Trinity - Kevin J. Anderson - E-Book

Trinity E-Book

Kevin J. Anderson

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Beschreibung

Als sich die radikale Atomgegnerin Elizabeth Devane nach einem Sabotageversuch in der Wüste von New Mexico fast fünfzig Jahre in der Vergangenheit wiederfindet, sieht sie die Chance gekommen, die Zukunft zu verändern. Wenn es ihr im Jahr 1943 gelingt, am Manhattan-Projekt mitzuwirken und die Entwicklung der Atombombe zu verhindern, werden 1945 Hiroshima und Nagasaki nicht zerstört, 1979 wird es in Harrisburg nicht zu einem schweren Zwischenfall in einem Kernkraftwerk kommen und 1986 nicht zu einem Super-GAU in Tschernobyl. Aber kann man den Lauf der Geschichte ändern? Und was, wenn der Plan nicht so funktioniert wie gedacht und alles anders kommt? Kevin J. Anderson und Doug Beason, beide studierte Physiker, legen mit "Trinity" einen Roman vor, der die Leser in eine alternative Welt zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs führt, wie sie grausamer nicht sein könnte.

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Inhalt

Trinity

Danksagungen

Prolog

Teil I

1

2

3

4

5

6

Teil II

7

8

9

10

Teil III

11

12

13

14

Teil IV

15

16

17

18

19

20

Teil V

21

22

23

24

25

Epilog

Weitere Atlantis Titel

Kevin J. Anderson & Doug Beason

TRINITY

Eine Veröffentlichung des

Atlantis-Verlages, Stolberg

April 2013

Alle Rechte vorbehalten.

Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel

The Trinity-Paradoxbei Batman Spectra

© WordFire, Inc. & Doug Beason

Dieses eBook ist auch als Hardcover direkt beim Verlag erhältlich und überall im Handel als Paperback (ISBN 978-3-941258-98-3)

Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel

Lektorat: André Piotrowski

Satz: André Piotrowski

eBook-Erstellung: www.ihrhelferlein.de

ISBN der eBook-Ausgabe: 978-3-86402-085-8

Besuchen Sie uns im Internet:

www.atlantis-verlag.de

Ins Deutsche übertragen von Heinz Zwack

Danksagungen

Steve Homann, Richard Curtis, Betsy Mitchell, Arnold Kramisch, Stan Schmidt, Ken Zeringue, Michael C. Berch, M. Coleman Easton, Clare Bell, Lori Ann White, Gary Schockley, Dan'l Danehy-Oakes, Avis Minger, Len Margolin, Don Peit, Cindy Beason, Rebecca Cowan, Steve Rothman, Kristine Kathryn Rusch und Neil Peart.

Für

Kevin Mengelt,

der die Idee hatte, auf die es ankam,

(Kevin J. Anderson)

und

Harald Dogliani,

weil er mich davon überzeugt hat, nicht zu fliegen.

(Doug Beason)

»Unsere Hoffnungen und Ängste, unsere Entscheidungen und unsere Taten werden von einer Unzahl winziger Ereignisse beeinflusst, die ständig aufeinander einwirken. Und deshalb kann jeder von uns unterschiedlich auf dieselben Umstände und Tatsachen reagieren.«

— Joseph Rotblat, Wissenschaftler, Los Alamos

Prolog

Los Alamos National Laboratory, New Mexico

Mai

Reporter: [Sagen Sie uns] was Sie von dem Vorschlag von Senator Robert Kennedy halten, dass Präsident Johnson Gespräche einleiten soll, die das Ziel haben, die Ausbreitung von Nuklearwaffen zu verhindern.

J. Robert Oppenheimer: Dafür ist es heute zwanzig Jahre zu spät. Man hätte das am Tag nach Trinity tun sollen.

Weltbewegende Ideen waren in den Bergen im Norden New Mexicos an der Tagesordnung.

Ein halbes Jahrhundert früher, beim Beginn des Zweiten Weltkriegs, hatte es nichts als Wildnis gegeben, und nur ein paar Rancher und einige wenige unentwegte Urlauber störten damals die friedliche Einsamkeit. Der perfekte Ort also, um dort ein geheimes Forschungslabor für die Entwicklung der ersten Atombombe zu errichten.

Heute hielt Dr. Graham Fox jedes Mal, wenn er den Gebäudekomplex betrat, kurz inne und dankte seinem Schöpfer dafür, dass er vor so vielen Jahren an etwas so Wichtigem und Außergewöhnlichem hatte mitwirken dürfen. Für ihn war Los Alamos immer noch »das Projekt«, obwohl seit der Gründung der Stadt, die inzwischen aus den Wellblechhütten, den provisorischen Militärunterständen und den ungeteerten Straßen entstanden war, fünf Jahrzehnte verstrichen waren. So viel hatte sich seit jener Zeit verändert.

Fox betrachtete das Geschehen rings um ihn in dem Labor. Seinem Labor, obwohl die Verwaltung ihn nicht mehr viel tun ließ. Seine Hände zitterten dafür zu viel, und seine Bewegungen waren zu langsam geworden. Aber einen der wenigen überlebenden Wissenschaftler des Manhattan-Projekts zu den Mitarbeitern eines Projekts zählen zu können, verlieh einem Experiment immer noch Prestige.

Ein Techniker in Jeans und Sandalen beugte sich über eine Anordnung von Hochenergiekondensatoren. Er zog mit einem blaulackierten Schraubenschlüssel eine Mutter an. Den ganzen Raum füllten Kondensatoren jeweils von der Größe einer Schuhschachtel, von denen dicke Drähte ausgingen und den Boden wie Spaghetti bedeckten.

Fox sah den Technikern zu, wie sie wichtig herumrannten. Er konnte das Klappern der Werkzeuge und die gedämpften Unterhaltungen hören, die durch die schiere Größe des Laborraums gedämpft waren, und die Ölschicht auf den Metallteilen, die verschiedenen Dichtungsstoffe und den kalten Betonboden riechen. Die Klimaanlage erzeugte in dem ganzen Raum eine abgestanden klinisch wirkende Kühle.

Die Stoßrichtung der Forschungsarbeiten in Los Alamos bestimmten schon lange nicht mehr Allerwelts-Kernwaffen. Hunderte Millionen von Dollar dafür auszugeben, um den Schwerpunkt eines Geräts um ein paar Zentimeter zu verändern, machte einfach keinen Sinn – und fand auch im Kongress keine geneigten Ohren. Das Geld floss heute in interessant aufgemachte Forschungsprojekte, die mit beeindruckenden Diashows präsentiert wurden: strategische Verteidigung, pulsierte Energie, exotische Waffen. Fox hatte starke Zweifel daran, dass irgendjemand im Kongress die Konzepte tatsächlich verstand: Aber das Verständnis des Kongresses hatte immer schon weit hinter den Bedürfnissen der Forschung hergehinkt. Und heutzutage verfügten die Wissenschaftler über keinen General Groves mehr, der die Fähigkeit besaß, Ideen mit brutaler Gewalt durch bürokratische Hemmnisse zu prügeln.

Die Speicher in Fox' Labor bargen lediglich das Äquivalent von fünfundzwanzig Kilo Explosivstoffen. Nicht viel, wenn man es mit einer Kernwaffe verglich. Aber wenn man die Energie dazu einsetzte, magnetisierte Ringe von Xenonplasma durch eine kompakte Ringkernspule zu treiben, dann näherte sich die Röntgenstrahlintensität durchaus dem Zerstörungspotenzial einer der alten, schmutzigen A-Bomben. Der Art von Waffe, wie Terroristen sie möglicherweise einsetzen würden, die Art Waffe, die Irak, Libyen und Nordkorea immer noch herzustellen versuchten.

Er wischte sich die Hände an seinem Labormantel ab und schlenderte zu einer der Kondensatoranordnungen, um die Verdrahtung zu kontrollieren. Ein bärtiger Techniker blickte auf, als er ihn kommen sah. »Seien Sie vorsichtig, Dr. Fox. Die Box fängt an, heiß zu werden. Wir bereiten uns auf den Rauchtest vor.«

»Den Rauchtest, right-o!«, nickte Fox. Seinen britischen Akzent hatte er sich in all den Jahren bewahrt.

Als Physiker bedeuteten ihm die komplizierten elektronischen Überwachungssysteme, die die Techniker so liebten, wenig. Er zog den altmodischen »Rauchtest« immer noch den überkandidelten Diagnosesystemen vor, die sicherstellen sollten, dass alle Verbindungen richtig waren: Man legte den Schalter um und sah, ob es funktionierte – andernfalls fing etwas zu rauchen an.

Fox sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Drähte und zupfte dann an einem. Er hasste die schwache Beleuchtung im Labor. Irgendwie hatte er den Eindruck, als würde es jeden Tag dunkler werden. »Reichen die Schienenschalter denn nicht aus?«

»Die vertragen bloß ein paar Megavolt und geben dann den Geist auf«, sagte der Techniker.

»Gut.« Fox nickte bedächtig. Ohne Zweifel war alles bereits richtig angeschlossen, aber er fühlte sich dennoch genötigt, Interesse zu zeigen. Die Techniker mochten das.

Damals, 1943, als Oppenheimer sich seine Wissenschaftler überall aus den Vereinigten Staaten zusammengeholt hatte, kamen die Techniker des Projekts hauptsächlich aus der Army, unterstützt von ein paar Indianern aus der Umgebung und Helfern aus dem umliegenden Ortschaften. Alle hatten zusammengehalten, genauso wie es jetzt war.

Fox war damals ein junger idealistischer Wissenschaftler gewesen, voller Zweifel an den moralischen Implikationen einer Waffe, die das Ende der Welt herbeiführen konnte. Aber obwohl er sich nicht von dem patriotischen Eifer hatte anstecken lassen, hatten das hektische Tempo und die Begeisterung, die damals geherrscht hatte, jeden förmlich elektrisiert. Wie hätten sie sonst die schrecklichen Arbeitsbedingungen und das isolierte Leben in den Bergen ertragen können – wo man sämtliche Post auf ein Postamt in Santa Fe bringen musste, weil Los Alamos selbst auf keiner Landkarte existierte.

Die Begeisterung der neunziger Jahre schien ihm im Vergleich dazu beinahe unrein. Statt sich im Wettrennen mit den Nazis zu befinden, war das Ziel jetzt der Sieg über subalterne Beamte im Kongress und das Bemühen, hastig einen erfolgreichen Test durchzuziehen, damit die Mittel weiterflossen.

»Schalten Sie einfach ein. Wollen doch sehen, ob wir ihnen die Hüte runterblasen können?«

»Steigere Energiezufuhr.« Der Techniker sprach in die Sprechanlage. »Räumen. Kurzer Test auf Bank zwei. Räumen.« Er betätigte an dem Schaltbrett an der Wand ein paar Schalter und stieß dann mit einem Fußtritt einen langen Draht weg, der am Boden lag. »Hey, Dr. Fox, gehen Sie da weg. Da kommt jetzt gleich eine Menge Saft durch –«

Aber Fox roch plötzlich Rauch, den schwefelartigen Geruch, der auf brennende Lötstellen und elektrische Isolierungen deutete. Er blieb in dem Abteil mit dem Kondensatorkomplex stehen und beugte sich vor. Er konnte ein Summen in der Luft hören und spürte, wie die statische Elektrizität sein weißes Haar sträubte. Verdammt! Eine der Verbindungen war locker, eine, an der er gerade herumgespielt hatte. Hatte er etwas abgerissen? Bei der ganzen Energie, die jetzt durch die Kondensatoranlage floss, würde das schnell erheblichen Schaden verursachen.

Er versuchte, den Techniker zu rufen und ihn aufzufordern, alles abzuschalten, aber der Name des Mannes fiel ihm nicht ein. Der Gestank und die elektrische Spannung in der Luft machten ihn benommen. Kalter Schweiß brach ihm aus.

»Abteilung räumen! Die Leitungen stehen noch unter Strom!« Der Techniker rannte auf Fox zu. »Ist Ihnen nicht gut, Dr. Fox?«

Schalt das Ding ab, verdammt!, dachte Fox, konnte aber nur die Hand ausstrecken, um sich zu stützen. Die Schulter des Technikers bot ihm Halt. Aus einer der Kondensatoreinheiten quoll Rauch. Ein Knistern war zu hören, dann ein leiser Knall.

Die zwei Kondensatoren dicht daneben schlossen sich an. Dicker schwarzer Rauch drang jetzt unter den Verkleidungen hervor. Im nächsten Augenblick heulte eine Sirene auf; überall im Raum blitzten gelbe Lichter. Eine Computerstimme tönte über die Lautsprecheranlage: »Achtung Gefahr: Halon entweicht. Feuer im Komplex. Gebäude räumen.«

Die Entladung erfasste drei weitere Techniker. Die Augen des bärtigen Mannes waren geweitet. »Heilige Mutter –«, gefror auf seinen Lippen. Zischendes Gas füllte den Raum und erstickte das Feuer.

Ein weißer Blitz blendete Fox und erinnerte ihn an die Trinity-Versuchsstätte, den ersten Atomtest, den er vor so vielen Jahren miterlebt hatte …

Teil I

1

Los Alamos, New Mexico

Juni

»In den ersten fünfzehn Sekunden war der Anblick [der Atombombenexplosion] so unglaublich, dass die Zuschauer das, was sie sahen, nur stumm und verblüfft anstarren konnten. Ich glaube nicht, dass es in diesem Augenblick irgendjemanden gab, der sich dachte: ›Was haben wir der Zivilisation angetan?‹ Solche Gewissensbisse mögen sich später eingestellt haben.«

— Norris D. Bradbury

»Große Ereignisse haben sich zugetragen. Die Welt hat sich verändert, und es ist Zeit geworden, nüchtern nachzudenken.«

— Henry L. Stimson, Kriegsminister

Hundertfünfzig Meter über dem Grund des Ancho Canyon lag Elizabeth Devane im Schutz eines Gebüsches aus Latschenkiefern und fragte sich, ob sie es wirklich schaffen würde, den neuesten Waffentest zu verhindern. Das Zusammenleben mit den anderen Protestierern in Santa Fe hatte ihr Vertrauen darauf, tatsächlich etwas bewirken zu können, nicht gerade gesteigert. Sie war das sinnlose Argumentieren und Verteilen von Flugblättern ebenso leid wie die Tatsache, dass die Leute nichts mit ihr zu tun haben wollten.

Elizabeth mochte das, was sie tat, nicht als »Sabotage« bezeichnen, aber diesmal würde der Zweck die Mittel heiligen.

»Was meinst du?«, hörte sie hinter sich Jeffs Stimme. Sie klang nervös. »Ich sehe, wie einer von diesen Mietbullen und ein paar Typen packen.«

Elizabeth drehte sich nicht zu ihm um. »Kannst du erkennen, ob sie am Gehen sind?« Sie hörte kaum einen Laut, als Jeff Maple zu ihr heranrobbte. Im Canyon rollte der Donner eines typischen New-Mexico-Sturms, der noch Meilen entfernt war.

»Anscheinend sind die mit ihrem NCP-Ding fertig.«

»MCG«, korrigierte ihn Elizabeth. »Du solltest schon die richtigen Abkürzungen gebrauchen.« Sie kniff die Augen zusammen und ärgerte sich, dass sie ihren Feldstecher nicht mitgebracht hatte. »Ich kann nicht erkennen, ob die damit fertig sind.«

Die Los-Alamos-Arbeiter entfernten sich von dem MagnetoCumulativ-Generator und blieben am Rand der Betonfläche stehen. Sie hatte eine Seitenlänge von etwa fünfzehn Meter, und der MCG stand in der Mitte. Der drei Meter lange Explosionsgenerator sah wie eine dicke Zigarre aus, die man mit Kabeln umwickelt hatte; die Drähte verliefen über die Betonfläche zu einer Leitung, die in der Erde verschwand.

Alle Einzelheiten des MCG-Tests unterlagen der Geheimhaltung, sodass Elizabeth gar nicht richtig wusste, was sie und Jeff hier eigentlich zerstören würden – nur, dass es wichtig war.

Einige der Männer gingen quer über die Betonplatte zu einem Bunker im Schatten der Canyonwand. Elizabeth rieb sich die Augen und versuchte, im schwachen Licht die einzelnen Gestalten zu erkennen. Aber die Sonne war gerade über den Jemezbergen heraufgekommen und schien ihr zwischen den Wolken durch gerade in die Augen. Sie schüttelte verstimmt den Kopf und holte ihre Wasserflasche heraus. »Ich kann nicht sehen, was die machen.«

»Was es auch ist, für heute sind die fertig. Meinst du, die schießen den Test dann morgen?« Wieder klang Jeffs Stimme nervös.

»Wenn sie im Plan sind. Das heißt, dass wir unsere Arbeit heute Nacht erledigen müssen.«

Jeff nickte. Für den Augenblick blieb ihnen nur zu warten. So hoch oben im Canyon konnte niemand sie sehen. Wenn Jeff nur reiten könnte, wünschte sie sich; dann hätten sie sich nicht zu Fuß mit ihren Rucksäcken hinten am Canyon heraufquälen müssen, wo die Wachleute von Los Alamos nur Stacheldrahtzäune errichtet hatten, um Eindringlinge fernzuhalten.

Elizabeth betrachtete ihre sommersprossigen Arme und versuchte zu erkennen, ob sie bei ihrer Bergtour wenigstens etwas Sonnenbräune abbekommen hatte. Sie hatte blasse Haut und holte sich bei ihrem rötlichen Haar leicht einen Sonnenbrand, aber weil sie das wusste, hatte sie reichlich unparfümierten Sonnenblocker aufgetragen. Sie band sich ihr schulterlanges Haar mit einem Lederband zusammen, um den Hals frei zu behalten.

Die Männer unten kamen jetzt wieder aus dem Schatten des Bunkers hervor und rollten auf dem mit niedrigem Buschwerk bedeckten Areal eine Plane aus. Dann rammten sie in der Mitte zwei Metallstangen ein und zogen die Zeltplane über den MCG, um ihn damit vor Regen zu schützen. Als sie damit fertig waren, stiegen sie über einen schmalen Bach, der durch den Canyon floss, und gingen dann zu ihren in amtlichem Grau gehaltenen Pickup-Trucks, die auf dem Geröll parkten. Von der Canyonsohle flogen Gesprächsfetzen zu ihnen herauf und hallten von den Felswänden wider. Alle fuhren weg; nicht einmal der Mietbulle blieb zurück. Die Laborleute rechneten nicht damit, dass jemand über die hundertfünfzig Meter hohen Klippen steigen würde. Elizabeth wartete, bis der Letzte verschwunden war, und wälzte sich dann zur Seite.

Jeff beobachtete immer noch die Versuchsstätte, während Elizabeth sein Gesicht studierte. Seine rote Brillenfassung bildete einen deutlichen Kontrast zu seiner gebräunten und jetzt staubverkrusteten Haut. Sein lockiges, braunes Haar zeigte einen leichten Schimmer von Schweiß. Sie erinnerte sich an seinen geschmeidigen Körper, und wie er sich in der letzten Nacht an dem ihren bewegt hatte, zum ersten Mal seit vielen Jahren. »Ich bin froh, dass du von Berkeley hierher gekommen bist, Jeff«, sagte sie.

Jeff zögerte kurz und sagte dann mit leiser Stimme: »Yeah, schön, dich wiederzusehen. Ich muss immer noch viel über uns nachdenken.«

»Ich wusste, dass du helfen würdest. Die anderen reden alle bloß.«

»Das hast du von mir auch immer gesagt.«

Sie schob eine Augenbraue hoch. »Du hast es dir doch nicht anders überlegt, oder?«

Darauf schnaubte er nur, und dann griff seine Hand nach ihrer Schulter. »Bestimmt nicht.« Aber seine Hand zitterte leicht, als er ihre Schulter drückte.

Dann blickte er auf und zeigte mit der anderen Hand nach unten. »Schau mal, ich weiß jetzt, wie man bequemer dort runterkommt. Wir können losgehen, sobald es dunkel geworden ist.«

»Ja, wenn es bis dahin nicht regnet.«

Sie wandte sich um und blickte in den Canyon. Von den Kabeln, die unter der Zeltplane zu dem MCG führten, stiegen weiße Rauchwölkchen auf – wahrscheinlich verdampfender flüssiger Stickstoff. Als die Sonne jetzt unterging, füllte sich die ganze Mesa mit Schatten; es sah aus wie ein Wettrennen zwischen der Dunkelheit und den Wolken. Die Klippen wirkten im Dämmerlicht steiler.

Als der letzte Truck die Versuchsstätte verlassen hatte, sicherten Wachleute das Tor dahinter mit einer Kette und einem Vorhängeschloss. Elizabeth wartete, bis der Truck auf der gewundenen Canyonstraße ihren Blicken entschwand – bis zur Hauptwache an der Fernstraße waren es etwa fünf Kilometer.

»Immer noch Zeit auszusteigen«, sagte Jeff mit einem Anflug von Hoffnung.

Elizabeths Augen weiteten sich, und sie herrschte ihn an: »Ich will nicht aussteigen! Wenn wir beide das nicht heute Nacht machen, dann hören diese Versuche nie auf. Wir müssen jetzt ein Zeichen setzen, müssen denen zeigen, dass wir es einfach nicht dulden, dass sie immer größere und bessere Waffen bauen – die Welt braucht dieses Zeug nicht mehr.«

Jeff lächelte auf seine verschmitzte Art, mit der man sie immer besänftigen konnte. »Ich wollte bloß sichergehen, dass deine schicken Aktivisten in Santa Fe nicht auf dich abgefärbt haben.« Es klang nicht überzeugend.

»Schwächlinge«, sagte sie und runzelte finster die Stirn.

Er verblüffte sie damit, dass er plötzlich die Hand an ihren Hinterkopf legte und ihr Gesicht zu sich heranzog. Es war ein spontaner Kuss, aber keineswegs ein tastender. Seine Haut war warm, und sie strich mit der Hand über seinen Arm. Ihre Zungen spielten miteinander, ließen sich einen Augenblick Zeit und lösten sich dann wieder voneinander. »Wenn wir jetzt anfangen, wird es ernst.«

»Dann lass uns anfangen«, sagte Elizabeth. »Es ist ja weit und breit niemand.«

Als sie von den in Los Alamos tödlich verunglückten Wissenschaftlern gehört hatte, hatte ihr das einen Schock versetzt – nicht so sehr, weil sie erfahren hatte, dass der Laborunfall mit der Nationalen Beglaubigungsinitiative in Verbindung gestanden hatte, sondern wegen der Gefühllosigkeit, mit der man versucht hatte, das Debakel zu vertuschen. Ein Techniker und irgendein alter Wissenschaftler waren beim Versagen irgendwelcher Anlagen ums Leben gekommen; drei weitere Mitarbeiter waren erstickt, als die automatischen Löschvorrichtungen Halon in ihren hermetisch abgeschlossenen Arbeitsraum gepumpt hatten.

Fünf menschliche Wesen hatten ihr Leben für die »Erprobung« von Waffentechnologie gegeben. Und welchen Sinn hatte das zum augenblicklichen Zeitpunkt noch? Die Berliner Mauer war gefallen, der Eiserne Vorhang weggerostet. Irak war in ein paar Monaten besiegt worden. Überall auf der Welt war man dabei, die atomaren Arsenale aufzulösen, und die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion verhielten sich wie die besten Freunde. Warum also weitere Milliarden von Dollar dafür ausgeben, um Superwaffen zu entwickeln? Hatten sie etwa Angst, Brasilien könnte ein Verteidigungsschild errichten, um die USA davon abzuhalten, ihre eigenen Raketen zu starten?

Sie und ihre Aktivistenfreunde aus Berkeley und sogar die Mitglieder der United Conscience Group aus Santa Fe hatten andere Vorstellungen, wie man diese Mittel sinnvoller einsetzen konnte – sei es nun für Sozialhilfeprogramme oder AIDS-Forschung oder Entwicklungshilfe für die Länder der Dritten Welt. Selbst wenn man nur den nationalen Schuldenberg abtrug, würde das Geld damit immer noch besser eingesetzt sein!

Nach ein oder zwei Bier argumentierte Jeff dann, dass die eigentliche Sorge jetzt den zweitrangigen Teilnehmern im Atombunker galt: Irak, Südafrika, Libyen, Nordkorea. Die Technologie für die Herstellung einfacher Kernwaffen war wohlbekannt und zugänglich, und wenn die Gewinnung spaltbaren Materials wie Uran-235 und Plutonium nicht so ungewöhnlich schwierig gewesen wäre, könnte jeder kleine Operettendiktator sich seine eigene Bombe bauen. Wenn das Gespräch diesen Punkt erreicht hatte, pflegte Jeffs Stimme gewöhnlich lauter zu werden. Jeder Terrorist mit ein wenig Geschick konnte mit Tesafilm und Kaugummi eine »primitive« Bombe zusammenbasteln, deren Wirkung die der 1945 auf Hiroshima abgeworfenen übertraf.

Elizabeth stimmte ihm darin zu, dass es bloß einem glücklichen Zufall zu verdanken war, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion ihre nuklearen Flegeljahre überlebt hatten; sie war keineswegs davon überzeugt, dass jedes andere Land sich ebenso gut betragen würde. Wenn es nach ihren Wünschen gegangen wäre, hätte man diese Monstrositäten überhaupt nicht zu erfinden brauchen. Aber wie konnte man die Büchse der Pandora wieder schließen, wenn der Deckel einmal bis hoch in den Himmel gesprengt worden war?

Waffentechniker und Wissenschaftler wie die in Los Alamos entwickelten weiterhin neue Vernichtungsmöglichkeiten, öffneten neue Büchsen der Pandora, auf dass alle künftigen Generationen noch mehr zu fürchten haben mussten. Die Konstrukteure setzten ihre Arbeiten fort, selbst nach Katastrophen wie dem letzten Kondensatorzwischenfall, selbst wenn sie dafür die Bedrohung menschlichen Lebens völlig ignorieren mussten.

Die offizielle Pressemitteilung aus Los Alamos ließ durchblicken, dass eigentlich gar nichts von Bedeutung passiert war. Als die Challenger explodiert war, hatte die NASA praktisch ein Jahr lang sämtliche Aktivitäten eingestellt – aber wenn ein Waffenprogramm von einiger Bedeutung schiefging, war es schon ein Wunder, wenn die Arbeit überhaupt unterbrochen wurde. In der Pressemitteilung konnte man lesen, dass »in naher Zukunft« eine Sicherheitsinspektion und amtliche Untersuchungen stattfinden würden.

Es war genauso wie mit der Sache in Los Angeles, die vertuscht worden war. Ted Walblaken war ein alter Freund von Elizabeth gewesen, die damals in der Buchhaltung von United Atomics gearbeitet hatte. Aber sie hatte ihre Stellung bei dem riesigen Rüstungskonzern gleich nach Teds Tod aufgegeben, nachdem United Atomics versucht hatte, der Presse und Teds Kollegen weiszumachen, dass es überhaupt keine Beweise dafür gab, dass die Strahlenbelastung an seinem Arbeitsplatz sein Krebsleiden verursacht hatte.

Für sie war das ein Wendepunkt gewesen. Sie hatte das Gefühl gehabt, als hätte sie jemand aus einem Albtraum wachgerüttelt, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass er sie heimsuchte.

Und jetzt war dieser Test in Los Alamos angesetzt, nicht einmal eine Woche nach dem Tod von fünf Menschen bei einer Laborkatastrophe. Wäre es nicht angezeigt gewesen, alle Forschungsarbeiten einzustellen und zu überprüfen? Aber daran war offenbar niemand interessiert.

Elizabeth hatte in dem Büro der United Conscience Group in Santa Fe gestanden und den Zeitungsausschnitt zwischen den Fingern zerknüllt. Das Büro war spärlich möbliert, ein Telefon, ein paar Schreibtische, ein Plakat an der Wand, das die halbverkohlte Leiche eines Opfers von Nagasaki zeigte und darüber den Slogan »Eine technische Spitzenleistung, die Sie dem Los Alamos National Laboratory zu verdanken haben.« Die United Conscience Group erweckte den Anschein einer sich gerade über Wasser haltenden Firma in einem billig gemieteten Büro. Aber sie waren bereits seit dem Golfkrieg aktiv gewesen.

Elizabeth verzog das Gesicht, blickte finster. Wenn man das »aktiv« nennen konnte.

Als Dave, Tim und Marcia von dem Laborunfall hörten, reagierten sie alle mit gebührender Empörung und wollten es dann alle nicht wahrhaben, als Elizabeth ihnen sagte, dass die anderen Waffentests in Los Alamos planmäßig fortgesetzt werden würden. Sie wusste, was jetzt gleich kommen würde.

Dave rieb sich die Hände. »Also schön, Leute. Wir müssen etwas unternehmen! Wir sollten gleich Verbindung mit den lokalen Radiosendern aufnehmen und mit Albuquerque auch und zusehen, dass die etwas darüber bringen. Tim, wie wär's, wenn du ein paar Leserbriefe schreiben würdest? Marcia, könntest du ein paar Flugblätter vorbereiten und sie drucken lassen? Wir müssen auf die Straße gehen. Ich werde gleich sehen, ob ich am Telefon ein paar Helfer auftreiben kann. Wir sollten das im Keim ersticken – höchste Zeit, dass man spürt, dass es uns gibt!«

Hurra, hurra, dachte Elizabeth und ging hinaus, ehe Dave ihr auch ein paar langweilige und sinnlose Aufgaben zuteilte. Leserbriefe? Flugblätter? Ja, das würde die Leute zum Zittern bringen und die Welt verändern; diese Typen bildeten sich wirklich ein, dass dies noch die sechziger Jahre waren. Die United Conscience Group hatte außer Reden noch nie etwas zuwege gebracht – und wie hieß es doch so passend – Taten bringen mehr als Worte.

* * *

An diesem Nachmittag waren sie und Jeff über den drei Meter hohen Zaun geklettert, der die Teststätte sicherte. Das Terrain, das den Canyon umgab, war viel zu unwegsam, als dass die meisten Leute auf die Idee gekommen wären, hier zu Fuß durchzukommen, obwohl die Sperrzone nur ein paar Meilen von der Wildnis des Bandelier National Monuments entfernt war. Niemand hatte Elizabeth und ihrem Begleiter irgendwelche Fragen gestellt, als sie das Besucherzentrum verlassen und sich auf den Weg gemacht hatten.

Von ihrer Raststätte auf halber Höhe der Canyonwand sah sich Elizabeth in der Umgebung um. Da es anfing, dunkel zu werden, war es unmöglich in den Tiefen des Canyons etwas zu erkennen. »Pass auf, ob irgendwelche Scheinwerfer die Straße heraufkommen. Außer Streifen haben die ja keinerlei Wachen.«

»Geht in Ordnung.«

Elizabeth schulterte ihren Rucksack. Die verschiedenen Werkzeuge und Geräte darin klapperten aneinander. Jeff drehte sie herum und ordnete die Meißel, den Hammer und die paar Haken so an, dass sie keinen Lärm mehr machten. Dann aßen die beiden schweigend einen Schokoladenriegel, und anschließend übernahm Jeff die Führung über den anstrengenden Pfad, den er ausgemacht hatte.

Sie hörte nur seine Atemzüge, als die immer dichter werdende Dunkelheit sie einhüllte. Die Schatten streckten sich jetzt immer länger und machten es ihnen nicht leicht, Stellen zu finden, wo sie sich festhalten konnten. Das Felsgestein fühlte sich an ihrer Haut warm an, würde aber in der Nacht schnell abkühlen. In kleinen Nischen entlang der Klippen fingen die Abendvögel zu schnattern an.

Die Zeit begann sich für sie zu verkürzen. Sie folgte Jeff, achtete darauf, keine Ungeschicklichkeiten zu begehen, und konzentrierte sich ganz auf die unheilverheißende MCG-Anlage unter der Zeltplane. In ihrer Vorstellung war es ein Drache, der nur darauf wartete, erschlagen zu werden.

Sie schafften den Abstieg, ohne dass es zu irgendwelchen Zwischenfällen kam. Sie blickte schnell zum Klippenrand hinauf – aber es war bereits so dunkel, dass sie die steile Wand, die sie gerade hinter sich gebracht hatten, gar nicht mehr richtig erkennen konnte.

Die ersten Vorboten des herannahenden Sturms dröhnten durch den Canyon. Der Vollmond über dem Canyonrand schickte seine Strahlen zu ihnen herunter und hüllte die Felsen in ein gespenstisches Leuchten. Als der Mond dann hinter den Wolken verschwand, mussten sie sich die letzten hundert Meter auf ihren Tastsinn verlassen.

Dann stand Jeff neben ihr auf der Betonplatte und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Die Plane war so hoch gespannt, dass sie aufgerichtet unter dem flatternden Stoff stehen konnten. Er blickte nach links und rechts. »Scheint, als würden wir auf der Bühne stehen. Beeilen wir uns.«

Elizabeth ließ den Rucksack von der Schulter gleiten. Sie knipste ihre Taschenlampe an und zog den Reißverschluss an der hinteren Tasche des Rucksacks auf und entnahm ihr ein paar Baumwollhandschuhe.

»Wozu das denn?«, flüsterte Jeff. Sie wusste nicht, weshalb er so darum bemüht war, leise zu bleiben – in ein paar Minuten würden sie schließlich ziemlichen Lärm machen.

»Die haben meine Fingerabdrücke bei den Akten, seit man mich damals in Livermore verhaftet hat, hast du das vergessen?« Sie merkte, dass sie ärgerlich wurde. Diese Verhaftung hatte zwischen ihnen zu Reibungen geführt, Auseinandersetzungen darüber, wer bereit war, für ihre Überzeugung auch wirklich etwas zu tun.

Jeff gab keine Antwort, sondern ging auf den MCG zu. Er stemmte beide Hände in die Hüften; seine Haltung verriet Elizabeth, dass er sich ärgerte. Die Plane flatterte im Wind und ließ die Haltetaue ächzen.

Der Explosionskörper sah aus der Nähe wie ein Torpedo aus. Elizabeth ging um ihn herum und musste dabei über die dicken Kabel steigen, die aus einem Schacht zu dem Gerät führten. Jeff kauerte sich neben der Öffnung nieder und richtete das Licht seiner Taschenlampe hinein.

»Die Drähte führen unter der Platte durch. Wahrscheinlich zum Bunker.« Aus einem der dicken Schläuche leckte weißer Dampf. Er fuhr mit der Hand über den Schlauch, riss sie dann aber gleich wieder weg. »Das ist ja eiskalt, wie ein Eisberg!«

»Wahrscheinlich flüssiger Stickstoff.«

»Ist das gefährlich?«

Sie machte eine geringschätzige Bemerkung über Leute mit rein humanistischem Studiengang, aber Jeff hörte sie nicht.

Elizabeth berührte den MCG selbst und hätte sich nicht gewundert, wenn der Zylinder sich aufgerichtet, die Zähne freigelegt und sie verschlungen hätte. Aber nichts dergleichen geschah. Sie sah zu Jeff hinunter. »Komm schon. Die sind anscheinend mit dem Ding hier schon fertig. Pass auf, dass du nicht an die Drähte kommst, und zerschlag einfach soviel, wie du kannst.«

»Wir hätten Sprengstoff mitbringen sollen.« Er warf einen Blick auf das torpedoförmige Gebilde. »Das hätte einiges erleichtert.«

»So ist es … persönlicher. Du musst das so sehen, als würdest du ein stehengebliebenes Auto zerdeppern.«

Elizabeth nahm Hammer und Meißel und ein paar Haken aus ihrem Rucksack. Jeff hatte eine Axt mit Gummigriff und einen Schmiedehammer mitgebracht. Sie ging an dem Schlauch entlang, aus dem Dampf austrat, bis zu einer Stelle, wo ein paar Drähte ausgingen und um den MCG herumführten. Sie wollte das Ding zerstören, aber zugleich trieb sie ihre Neugierde dazu, sich zuerst ein Bild davon zu machen. Sie kannte sich in Physik und den Ingenieurwissenschaften genügend aus, um wenigstens die einzelnen Bestandteile der Anlage identifizieren zu können.

Ihr Betriebswirtschaftsdiplom hatte sie nach ihrem Ausscheiden bei United Atomics gemacht und nachdem Ted Walblaken an Krebs gestorben war. Vorher hatte sie in Berkeley das Vordiplom in Physik abgelegt. Sie war daher mit den Grundprinzipien des MCG vertraut. Man konnte mit Hilfe von Explosivstoffen Magnetfelder komprimieren und sie dazu benutzen, exotische strategische Waffen mit Energie zu versorgen. Dieses Gerät hier war bloß ein einfacher Testlauf vor den eigentlichen Versuchen, die auf dem Testgelände in Nevada durchgeführt werden sollten. Aber in den gewaltigen Komplex in Nevada hätten sie und Jeff sich niemals Zutritt verschaffen können. Hier hingegen schienen ihr die Sicherheitsvorkehrungen geradezu lächerlich lasch.

Aber wozu der flüssige Stickstoff? Für den MCG wurde er nicht gebraucht. Es sei denn, der Stickstoff wurde für etwas anderes …

Sie folgte dem Kabel bis zum vorderen Teil des Geräts. Dort spaltete es sich auf, und die einzelnen Adern führten zu einer Anordnung von Zylinderspulen.

Jeff trat neben sie. Er wirkte jetzt nicht mehr nervös, hob seinen Hammer. »Tun wir's.« Die Zeltschnüre summten im Wind. Hoch über ihnen grollte der Donner. »Bei dem Sturm wird das wie ein Stück aus einer Wagneroper sein.«

»Ich würde lieber Rush hören«, sagte Elizabeth. »Ihr Song über das Manhattan-Projekt würde im Augenblick recht gut passen.« Sie deutete auf die Spulenanordnung. »Ich wette, mit diesem Schlauch wird flüssiger Stickstoff zu den Spulen befördert – ein superleitfähiger Magnet. Was auch immer die hier untersuchen – die brauchen das, um es anzutreiben.«

»Ich fange am anderen Ende an.« Ihn schien nicht zu interessieren, wie die Anlage funktionierte oder wozu sie bestimmt war. Das überraschte sie nicht.

Elizabeth griff nach ihren Werkzeugen, als aus den Wolken über ihr Donner explodierte. Sie griff nach Meißel und Hammer und nahm sich vor, die Stickstoffleitung nicht zu beschädigen – das sollte das Finale sein – und sich zunächst den Magneten vorzunehmen. Wenn sie den empfindlichen Teil mit dem Magneten beschädigte, würde das den Versuch beeinträchtigen. Und wenn Jeff es schaffte, den MCG selbst zu zerschlagen, würde das Energieministerium wieder Zeit und Geld investieren müssen, um einen neuen zu bauen. Ein Leck in den Vakuumkammern, eine Störung der leitfähigen Wände, abgerissene Drähte – bei einem so komplizierten Aufbau konnte jede Beeinträchtigung ungeheuren Schaden anrichten.

Vielleicht würde dann endlich jemand kapieren, worum es eigentlich ging.

Der Größe der Anlage nach zu schließen, mussten die Wissenschaftler von Los Alamos ein paar Tausend Kilo höchst brisanten Sprengstoff über die verschiedenen Abteilungen verteilt haben. Und so wie die Männer gearbeitet hatten, musste es sich um nicht verdampfbaren Explosivstoff gehandelt haben, dachte sie. Und wenn sie den Sprengstoff über Nacht einfach dagelassen hatten, dann war das auch nicht schlimmer, als wenn man irgendwo gesichert TNT verwahrte. Also nichts, worüber man sich Sorgen zu machen brauchte.

Draußen peitschte der Wind durch den Canyon, zerzauste das Buschwerk und ließ die Zeltstangen ächzen. Hatte es in der Nacht vor dem ersten Atomtest damals im Zweiten Weltkrieg nicht auch einen großen Sturm gegeben? Sie glaubte, sich zu erinnern, dass sie damals beinahe den Test abgesagt hätten. Wenn den Wissenschaftlern vom Manhattan-Projekt damals ihr Versuch gescheitert wäre, sinnierte sie, brauchte sie jetzt nicht hier zu sein.

Elizabeth setzte den Meißel an, um die Abdeckung um die Magnete wegzustemmen. Sie konnte hören, wie Jeff unten an dem MCG herumhämmerte und Isolatoren aus den leitenden Schichten fetzte. Glassplitter klirrten, als er mit dem Vorschlaghammer auf ein Diagnosedisplay einschlug. Der Sturm übertönte den Lärm, den sie machten. Aber dafür würde es nachher eine ganz schöne Plackerei werden, wieder an der Canyonwand emporzuklettern.

Jeff trieb die langen Haken durch die Wände der Vakuumkammer. Elizabeth rammte ihren Meißel in den Magneten und riss die Verbindungsdrähte der Spulen ab. Sie blickte auf und sah, wie Jeff seinen Vorschlaghammer hob und sich anschickte, auf etwas einzuschlagen, was sie für das Herz des MCG-Geräts hielt, die Kammer, in der alles enthalten war. Ein ganzes Bündel Blitze zuckte über den Himmel und tauchte die Szene einen Augenblick lang in grelles, weißes Licht. Jeffs Blick wirkte irgendwie gekünstelt, als er den Hammer herunterfahren ließ …

Seine Augen hatten kaum Zeit, auf die Explosion zu reagieren, die brüllend an dem Zylinder entlangfuhr, während alles rings um Jeff in die Luft flog. Blauweiße Geisterbilder mischten sich mit den purpurfarbenen Flecken, die über ihre Netzhaut zuckten. Sie konnte nichts hören – alles geschah ganz schnell. Eine Welle verzerrter Energie fegte über sie hinweg wie eine gigantische Faust, die sie aus dem Universum hinausschleuderte –

2

Los Alamos

Juni 1943

»Die Geschichte lehrt uns immer wieder aufs Neue, dass wir zwar kein Monopol auf Ideen haben, aber dass wir besser damit umgehen können als andere Länder.«

— J. Robert Oppenheimer

»Im Augenblick ist für uns keine praktikable Methode erkennbar, wie wir während des Krieges und mit den in Deutschland verfügbaren Ressourcen eine Atombombe herstellen könnten. Trotzdem muss das Thema gründlich untersucht werden, um sicherzustellen, dass auch die Amerikaner nicht in die Lage versetzt werden, Atombomben zu entwickeln.«

— Dr. Werner Heisenberg

Wieder Tageslicht. Das musste es sein – nichts konnte so hell sein, wo sie doch die Augen immer noch geschlossen hatte. Aber warum hatte sie den Eindruck, als käme das Licht aus dem Inneren ihres Kopfes?

Elizabeths Kopf schmerzte, sie hatte das Gefühl, der Schädel müsse ihr von vorn bis hinten zerspringen. Ihre linke Hüfte schmerzte, und sie hatte Schwierigkeiten mit dem Atmen. Ihr war schwindlig, als würde sie auf einem Floß mitten im Meer sitzen und sich im Kreise drehen. Ihre Augen wollten nicht funktionieren. Und am meisten machte es ihr Angst, dass das Zucken in ihrem Körper einfach nicht aufhören wollte, als wäre jede Faser in ihr zum Zerreißen angespannt worden, und ihre Nerven lieferten eine Fehlzündung nach der anderen.

Wenigstens war der Boden, auf dem sie lag, weich. Sie musste bei der Explosion des MCG von der Betonplatte geschleudert worden sein …

MCG … MagnetoCumulativ-Generator …

Plötzlich passte alles zusammen. Die Explosion, der Blitz, Jeff mit hocherhobenem Vorschlaghammer, ein Bild wie Conan, der Friedensaktivist.

Sie musste aufstehen. Sie musste sich bewegen. Jemand musste die Explosion gesehen haben. Sie und Jeff mussten wieder die Canyonwand hinaufklettern, mussten sich vor den Sicherheitskräften verstecken. Sie mussten sich beeilen, mussten aus dem Sturm heraus.

Aber sie schaffte es nicht einmal, die Augen zu öffnen. Und sie hatte das Gefühl, als würde ihr die Sonne warm auf die Haut scheinen.

Als Elizabeth wieder in Bewusstlosigkeit sank, hätte sie immer noch nicht sagen können, was eigentlich vorgefallen war …

Elizabeth wachte ruckartig auf. Versuch es noch einmal. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war.

Sie zwang sich, die Augen aufzuschlagen, und sah, dass sie auf einem Hügel lag, dass ihre Füße den Hügel hinaufzeigten. Sie fragte sich, ob Jeff sie vielleicht von der Versuchsstätte weggeschleppt hatte, sie in ein Versteck gebracht hatte. Ihr einer Arm lag völlig gefühllos unter ihrem Kopf, taub von dem eisigen Prickeln ihres beeinträchtigten Kreislaufs. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ihre Muskeln waren so müde, dass das wehtat.

Ein feuchter Geruch ging vom Boden aus. Der Sturm war vorbeigezogen, aber der Himmel war immer noch von Wolken bedeckt. Was auch immer hier vorgefallen war, hatte sie beide umgeworfen und dabei bewusstlos geschlagen. Sie konnte Jeff neben sich nicht hören.

Plötzlich wurde ihr bewusst, was das zu bedeuten hatte. Die Wissenschaftler von Los Alamos würden mit den Wachen zurückkehren. Sie würden ihre Versuchsanlage zerstört vorfinden. Die Sicherheitsleute hätten bereits hier sein müssen.

»Jeff –« Sie musste husten, weil sie soviel Staub geschluckt hatte. Wo war er? Sie versuchte, den Kopf herumzudrehen, aber etwas wie schwarze Fusseln behinderte ihre Sicht. Als sie den linken Arm hob, stieß sie vor Schmerz einen Schrei aus. Sie bewegte ihr Handgelenk – gebrochen war der Arm anscheinend nicht. Sie stützte sich auf den anderen Ellbogen. Irgendwie schaffte sie es noch nicht, ihre Augen scharf zu stellen.

»Jeff!« Elizabeth holte tief Luft, und plötzlich bekam ihre Umgebung klarere Konturen. Was sie sah, ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen.

Jeff lag vielleicht zehn Meter von ihr entfernt zusammengekrümmt auf dem Boden. Er bewegte sich nicht.

Elizabeth richtete sich mühsam auf Händen und Knien auf. Es dauerte eine Sekunde, bis das Schwindelgefühl vorbei war, aber sie konzentrierte sich ganz auf Jeff und kroch auf allen Vieren zu ihm hinüber. »Jeff?« Sie kroch langsamer und verharrte dann etwa einen Meter von ihm entfernt, spürte es bitter in ihrer Kehle aufsteigen.

Seine Beine waren unterhalb der Knie – einfach verschwunden; aber aus der Wunde floss kein Blut. Seine Beine sahen so aus, als wären sie zusammengeschmolzen worden. Er lag am Rand eines flachen Kraters, der vielleicht drei Meter durchmaß, als hätte es ihn am Rand einer Explosion erwischt, zu nahe, als dass ihn ihre ganze Wucht hätte erfassen können, die sie bewusstlos geschlagen hatte. Seine rotgeränderte Brille lag unversehrt neben ihm im Krater.

»Oh Gott, Jeff.« Elizabeth achtete nicht auf ihren Schmerz und kniete neben ihm nieder. Sie kämpfte gegen eine neue Bewusstlosigkeit an. Tränen brannten in ihren Augen, und sein Anblick ließ sie am ganzen Körper zittern. Sie streckte die Hand aus, strich über seine Brust und kniete schließlich nieder und legte ein Ohr an seinen Mund. Nichts. Als sie nach der Arterie an seinem Hals tastete, brachte das gleiche Ergebnis. Und er fühlte sich kalt an.

Sie versuchte es noch einmal und hieb dann mit beiden Fäusten auf seine Brust, aber das war eher ein Akt der Verzweiflung und des Zorns als ein Versuch, ihn wiederzubeleben.

Elizabeths Finger gruben sich in Jeffs lockiges Haar, ihr Gesicht war ganz dicht bei dem seinen. Die Tränen kamen ihr, und dann drängte ein ganzer Strom von Erinnerungen an die Oberfläche und lähmte sie. Die kleine Wohnung dicht beim Campus von Berkeley, in der sie mit ihm gewohnt hatte. Die ewigen Auseinandersetzungen über politische Themen. Die Arbeit an ihrem Betriebswirtschaftsdiplom, während er Geschichte oder Dichtung studierte, oder was auch immer sonst ihn in jenem Semester gerade interessierte. Sie spielten beide auf der Türschwelle Gitarre und sahen dabei den Radfahrern und den Joggern nach.

Nach ihrer Trennung hatte sie ihn ein paar Jahre nicht zu sehen bekommen, erst wieder, als sie ihn angerufen und ihn aufgefordert hatte, nach Santa Fe zu kommen. Ihn gebeten hatte, ihr hier zu helfen, und vielleicht ihre Beziehung wieder neu zu beginnen. Und jetzt hatte die Waffenforschung ein neues Opfer gefunden …

Elizabeth sah sich um, sie zitterte. Sie versuchte zu schlucken, und ihre Kehle schmerzte, weil sie so ausgetrocknet war. Aber sie fing jetzt an, klar zu denken. Das hatte Jeff an ihr immer bewundert; selbst wenn sie anfing, sich über ein Thema zu erregen, war sie doch immer wieder imstande, die richtige Perspektive zu gewinnen und einen neuen Anfang zu machen. Ganz gleich wie weh es auch tat.

Aber jetzt nicht. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Sie starrte lange Zeit Jeffs leblose Gestalt an. Niemand kam – keine Sicherheitskräfte, keine Wissenschaftler, gar nichts. Sie riss den Blick mit Gewalt von seinen Beinen los. Es war ein Anblick, der irgendwie nicht stimmte; es gab keinen Sinn. Etwas sehr Seltsames war hier vorgefallen.

Elizabeth wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als sie schließlich aus ihrer Benommenheit erwachte und plötzlich die Panik spürte, die in ihr aufwallte. Sie musste etwas tun, ihn hier wegschaffen. Sie durften jetzt nicht erwischt werden, nicht so. Sie wollte nicht, dass die Sicherheitskräfte ihn oder sie fanden. Allein schon das unbefugte Eindringen in Bundesgelände war strafbar.

»Jeff …« Sie beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn. An seinen offenen Augen klebte Staub, und sie strich darüber und schloss sie.

Jeff wäre enttäuscht über sie gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sie das Risiko eingegangen war, aus rein sentimentalen Empfindungen über ihn festgenommen zu werden. Sie musste das Leid und die Trauer jetzt unterdrücken. Dafür war später, wenn sie es sich leisten konnte, auch noch Zeit.

Mit einiger Mühe baute sie sich vor ihrem inneren Auge ein Bild von sich auf, wie sie sich selbst auf Touren brachte, sozusagen einen anderen Gang einlegte, unnötige Gedanken wie externe Subsysteme abschaltete. Aber sie schaffte es. Die Besten überleben. Sie konnte jetzt nichts tun, um Jeff zu helfen. Sie musste jetzt anfangen, an sich zu denken.

Das hätte er jetzt zu ihr gesagt. Sie würde später trauern, redete Elizabeth sich erneut ein, später, wenn es nicht mehr gefährlich war.

Sie sah sich um.

Da war noch etwas, was sie störte, was irgendwie nicht stimmte.

Dem Sonnenstand nach musste es früher Morgen sein. Vielleicht hatte sie sogar Zeit, Jeffs Leiche wegzuschleppen, sie vielleicht zu verstecken und später zurückzukommen, wenn die Wissenschaftler wieder weggegangen waren. Nein, die Sicherheitsleute würden hier erscheinen und das ganze Gelände abkämmen, sobald sie den zerstörten MCG entdeckt hatten. Es hätte schon lang jemand hier sein müssen, um nachzusehen, ob der Sturm selbst irgendwelche Schäden angerichtet hatte.

Sie würde es nie schaffen, Jeff weit zu tragen. Aber es gab Tausende Stellen, wo sie ihn verstecken konnte, kleine Höhlen oder Nischen in der Canyonwand, wenn sie es nur schaffte, die Leiche weit genug von der Versuchsstätte wegzuschaffen –

Und dann überkam es sie plötzlich: die Versuchsstätte.

Selbst wenn die Explosion alles im Umkreis von hundert Metern verstreut hätte, hätte sie doch wenigstens die Betonplatte sehen müssen, den Erdhügel rings um die Anlage, zumindest die Straße, die den Canyon hinunterführte zu dem Tor im Drahtzaun.

Elizabeth stand auf und sah sich vor Benommenheit leicht schwankend um. Sie entdeckte den Vorsprung oben an der Klippe, wo sie und Jeff gewartet hatten, das Rinnsal unten auf dem Grunde des Canyons, die Büsche. Alles wirkte unverändert.

Nur dass jede Spur von menschlichem Einwirken verschwunden war. Es war, als ob jemand hergekommen und den MCG-Apparat, die Betonplatte, die Straße – einfach alles – ausgelöscht hätte.

Als ob die Versuchsstätte nie hier gewesen wäre.

Elizabeth hatte in Berkeley nie mit Rauschgift experimentiert, das konnte also kein Flashback sein, keine verzögerte Reaktion. Vielleicht hatte sie sich bei der Explosion den Kopf angestoßen, dachte sie. Vielleicht war das alles gar nicht Wirklichkeit.

Aber vielleicht doch.

Sie versteckte Jeffs Leiche in einer der natürlichen Höhlen an der Klippenwand, flachen Einbuchtungen, die das Wetter in das weiche Tuffgestein gegraben hatte. Der Fels war zum Graben zu hart. Sie sah keine Möglichkeit, ihn zu begraben, keine Möglichkeit, die Tiere fernzuhalten. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, ihn einfach so ungeschützt liegen zu lassen. Aber nicht ohne jemanden, der sich seiner erinnern würde. Sie versuchte, nicht auf seine zugeschmolzenen Beinstummel zu sehen oder die Blutflecken auf seinem beigen Hemd, als sie neben ihm Felsbrocken aufhäufte. Sie brauchte eine Stunde, um die flache Vertiefung im Felsgestein zuzudecken, eine Art Hügelgrab für ihn.

Als Elizabeth fertig war, starrte sie das improvisierte Grab mit zusammengepressten Lippen an. Sie blieb ein paar Augenblicke lang so stehen und flüsterte dann »Adieu, Jeff«, und wandte sich ab, solange sie dazu noch imstande war.

In all den Stunden, die verstrichen waren, hatte sie kein Geräusch gehört, keinerlei Hinweise auf irgendwelchen Verkehr. Sie beschloss zum höchsten Punkt der Mesa zu klettern, weg von der Canyonsohle, um nicht auf einen der Wissenschaftler aus Los Alamos zu stoßen. Falls und wenn alles wieder normal wurde, wollte sie die Lage möglichst günstig für sich gestalten. Wollte selbst das Heft in der Hand haben.

Die Erschöpfung zehrte an Elizabeths Kräften, als sie die Canyonwand hinaufkletterte, aber sie kam trotzdem bei Tageslicht schneller voran als in der letzten Nacht. Selbst der Drahtzaun war verschwunden. Sie setzte den Weg am Canyonrand fort auf der Straße, die die Parkverwaltung angelegt hatte, und die sie zu dem Besucherzentrum führen würde, wo sie ihren Bronco abgestellt hatte.

Der zweite Schock stellte sich ein, als sie die Straße nicht finden konnte.

Die New Mexico State Road 4 hätte sich am Grunde des Canyons zu dem Nationaldenkmal schlängeln sollen, in einem weiten Bogen zu der Ansiedlung, die sich White Rock nannte und dann zur Stadt Los Alamos. Aber sie entdeckte nur einen von Pferden ausgetretenen Weg, der in der Ferne verschwand. Sonstige Spuren von Zivilisation waren nicht zu sehen.

Elizabeth nahm ihren Rucksack ab. Keuchend und schwitzend holte sie das Messtischblatt heraus, auf dem sie und Jeff ihren Weg zu dem Zaun der MCG-Versuchsstätte ausgearbeitet hatten. Am Canyonrand auf dem staubigen Boden kauernd drehte sie das grüne Kartenblatt herum, bis sie sich orientieren konnte. Rechts von ihr, sechzig Meilen entfernt, ragte der Mount Baldy über Santa Fe auf. Hinter ihr türmten sich die Sandiaberge und Albuquerque; eine halbe Millionen Menschen im Umkreis von hundert Meilen.

Es gab einfach keinen Sinn. Sie richtete sich auf, schob sich das rötliche Haar aus der Stirn und band es wieder mit dem Lederstreifen im Nacken zusammen. Der mittlere Abschnitt des Bandelier National Monuments mit den Wanderpfaden und den historischen Klippenbehausungen der Indianer lag hinter den nächsten zwei Bergkämmen. Sie war sicher, dass die Orientierung stimmte. Über kurz oder lang würde sie das auch klarbekommen.

Aber Jeff würde nie zurückkehren.

Elizabeth schob all diese Gedanken beiseite. Nicht jetzt! Sie setzte sich in Bewegung, verfiel in einen gleichmäßigen Trott. Noch nie war sie so müde gewesen, so ausgepumpt.

Die Sonne stand noch nicht ganz im Zenit, als sie den letzten Bergkamm hinter sich brachte und über den Frijoles Canyon hinausblickte, wo der Parkplatz von Bandelier, der Andenkenladen und der Imbissstand hätten sein sollen. Selbst hier in den Bergen wirkte die kühle Frühsommerluft schwer und drückend und ließ sie stärker schwitzen als für die Jahreszeit normal war.

Elizabeth vergewisserte sich erneut durch einen Blick auf die detaillierte Karte, dass ihre Position stimmte, ehe sie über den Canyonrand blickte. Sie arbeitete sich hinauf und ließ den Blick dann über den Bandelier schweifen. Eine Unzahl von Höhlenöffnungen waren an der Klippenwand zu sehen. Rechts von ihr markierte ein Halbkreis teilweise ausgegrabener Felsbrocken eine Siedlung der Anasazi-Indianer. Unter ihr lag eine weitläufige Ranch mit Stallungen und ausgetretenen Wegen, die zu den einzelnen Gebäudeteilen führten. Sie erkannte die aus Adobeziegel errichteten Gebäude des Besucherzentrums, aber sie wirkten irgendwie anders, neuer.

Mit zusammengepressten Lippen starrte sie hinunter. Von der Rangerstation, die sie erst vor einem Tag besucht hatte, war nichts zu sehen. Sie konnte auch keinerlei Fahrzeuge ausmachen. Selbst der Bronco, den sie und Jeff neben dem Cottonwoodbaum geparkt hatten, war verschwunden. Die Anasazi-Ruinen sahen unverändert aus, aber alles andere hatte sich geändert.

Was geht hier vor?, fragte sie sich. Träume ich immer noch?

Jeffs Tod war kein Traum gewesen.

Elizabeth vergeudete keine Zeit damit, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. Für Erklärungen war später Zeit. Sie musste sich jetzt entscheiden, wie sie weiter vorgehen wollte. Wenn sie das Ranchgebäude unten aufsuchte, würde sie das für den Augenblick nicht weiterbringen, man würde ihr lediglich Fragen stellen, auf die sie keine Antwort geben wollte. Wenn sie sich dagegen nach Los Alamos begab, würde das Aufklärung bringen. Dort würde sie sich zusammenreimen können, was hier vorging, ohne damit zu viel Wirbel zu machen. Dem Sonnenstand nach zu schließen, war es allerhöchstens elf Uhr morgens.

Wieder spürte sie, wie die Verwirrung in ihr hochkam, spürte einen Anflug von Panik. Da war immer noch das Gefühl, als hätte die Explosion ihr Innerstes nach außen gedreht. Sie dachte an Jeff … und bekam sich langsam wieder in den Griff.

Über dem Mount Baldy in fünfzig Meilen Entfernung standen Wolken. Aber es sah so aus, als ob das gute Wetter anhalten würde. Wenn es nicht wieder zu regnen anfing, sollte sie es bis zum Einbruch der Nacht bis Los Alamos schaffen. Dort würde sie eine Zeitung kaufen können. Eine heiße Mahlzeit. Im Augenblick übte sogar die beschränkte Auswahl an Restaurants, die Los Alamos zu bieten hatte, einen gewissen Reiz auf sie aus.

Sie konnte zurückkehren und alleine schlafen, ohne Jeff. Sie konnte sich unterwegs überlegen, wie sie seine Abwesenheit erklären würde. Irgendwie konnte sie sich einfach nicht dazu überwinden, seinen Tod der Polizei zu erklären. Und in irgendeinem abgeschiedenen düsteren Winkel ihres Bewusstseins war ihr klar, dass sie immer noch unter Schock stand.

Aber was zum Teufel ging hier eigentlich vor? Die Frage drängte sich immer wieder in den Vordergrund, während sie mechanisch dahintrottete. Die einfachste Antwort auf die Frage war, dass ihr Bewusstsein irgendwie durcheinandergeraten war; die Antwort, die am schwersten zu schlucken war, dass das, was sie hier sah, die Wirklichkeit war. Aber was war dann aus allem geworden?

Weder die Mesa noch die markierten technischen Bereiche waren von Zäunen umgeben. Sie war oft mit ihrem Bronco um die Sperrzonen herumgefahren und hatte dabei so getan, als wäre sie eine gewöhnliche Touristin. Aber jetzt sah sie gar keine Warntafeln und auch keinen Stacheldraht. Während des Marsches durch das Hügelland verfolgte Elizabeth ihren Weg sorgfältig auf der Karte, auf der eine punktierte rote Linie deutlich die Grenzen des Laboratoriumsgeländes anzeigte: U.S. DEPARTMENT OF ENERGY ZUGANG VERBOTEN. Aber obwohl sie diese Linie schon mehrfach überquert hatte, war sie kein einziges Mal auf irgendetwas gestoßen, das auch nur entfernt an eine Absperrung oder Warnschilder oder dergleichen erinnerte.

Ein leichter Nieselregen war aufgekommen, aber Elizabeth marschierte weiter, nass und jetzt in ziemlich bedrückter Stimmung. Auf ihren nackten Armen glitzerten Regentropfen, und ihre Jeans und ihre Stiefel waren gründlich durchnässt. Sie aß ihre letzte Packung Bergsteigerfutter, ohne dabei stehen zu bleiben; sie sah keinen Nutzen darin, damit zu sparen. Für sie hatte es jetzt oberste Priorität, herauszubekommen, was hier vor sich ging – und dabei nicht zu oft an Jeff zu denken.

Los Alamos intakt vor sich zu sehen würde ihr Gleichgewicht vielleicht wiederherstellen. Sie sehnte sich danach, wieder klar denken zu können. Als sie oben auf der Mesa angelangt war, wo die Stadt lag, hatten die Wolken sich verdunkelt, und es regnete jetzt wolkenbruchartig. Bei jedem Schritt quietschte das Wasser in ihren Stiefeln.

Sie kam aus dem Südwesten, folgte dem Bergkamm bis zu der Stelle, wo der Hauptlaborkomplex hätte sein sollen. Sie ging schneller, und dann entdeckte sie plötzlich zwischen den Bäumen einen Stacheldrahtzaun, der ins dichte Unterholz hineinführte. Sie hatte nie geglaubt, dass der Anblick eines Stacheldrahtzauns solche Freude in ihr würde auslösen können! Vielleicht hatte der lange Marsch Klarheit in ihr Bewusstsein gebracht. Vielleicht hatte sie sich zu sehr verbissen und zu lange auf das Los-Alamos-Projekt konzentriert. Und dann hatte die Explosion sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Vielleicht hatten ihr Zorn auf das MCG-Experiment, das Gewitter und Jeffs schrecklicher Tod ihren Verstand wie ein Gummiband auseinanderreißen lassen. Vielleicht hatte sie sich ein Los Alamos ohne Labor, ohne Experimente ausgemalt.

Der Regen behinderte die Sicht stark. Während sie zwischen den Pinien und Cottonwoods dahinstapfte, wuchs ihre Hoffnung allmählich. Lichter – sie entdeckte eine flackernde Lichtquelle und dann eine grelle Anordnung von Scheinwerfern zwischen den Bäumen. Es war, als ob man die Glühbirnen an einem Draht aufgehängt und über eine Lichtung gespannt hätte. Lärm drang durch den Wolkenbruch zu ihr herüber, wurde vom Regen halb verschluckt.

Als Allererstes würde sie zusehen, dass sie ein Telefon fand – würde eine ihrer Freundinnen in Santa Fe anrufen. Es würde ein paar Stunden dauern, aber wahrscheinlich würde Marcia kommen und sich im Imbissraum des Los Alamos Inn mit ihr treffen. Inzwischen würde die Nachricht von dem sabotierten MCG-Experiment ja überall in den Schlagzeilen stehen. Die United Conscience Group würde sie als Heldin behandeln.

Als sie die Lichtung erreichte, wurde sie langsamer, weil sie nicht wollte, dass man sie sah. Die Geräusche, die zu ihr drangen, klangen so, als würde trotz des schlechten Wetters ein Trupp Bauarbeiter am Werk sein. Das Kreischen von Kreissägen, Hammerschläge …

Als Elizabeth sich vorsichtig zum Waldrand vorschob, pressten ihre Lippen sich zusammen. Ihre Wunschvorstellungen brachen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Alles war mit Schlamm bedeckt. Überall auf der Lichtung standen scheinbar ohne jedes System Wellblechhütten herum, die mit elektrischen Leitungen auf einfach in den Boden gerammten Stangen verbunden waren. Die paar Brettergebäude, sie sahen eher wie schnell zusammengenagelte Hütten aus.

Und das hätte das Zentrum von Los Alamos sein sollen!

Männer in Khakiuniformen und Stahlhelmen regelten der Verkehr auf der schlampigen Baustelle. Keine der Straßen sah so aus, als wäre sie asphaltiert, bloß Schlamm und ein wenig Kies mit braunen Pfützen in den Fahrrinnen und keine Spur von Fußwegen oder Ablaufrinnen. Mit Schlamm bespritzte Jeeps fuhren zwischen den Wellblechhütten hin und her. Und die anderen Autos sahen alle aus, als stammten sie aus uralten Wiederholungen von Schwarzweißserien im Fernsehen.

Elizabeth trat benommen einen Schritt zurück. Ihr Atem ging ruckartig, verkrampft. Ich bilde mir das alles ein, dachte sie. Ich habe jetzt völlig den Verstand verloren.

Und trotzdem … es war natürlich völlig unmöglich … aber die Geräusche, der Geruch, das, was sie sah … wenn sie nicht gewusst hätte, dass es nicht so war, hätte sie sich ebenso gut in der Zeit des Zweiten Weltkriegs befinden können. Sie konnte sich doch all die Einzelheiten nicht einfach nur einbilden – sie hatte doch keine Ahnung von Geschichte. Aber das Geschehen hier auf diesem isolierten Hochplateau passte viel besser zu Los Alamos in der Kriegszeit –

Sie erschrak. Vor fünfzig Jahren war das hier Los Alamos in der Kriegszeit gewesen. Der Höhepunkt des Manhattan-Projekts. Die Geburtsstunde der Atombombe.

Elizabeth zog sich in den Wald zurück und setzte sich auf einen Brocken zerbröckelndes Tuffgestein, der überhaupt nicht mit Graffiti verziert war, obwohl er dicht bei der Hauptstraße lag.

Sie konnte doch unmöglich in der Zeit zurückgeschleudert worden sein! Diese MCG-Explosion hatte sie irgendwie in die Vergangenheit zurückgeschickt? Was war dann mit all diesen Vorlesungen während ihres Physiksemesters, dem Gerede, dass die Reisen in der Zeit jedem Prinzip der modernen Physik widersprachen, von der Entropie bis zur Kausalität?

Aber sie konnte das, was sie da vor sich sah, nicht einfach abtun. Irgendetwas Bedeutendes ging da vor sich. Genau an der Stelle, wo Los Alamos sein sollte. Und die Stadt selbst war verschwunden. Wie oft war sie selbst an dem weitläufigen Verwaltungsgebäude vorbeigefahren, hatte ihren Aktivistenfreunden das Hauptquartier der Bombenfabrik gezeigt?

Konnte es sein, dass sie eine Art Gehirnerschütterung erlitten hatte und einfach Halluzinationen hatte? Das wäre vielleicht eine einfachere Lösung, leichter zu akzeptieren. Vielleicht lag sie in Wirklichkeit noch an der Versuchsstätte und war dabei zu verbluten, während ihr Bewusstsein einfach nicht bereit war, die Unvermeidbarkeit des Sterbens zu akzeptieren.

Elizabeth kaute auf ihrer Unterlippe. Der Hunger, der an ihren Eingeweiden nagte, wirkte real genug, genauso wie die Blasen an ihren Füßen. Vielleicht musste sie das einfach zu Ende spielen, musste abwarten, was ihr Unterbewusstsein noch mit ihr im Sinn hatte. Vielleicht wollte es sie einfach dazu bringen, Jeffs Tod zu akzeptieren.

War er denn überhaupt gestorben?

Sie schlug mit der flachen Hand auf die harte Steinfläche. Es schmerzte. Der Steinbrocken war also echt.

Sie wusste, dass sie nicht einfach da sitzen bleiben konnte. Die Nacht zog schnell herauf, und sie brauchte ein Dach über dem Kopf, brauchte etwas zu essen. Selbst wenn sie sich das Ganze nur einbildete.

Sie atmete tief durch und setzte sich dann wieder in Bewegung, in den Regen hinein, geradewegs auf das Zentrum des Geschehens zu.

»Hierher, Kindchen! Schnell, kommen Sie doch rein!«

Elizabeth konnte in dem dichten Wolkenbruch keinerlei Gesichtszüge ausmachen, entdeckte aber eine auffällig hochgewachsene Frau, die ihr zuwinkte. »Hören Sie mich nicht? In der Kälte holen Sie sich den Tod.«

Elizabeth zog den Kopf ein und trottete durch den Schlamm auf die Frau zu, die sich sofort wie eine Glucke um sie bemühte. »Da, legen Sie sich diese Decke um. Sind Sie gerade mit dem Bus hergekommen? Was haben Sie denn da drüben im Wald gemacht? Das ist wirklich kein Tag für einen Spaziergang. Und alleine sollten Sie da überhaupt nicht hingehen.«

»Ich komme schon selbst zurecht.« Elizabeth hüllte sich in die grüne Militärdecke und ließ sich von der Frau ins Haus führen. »Aber vielen Dank.« Die alte Frau war dünn, schlank wie eine Gerte und erinnerte Elizabeth irgendwie an eine Wohnheimmutter, die damit beauftragt war, Collegezöglinge zu bewachen. Dem Aussehen nach musste sie Ende der Fünfzig sein.

»Sehen Sie nur, wie Sie angezogen sind! Arbeitshosen? Also, jetzt runter mit dem Zeug und rein in die Badewanne. Wir haben noch warmes Wasser übrig. Das sollten Sie ausnützen, solange Sie können.« Die Frau legte den Finger an die Wange. »Haben die Ihr Gepäck nicht mit ausgeladen?«

»Äh, nein.«

»Sie sind jetzt die Dritte, mit der die das in dieser Woche gemacht haben. Was bilden sich die eigentlich in Santa Fe ein? Bringen die jungen Ladies hierher und behandeln sie wie Soldaten. Ich bin gespannt, wie das weitergeht. Ich hoffe nur, die Army hat Ihre Habseligkeiten nicht wieder nach Hause geschickt.«

Elizabeth blieb stumm und ließ die ältere Frau einfach reden. Über kurz oder lang würde sie sich selbst Klarheit verschaffen.

Im Raum war eine Anzahl stählerner Bettstellen aufgereiht. Das Ganze war wie ein Wohnheim gebaut. Ein Viertel der Betten sah benutzt aus.

Auf einem wackligen Tisch sah Elizabeth eine schon ein wenig ausgefranste Zeitung, zerknüllt und wieder zusammengefaltet, als hätten sie schon ein Dutzend Leute gelesen. In den Schlagzeilen stand etwas davon, dass Himmler die Liquidierung aller polnischen Ghettos angeordnet hätte, eine Ortschaft, die sich Pantellaria nannte, war eingenommen worden, und die USAAF hatte Wilhelmshaven angegriffen – wo auch immer das war.

Oben auf der Seite stand das Datum: 12. Juni 1943. Und das Papier war neu und weiß, nicht vom Alter vergilbt.

Ehe Elizabeth etwas sagen konnte, hatte die alte Frau sie in den hinteren Teil der Baracke bugsiert. »Ich werde Ihnen einen Bademantel leihen, wenn Sie geduscht haben, Liebes. Und dann verständige ich die Wache, dass die ab morgen früh jemanden nach Ihrem Gepäck schicken.«

»Aber was –« Sie hielt inne. »Ich meine, vielen Dank, Ms. …?«

»Mrs. Canapelli. Mein Ronald ist vor fünf Jahren gestorben. Er war Hausmeister in der Universität, und wir waren mit Dr. Oppenheimer und Kitty befreundet, damals in Berkeley. Oppie hat mich gebeten, das Damenwohnheim zu überwachen. Ich bin froh, dass er an mich gedacht hat, wegen meines armen Ronald.« Sie blieben vor dem Badezimmer stehen.

Oppie?, dachte Elizabeth. Ja, der Oppie. Ein Schwindelgefühl überkam sie. Diese Frau war also mit Oppenheimer befreundet, dem Mann, der für die Bombe verantwortlich war. »Vielen Dank, Mrs. Canapelli. Äh, wo kann ich diese Kleider getrocknet kriegen? Haben Sie eine Automatenwäscherei?«

»Eine was? Ich hänge sie Ihnen auf. Die Luftfeuchtigkeit ist hier sehr gering, und sobald es aufhört zu regnen, sind die Kleider schnell trocken. Ich kann Ihnen ein Bügeleisen besorgen, wenn Sie mögen.«

»Nein, danke. Die sind bügelfrei.« Elizabeth kaufte nie Kleidung, die gebügelt werden musste.

»Bügelfrei?« Mrs. Canapelli inspizierte Elizabeths Jeans und ihr kariertes Hemd. »Sie haben das Projekt wirklich beim Wort genommen und sich Kleidung fürs Land besorgt, wie? Wo sagten Sie, kommen Sie her? Und Ihren Namen habe ich auch nicht verstanden.«

»Elizabeth Devane, und, äh, ich komme aus … Montana. Ich ziehe mich immer so an.« Mehr sagte sie nicht, weil sie sich nicht bei einer Lüge ertappen lassen wollte. Montana war weit genug entfernt, dachte sie sich und würde vielleicht ihr ungewöhnliches Verhalten erklären.

Sie trat ins Badezimmer und fing an, sich auszuziehen. Mrs. Canapelli fuhr fort zu schnattern. Normalerweise wäre das Elizabeth lästig gewesen, aber da Mrs. Canapelli alles Mögliche erzählte, von der Registrierung bis zu den Regeln des Projekts, lieferte sie am Ende Elizabeth eine Menge Einzelheiten, die sie brauchen würde, um zurechtzukommen. Elizabeth hörte also zu und speicherte die Information.

Das könnte vielleicht nützlich sein, bis sie wieder aufwachte, und bis diese Halluzination ein Ende hatte.

Elizabeth hätte nie gedacht, dass eine Militärpritsche sich so angenehm anfühlen könnte. Sie drehte sich zur Seite und spürte nur die scharfe Kante der Pritsche, nicht Jeffs warme Schultern. Diese Erkenntnis ließ sie ruckartig erwachen.

Seit sie und Jeff die Canyonwand herunter zu der MCG-Versuchsstätte geklettert waren, waren wenigstens vierundzwanzig Stunden verstrichen. Vierundzwanzig Stunden und gute zwanzig Meilen mühsamer Fußmarsch. Und vielleicht fünfzig Jahre … Zeitreise.

Elizabeth atmete tief durch. Zeitreise. Das menschliche Bewusstsein ist wesentlich komplizierter, als die meisten Leute das wahrhaben wollen. Wenn sie morgen aufwachte und sich immer noch im Frauenwohnheim von Los Alamos befand, würde sie sich ernsthaft Mühe geben müssen, das nicht weiterhin für unmöglich zu halten. Ihre Bewusstsein wollte ganz offensichtlich, dass sie in dieser Ära etwas erlebte – da war es am besten, sich einfach treiben zu lassen und es auszuleben. Auf die Weise hatte ihr Körper wenigstens Zeit und Gelegenheit zu heilen, während ihr Bewusstsein Ordnung in die Dinge brachte.

So leuchtete es ihr ein, machte Sinn. Sie konnte die Schuld ihrer Psyche geben und ihr Zeit zum Heilen lassen. Aber wenn es nur eine Halluzination war, wäre es schön gewesen, wenn sie es irgendwie auch zuwege gebracht hätte, Jeff in diese Halluzination mit einzubeziehen.

* * *

Der Offizier musterte Elizabeth mit zusammengekniffenen Augen. Er trug Rangabzeichen am Kragen – zwei parallele silberne Streifen. Sie hatte keine Ahnung von militärischen Rängen, aber Elizabeth glaubte sich zu erinnern, dass jemand ihn mit Captain angesprochen hatte.