Das Institut der letzten Wünsche - Antonia Michaelis - E-Book
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Das Institut der letzten Wünsche E-Book

Antonia Michaelis

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Beschreibung

In ihrem ebenso poetischen wie tiefgründigen, zu Herzen gehenden wie humorvollen Roman "Das Institut der letzten Wünsche" bezaubert die renommierte Autorin Antonia Michaelis mit ihrem ganz unverwechselbaren Ton. Geschickt verbindet sie eine warmherzige Liebes- und Freundschaftsgeschichte mit ernsten Themen wie der Frage, welche letzten Wünsche Sterbende haben und was am Ende des Lebens zählt, wenn so vieles unwichtig wird. Antonia Michaelis wunderbare Heldin, die verträumte Mathilda, arbeitet für eine Organisation, die sterbenden Menschen ihre letzten Wünsche erfüllt. Ein letztes Mal Schneeflocken spüren mitten im Hochsommer, Maria Callas live erleben oder in einem stillgelegten Vergnügungspark Riesenrad fahren – alles kein Problem, kleine Tricks inbegriffen. Das ändert sich, als Mathilda Birger begegnet. Denn er wünscht sich, vor seinem Tod noch einmal seine große Liebe Doreen und ihr gemeinsames Kind wiederzusehen. Mathilda soll sie für ihn suchen – nur will sie Doreen eigentlich gar nicht finden, denn sie hat sich auf den ersten Blick in Birger verliebt. "Antonia Michaelis gehört zu Deutschlands besten Geschichtenerzählern, die mit viel Gefühl das Herz rühren und Romane voller Poesie schreiben." literaturmarkt

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Seitenzahl: 626

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Antonia Michaelis

Das Institut der letzten Wünsche

Roman

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungVorweg1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelDanach
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Für

Angela Wilk,

deren letzten Wunsch ich nicht kannte,

obwohl sie sieben Jahre neben uns wohnte, und ihre wunderbare Tochter Delia.

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Vorweg

Es war nicht ganz einfach, das Pferd in die S-Bahn zu bekommen.

Zum Glück war es ein sehr kleines Pferd, ein Pony eigentlich. Aber es hatte einen umso größeren Respekt vor den von ferne operierten S-Bahn-Türen.

»Komm«, sagte Mathilda. »Hab keine Angst. Der Fahrer hält die Türen offen, solange irgendwer dazwischen steht. Komm!«

Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen möglichst ruhigen Klang zu geben, freundlich, geduldig; wie man eben so mit Pferden spricht, die in S-Bahnen steigen. Sie war ruhig. Wenn das Pferd noch lange zögerte, würde der Fahrer genauer hinsehen und bemerken, dass es ein Pferd war, was den Verkehr aufhielt. Das Schild an der Tür verbot zwar ausschließlich Pommes, Eis und Rollschuhe in der S-Bahn.

Von Pferden stand nirgends etwas. Dennoch …

Man konnte hoffen, dass der Fahrer das, was er im Spiegel sah, bisher für jemanden in einer sehr seltsamen Verkleidung gehalten hatte, Manga macht’s möglich. Mathilda war nicht sicher, dass es überhaupt einen Fahrer gab. Vielleicht waren die Berliner S-Bahnen längst ferngesteuert, und jemand saß irgendwo in einer Zentrale in Indien oder Shanghai, um sie zu lenken.

Mathilda spürte, wie die anderen Leute sie anstarrten. Sie fragte sich, was sie sahen: eine ganz normale junge Frau, fünfundzwanzig Jahre alt, braunes, glattes Haar, zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen, Pullover, Jeans. Unauffällig. Und dann stellten die Leute fest, dass die ganz normale junge Frau ein Pony am Halfter hielt. Verdammt, wäre das Pony ein Kinderwagen gewesen, hätte ihr längst jemand seine Hilfe angeboten. Aber sosehr Mathilda es sich auch wünschte, das Pony verwandelte sich hartnäckig nicht in einen Kinderwagen.

Schließlich brachte Eddie es dazu, sich vorwärts zu bewegen.

Eddie war ein Hund und in der S-Bahn zwar nicht verboten, solange er keine Rollschuhe trug, jedoch meistens ohne Fahrkarte unterwegs. Er schnappte nach den Hinterbeinen der kleinen Stute, die ein ungnädiges Schnauben ausstieß und endlich unendlich langsam in den Wagon stieg, so als stiege sie in sehr kaltes Wasser. Die Türen schlossen sich, und die Stute warf Mathilda einen indignierten Blick zu.

»Gutes Pferd«, flüsterte Mathilda, »braves Pferd.«

Sie hatte vergessen, sich nach dem Namen der Stute zu erkundigen. Eddie legte sich unter eine Sitzbank, gewohnt, sich beim Bahnfahren unsichtbar zu machen – der fehlenden Fahrkarte wegen. Die Stute unsichtbar zu machen, war leider ein aussichtsloses Unternehmen. Mathilda lächelte den Herrn im Anzug an, der neben ihr stand und sie misstrauisch beäugte.

»Ich habe eine Genehmigung«, erklärte sie mit fester Stimme. »Eine Sondergenehmigung. Für diesen Tag.«

»Ach«, sagte der Herr.

Neben ihm an einer Haltestange lehnte ein Junge mit leuchtend blauem Haar und einem löchrigen schwarzen Kapuzenpullover, vielleicht sechzehn oder siebzehn. Auch er starrte Mathilda an, wobei er eigentlich eher durch sie hindurch starrte. Seine Augen waren merkwürdig glasig, und Mathilda konnte seine blassen, mageren Arme durch die riesigen Pulloverlöcher sehen. Etwas wie Mitleid durchflutete sie, und als sie dem Pferd ein Stück Würfelzucker gab, musste sie sich zusammenreißen, um dem Jungen nicht auch eines hinzuhalten. Er hätte höchstwahrscheinlich versucht, den Zucker zu rauchen, dachte Mathilda, oder ihn auf einem Löffel über einer Kerzenflamme zu schmelzen.

Das Pferd kaute geräuschvoll. Sicher war es nicht erlaubt, Pferden Würfelzucker zu geben. Mathilda kannte sich nicht aus mit Pferden. Sie kannte sich mit den wenigsten Dingen aus, die sie in den letzten zwölf Monaten getan hatte. Weder mit der Organisation von Kreuzfahrten noch mit Tiefseetauchgängen, Bergbesteigungen, Schrebergarten-Bepflanzungen, Trabbis, Sauerbraten, Familienfeiern oder Segelflügen. Obwohl sie im Besteigen von Heißluftballons und dem Schmücken von Weihnachtsbäumen im Hochsommer langsam eine gewisse Routine entwickelte.

Es gehörte zu ihrem Job, Dinge zu tun, mit denen sie sich nicht auskannte.

Es gehörte zu ihrem Job, Dinge zu tun, die unmöglich schienen.

Es gehörte zu ihrem Job, zu ertragen, dass die Leute ihr merkwürdige Blicke zuwarfen.

Bisher hatte es nicht zu ihrem Job gehört, Pferde in der S-Bahn zu transportieren.

Natürlich wäre es einfacher gewesen, einen Pferdetransporter zu mieten, doch das war überraschend teuer, und es gehörte, leider, auch zu Mathildas Job, Dinge möglich zu machen, für die ihre Klienten kein Geld hatten.

Das Pferd zu mieten kostete in diesem Fall nichts. Mathilda hatte lange gesucht, ehe sie ein geeignetes Pferd mit einer geeigneten Besitzerin gefunden hatte; einer extravaganten älteren Dame, die mit dem Pferd und einigen Schafen in einer alten Villa in Pankow lebte. Und sie lebte tatsächlich mit dem Pferd und den Schafen in der Villa, denn die Villa hatte einen sehr großen Eingangsbereich. Aber das war eine andere Geschichte.

»Eines Tages«, hatte die ältere Dame gesagt, sich an eine stuckverzierte Säule gelehnt und ein Zigarettenetui aus der Tasche ihres Designermantels gezogen, »eines Tages bin vielleicht ich diejenige, die in dieses Institut kommt, in dem Sie arbeiten. Wie hieß es noch? Und die einen ähnlich unmöglichen Wunsch hat. Das Leben ist endlich. Nehmen Sie die Stute ruhig. Sie haben Ahnung von Pferden? Natürlich. Alle jungen Mädchen haben Ahnung von Pferden.«

»Ja. Natürlich«, hatte Mathilda geantwortet. Es gehörte zu ihrem Job, ab und an nicht die Wahrheit zu sagen.

Die kleine Stute sah sie an, schicksalsergeben, und hätten Pferde seufzen können, so hätte sie jetzt geseufzt. Ihre Augen waren braun und altersweise. Mathilda fragte sich, was wohl der letzte Wunsch der Stute sein würde. Zum Glück gehörte es nicht zu ihrem Job, die letzten Wünsche von Pferden zu erfüllen. Sie hoffte inständig, dass Ingeborg niemals darauf kam, das Institut um diese Sparte zu erweitern.

Denn das war es, was das Institut tat, in dem Mathilda und Ingeborg arbeiteten:

Es erfüllte letzte Wünsche. Die letzten Wünsche von Menschen, die wussten, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Sein Name lautete, wenig einfallsreich, Institut der letzten Wünsche, und es lag in einer kleinen Seitenstraße in Friedrichshain. Man konnte es nur über eine Art Gartenweg erreichen, der über eine irgendwie struppige Wiese und durch eine Hecke zum Hintereingang eines Wohnblocks führte. Dennoch fanden in letzter Zeit zu viele Leute den Weg.

»Heute ist es der Wunsch einer sehr alten Dame, den wir erfüllen«, flüsterte Mathilda ins weiche Ohr der kleinen Stute. »Viel älter als deine Besitzerin. Sie heißt …« Sie sah auf einen Zettel. »Frau Schmitz. Frau Schmitz hat sich gewünscht, noch einmal auf einem Pferd durch den Frühling zu reiten. So wie sie es als junges Mädchen immer wollte. Ihre Eltern haben auf einem Gut gearbeitet, als Tagelöhner, vor dem Krieg … Und die Töchter des Gutsherrn sind sonntags mit weißen Handschuhen und Spitzenschirmen die Allee entlanggeritten, zur Kirche. Frau Schmitz hat immer nur dagestanden und sie vorbeireiten sehen. Heute wird sie selbst reiten. Sie ist … Moment … sie ist neunundneunzig Jahre alt. Sie wird ihren hundertsten Geburtstag nicht mehr feiern, ihre Niere oder ihr Herz werden sie vorher im Stich lassen. Aber es war nicht ihr letzter Wunsch, ihren hundertsten Geburtstag zu feiern. Es war ihr letzter Wunsch, durch den Frühling zu reiten, mit einem weißen Spitzensonnenschirm.« Die Stute sah sie mit ihren braunen Augen an und schien zu nicken. »Es war nicht einfach«, wisperte Mathilda, »den weißen Spitzenschirm zu besorgen, weißt du? Schwarze Spitzenschirme gibt es massenhaft. Bei den Versandhäusern für Gothik-Fans, als SadoMasoSpielzeug, als Modeaccessoire. Ich habe schließlich einen schwarzen gekauft. Mit einem Muster aus pinken Totenköpfen. Das Ding hat zwei Tage lang in hochgiftigem Bleichmittel gelegen. Weißer als der wird kein Schirm je sein.«

Mathilda schloss einen Moment lang die Augen.

Noch einmal auf einem Pferd durch den Frühling reiten. Es war ein unsagbar kitschiger Gedanke. Sie sah es vor sich, die duftenden bunten Blumen in den Beeten, die winzigen hellgrünen Blättchen an den Bäumen, noch neu und unerfahren wie Kinder, die Vögel, die geschäftig durch die Luft schossen und Äste zu Nestbaustellen trugen.

Manchmal brauchte der Mensch Kitsch.

Als sie die Augen wieder öffnete, schlang der Junge mit dem löchrigen Pullover sich den Riemen einer verblichenen Gitarrentasche um die Schulter und schlüpfte durch die Tür, die sich ferngesteuert öffnete. Und alle Blumenblütenvogelbilder verloschen in Mathildas Kopf – seltsam zerquetscht unter den Springerstiefeln des Jungen und seinem Blick. Es hatte eine Art von Trotz darin gestanden, der beinahe weh tat. Er hasst die Welt, dachte Mathilda, er hasst alles, die S-Bahn, die Sonne vor den Fenstern, die Leute – den ganzen beginnenden Frühling.

Sein Haar leuchtete noch einmal auf, ehe er im Gewühle auf dem S-Bahn-Gleis verschwand, strahlend blau wie ein Signal. Als bedeutete sein Auftauchen etwas. Aber Mathilda wusste nicht, was.

 

Zehn Kilometer entfernt saß zur gleichen Zeit ein großer hagerer Mann in einem grauen Regenmantel auf einer Kreuzberger Parkbank. Ab und zu zog er seinen Schal zurecht und rieb die knochigen Hände aneinander. Er fror, obwohl die Sonne schien, eine warme, freundliche Frühlingssonne.

Vor dem Mann schob sich träge das Wasser des Landwehrkanals vorbei. Jogger joggten auf dem Kiesweg am Ufer vorüber, Fahrradfahrer fuhren Fahrrad, Spaziergänger spazierten; die Stadt war in Bewegung. Er, auf seiner Bank, war der einzig stille Punkt.

Er durchbrach seine Reglosigkeit, riss das oberste Blatt von dem Schreibblock auf seinen Knien und strich sich durch das schüttere Haar.

»Lächerlich!«, murmelte er. »So schwer kann es doch nicht sein, eine Anzeige zu schreiben! Ich finde sie. Allein. Es heißt gar nichts, dass ich im Netz nichts gefunden habe, es gibt Zeitungen. Jeder Mensch geht irgendwann irgendwo an einer Zeitung vorbei. Ich brauche dieses Institut nicht. Die ganze Reklame dafür ist lächerlich.« Und er beugte sich über den Block und begann zu kritzeln.

Eine Stunde später saß er noch immer auf der Bank.

Der Boden zu seinen Füßen war jetzt voller Blätter, als wäre es um ihn herum schon Herbst geworden, obwohl zwei Meter weiter der Frühling begann. Natürlich waren die Herbstblätter in Wirklichkeit aus Papier, eng beschrieben und zerknüllt.

Ein Farbfleck tauchte im Augenwinkel des Mannes auf. Blau. Leuchtend blau. Er hob den Kopf. Im Gras der Uferböschung saß ein Junge, der vorher nicht da gesessen hatte, ein Junge mit blau gefärbtem Haar. Er klammerte sich an eine Gitarre wie an eine Heizung, und sein Haar strahlte so signalblau, als … als wäre es ein Signal. Aber der Mann wusste nicht, für was.

Der Wind trug die Töne, die der Junge spielte, fort übers Wasser; der Mann hörte sie nicht, die Töne schienen das Privateigentum des Jungen zu sein. Alles an ihm sah trotzig aus, selbst sein magerer Rücken. Ihr könnt mich mal, sagte dieser krumme Rücken, denkt bloß nicht, dass ich für euch spiele!

Der Mann schüttelte den Kopf. Der Junge ging ihn nichts an. Er riss das letzte beschriebene Blatt vom Block und zerknüllte auch das. Dann schüttelte ihn ein Hustenanfall, und er fluchte lautlos.

Schließlich stand er auf.

»Na gut«, knurrte er. »Dann gehe ich eben hin.«

 

Ingeborg wartete auf dem Parkplatz vor dem Botanischen Garten in Dahlem. Sie stand an ihr Auto gelehnt und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Jede einzelne der drahtigen schwarzen Locken auf ihrem Kopf strahlte Ungeduld aus; der nächste Klient des Instituts wartete, der nächste Anruf, das nächste Projekt.

Als sie Mathilda und das Pony sah, atmete sie sichtlich auf und öffnete die Beifahrertür für die alte Frau Schmitz, die lieber im Auto gewartet hatte. Ingeborg versuchte zu lächeln, während sie der alten Frau Schmitz aus dem Wagen half. Aber Ingeborg war nicht gut darin, zu lächeln. Ihr Mund war zu schmal, ihre Züge zu hart, ihr Gesicht zu männlich.

Ingeborg war Oberärztin auf der Onkologie gewesen, ehe sie das Institut gegründet hatte. Sie hatte zwanzig Jahre lang Menschen sterben sehen, junge Menschen, alte Menschen, nette Menschen und unausstehliche Menschen. Niemand hatte sich je um die letzten Wünsche dieser Menschen gekümmert. Um ihre letzten Blutwerte, ihre letzten Atemzüge, ihre letzte Chemotherapie, ja. Aber nicht um ihre letzten Wünsche. Es war diese Tatsache, die Ingeborg dazu gebracht hatte, das Institut zu gründen – und die ihr Gesicht hart gemacht hatte.

»Da sind Sie ja«, sagte die alte Frau Schmitz und bückte sich, gestützt auf Ingeborg, um Eddie zu streicheln.

»Siezen Sie meinen Hund?«, fragte Mathilda.

»Ich meinte Sie, junge Frau.« Frau Schmitz lächelte. Sie konnte es. Sämtliche Fältchen in ihrem Gesicht vertieften sich dabei, als wäre jedes von ihnen die Erinnerung an ein vergangenes Lächeln; neunundneunzig Jahre Lächeln.

Ingeborg holte eine Klappleiter aus dem Kofferraum. Irritierenderweise war sie lindgrün und rosa.

Mathilda half Frau Schmitz auf die Leiter, und dann saß, nein, dann thronte Frau Schmitz auf dem Pferd. Sie trug weiße Handschuhe und ein reinweißes Kleid, das vielleicht einmal ihr Hochzeitskleid gewesen war. Den weißen Spitzenschirm, den Mathilda ihr reichte, hielt sie wie ein Zepter.

»Sie sehen … wunderbar aus«, sagte Mathilda.

Ingeborg klappte die Leiter zusammen. »Na dann, ich muss. Ich schicke euch in drei Stunden jemanden, der Frau Schmitz abholt.« Damit sprang sie zurück ins Auto und ließ den Motor aufheulen.

Mathilda, Frau Schmitz, Eddie und das Pony sahen ihr nach.

»So viel zu tun«, seufzte Frau Schmitz. »Das Leben ist furchtbar schnell heute! Armes Mädchen.« Sie klopfte dem Pferd den Hals. »Aber ich habe nur eine Sache zu tun, was? Jetzt mache ich meinen ersten und letzten Ausritt. Sie sagten, ich sehe wunderbar aus?«

»Natürlich«, sagte Mathilda und nahm das Pferd wieder am Halfter.

Die Wunderbarkeit von Frau Schmitz’ Aussehen war relativ. Es gehörte zu Mathildas Job, relative Dinge zu wunderbaren Dingen zu machen. Frau Schmitz war so blass, dass man ihre Haut kaum von den weißen Spitzen des Kleides unterscheiden konnte, an den Händen glänzte und spannte diese Haut, aufgedunsen von Wassereinlagerungen, voller Hämatome und Altersflecken. Das Kleid, das irgendwann einmal gepasst hatte, war nun trotz des Wassers so groß, dass sie darin zu ertrinken schien. Nur die blauen Augen in dem runzeligen Gesicht blitzten.

Frau Schmitz lachte, ein irgendwie blubberndes Lachen. Das Wasser war längst in ihrer Lunge angekommen, ein kleines Meer, zurückgestaut von einem nicht mehr richtig arbeitenden Herzen. Sturm in den Alveolen, Seenot in den Bronchien.

»Wunderbar!«, wiederholte Frau Schmitz. »Und das kommt, meine Liebe, weil ich glücklich bin. Dabei geht es mir kein bisschen besser. Die Niere ist genauso hinüber wie das Herz. Morgen stoppe ich die Dialyse. Dann sollen sie kommen, die Gifte, und mich überschwemmen!« Sie breitete die Arme aus wie ein Feldherr, der eine feindliche Armee in sein Lager einlädt, und Mathilda befürchtete für einen Moment, Frau Schmitz würde vom Pferd fallen. »Aber heute, mein Kind, heute reite ich durch den Frühling!«

Und dann führte Mathilda die kleine Stute mit ihrer weißbeschirmten Fracht durch das Eingangstor des Botanischen Gartens, gefolgt von Eddie. Der Mann, der die Eintrittskarten verkaufte, nickte Mathilda zu, sie hatte vorher mit ihm gesprochen. Ein paar Besucher drehten sich um, stießen sich gegenseitig an, zeigten.

Frau Schmitz hob eine Hand und winkte huldvoll.

So gingen sie den Kiesweg entlang, zwischen strahlend gelben Osterglocken und blauen Scylla, weißen Märzenbechern, dunkelroten Stiefmütterchen und violetten Perlhyazinthen. Und Mathilda merkte, dass sich ein Strahlen über ihr eigenes Gesicht gebreitet hatte, ein feierliches Strahlen. Selbst Eddie, den sie jetzt angeleint hatte, ging nicht – er schritt. Eddie, diese zerzauste Promenadenmischung, die am ehesten einem Wischmopp glich. Er war, sagte sein ernster Hundeblick zu Mathilda, in diesem Moment ein Wischmopp mit einer höheren Mission: Er eskortierte die weiß beschirmte Königin.

Das gläserne Gewächshaus streckt seine Kuppel majestätisch in den blauen Himmel; an diesem Tag war sie die Kuppel eines Schlosses, durch dessen Garten die Königin ritt. Beim Blau des Himmels dachte Mathilda an den mageren Jungen mit den blauen Haaren. Sie fragte sich, wohin er gegangen war.

 

Als sie zum Institut zurückkehrte, war Mathilda pferdlos und erschöpft.

Das Institut lag still in seiner irgendwie zurückgesetzten Welt, nur ein paar hundert Meter von der breiten Verkehrsachse der Frankfurter Allee entfernt und doch seltsam ruhig hinter seiner immergrünen Dingsdahecke. Mathilda konnte sich den Namen der Pflanze nicht merken.

Eigentlich war »Institut« eine ziemlich pompöse Bezeichnung für den Hintereingang eines mehrstöckigen Wohnhauses. Man bog von der Allee in eine nichtssagende Straße und musste einen winzigen Weg durch die Wiese nehmen, zu einem winzigen hässlichen Metalltor, das die Dingsdahecke unterbrach. Wenn man durch dieses Tor gegangen war, stand man auf einem ebenfalls winzigen asphaltierten Vorplatz vor der richtigen Tür. Zwei bodenlange Glasfenster links und rechts davon sahen einen erwartungsvoll an. Hinter einem solchen Fenster saß Ingeborg, eingekeilt zwischen einem Flachbildschirm, einem Telefon und mehreren Aktenstapeln.

»Alles gutgegangen?«, fragte sie, den Blick in einer Akte, als Mathilda die Tür öffnete.

Mathilda nickte. »Alle möglichen Leute haben uns fotografiert. Ich glaube, sie dachten, Frau Schmitz ist entweder eine Adelige oder ein Happening. Vielleicht dachten sie auch nur, wir sind alle durchgeknallt.« Sie fand eine Packung Paracetamol auf ihrem eigenen Schreibtisch, befreite zwei Tabletten aus ihrem Blisterstreifen und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. »Es war wirklich gut. Du hättest mitkommen sollen.«

Ingeborg sah auf, und ihr Blick ruhte einen Moment auf der Tablettenpackung.

»Sag nichts«, sagte Mathilda. »Ich bin nur k.o. Ich habe keinen Hirntumor, ich habe keinen Sauerstoffmangelschmerz, ich habe …«

»Du nimmst zu viele von den Dingern«, sagte Ingeborg.

Mathilda zuckte die Schultern. »Jeder nimmt irgendwas.«

Sie streichelte Eddie, der sich unter dem Schreibtisch niedergelassen hatte wie immer, atmete tief durch und pflückte die oberste Akte von einem hohen Stapel.

Es gab eine Menge zu tun.

 

Als der Mann im grauen Regenmantel ankam, war er außer Atem. Er hatte sich gesagt, dass er niemanden fragen musste, dass er den Weg allein finden würde. Er hatte sich dreimal verirrt. Jetzt sah er auf die zerknitterte, billig gedruckte Broschüre, die er bei sich trug. Ja, dies war die richtige Straße, die richtige Hausnummer. Aber hier war nichts. Nur ein Wohnblock. Eine Wäscheleine mit einbetonierten Pfosten.

Es war sehr still. Nur die hohen Bäume zwischen den Blocks bewegten leise ihre knospenden Äste. Der Verkehr rauschte weit entfernt; eine andere Welt.

Dann bemerkte der Mann den kleinen Weg, der um den Block herum und über die struppige Wiese führte. Er folgte ihm durch ein hässliches kleines Metalltor und eine immergrüne Dingsdahecke (er konnte sich den Namen der Pflanze nie merken). Und dort, neben einem Hintereingang, hing ein kleines weißes Schild.

INSTITUTDERLETZTENWÜNSCHE stand darauf.

Und sehr klein: Ingeborg Wehser / Mathilda Nielsen.

Der Mann hatte eine gepflegte Häuserfassade erwartet, Marmor, Stuck, einen Vorgarten. Immerhin standen zu beiden Seiten der Tür Töpfe mit Frühlingsblumen: links Narzissen, rechts rote Tulpen, Farbtupfer im grüngrauen Matschmärz der Wohnblocks.

Der Mann holte tief Luft, steckte die Broschüre in die Manteltasche und strich sie glatt. Die Tasche ließ sich nicht glatt streichen, das Stück Papier beulte sie auf unkleidsame Art aus. Er seufzte. Dann fuhr er sich durch das zerzauste Haar und drückte den Klingelknopf neben dem Schild.

[home]

1.

Mathildas Kopf war noch voll vom Frühling im Botanischen Garten, als die Tür sich öffnete. Das Gelb und Orange der gefüllten Narzissen, die roten Feuertöne der oben ausgefransten Zuchttulpen, das Grün der sich eben entfaltenden Buchenblätter … und zwischen den Farben das triumphierende Strahlen der alten Dame. Sie gab ihr drei Tage. Höchstens. In drei Tagen würde sie tot sein.

Mathilda lächelte.

Sie lächelte den Mann an, der jetzt das Institut betrat und sich unsicher umsah.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann sah gebraucht aus, man konnte es nicht anders beschreiben. Sein schütteres Haar wirkte, als wäre er in einen Sturm geraten, obwohl es draußen nicht stürmte. Der graue Mantel war ihm zu weit und seine Haut vom ungesunden Grauweiß derer, die sich sorgen. Mathilda hatte dieses Grauweiß bei einer Menge Leute gesehen, Angehörigen von Sterbenden. Es waren meistens die Angehörigen, die kamen.

Es wird besser, wollte Mathilda zu dem Mann sagen. Wenn der letzte Wunsch erfüllt, wenn der Tod wirklich da ist, wenn man sich vom Friedhof abwendet, um nach Hause zu gehen, wird immer alles besser. Sie müssen nur lächeln.

»Ich möchte …«, sagte der Mann und machte einen Schritt in den Raum hinein.

»Setzen Sie sich doch.« Mathilda deutete auf den Stuhl neben ihrem Bürotisch. Der Mann nickte, kam noch einen Schritt näher, setzte sich jedoch nicht.

»Ich möchte … eine Anmeldung … vornehmen im … in dieser … Einrichtung. Das Anliegen der Person, die ich vertrete … ich meine, für die ich hier bin …«

Er griff nach der Lehne des Stuhls, und die Fingerknöchel seiner hageren Hände traten weiß hervor; wie bei jemandem, der sich sehr anstrengt. Er schien sich, dachte Mathilda, sehr anzustrengen, eine möglichst komplizierte Formulierung für das »Anliegen« zu finden. Anliegen. Mathilda war immer der Meinung gewesen, dieses Wort wäre vor langem gestorben, und zwar völlig ohne einen letzten Wunsch zu äußern.

»Sie können sich wirklich setzen«, wiederholte sie.

»Ich bin nicht sicher …« Er setzte sich jetzt doch. Im Sitzen wirkte er merkwürdigerweise jünger, weniger gebraucht als einfach fehl am Platz wie ein zu groß geratener Grundschüler. Vielleicht lag es daran, dass er kaum merklich mit dem Stuhl kippelte.

Mathilda betrachtete die leicht hakenförmige Nase des Mannes, während er nach weiteren komplizierten Worten suchte, und dachte, dass die ganze Erscheinung etwas Rührendes hatte. Wenn dieser Mann nicht so zerzaust gewesen wäre, so aschfahl und so unsicher, hätte er womöglich gut ausgesehen. Sie verbot sich den Gedanken. Der Mann war ein Klient des Instituts oder im Begriff, einer zu werden, und es gab Regeln.

»Wir haben Anmeldeformulare«, sagte Mathilda, holte einen bedruckten Doppelbogen aus einer Schublade, schob Akten, Wasserglas und Notizblock beiseite und legte den Bogen auf den Tisch. »Es ist für niemanden Routine, hierherzukommen. So lange gibt es uns ja auch noch nicht.« Bei näherer Betrachtung hatte dieser letzte Satz etwas Makaberes, als würde es den Leuten in Berlin sicher bald zur Routine werden, ihre sterbenden Angehörigen im Institut anzumelden. Andererseits konnte man nichts über das Institut sagen, was nicht makaber klang.

Der Mann mit der Hakennase drehte das Anmeldeformular um; sie hatte es verkehrt herum vor ihn gelegt, und Mathilda murmelte etwas von »Verzeihung« und »Andersrum«, aber er hatte sich bereits in den klein gedruckten Text unter den auszufüllenden Feldern vertieft. Das Kleingedruckte schien ihn zu beruhigen, er hatte jetzt etwas zu tun, weil er es lesen musste, und seine Hände entspannten sich.

»Sie können das Formular gerne mitnehmen und zusammen mit Ihrem Angehörigen über alles beraten«, sagte Mathilda.

Er sah auf. »Nein, nein«, sagte er, plötzlich eilig. »Wir können es gleich hier ausfüllen. Tun Sie das, Frau Wehser …«

»Nielsen.«

»Frau Nielsen. Oder soll ich …?«

Sie drehte das Formular wieder zu sich. »Es ist besser, wenn ich schreibe. Dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ich lesen kann, was da steht. Einmal gab es eine empfindliche Verwechslung der Worte Zugspitze und Flugsitze, wenn Sie verstehen.«

Sie hörte Ingeborg am Nebentisch hinter einem Taschentuch husten. Natürlich waren die Zugspitzenflugsitze frei erfunden. Wenn die Stimmung im Institut zu traurig wurde, begann Mathilda manchmal alberne Dinge zu denken oder zu sagen. Es geschah einfach, sie konnte sich nicht dagegen wehren.

»Zugspitze«, wiederholte der Mann verunsichert. »Was wünschen sich die Leute denn so?«

»Alles Mögliche. Nicht alle Wünsche sind erfüllbar, das muss ich Ihnen gleich sagen. Wir tun natürlich unser Bestes.«

Er seufzte, als hätte er genau diesen Satz befürchtet.

»Ist es ein so komplizierter Wunsch, den Ihr Angehöriger hat?«, erkundigte sich Mathilda. »Und hat er einen Namen? Es wäre dann leichter, über ihn … oder sie … zu sprechen.«

Sie hob einen Kugelschreiber und ließ ihn über dem leeren ersten Feld verharren.

Doch der Mann antwortete nicht auf die Frage, er sagte: »Gibt es Regeln für Wünsche?«

»Es gibt nur zwei Regeln im Institut«, antwortete Mathilda. »Erstens: Das Institut betreut nur Klienten mit einer Diagnose, die vermutlich innerhalb der nächsten sechs Monate zum Tod führt. Wir brauchen diese Diagnose im Übrigen auch wegen der ärztlichen Betreuung während der Zeit, die es eventuell dauert, den Wunsch zu erfüllen.«

Der Mann nickte, auf einmal eifrig, beinahe zu eifrig.

»Ja«, sagte er, »ja. Die Diagnose lautet: hilusnahes Adenocarcinom in der Lunge. Der Tumor ist wohl noch nicht metastasiert, aber er wächst in die Umgebung … und er ist zu zentral, um ihn operieren zu können. Zu nahe an den großen Gefäßen. Aorta, Luftröhre, irgendwelche Nerven. Die Chance, die Operation zu überleben, beträgt ungefähr fünfzehn Prozent und …«

»Und Ihr Angehöriger hat sich gegen die OP entschieden.« Mathilda fand immerhin ein Feld, dass sie ausfüllen konnte. »Er hat eine palliative Chemotherapie begonnen? Ich meine, eine Chemo zur Verkleinerung der … Tumormasse, um etwas mehr Zeit zu haben?«

Der Mann schüttelte den Kopf, nickte dann.

»Ach so. Natürlich. Die hat er schon hinter sich.«

Er trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, und Mathilda musste den Impuls unterdrücken, ihre Hand auf seine zu legen, um ihn zu stoppen. Sie füllte das Feld Diagnose aus.

»Wir brauchen eine Kopie der Befunde wenn möglich.«

»Ja. Der Wunsch … der letzte Wunsch … Es ist nichts, was man kaufen kann.«

»Natürlich. Sonst wären Sie nicht hier.«

»Der Wunsch lautet, jemanden zu finden. Der Mensch, für den ich hier bin, sucht jemanden.« Die hageren Hände trommelten jetzt beide auf der Tischplatte. »Seine Tochter. Er sucht seine Tochter. Sie müsste jetzt fünfzehn Jahre alt sein. Er hat den Kontakt zu ihrer Mutter verloren, und es geht um das Erbe. Mein Mandant … ich meine, mein Bekannter … hat keine anderen nahen Verwandten. Er ist … ganz allein. Er hat offenbar versucht, diese Tochter selbst zu finden, aber es ist ihm nicht gelungen. Seine Internetrecherchen haben nichts ergeben. Sagt er. Außer seltsame Antworten … Das Netz hat er sozusagen durch.«

Konnte man das Internet durchhaben?

»Wann und wo hat er die Tochter denn zuletzt gesehen?«, fragte Mathilda.

Der Wunsch schien vernünftig; vernünftiger als viele Wünsche, die sie zu hören bekam, und es erleichterte sie, dass sie endlich über Probleme sprachen, die angegangen und gelöst werden konnten.

»Mein Mandant«, antwortete er, »hat seine Tochter noch nie gesehen, und das ist genau die Schwierigkeit. Er hat den Kontakt zu ihrer Mutter, um präzise zu sein, vor etwas über fünfzehn Jahren verloren. Hier, in Berlin. Niemand weiß, ob sie noch hier sind, die Tochter und ihre Mutter.«

»Name und Beruf der Mutter wären …?«

»Doreen. Doreen Taubenfänger. Sie hat damals gekellnert. Aber ich glaube, sie hatte keine wirkliche Ausbildung. Sie könnte alles sein inzwischen. Oder nichts.«

»Und … gibt es ein Foto?«

Er nickte, griff in die Tasche seines Mantels und holte ein unscharfes Foto hervor. Darauf war ein junges Mädchen zu sehen, das vor einer Mauer an einem Fahrrad lehnte und rauchte. Sie trug einen roten Minirock mit großen weißen Punkten, hatte ihr Haar hochgesteckt und sah den Betrachter – oder den Fotografen – unter langen, dunklen Wimpern hervor an, mit einem glitzernden Schlafzimmerblick, der auch durch die Unschärfe nichts an Eindeutigkeit verlor. Etwas wie ein ironisches Grinsen spielte um ihre Mundwinkel. Mathilda bezweifelte, dass das Foto viel nützen würde.

»Wir brauchen dann noch das Budget. Wie viel Ihr … Mandant? Wie viel er ausgeben kann.«

»Das Budget ist kein Problem«, erwiderte der Mann eilig. »Er war Rechtsanwalt in London … bis zu seinem Ausscheiden aus dem Beruf vor zwei Monaten. Damals scheint er zum Studium nach London gegangen zu sein. Es ist genug Geld da. Wichtig ist, dass die Tochter gefunden wird.«

»Weiß er, wie sie heißt?«

»Nein.«

»Hm«, sagte Mathilda und ließ den Kugelschreiber über dem Formular in der Luft schweben. Die Sache begann, wirklich interessant zu werden, interessanter als Weihnachten im Sommer und Ballonfahrten. Ein Detektivspiel.

»Und Ihr Mandant … wäre es möglich, dass ich selbst mit ihm spreche? Ich brauche in jedem Fall seinen Namen.«

»Birger. Raavenstein.«

Mathildas Kugelschreiber kehrte zurück zum Anfang des Formulars, das sie quasi von hinten her ausgefüllt hatte. Vielleicht bekam sie jetzt endlich eine Reihenfolge in die Dinge.

»Geboren am?«

»27.01.1975.«

Mathilda sah auf. »Vierzig«, sagte sie. Irgendwie hatte sie sich die ganze Zeit über einen alten Mann vorgestellt, der mit einer zu jungen Frau ein Kind gezeugt hatte. »Ihr Mandant ist erst vierzig?«

»Tumoren scheren sich nicht um das Alter der Leute, bei denen sie auftreten«, sagte der Mann sanft. Er räusperte sich, dann wuchs sich das Räuspern zu einem Husten aus, plötzlich krümmte er sich und hielt sich mit beiden Händen an der Kante von Mathildas Schreibtisch fest. Der Hustenanfall schien ihn umzuwerfen wie eine Welle, er duckte sich darunter, und Mathilda merkte, wie sie sich unwillkürlich mitduckte. Als der Husten abebbte und der Mann sie wieder ansah, wirkte er erschöpft. Er murmelte etwas wie eine Entschuldigung, suchte nach einem Papiertaschentuch, fand eines, das ähnlich derangiert war wie er selbst, und wischte sich damit über den Mund.

Auf dem Weiß des Taschentuchs war ein dünner, blassroter Streifen zu sehen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Mathilda besorgt.

»Ja«, sagte der Mann, »es geht schon. Das … passiert.« Und er lächelte wieder. Er sah jetzt sehr müde aus. »Es ist nichts weiter. Nur ein kleiner Lungentumor. Leider in zentraler Lage.«

Er nickte zu dem halb ausgefüllten Papierbogen auf dem Schreibtisch hin.

»Mein Mandant … ich … Verzeihen Sie, das ist alles etwas neu für mich. Es ist natürlich nicht wahr, dass ich jemanden vertrete. Ich bin Birger Raavenstein.«

»Sie sterben«, sagte Mathilda, und schon während sie es sagte, wurde ihr bewusst, wie dumm die Feststellung klang.

Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, zerzauste es dadurch noch mehr und nickte. Seine Augen waren grün; ein irgendwie unordentliches Grün mit braunen Sprenkeln, aber es sah aus, als verlören sie ihre Farbe; als verblasse das Grün, verwässere, und irgendwann wäre es ganz verloschen. Vierzig. Gott. Er sah so viel älter aus. »Ja. Ich sterbe. Aber das gehört zu den Regeln, nicht wahr?« Und Mathilda hörte in seinem leisen Lachen die gleiche verzweifelte Albernheit, die sie von sich selbst kannte. »Den Regeln dieses Instituts. Alle Klienten sterben in den nächsten sechs Monaten.«

 

Eine halbe Stunde später hatte Mathilda eine sehr verworrene Geschichte aufgeschrieben.

Eine Geschichte vom Verschwinden einer Frau. Doreen Taubenfänger.

Als sich die Tür schließlich hinter Raavensteins zerzauster Erscheinung schloss, ließ sie den Kugelschreiber sinken und warf einen Blick zu Ingeborg hinüber, die natürlich alles mitgehört hatte. Und sie wollte etwas sagen – über die Geschichte, über Doreen, über die Privatdetektive, die sie eigentlich nicht waren.

Aber da öffnete sich die Tür schon wieder. Hindurch kam ein altes Ehepaar, das nicht besonders sterbend aussah. Er deutete eine leise Verbeugung an, ließ ihr den Vortritt und schloss die Tür hinter sich. Es wäre doch, dachte Mathilda, eine unglaublich romantische Vorstellung, zusammen einen letzten Wunsch erfüllt zu bekommen und dann die Welt zu verlassen, Hand in Hand …

»Zu welcher der jungen Damen möchten Sie?«, fragte der Mann die Frau. »Haben Sie einen Termin?«

Also kein altes Ehepaar. Goodbye, romance. Die beiden hatten sich offenbar vor der Tür getroffen. »Ich habe keinen Termin«, sagte die Frau, halb zu dem Mann, halb in den Raum hinein. »Braucht man einen Termin?«

Ihre Stimme war sehr leise und ihr Haar, das in einer gepflegten kurzen Dauerwelle um ihren Kopf drapiert war, schlohweiß. Sie war sehr klein, trug eine randlose Brille und ein hellgrünes Wollcape, das weich und wertvoll aussah. Der Mann hingegen steckte in einer Strickjacke mit abgewetzten Ärmeln und einer alten braunen Kordhose. Doch die Altherrenkappe auf seinem Kopf saß in einem beinahe kessen Winkel schräg, und sein breitbeiniger Gang war der eines Menschen, der genau weiß, was er will.

»Na, dann nehme ich den rechten Tisch«, sagte er aufgeräumt. »Ich habe auch keinen Termin.«

Er zog den Stuhl vor Ingeborgs Tisch zurück, um sich zu setzen. »Mein Name ist Jakob Mirusch«, sagte er, nahm die Kappe ab und streckte Ingeborg seine Hand entgegen. »Ich bin vierundneunzig Jahre alt und war noch nie in meinem Leben einen Tag krank. Und nun habe ich ein infrarenales Aortenaneurysma. Es kann jederzeit platzen, und dann bin ich mausetot.«

Nachdem er Ingeborgs schmale, drahtige Hand geschüttelt hatte, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und sah sie an, als hätte er ihr soeben genau das geliefert, wonach sie monatelang gesucht hatte.

»Es hat gedauert«, fügte Jakob Mirusch mit einem triumphierenden Nicken hinzu, »bis ich das aussprechen konnte. Infrarenales Aortenaneurysma. Hier bin ich, und ich habe einen letzten Wunsch. Was muss ich tun?«

»Zunächst«, antwortete Ingeborg, »ein langweiliges, trockenes Formular ausfüllen. Oder mir diktieren, was ich schreiben soll.«

»Falls Sie sich fragen, ob ich schreiben kann, junge Frau«, sagte Jakob Mirusch fröhlich, »dann brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Ich bin Uhrmacher. Ein einfacher Handwerker, denken Sie. Aber ich sage Ihnen: Wir sind viel mehr. Wir sind Künstler. Wir bringen die Zeit in diese kleinen Gehäuse.« Er klopfte auf eine altmodische, aufziehbare Armbanduhr an seinem Handgelenk. »Und wir jagen sie vierundzwanzig Stunden am Tag im Kreis. Ohne uns läuft die Welt nicht. Haben Sie einen Stift?«

Mathilda wandte sich der Frau mit der weißen Dauerwelle zu. Sie stand noch immer mitten im Raum, ähnlich unsicher wie Herr Raavenstein. Es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass die energischen Leute immer Ingeborg und die schüchternen immer Mathilda wählten.

Die Dame im Cape kam jetzt durch den Raum getrippelt, sie bewegte sich wie eine Elfe – eine atemnötige Elfe mit einem Gehstock. Schließlich saß sie Mathilda gegenüber und lächelte ein Begrüßungslächeln. Aber Jakob Mirusch, der Uhrmacher, nahm mit seiner Entschlossenheit noch immer den ganzen Raum ein.

»Richtig«, sagte er gerade. »In einer Studenten-WG. Wie damals.«

»Sie haben studiert?«, erkundigte sich Ingeborg vorsichtig. »Wo denn?«

»Ach was, ich doch nicht«, antwortete Jakob Mirusch. »Uhrmacher braucht man nicht zu studieren. Kann man auch nicht studieren. Entweder begreift man die Zeit – oder nicht. Nein, in den Studenten-WGs war ich später. Da war ich schon alt, uralt für die Studenten, fünfzig durch. Ich hatte ein paar jüngere Freunde, die haben mich eingeladen. Jaja, Berlin und die Anfänge der Siebziger. Kerzen auf Apfelsinenkisten, Wasserhahn auf dem Flur, und stundenlang gespielt haben wir, die jungen Leute waren ganz wild aufs Spielen, wie die Kinder, Brettspiele, Kartenspiele, alles, und der Rotwein, billig, Katerwein, aber später habe ich nie wieder so einen befriedigenden Kater gehabt. Damals hab ich mir tatsächlich überlegt, ob ich doch noch anfangen soll, irgendwas zu studieren, nur um der Feiern willen. Hatte natürlich kein Geld, und die Zeit ging vorbei, ich trieb sie ja dazu an, von Berufs wegen, und von denen damals kenne ich heute keinen mehr. Aber Studenten-WGs, die gibt es doch immer noch überall wie Unkraut, oder? Ich dachte, Sie haben sicher Kontakte.«

»Die Callas«, wisperte die Dame im hellgrünen Cape, und Mathilda zuckte zusammen und riss sich aus Jakob Miruschs Monolog los. Die Dame hatte sich vorgebeugt und sah sie eindringlich an, als hätte sie etwas Verbotenes gesagt. »Kennen Sie die?«

»Wie bitte?«, fragte Mathilda irritiert.

»Die Callas«, wisperte die alte Dame noch einmal. »Sie noch einmal singen hören.«

»Maria Callas? Das ist Ihr letzter Wunsch? Oder der Wunsch von jemand anderem?«

»Meiner«, erklärte die alte Dame und lächelte bescheiden, als handelte es sich nicht um einen Wunsch, sondern um eine Errungenschaft, mit der sie aber nicht gedachte anzugeben. »Sie singt so schön. Ich habe auch gesungen, früher. Aber nie professionell. Nur manchmal, zu Hochzeiten und Geburtstagen.«

»Ich bräuchte Ihren Namen«, sagte Mathilda und suchte ein leeres Formular. »Und die Diagnose.«

»Ewa Kovalska, Ewa mit w, Kovalska mit v. Meine Lunge … die Lungenbläschen sind hinüber, an einigen Stellen, sie nennen es Emphysem, meine Lunge ist nicht jünger als ich, siebenundachtzig, sie wird mich demnächst im Stich lassen. Immer wenn ich irgendetwas bekomme, einen Schnupfen, irgendwas, dann kriege ich keine … keine Luft mehr. Ich sollte Sauerstoff nehmen … benutzen, meine ich, und das Herz macht es auch nicht mehr, weil es ja an der Lunge sozusagen dranhängt. Ich möchte sie so gerne noch einmal hören. Auf der Bühne. Ein einziges Mal.«

»Ja«, sagte Mathilda, den Kugelschreiber in der Hand. »Ich … notiere erst mal den Rest. Wir brauchen auch die Befunde. Es gibt zwei Regeln im Institut; die eine lautet, dass wir nur Menschen betreuen, die höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten sechs Monate sterben.«

»Und die zweite?«

»Um die zweite brauchen Sie sich nicht zu kümmern, die ist nur für Mitarbeiter. Frau Kovalska, geboren sind Sie am …?«

Während sie schrieb, fragte Mathilda sich, ob sie es ihr sagen sollte. So wie Ingeborg das getan hätte. Liebe Frau Kovalska, Maria Callas ist tot. Seit langem. Ein paar Mal holte Mathilda Luft, um genau das auszusprechen. Doch sie brachte es nicht übers Herz. Vielleicht konnte sie Ingeborg bitten, es zu tun. Die alte Dame konnte sich einen anderen Wunsch überlegen. Aber konnte man seinen letzten, seinen größten Wunsch ändern?

Als Ewa Kovalska ging, Sekunden nach dem Uhrmacher, drehte sie sich in der Tür noch einmal um.

»Maria Callas«, wisperte sie und hob die Hände zum Gesicht. Sie steckten in dünnen Handschuhen, blassgrün wie ihr Cape. Sie legte die Handschuhhände an die geröteten Wangen und strahlte. »Ich bin schon ganz aufgeregt«, flüsterte sie. »Wie wunderbar das wird!«

Dann schloss sich auch hinter Ewa Kovalska und ihrem letzten Wunsch die Tür.

»Was wollte er?«, fragte Mathilda in die Stille. »Dein Herr Mirusch? Eine Sexorgie in einer Studenten-WG?«

Ingeborg lachte. »Nein. Einen Spieleabend. Einmal ein einfacher Auftrag.«

»Einfacher, als die Callas zum Leben zu erwecken.« Mathilda begann, auf ihrem Tisch Papiere hin und her zu schieben, um die Kopfschmerztabletten zu finden. Sie hörte auch Ingeborg Dinge ordnen, Akten, Papiere, Zettel. Die Wanduhr mit dem Kaninchen, das ständig auf dem Minutenzeiger im Kreis hoppelte, zeigte zehn Minuten nach sechs. Zeit, das Institut für den Tag zu schließen.

»Willst du den Fall abgeben?«, fragte Ingeborg unvermittelt.

»Frau Kovalska?« Mathilda schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde schon eine Lösung finden. So tot kann die Callas gar nicht sein, dass sie nicht irgendwo noch auftritt. Vielleicht nicht persönlich.« Sie durchwühlte die oberste Schublade, dann die darunter, noch immer auf der Suche nach den Tabletten.

»Ich meine nicht Frau Kovalska«, sagte Ingeborg. Die Art, auf die sie es sagte, war Mathilda suspekt. Diesen geduldigen Ton gab es in Ingeborgs Stimme sonst nur gegenüber unheilbar Kranken.

»Ich meine Herrn Raavenstein«, sagte Ingeborg. »Willst du Raavenstein abgeben?«

Mathilda schüttelte den Kopf etwas zu schnell. »Ich muss nur eine Liste machen, eine Liste der Dinge, die unternommen werden sollten, in der richtigen Reihenfolge … Ich habe noch nie eine Person gesucht, die ich nicht kannte, aber ich habe schon ein paar Ideen. Plakate, Radio, die richtigen Internetforen …« Sie fand die Tabletten endlich unter dem Notizblock.

Als sie eine aus dem Blisterstreifen drücken wollte, legte Ingeborg ihre Hand auf Mathildas.

Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass Ingeborg zu ihrem Tisch herübergekommen war.

»Mathilda.«

»Ja.« Mathilda sah auf. »Ingeborg. Schön, dich zu sehen, was machst du denn hier?«

»Hör auf mit dem Unsinn«, sagte Ingeborg. »Sag mir, was du denkst. Über diesen Mann. Raavenstein.«

Mathilda dachte daran, wie dringend sie mit Ingeborg über die abstruse Geschichte hatte reden wollen, die Birger ihr erzählt hatte. Plötzlich wollte sie nicht mehr darüber reden. Sie war unendlich müde. »Raavenstein … sprengt auf jeden Fall alle Rekorde.« Sie zuckte die Achseln. »Vierzig. Ich dachte bisher, junge Leute, die sterben, kriegen den Rest ihres Lebens allein auf die Reihe. Sie haben doch Freunde, Eltern, was weiß ich. Beziehungen.«

»Wir hatten«, sagte Ingeborg, »schon Leute, die jünger waren. Aber die habe bisher alle ich übernommen. Vor zwei Monaten war da ein fünfjähriger Junge. Seine Eltern waren hier. Eltern kriegen, glaube ich, nicht alles hin. Müssen sie nicht. Dieser Raavenstein ist einfach auf deinen Tisch zugegangen. Ich hatte gehofft, er käme für jemand anderen.«

»Warum hast du mir nichts von dem kleinen Jungen erzählt? Und von den anderen jüngeren Klienten, die wir hatten?«

Ingeborg zuckte die Schultern. »Man muss sich nicht mit allem auseinandersetzen. Es gibt Dinge, die vielleicht bei mir besser aufgehoben sind. Ich bin ein alter Knochen, genau das haben sie in der Klinik gesagt. Mathilda, ich habe so viele Leute sterben sehen! Sterben, sich quälen, elend vor die Hunde gehen. Es gibt ja Gründe dafür, dass ich das Institut eröffnet habe. Aber du … Wenn du mit einem Fall nicht umgehen kannst, musst du ihn nicht bearbeiten.«

»Und woraus schließt du, dass ich mit dem Fall von Herrn Ra…« Sie suchte mit voller Absicht eine Weile nach dem richtigen Namen. »Herrn Raabenstein nicht umgehen kann? Sind meine Haare plötzlich schlohweiß geworden?« Mathilda versuchte, möglichst viel Sarkasmus in ihre Stimme sowie zwei Tabletten unauffällig neben die Packung zu legen. »Oder habe ich angefangen, unkontrolliert zu zittern?«

»Nein«, sagte Ingeborg und nahm ihr das Wasserglas weg. »Aber du hast die beiden letzten Anmeldungen mit einem Kugelschreiber ausgefüllt, der seit Tagen nicht mehr funktioniert.«

Mathilda fischte die Formulare aus dem Chaos von Akten und Zetteln und fluchte.

Dann schnappte sie sich einen anderen Stift und begann, auf Ewa Kovalskas Formular die Fakten, an die sie sich erinnerte, nachzutragen, ehe sie sie vergaß. Mathilda spürte, dass Ingeborg sie beobachtete. Doch schließlich strich sie ihr schwarzes Drahthaar hinter die Ohren, ging zurück zu ihrem eigenen Tisch und begann, ihre Sachen einzupacken.

»Geh ruhig schon, ich schließe ab«, sagte Mathilda, ohne aufzusehen. »Ich muss das hier erst hinbekommen. Verdammt. Die Telefonnummern sind natürlich weg. Schönen Feierabend.«

Die Tür schloss sich mit einem Klicken hinter Ingeborg, und endlich sah Mathilda auf. Dann zerknüllte sie das Formular, auf das sie mit einem toten Kugelschreiber den Namen Birger Raavenstein und das Geburtsdatum 27.01.1975 geschrieben hatte, und warf es in eine Ecke, so heftig, dass Eddie, der unter dem Tisch geschlafen hatte, mit einem erschrockenen Kläffen hochfuhr.

Mathilda brauchte dieses Formular nicht zum zweiten Mal auszufüllen. Sie hatte die Telefonnummer vergessen, gut. Aber an alles andere, was der zerzauste, gebrauchte, hagere Mann mit dem verlöschenden grünen Blick gesagt hatte, würde sie sich vermutlich ihr Leben lang erinnern. Wortwörtlich. Ob sie es wollte oder nicht.

 

Sie begann die Liste auf dem Heimweg in der U 5 zu schreiben. Eingeklemmt zwischen einer Frau mit ausladenden Taschen und einer ausladenden Frau ohne Taschen, die sich über sie hinweg auf Türkisch, Kurdisch oder vielleicht auch Außerirdisch unterhielten. Oben auf Mathildas Schreibblock prangte das Emblem des Instituts für letzte Wünsche: ein kleiner Heißluftballon mit den aufgedruckten Buchstaben IDLW. Beinahe wäre es ein Weihnachtsbaum geworden, da dies die beiden häufigsten letzten Wünsche waren, aber Ingeborg war dagegen gewesen; sie mochte Weihnachten nicht. Nach einem Jahr Arbeit im Institut mochte Mathilda Weihnachten auch nicht mehr, schlimmer, sie konnte Weihnachten nicht mehr von normalen Tagen unterscheiden, es war zu einer allgegenwärtigen Bedrohung geworden. Pro Monat richteten sie im Schnitt fünf Weihnachtsfeiern aus.

Liste – Raavenstein, schrieb Mathilda neben den Heißluftballon.

A – Plakate – Text? Wo aufhängen? Kosten berechnen.

B – Radio

C – Netzrecherche und Anzeige auf verschiedenen Plattformen

Sie kaute an dem Bleistift, den sie eingesteckt hatte, um nicht wieder einen leeren Kugelschreiber zu benutzen, ohne es zu merken.

D – Polizei und Einwohnermeldeamt.

Was natürlich unter A hätte stehen müssen. Aber Mathilda mochte keine Ämter. Und Ämter mochten das Institut nicht, schon deswegen, weil es »Institut« hieß und die Ämter offenbar befürchteten, es könnte für eine staatliche Einrichtung gehalten werden.

Mathilda streichelte Eddie, der unter der Bank lag, wieder einmal unsichtbar geworden. Dann schloss sie die Augen, ließ das Gespräch der beiden Frauen über sich hinwegplätschern und versuchte, die Idee der Plakate weiterzuentwickeln.

Sie war im Übrigen dankbar für die nicht verständliche Sprache. Sie benutzte den Heimweg in der U-Bahn oft zum Arbeiten, und die Leute neigten dazu, einem in die Gedanken zu quatschen. Gequatsche, das sie nicht verstand, perlte an Mathilda ab, und sie hätte dafür plädiert, dass in Berliner U-Bahnen alle Menschen türkisch, kurdisch oder außerirdisch sprachen.

Natürlich würde auf dem Plakat die junge Frau mit dem Fahrrad zu sehen sein. Doch jedes Mal, wenn Mathilda sich ein Plakat an einer Litfaßsäule vorstellte, sah sie Birger Raavensteins Gesicht dort, übergroß, ein wenig unscharf, die Haare zerzaust, als wäre er gerade in einen Sturm geraten, obwohl es draußen nicht stürmte. Seine schmale, etwas schiefe Nase teilte das Bild in zwei Teile, und Mathilda dachte zum ersten Mal, dass er, nasenmäßig, Ingeborg ein wenig ähnlich sah. Bei näheren Berechnungen stellte sie jedoch fest, dass Ingeborg mit ihren fünfundvierzig Jahren nicht Birger Raavensteins vermisste Tochter sein konnte und ihre Phantasie mal wieder mit ihr durchging. Die verblassenden grünen Augen, die von der Litfaßsäule herabsahen, blickten suchend an ihr vorbei in die Ferne. Denn natürlich suchte er nicht sie, er suchte jemand anderen.

In England druckten sie Bilder vermisster Kinder auf Milchtüten. In Mathildas Vorstellung rutschte Birgers Gesicht auf eine Milchtüte und sah sie aus Supermarktregalen an. Sie nahm eine der Milchtüten aus dem Regal, und diesmal sah Birger Raavenstein nicht mehr aus, als suchte er. Er sah aus, als wäre er selbst verlorengegangen. Mathilda stellte die Milchtüte in ihren Einkaufswagen, und plötzlich konnte sie auch die anderen schwarz-weißen Birgers nicht im Regal zurücklassen. Sie begann, Milchtüte für Milchtüte in den Einkaufswagen zu stellen, als könnte sie Birger dadurch retten …

»Mathilda?«, fragte jemand.

Sie öffnete die Augen. Verdammt, sie war eingeschlafen. Sie hatte geträumt. Die beiden freundlicherweise außerirdisch sprechenden Frauen waren ausgestiegen. Dafür stand vor ihr, halb heruntergebeugt, ein junger Mann mit kurzem, weißblondem Haar. Um seinen Hals lag ein leichter grauer Schal; er hatte ihn auf die Art umgelegt, auf die gepflegte junge Männer Schals in Reklamefilmen um den Hals legen. Mit dieser unerträglichen Schlaufe, durch die man die Enden zieht.

»Mathilda?«, wiederholte er. »Wirklich! Das gibt’s ja nicht.«

Und da erkannte Mathilda den gepflegten jungen Mann mit dem Schal.

»Daniel«, sagte sie. Daniel Heller. Gleicher Jahrgang wie sie, gleicher Einschreibungstag an der Uni, beinahe gleiche Matrikelnummer. Vor hundert Ewigkeiten. Das war damals gewesen, als sie noch geglaubt hatte, sie wolle Ärztin werden.

Daniel nickte. »Hab ich mich so verändert? Wie lange ist es her? Drei, vier Jahre?«

»Fünf«, sagte Mathilda, nur um ihn zu toppen, nicht, weil sie wirklich die Jahre gezählt hatte.

»Wahnsinn.« Sein Lächeln war ehrlich. In seinen Augen glänzte etwas, etwas Frohes – sie waren vom gleichen klaren Grau wie sein Schal. Und Mathilda dachte: »Er hat den Schal danach ausgewählt« und »Das ist verrückt«. Dann dachte sie an das verblassende Grün anderer Augen und schob den Gedanken weg.

Sie fragte sich, ob sie sich freute, Daniel zu treffen. Sie hatte ihn sehr gründlich zu vergessen versucht, und es war ihr gelungen. Sie hatten zusammengewohnt. Waren zusammen zu den Vorlesungen gegangen. Hatten zusammen Prüfungen bestanden – oder, in Mathildas Fall, nicht bestanden und nachgeholt und schließlich doch bestanden. Daniel hatte immer alle Prüfungen auf Anhieb geschafft. Er hatte Mathilda geholfen. Mit ihr gelernt. Ihr gesagt, dass sie weitermachen musste, immer aufstehen und weitermachen. Sie sah seine Arme an und versuchte, sich daran zu erinnern, wie es war, von ihnen gehalten zu werden.

Er trug einen schönen Pullover, dunkelblau und weich wie Frau Kovalskas Cape. Sie erinnerte sich an eine kratzige Strickjacke, die sie ihm zu irgendeinem Weihnachten geschenkt hatte, selbst gestrickt, und sie hatte nie besonders gut stricken können. Sie hatte ihn eine Weile beinahe ausschließlich dafür geliebt, dass er die Strickjacke trug. Er hatte ihr damals den Weihnachtsbaum geschenkt, den sie unbedingt hatte haben wollen, einen richtigen, echten Weihnachtsbaum, der kaum in die kleine Wohnung passte. Keiner von ihnen hatte Geld gehabt. Sie waren eine Weile sehr glücklich gewesen.

Eine Weile.

Dann war etwas kaputtgegangen zwischen ihnen, etwas wie eine Tasse, wie ein Glasbild, wie ein Traum. Daniel war fortgegangen, um anderswo weiterzustudieren. Sie war geblieben, um damit aufzuhören.

Die U-Bahn hielt mit einem Ruck, Daniel fiel beinahe und gab seine gebückte Stellung auf, um sich an einer der Stangen unter der Decke festzuhalten.

»Seit wann bist du wieder hier?«, fragte sie zu ihm herauf. Eddie streckte den Kopf misstrauisch zwischen ihren Beinen hervor, um nachzusehen, mit wem sie sprach.

»Januar. Ich bin in der Charité, Kardio zurzeit. Die Leute mit den gebrochenen Herzen. Und du … hast einen Hund, wie ich sehe.«

»Ja«, sagte Mathilda. »Du machst Kardio, und ich habe einen Hund. Seit zwei Jahren. Aus dem Tierheim. Gebraucht.«

»Und was … Verzeihung, aber … was hast du da an?«

Mathilda sah an sich hinunter. Auf ihrem sonst unauffälligen blauen Kapuzenpulli befand sich ein aufgenähter Kreis aus buntem Stoff, ein Stück eines alten Kinder-T-Shirts; pausbackige 60er-Jahre-Kinder galoppierten darauf in Braun-Gelb-Orange auf kleinen Pferdchen zwischen Apfelbäumen hindurch. Keines der Kinder musste sein Pferdchen in eine S-Bahn schieben.

Beinahe alle von Mathildas Kleidern besaßen Aufnäher dieser Art.

»Es sind Teile meiner Kindheit«, hatte sie Ingeborg einmal erklärt. »Ich habe damit angefangen, sie auszuschneiden und aufzunähen, als ich damals plötzlich allein in der Dachwohnung war. Lauter alte T-Shirts und Bettbezüge. Ich habe sie zu Hause gefunden, auf dem Dachboden meiner Eltern. Als Kind habe ich immer dort gespielt, damals, als die Welt noch wunderbar war. Es ist leichter, über diese vielen Weihnachten und Tode zu lachen, wenn man weiß, dass man auf dem Po oder dem Bauch ein aufgenähtes 60er-Jahre-Kind hat, das ein orangefarbenes Pferd füttert.«

Ingeborg hatte genickt, aber Daniel wartete nicht auf die Erklärung für die Pferdchen und Kinder.

»Was machst du jetzt?«, fragte er. »Auch Innere? Du wolltest Allgemeinärztin werden, oder? Aufs Land ziehen …«

»Ja, und hier bin ich, immer noch in der Großstadt.« Mathilda streichelte Eddie, der etwas lauter hechelte als nötig. Als liefe sie Gefahr, ihn sonst zu vergessen. »Ich hab das Studium geschmissen. Nach dem PJ. Das dritte Staatsexamen hab ich nicht mehr gemacht.«

»Dir fehlt nur das letzte Staatsexamen?« In Daniels grauen Augen lag ein Entsetzen, das sie amüsierte. »Das hättest du doch noch machen können.«

»Ja«, sagte sie. »Hätte ich. Nur wozu? Die ganze Sache mit der Medizin war von Anfang an sinnlos. Für mich. Jetzt habe ich den richtigen Job.«

Er nickte, schüttelte den Kopf, nickte wieder. »Aha. Hör mal, ich könnte dich zum Essen einladen, und du könntest mir von dem Job erzählen. Ich habe frei. Das ist eine seltene Gelegenheit.«

»Nicht heute.«

»Dann irgendwann. Es ist …« Er lachte. Es klang ein wenig verlegen. »Es ist schön, dich zu sehen. Und sehr seltsam.« Noch ein Kopfschütteln. »Wie ein Schritt in die Vergangenheit. Du hast dich kein bisschen verändert.«

Mathilda fragte sich, ob das ein Kompliment war oder eher das Gegenteil. »Der Job ist schnell erklärt. Du musst mich nicht zum Essen einladen. Ich arbeite im Institut der letzten Wünsche.«

»Im was?« Er klang plötzlich vorsichtig.

»Oh, wir züchten Gemüse nach Mondphasen«, erwiderte Mathilda beiläufig. »An bestimmten Tagen erfüllt es beim Verzehr geheime Wünsche. Man muss es natürlich mit Schüsslersalzen düngen. Und auf die Wasseradern unter den Beeten achten, damit der Magnetismus nicht das labile Gleichgewicht der inneren Chakren in den Pflanzen durcheinanderbringt.« Sie sah Daniels Gesichtszüge entgleisen und lachte. Dann hob sie die rechte Hand und winkte leicht vor seinem Gesicht hin und her. »Hallo? Ironie?«

Er schüttelte zum dritten Mal innerhalb von drei Minuten den Kopf.

»Dir traue ich alles zu. Was tust du wirklich?«

»Oh, ich arbeite tatsächlich im Institut der letzten Wünsche. Der Name ist wenig kreativ. Wir erfüllen letzte Wünsche. Von Leuten, die sterben. Du kennst diese Sorte Leute ja aus der Klinik. Sie liegen da herum und kriegen noch eine Therapie und noch eine, damit sie ein bisschen länger leben. Daran, was sie eigentlich noch tun oder haben möchten, denkt niemand.«

Daniel nickte langsam. »Die bösen Ärzte«, sagte er. »Und die besseren Menschen. Da wären mir die Mondphasen und das Gemüse ja fast lieber gewesen.« Er sah auf den Bildschirm unter der Decke, auf dem Reklame für ein Popkonzert lief. »Glaubst du daran?«

»An Gemüse? Doch, ich glaube durchaus an Gemüse. Falls du das Institut meinst, an das glaube ich auch. Es existiert. Ich meine, es gibt nur zwei ständige Mitarbeiter, Ingeborg und mich, aber wir haben eine Unzahl von nicht-ständigen Mitarbeitern für den Bedarfsfall. Fünf persönlich bekannte Taxifahrer, vier befreundete Krankenpfleger, zwei Beerdigungsunternehmer, einen Finanzberater … und eine ganze Menge Gelegenheitsjobber auf Hartz IV.« Sie lachte. »Alle Welt hat Ingeborg gesagt, das Institut würde ein Flop werden. Jetzt können wir uns vor Klienten nicht retten. Du kannst ja vorbeikommen und es dir ansehen. Es befindet sich in Friedrichshain in einem Hinterhaus.«

»Vielleicht tue ich das«, murmelte er. »Die Tage mal. Oh, verdammt, hier muss ich raus.« Und, schon halb im Gehen: »Hast du eine Nummer, unter der man dich erreichen kann? Falls wir doch noch irgendwann etwas essen gehen?«

»Ja«, sagte Mathilda. »Du kennst sie. War früher auch deine Nummer. Ich wohne noch immer in der alten Dachwohnung in der Uferstraße. Es stimmt, ich habe mich nicht verändert.«

Sie sah ihm nach, wie er sich durchs Gedränge schob und aus der U-Bahn sprang, um im Gewimmel zu verschwinden. Jemand anderer drängte sich an ihm vorbei, drängte sich herein: ein Junge mit sehr blauen Haaren. Es war der Junge.

Mathilda zuckte zusammen und schüttelte ungläubig den Kopf. Das war ein merkwürdiger Zufall. Der Junge hatte Mathilda ebenfalls gesehen, und er schien sich zu ihrem Erstaunen an sie zu erinnern.

»Jetzt ohne Pferd?«, fragte er. Seine Stimme war rau und sehr jung.

»Ja.« Sie lächelte. »Es gibt Momente mit und Momente ohne Pferd im Leben. Aber du bist nicht ohne Gitarre.«

»Es gibt keine Tage«, sagte er mit einem Ernst, der sie verblüffte, »ohne Gitarre.«

Dann lehnte er sich in eine Ecke und kehrte den Blick nach innen, und es war klar, dass er nicht weiter mit ihr sprechen würde. Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt und die Beine in den engen, zerschlissenen Jeans übereinandergeschlagen, betont lässig. Mathilda und Eddie stiegen am Alex aus, um die nächste U 8 zu erwischen. Sie winkte dem Jungen mit den blauen Haaren zum Abschied. Er winkte nicht zurück.

 

In der U-Bahn-Station Pankstraße hingen alte Schwarz-Weiß-Bilder vermisster Kinder, vor Jahren an die steinerne Wand gekleistert. Mathilda dachte wieder an ihren Traum von Birger Raavenstein auf Milchtüten. Neben den Kindern gab es Reklame für Veranstaltungen – ein Varieté im alten Stil, zwei Musicals, einen Film, einen Diavortrag über ein warmes Land, in dem die Sonne unterging. Mathilda sah die vermissten Kinder an. Es war unwahrscheinlich, dass eines von ihnen noch lebte; vielleicht waren sie jetzt alle in dem Land mit dem Sonnenuntergang, einem geheimen Land, das nur in ihren Köpfen existierte. Das kleine Mädchen mit den großen dunklen Mandelaugen und dem türkischen Namen zum Beispiel oder der Junge neben ihr, dessen zerzaustes langes Haar so hell war wie das von Daniel und der die Augen hinter seiner Brille zusammenkniff, als wollte er nicht fotografiert werden.

Sie fragte sich, ob sie das Bild von Birgers Tochter daneben hängen sollte.

Name: unbekannt.

Alter: fünfzehn.

Vermisst: seit fünfzehn Jahren.

Aber es war schwer, ein Bild von einer Person aufzuhängen, von der man nicht einmal wusste, wie sie ungefähr aussah.

Mathilda verließ die U-Bahn-Station, schloss ihr Rad auf (grün mit einem kleinen Maulwurf aus Gummi auf dem Lenker, der quietsch-hupen konnte) und fuhr nach Hause.

 

Die alte Dachwohnung in der Uferstraße.

Sie dachte die Worte voller Zärtlichkeit, als sie den Schlüssel im Schloss drehte. Der Schlüssel machte ein knirschendes Geräusch; sie hatte seit Jahren Angst, dass das Schloss sich eines Tages irreversibel verklemmen würde, aber irgendwie gehörte das dazu. Unten floss zögernder Verkehr, und jenseits der Straße floss die Panke, an der die Bäume ihre dürren grauen Äste reckten und angestrengt erste Blätter produzierten. Der Lärm der Stadt war in dieser Ecke erträglich, und hier oben im vierten Stock war es beinahe still.

Eddie stieß die Tür mit der Nase auf und drängte sich an Mathilda vorbei. Sie hörte das Klicken seiner zu langen Krallen auf den holzwurmzernagten Dielen, während sie ihren Mantel an einen von zwei Nägeln hängte, die neben der Tür aus einem Balken ragten, einen Mantel, auf dessen Tasche ein aufgenähter roter Apfel leuchtete.

Die alte Dachwohnung in der Uferstraße.

Was dachte Daniel darüber, dass sie immer noch hier wohnte? Dachte er, sie trauerte der Zeit nach, in der sie zusammen hier gewohnt hatten? Das war ein Trugschluss. Sie mochte die Wohnung auf die gleiche Art, auf die sie Eddie mochte. Beide, Wohnung und Hund, waren weder schön noch besonders, ein wenig abgewetzt, ein wenig secondhand – aber irgendwie sympathisch.

Secondhand und abgewetzt? Genau wie … Nein. Denk jetzt nicht daran.

Sie stieß sich den Kopf noch immer ab und zu an einer der Schrägen, und sie sagte sich noch immer, nach so vielen Jahren, dass sie bei Gelegenheit die Waschmaschine in dem winzigen Bad von der Wand rücken und dahinter putzen sollte. Sie betrachtete noch immer jeden Morgen beim Zähneputzen das Plakat mit der Sammlung von Strandgut, das sie vor Jahren von einem Ausflug nach Rügen mitgebracht hatte, und sie kaufte noch immer jeden Monat zwei Töpfe Supermarkt-Basilikum, die sie liebevoll auf dem Fensterbrett zu Tode pflegte. Nein, nichts hatte sich verändert. Nur Eddie war dazugekommen. Daniel hatte nie einen Hund haben wollen.

Kardiologie.

Vielleicht hatte Ewa Kovalska mit ihrem schlohweißen Dauerwellenhaar auf Daniels Station gelegen, noch vor kurzem. Vielleicht würde sie auf Daniels Station sterben. Nachdem sie die Callas hatte singen hören.

Eine halbe Stunde später saßen Mathilda und Eddie auf dem alten Sofa im einzigen Raum der Wohnung. Mathildas Bett befand sich hinter einem Schrank, so dass man es zumindest nicht von überall aus sehen konnte, die Küche war eine Kochzeile links der Tür.

Daneben gab es nur das winzige Bad. Im Mietvertrag hatte die Wohnung noch weniger Quadratmeter, als sie eigentlich hatte, da die Dachschräge einen Großteil des Raums quasi unbewohnbar machte. Aber an einigen Stellen verliefen die Holzbalken sichtbar durch den Raum, und Mathilda wusste, dass sie ohne den Anblick dieser Holzbalken nicht leben konnte, egal, wie oft sie sich ihretwegen blaue Flecken holte. Man konnte Dinge darauf legen – gefundene Muscheln, schöne glatte Steine, Teelichter, Erinnerungen.

Das Sofa war aus rotem Kunstleder und so abgesessen, dass man die Nähte deutlich sah. Sie hatten es damals vom Sperrmüll geholt, Daniel und sie, und wenn man sich darauf setzte, führte das dazu, dass man sich von hinten in ein Kunstwerk aus winzigen roten Flecken verwandelte: mikroskopische Lederstückchen, die das Sofa abstieß wie Schuppen. Zur Entfusselung lag eine Rolle breites Tesaband auf dem Boden neben dem Sofa.

Draußen fegte ein kalter Frühlingswind durch die Straßen und ließ die undichten Fenster klappern. Mathilda hatte die alte braune Fleecedecke bis zum Kinn hochgezogen, deren Ecken Eddie in seiner frühen Jugend angenagt hatte. Jetzt bettete er seinen Kopf auf Mathildas Knie und beobachtete mit halb geschlossenen Augen den riesigen alten Fernseher, der in einer Ecke auf dem Boden stand. Jeder moderne Flachbildschirm wäre beim Anblick dieses dinosaurierartigen Vorfahren in Ohnmacht gefallen.

Auf dem Bildschirm lief ein alter Tatort. Es beruhigte Mathilda, alte Tatort-Filme zu sehen, deren Ausgang sie kannte, es war wie das beruhigende Rauschen eines Flusses, neben dem man schon seit Jahren wohnte. Ihre Gedanken waren nicht bei dem Film, sie schwebten hierhin und dorthin, verweilten bei der klobigen Form der Teetasse auf dem Bücherstapel, der als Beistelltisch diente, kehrten zurück zu einem Kommissar, der durch Nacht und Nebel lief, um irgendjemandes Leben zu retten … und landeten bei Daniel Heller.

Daniel rettete jetzt also Leben.

Mathilda sah zu, wie Leben endeten, ohne etwas gegen ihr Enden zu unternehmen. Es gab Fälle, in denen sie die Leute sogar davon abhielt, ihr Leben länger auszudehnen. Eine Ballonfahrt – oder fünf Wochen länger in einem Krankenhauszimmer liegen. Einmal durch den Frühling reiten – und hinterher nicht zurück an die Dialyse gehen. Einmal eine Kreuzfahrt nach Russland mitmachen, obwohl eine dritte Chemotherapie ein ganzes Jahr extra hätte einbringen können. Ein Jahr in einem weißen Bett.