.

Wie ein Hai, der Blut im Wasser wittert, trat Malph zur anderen Seite, um Raymond an der Flucht zu hindern. Doch der Vierzehnjährige überraschte ihn mit dem Unerwarteten. Er sprang dem größeren Burl entgegen, bearbeitete ihn mit Fäusten, harten Knöcheln und spitzen Ellenbogen. Er kämpfte ohne Finesse, benutzte aber jeden harten Teil seines Körpers, von den Stiefelspitzen bis zum Kopf, und auf diese Weise gelang es ihm innerhalb weniger Sekunden, den verblüfften Burl aufs Pflaster zu schicken. Anschließend wirbelte Raymond herum und versetzte dem angreifenden Malph einen Tritt in den Unterleib.

Er hatte seine beiden Gegner nicht verletzt, aber es reichte, um sie aufzuhalten. Und um ihnen zu entkommen.

Raymond verschwand in der Menge, bevor Malph und Burl wieder auf die Beine kamen. Seine Botschaft war deutlich genug. Entweder ließen sie ihn in Ruhe oder sie kamen beim nächsten Mal mit Verstärkung. Vermutlich würde Letzteres der Fall sein.

Er lachte vor sich hin, als er über die Brücke lief, die den Königlichen Kanal überspannte. Beim Abklopfen seiner einfachen Kleidung stellte er erleichtert fest, dass sie nirgends gerissen war. Die Fingerknöchel waren aufgeschürft und das dunkle Haar zerzaust, aber wenigstens hatte er alles ohne ein blaues Auge oder eine merkliche Verletzung überstanden. Es sollte ihm also gelingen, seine Mutter davon zu überzeugen, dass nichts Ernstes passiert war. Sie hatte schon genug Sorgen und er wollte ihr das Leben nicht noch schwerer machen.

Raymond war der älteste von vier Brüdern und damit der Mann im Haus, seit sein Vater die Stadt verlassen hatte, um an Bord eines Kolonistenschiffes zu gehen. Das lag inzwischen sechs Jahre zurück. Esteban Aguerra hatte die Koloniepapiere unterschrieben und gleichzeitig eine einseitige Scheidungserklärung eingereicht, mit dem Ergebnis, dass seine Frau die Dokumente erst nach dem Start des Schiffes bekam. Als Ziel hatte Raymonds Vater den neuen Kolonialplaneten Ramah ausgewählt, nicht etwa deshalb, weil ein besonderer Reiz davon ausging, sondern weil es die erste zur Verfügung stehende Welt gewesen war. Wie so oft in den vergangenen Jahren schickte Raymond ihm einen Fluch hinterher.

Es wurde Zeit heimzukehren, seiner Mutter bei der Zubereitung der Abendmahlzeit zu helfen und seine jüngeren Brüder zu Bett zu bringen. Auf dem Weg durch den Palastdistrikt fielen ihm die vielen Blumensträuße auf. Einige waren im Gedränge der Leute umgestoßen worden. Andere ruhten aufrecht in den Haltern, um ihre Pracht noch ein oder zwei Tage lang zur Schau zu stellen. Anschließend, wenn sie zu verwelken begannen, würde man sie alle fortbringen.

Zwar hielt Raymond nichts von Stehlen, aber er nahm trotzdem einen der Sträuße, aus Liebe zu seiner Mutter. Mit den Blumen eilte er nach Hause und stellte sich dabei voller Stolz die Freude in den Augen seiner Mutter vor.

Die Agenten der Hanse, beauftragt von Basil Wenzeslas, entgingen der Aufmerksamkeit des Jungen. Sie hatten Raymond Aguerra den ganzen Tag über beobachtet.

Die unauffälligen Männer zeichneten zahlreiche Bilder von dem Jungen auf und fügten sie den bereits recht umfangreichen Dateien hinzu.

9 * ESTARRA

Zwar war Estarra eine Tochter der Regenten von Theroc, aber selbst im Alter von zwölf Jahren wusste sie nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte.

Ihre drei älteren Geschwister hatten von Geburt an gewusst, wozu sie bestimmt waren. Sie lernten Führung, wuchsen bei der grünen Priesterschaft auf und ließen sich zu Handelsbotschaftern ausbilden. Für ein viertes Kind gab es keine vorherbestimmte Rolle, und deshalb konnte Estarra ganz ihren Neigungen nachgehen.

Voller Energie lief sie barfuß in den Wald und flitzte durchs Unterholz, tief unter dem Dach der ständig flüsternden Weltbäume. Die hohe Decke des Waldes, bestehend aus ineinander verwobenen palmartigen Wedeln, hielt das Sonnenlicht nicht zurück, sondern filterte es und ließ ein gelb-grünes Fleckenmuster auf dem Waldboden entstehen. Gras und Blätter streichelten Estarras goldbraune Haut; sie kitzelten, kratzten nicht. Mit großen, neugierig blickenden Augen sah sie sich um, immer auf der Suche nach neuen Entdeckungen und ungewöhnlichen Objekten.

Estarra hatte bereits alle nahen Pfade erforscht, und sie staunte über die Welt, die sie umgab. Das Verhalten des lebhaften Mädchens veranlasste seine ältere Schwester Sarein gelegentlich dazu, die Stirn zu runzeln. Sarein konzentrierte sich ganz auf die Welt des Geschäfts, der Politik und des Handels. Estarra wollte nicht so schnell erwachsen werden wie sie.

Ihr ältester Bruder Reynald war bereits fünfundzwanzig und auf dem besten Weg dazu, der nächste Vater von Theroc zu werden. Der attraktive und geduldige Reynald studierte Politik und lernte, was er als Oberhaupt eines ganzen Volkes leisten musste. Er hatte immer gewusst, dass er, der Tradition gemäß, der nächste Sprecher der Waldwelt sein sollte. Um sich auf diese Aufgabe vorzubereiten, war Reynald vor kurzer Zeit zu einer Reise aufgebrochen, die ihn zu fernen, exotischen Planeten brachte. Dort würde er die jeweiligen planetaren Oberhäupter kennen lernen, sowohl Menschen als auch Ildiraner, bevor ihn seine Pflichten auf Theroc festhielten.

Estarras Eltern hatten nie die sagenhafte ildiranische Hauptstadt Mijistra unter den Sieben Sonnen gesehen, obgleich ihre Tochter Sarein – vier Jahre jünger als Reynald – einige Jahre auf der Erde gewesen war, um Verbindungen mit der Hanse zu knüpfen.

Estarras Bruder Beneto war es immer bestimmt gewesen, ein Priester des Weltwaldes zu werden. Sie freute sich bereits auf seine Rückkehr von Oncier, wo er die Schaffung einer neuen Sonne beobachtet hatte.

Vater Idriss und Mutter Alexa ließen Estarra viel Freiheit, vielleicht zu viel. Sie konnte sich von ihren Interessen leiten lassen, was sie gelegentlich in Schwierigkeiten brachte. Ihre kleine Schwester Celli, das Baby der Familie, verbrachte ihre Zeit am liebsten mit ihren unaufhörlich schwatzenden Freundinnen. Estarra war viel unabhängiger.

Sie duckte sich unter süßlich duftenden Blättern hinweg und spürte, wie ihr aromatische Luft über die bronzefarbene Haut strich. Ihr Haar war mit einem Durcheinander aus Bändern und Borten zusammengebunden. Das entsprach zwar nicht der Mode, aber es ließ kaum Strähnen übrig, die sich an Zweigen verheddern konnten.

Estarra lief weiter und prägte sich Einzelheiten ein, um später zur hohen Pilzriff-Stadt zurückzukehren, in der sie wohnte. Sie verharrte unter den gewaltigen Weltbäumen, in deren von schuppiger Borke bedeckten Stämmen Energie pulsierte und die bis zum Himmel empor reichten – sie wirkten wie Pflanzen im Garten eines Riesen. Durch schmale Spalten in der Borke wuchsen Schösslinge und sahen aus wie lose Haare.

Die Wurzeln der Weltbäume, ihre Stämme und ihr rudimentäres Selbst – alles war miteinander verbunden. Die fedrigen Wedel reichten Dutzende von Metern weit nach oben und wölbten sich dann zu den Seiten, um einen schirmartigen Baldachin zu formen. Jeder Baum berührte den nächsten und dadurch entstand ein Dach aus Blättern. Wie Augenwimpern bewegten sich die Wedel, liebkosten sich gegenseitig. Abgesehen vom Summen der Insekten und den Rufen wilder Tiere gab es im Wald ein beständiges Rauschen, so beruhigend wie ein Schlaflied.

Weltbäume wuchsen auf allen theronischen Landmassen, und ehrgeizige grüne Priester nahmen Schösslingen zu anderen Planeten mit, damit das Bewusstsein des Waldes wachsen und immer mehr lernen konnte. Sie beteten zu ihm, zu einem vitalen »Erdgeist«, und sie halfen dem Selbst des Waldes, stärker zu werden.

Vor langer Zeit – vor 183 Jahren – hatte eine Patrouille der ildiranischen Solaren Marine das erste langsame Generationenschiff der Erde gefunden, die Caillié, und es zu dieser unberührten Welt gebracht. Alle elf Generationenschiffe waren nach berühmten Forschern benannt worden. Der Name Caillié ging auf René Caillié zurück, einen Franzosen, der im dunkelsten Afrika unterwegs gewesen war, als Einheimischer verkleidet. Als erster Weißer hatte er die sagenumwobene Stadt Timbuktu gesehen.

Burton, Peary, Marco Polo, Balboa, Kanaka … Diese Namen der Generationenschiffe klangen seltsam und exotisch für Estarra, doch selbst die Geschichten aus der unzivilisierten Zeit der Erde konnten es nicht mit den Wundern aufnehmen, die terranische Siedler auf anderen Welten fanden, als sie sich im Spiralarm ausbreiteten. Clark, Vichy, Amundsen, Abel-Wexler, Stroganow. Sie alle hatten mithilfe der Ildiraner ein Ziel gefunden, nur die Burton nicht, die zwischen den Sternen verschwand.

Die Menschen von der Caillié hatten gejubelt, als sie zum ersten Mal die gründe Landschaft von Theroc sahen und das Potenzial ihrer neuen Heimat erkannten, das ihre kühnsten Hoffnungen weit übertraf. Während des jahrhundertelangen blinden Flugs durchs All, auf der Suche nach einem Sonnensystem mit bewohnbaren Planeten, hatten die Kolonisten an Bord eines großen, sterilen Raumschiffs gelebt. Wälder und Berge kannten sie nur von Bildern. Theroc kam für sie einem Paradies gleich und sie spürten sofort, dass die Bäume ungewöhnlich waren.

An Bord der Caillié gab es alle notwendigen Dinge, um eine Kolonie selbst auf einer sehr lebensfeindlichen Welt zu gründen, doch Theroc erwies sich als sehr kooperativ. Nachdem die Ildiraner sie dorthin gebracht hatten, errichteten die Kolonisten provisorische Unterkünfte aus Fertigteilen. Biologen, Botaniker, Chemiker und Mineralogen begannen mit Untersuchungen, um mehr über den Planeten herauszufinden.

Zum Glück war die Biochemie des theronischen Ökosystems zum größten Teil für den menschlichen Organismus verträglich; die Siedler konnten also auf einheimische Nahrungsmittel zurückgreifen. Es war nicht nötig, Land zu roden und zu düngen, um Ackerbau zu treiben. Die Siedler von der Caillié fanden Möglichkeiten, mit dem Wald zu arbeiten und natürliche Behausungen zu verwenden, anstatt Gebäude aus Metall und Polymeren zu errichten.

Jahrzehnte später, nach der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen den Ildiranern und der Erde, hatten die Siedler von Theroc eine eigene Kultur entwickelt. Repräsentanten der Hanse gelang es schließlich, die Theronen zurückzuführen zur größeren Gemeinschaft der Menschheit, aber sie wahrten ihre Unabhängigkeit. Als ihre Vorfahren mit dem Generationenschiff aufgebrochen waren, hatten sie nicht damit gerechnet, irgendwann einmal zurückzukehren und den Kontakt mit der Erde wiederherzustellen. Sie waren wie Samen gewesen, im Wind verstreut, die hofften, irgendwo wurzeln zu können. Nun wollten sie sich nicht mehr entwurzeln lassen …

Estarra unterbrach ihren Forschungsausflug, um Platschbeeren zu essen und sich den Saft von Mund und Händen zu wischen. Sie sah am nächsten Weltbaum empor, bemerkte am Stamm Haltepunkte und Zeichen, die auf den häufigen Aufstieg von Lesegruppen hinwiesen. Die Borke bot Estarras Händen und Füßen genug Halt, dass sie wie auf einer Leiter an ihr emporklettern konnte. Sie durfte nur nicht nach unten sehen oder darüber nachdenken, was sie anstellte. Oben wurden die miteinander verbundenen Äste von den grünen Priestern wie Gehwege benutzt.

Estarra trug nur wenige Kleidungsstücke, denn es war warm im Wald. An ihren Füßen gab es dicke Schwielen; sie brauchte also keine Schuhe. Einen Haltepunkt nach dem anderen brachte sie hinter sich, kletterte immer weiter nach oben. Erschöpft, aber auch aufgeregt schob sie sich schließlich durchs Blätterdach. Sie blinzelte im ungefilterten Licht der Sonne, die an einem blauen Himmel schien, über dem endlosen Wald.

Selbst hier oben konnte Estarra nicht sehen, wo ein individueller Baum aufhörte und der nächste begann. Sie hörte viele Stimmen, vereint in einem leisen Singsang, aber auch einzelne, hoch und tief.