Das Internat - Hannah Richell - E-Book

Das Internat E-Book

Hannah Richell

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Beschreibung

Eine Nacht in den Wäldern. Eine Party, die aus dem Ruder läuft. Eine Leiche im Morgengrauen. Am Tag nach Halloween wird in den Wäldern von Thorncombe ein Mädchen tot aufgefunden – im weißen Kleid, mit einer schwarzen Vogelmaske und rätselhaften Worten, die ihr jemand auf Arme und Beine gekritzelt hat. Handelt es sich um einen Ritualmord? Oder eine Party, die eskaliert ist? Detective Ben Chase beginnt zu ermitteln, und schon bald kommt ihm der Fall gefährlich nahe: Das Opfer ist eine Schülerin des städtischen Privatinternats, das auch seine Tochter besucht und an dem seine Ex-Frau Vertrauenslehrerin ist. Je weiter die Ermittlungen voranschreiten, desto mehr gerät auch die Familie Chase in Gefahr. Befindet sich der Täter innerhalb der Mauern der altehrwürdigen Schule? Eines ist klar: Niemand ist sicher, solange der Killer nicht gefasst wird.

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Seitenzahl: 541

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hannah Richell

Das Internat

Jeder hat ein Geheimnis. Niemand ist sicher.

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

 

Über dieses Buch

Eine nächtliche Party in den Wäldern. Eine Leiche im Morgengrauen.

 

Am Tag nach Halloween wird in den Wäldern von Thorncombe ein Mädchen tot aufgefunden – im weißen Kleid, mit einer schwarzen Vogelmaske und rätselhaften Worten, die ihr jemand auf Arme und Beine gekritzelt hat. Handelt es sich um einen Ritualmord? Oder eine Party, die eskaliert ist?

Detective Ben Chase beginnt zu ermitteln, und schon bald kommt ihm der Fall gefährlich nahe: Das Opfer ist eine Schülerin des städtischen Privatinternats, das auch seine Tochter besucht und an dem seine Ex-Frau Psychologin ist. Je weiter die Ermittlungen voranschreiten, desto mehr gerät auch die Familie Chase in Gefahr. Befindet sich der Täter innerhalb der Mauern der altehrwürdigen Schule? Eines ist klar: Niemand ist sicher, solange der Killer nicht gefasst wird.

 

Ein dichter, klaustrophobischer Thriller, in dem niemand ist, wer er zu sein scheint. 

Vita

Hannah Richell wurde in Kent geboren und wuchs in Buckinghamshire und Kanada auf. Nach dem Studium arbeitete sie in London und Sydney in der Buch- sowie Filmbranche. Sie hat zahlreiche internationale Bestseller veröffentlicht, darunter «Geheimnis der Gezeiten» und «Das Wochenende». Ihre Werke wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Südwesten Englands.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel «One Dark Night» bei Simon & Schuster, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«One Dark Night» Copyright © 2025 by Hannah Richell

Redaktion Anne Nordmann

Karte © Jill Tytherleigh

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02025-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Hinweise des Verlags

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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www.rowohlt.de

Für Gracie und Jude

Prolog

Samstag, 22.00 Uhr

Sie stehen ums Lagerfeuer herum, die Gesichter in flackerndes Orange getaucht, hinter ihnen undurchdringliche Dunkelheit.

«Das ist nicht wahr. Sally hat es nie gegeben.»

«Doch. Es ist wahr», beharrt der Junge. «Sally war hier. Ihr Name ist in die Wände der alten Jagdhütte geritzt.»

Gebannt lauschen sie seinen Worten.

«Sie war ein Mädchen aus der Gegend. Eigentlich war sie verlobt und wollte heiraten, aber dann hat ihr Verlobter sie beim Fremdgehen erwischt. Am Tag der Hochzeit hat er sie umgebracht, oben am Turm, und ihre Leiche den Krähen überlassen. Es heißt, sie spukt bis heute im Wald, ein Mädchen im weißen Kleid, das die Leute in den Tod lockt.»

«Sag ich doch. Ein dämliches Märchen.»

«Wir werden ja sehen.»

Sie versammeln sich um das Brett, Hände greifen nach dem Einweckglas. Der Junge wartet, bis es ganz still geworden ist. Nur noch das Knistern des Feuers und die leichte Brise zwischen den Bäumen sind zu hören. «Ist jemand hier?»

Irgendwer unterdrückt ein Kichern.

«Ist jemand hier?»

Dann geht ein Ruck durch das Glas, es erzittert unter ihren Fingern. Jemand keucht auf.

«Sei still!»

«Das warst du!»

«Nein, ich schwör!»

«Das ist doch Kinderkacke!»

Sie warten. Schließlich setzt das Glas sich in Bewegung und rutscht zielstrebig zum Buchstaben S.

Dann weiter zum A. L. L. Y.

«Sally!», flüstert jemand. «Sie ist hier.»

Eine unsichtbare Schlinge hält die Teenager umfangen. Die Spannung ist mit Händen zu greifen.

«Was willst du, Sally?»

Sie schauen zu, wie das Glas sich bewegt. T.R.A.U.T. E.U.C.H.

Eines der Mädchen fährt zurück und sprengt den Kreis.

«Da ist jemand!», sagt sie erschrocken. «Da oben, zwischen den Bäumen.»

«Das ist nicht witzig.»

«Das war kein Witz. Ich hab jemanden gesehen.»

Der Junge beugt sich wieder über das Brett. Die Flammen spiegeln sich in seinen Augen. «Wer ist da?», fragt er. Stumm schauen sie zu, während das Glas unter ihren Fingern in einer fließenden Bewegung von einem Buchstaben zum nächsten gleitet und ein einziges Wort formuliert.

SALLY

SALLY

SALLY

Kapitel 1

Sonntag, 2.00 Uhr

Die zwei Frauen steigen torkelnd aus John Slaters Taxi, hinein in den Lichtkegel einer Straßenlaterne. Die Blonde zupft an ihrem Minirock und rückt die blinkenden Teufelshörner auf ihrem Kopf zurecht. Prompt fällt ihr der Hausschlüssel runter, und sie fängt laut an zu fluchen. Ihre Freundin schwankt kichernd auf die Haustür zu und treibt sie zur Eile an. Sie muss dringend pinkeln. John wartet, bis die Frauen sicher im Haus sind, innen das Licht angeht und die Haustür wieder zu ist, ehe er den Wagen wendet.

Die letzte Fahrt einer chaotischen Nacht. Arbeit erledigt, ab nach Hause. Jetzt, wo John allein ist, gähnt er herzhaft, dreht das Radio auf und lässt das Fenster ein paar Zentimeter herunter in der Hoffnung, dass frische Luft und Lionel Richie ihn auf den letzten Kilometern wach halten. Mit etwas Glück bekommt er noch ein paar Stunden Schlaf, ehe seine Frau ihn weckt.

Er lässt die Kleinstadt hinter sich und nimmt die gewundene Straße Richtung Bath. Der Wagen kurvt hinunter ins Tal, vorbei an der Abzweigung zu der noblen Privatschule, wo er manchmal reiche Kids mit frisch gebügelten Blazern und Gepäck mit Monogramm absetzt, dann geht es tiefer in den Wald. Zwischen den eng stehenden Bäumen schimmert ein pergamentdünner Mond. John lässt die Schultern kreisen und blinzelt, um sich zu fokussieren.

Nicht, dass er die Geschichten glauben würde, die über diesen Streckenabschnitt im Umlauf sind, aber die Verkehrsstatistik spricht eine deutliche Sprache. Die Einheimischen haben diesem Straßenabschnitt einen Spitznamen verpasst – Sally in the Wood –, und im Laufe der Jahre sind in dem dichten Waldgebiet tatsächlich überdurchschnittlich viele Fahrzeuge von der Straße abgekommen. Er kennt die Tragödien aus der Zeitung. Die junge Fahrerin, die vor ein paar Jahren bei einem Frontalzusammenstoß starb. Der aufstrebende junge Rugby-Spieler mit Querschnittslähmung nach einem Sturz mit dem Motorrad. Es ist ernüchternd, sich klarzumachen, dass ihn nur ein einziger Moment der Unachtsamkeit von dem steilen Abhang zu seiner Linken trennt. Er wird mit Sicherheit kein Risiko eingehen, nein danke. Er freut sich darauf, gleich in sein warmes Bett kriechen zu dürfen und sich an seine Frau zu schmiegen. Dank ihrer Hartnäckigkeit stehen die Koffer bereits fix und fertig gepackt im Flur. Morgen um diese Uhrzeit werden sie tief und fest schlafen, eingelullt von den beruhigenden Geräuschen des Atlantiks, die durch die offene Balkontür dringen.

Seine Finger klopfen einen Rhythmus aufs Lenkrad. Im selben Moment, als John auf die Uhr im Armaturenbrett schaut, es ist 2.38 Uhr, erhascht er im Augenwinkel eine Bewegung. Etwas Weißes huscht zwischen den Bäumen hindurch. Ein Tier, denkt er. Eine Eule, die durch die Nacht fliegt. Oder vielleicht ein Reh? Er wendet den Kopf und wirft einen Blick zur Seite, versucht, das Bild zu fixieren, doch was immer es war, ist schon wieder im Dunkeln verschwunden. Die kurvige Straße fordert seine ganze Aufmerksamkeit.

Er umklammert das Lenkrad, nimmt die Kurve ein bisschen zu schnell, stößt einen Schreckensschrei aus. Der gleißende Strahl seiner Scheinwerfer erfasst etwas Weißes, es schießt direkt vor ihm quer über die Straße. Was zum Teufel? John steigt in die Eisen.

Für etwas anderes als instinktiven Selbstschutz bleibt keine Zeit. Die Räder blockieren, das Lenkrad reagiert nicht mehr. Er flucht laut, als der Wagen auf den Abhang zuschlittert, und weiß mit grausamer Gewissheit, dass es kein Halten mehr gibt. Der Wagen wird über das Bankett ins Tal runterstürzen, dem Ding hinterher, was auch immer das war. Seine Knöchel treten weiß hervor. Die Bremsen kreischen. Dann, plötzlich, im letzten Moment, reagiert das Lenkrad auf seine verzweifelten Versuche, das Taxi steuert weg vom Rand und zurück auf die Straße.

Allmächtiger! Johns Herz pocht wild in seiner Brust. Das war knapp. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn. Was zum Teufel war das?

Er wagt einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihm verliert sich die Straße im Dunkeln. Alles, was er sieht, sind dunkle Bäume, in den roten Schein seiner Bremslichter getaucht.

Sally in the Wood. John schaudert. Ein Reh, sagt er sich. Kein Grund für lächerliche Geschichten von Gespenstermädchen, die auf ihn Jagd machen. Nicht um diese Uhrzeit. Die vielen Halloween-Teufel und Zombies, die er durch die Gegend kutschiert hat, spielen seinem Verstand einen Streich.

Er fährt den Rest der Strecke mit gedrosselter Geschwindigkeit, und als er den Hausschlüssel ins Schloss steckt, sind seine Hände noch immer schweißnass. Der Anblick der wartenden Koffer beruhigt ihn, und nachdem er sich ein großes Glas Whiskey eingeschenkt und in einem Schluck geleert hat, im Bad war und sich neben seine weiche, tief schlafende Frau ins Bett gelegt hat, hat sich der Vorfall beinahe schon in einen vergessenen Winkel seiner Erinnerung zurückgezogen.

Er wird nicht wieder daran denken. Ein paar unbeschwerte Urlaubstage lang. Bis er beim Warten auf den Rückflug die blutrünstigen Schlagzeilen der britischen Boulevardzeitungen sieht, die stapelweise am Flughafen herumliegen.

Kapitel 2

Sonntag, 6.00 Uhr

Paarweise stapfen sie den steilen Waldweg hinauf, acht Pfadfinderinnen, während die Lichtkegel ihrer Taschenlampen über die eng stehenden Bäume hüpfen. Hoch über ihren Köpfen erzittert das schüttere Herbstlaub in der klammen Morgenluft. Eine der Größeren hält sich die Taschenlampe unters Kinn und dreht sich zu den anderen um. Das Licht verzerrt ihr Gesicht zu einer hässlichen Fratze. «Ich bin Sally», sagt sie, und die anderen kichern und kreischen. «Sally im Wald. Buuuh!»

Die Gruppenleiterin, eine nüchterne, praktisches Goretex tragende Frau mittleren Alters, herrscht die Mädchen an, mit dem Unfug aufzuhören. Die Ruhe hält nur kurz, dann fangen die Mädchen wieder an, geflüsterte Gespenstergeschichten und der Name «Sally» schweben wie Beschwörungen durch den Wald. Bei Licht besehen, denkt die Gruppenleiterin, war eine «Sonnenaufgangswanderung» am Morgen nach Halloween wahrscheinlich doch nicht die beste Idee für das Abenteuer-Abzeichen. «Wenn ihr ein bisschen leiser seid, könntet ihr vielleicht die Vögel singen hören», sagt sie. «Lauscht mal.»

Die Mädchen verstummen und bleiben stehen, doch der Wald hüllt sich weiter in drückendes Schweigen, und als sie weiterlaufen, ist nichts zu hören als das Stapfen ihrer Stiefel und keuchender Atem. «Mein Bruder hat gesagt, in diesem Wald singen nie Vögel», flüstert ein Mädchen. «Nicht mal im Sommer.»

«Die sind stumm, weil es noch dunkel ist», sagt ein anderes. Sie versucht, überzeugt zu klingen, doch das leichte Zittern ihrer Stimme ist nicht zu überhören.

Eines der Mädchen fällt über eine Wurzel. «Ihr bleibt zusammen», sagt die Leiterin zu den anderen und bleibt stehen, um sich um das aufgeschürfte Knie zu kümmern. «Sobald wir am Turm sind, gibt es was Heißes zu trinken.»

Aber die Mädchen hören nicht zu. Sie haben es eilig, in Erwartung des Gipfels und des versprochenen Sonnenaufgangs.

«Schaut mal!», sagt ein Mädchen ganz vorne. Sie deutet auf Thorncombe Folly, den imposanten Zierturm, der ein Stück entfernt über den Wipfeln aufragt, eine schwarze Säule vor dem hell werdenden Morgenhimmel. «Da ist der Turm.»

Sie stupst ihre Kameradin in die Seite, und sie fangen gleichzeitig an zu rennen, lösen sich von der Gruppe und legen bergauf einen letzten Sprint hin, bis sie den Turm erreicht haben. Sie bleiben stehen, nehmen die Köpfe in den Nacken und lassen den Blick über die schwindelerregend hohen, efeubewachsenen Mauern gleiten.

Aus der Nähe ist der Turm noch überraschender – dunkel und eindrucksvoll ragt er in der Dämmerung auf, ein schlanker, rechteckiger Bau mit flachem Giebeldach.

«Mir wird schon vom Hinschauen schwindelig», sagt die Jüngere. «Willst du da wirklich rauf?»

Ihre Freundin nickt und verschwindet, um den Eingang zu suchen.

Das Mädchen bleibt allein zurück und lässt den Blick staunend über die Mauern schweifen, bis hinauf zu der gähnenden Öffnung oben unter dem Dach. Der Rundbogen sieht aus wie das schwarze, zahnlose Maul eines Riesen. Sie muss an die Orte in den Märchen denken, die sie gelesen hat, wo man Jungfrauen hundert Jahre lang einsperrt oder dazu zwingt, Stroh zu Gold zu spinnen. Sie streckt die Hand aus und fasst die Mauer an. Der Stein ist kalt und eigenartig feucht in der Morgenluft. «Ich kann immer noch keine Vögel hören», ruft sie.

Weil keine Antwort kommt, geht sie um den Turm herum. Vor dem Eingang steht ihre Freundin, wie erstarrt, mit aufgerissenen Augen und vor Schreck offenem Mund. Vor ihr auf der Erde liegt etwas. Was genau, ist im fahlen Morgenlicht schwer zu erkennen. Es sieht aus wie ein Sack oder ein Haufen schmutzige weiße Lumpen. «Was ist das denn?», fragt das Mädchen.

Ihre Freundin stößt einen erstickten Schrei aus.

Als die Jüngere näher tritt, sieht sie, dass es kein Sack ist, sondern ein langes weißes Kleid, aus dem zwei sorgsam gefaltete Hände ragen. Sie sieht unordentlich gekritzelte schwarze Buchstaben auf blutleerer Haut und lange blonde Strähnen. Zögernd lässt sie den Blick den Körper entlang nach oben wandern, auf der Suche nach einem Gesicht, doch da ist keins, da sind nur blau verfärbte Lippen, leicht geöffnet wie zu einem letzten Atemzug, darüber schimmerndes, schwarzes Gefieder, ein krummer Schnabel, der im Morgenlicht matt glänzt. Das Ganze liegt in einer dunklen Pfütze, die aussieht wie verschüttete Farbe.

Das Mädchen steht sprachlos da und glotzt, während die wirren Bilder dieses Anblicks ineinanderfließen. Als sie endlich schreien kann, hallt ihre Stimme gellend durch den hohlen Turm hindurch und fliegt oben zur Öffnung hinaus, weit übers Tal wie eine Schar aufgeschreckter Krähen.

Kapitel 3

Sonntag, 8.30 Uhr

Rachel Dean steigert das Tempo. Die Muskeln in ihren Beinen schmerzen, ihr Herz rast, die Lungen brennen. Sie rennt, als liefe sie um ihr Leben.

Es ist ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden, am Wochenende früh aufzustehen, wenn Ellie noch schläft und ehe der Rest der Schule auf den Beinen ist. Morgens joggen zu gehen, ist befreiend. Es ist ihre Art, nach einer schlimmen Nacht den Kopf frei zu kriegen, ihre Gedanken zu ordnen und sich wieder mit ihrem Körper zu verbinden, indem sie sich auf das Zusammenspiel von Muskeln, Sehnen und Knochen reduziert. Es ist ihre Art, sich die Wochenenden zurückzuerobern, ihnen neue Struktur zu geben, nachdem Ben sie verlassen hat und sie mit Ellie in das kleine Personal-Cottage auf dem Schulcampus gezogen ist.

So früh am Sonntagmorgen ist es auf dem Gelände still wie sonst nie, die Mädchen und Jungen liegen noch in ihren Schlafräumen, und die Probleme, um die Rachel sich zu kümmern hat, stecken noch sicher unter den Bettdecken, einstweilen jedenfalls. Irgendwann wird der Morgengottesdienst die Schülerschaft aus den warmen Betten treiben, aber fürs Erste gehört das Gelände nur ihr. Sie läuft an den herrschaftlichen, efeubewachsenen Gebäuden vorbei, an der Aula, am Fachbereich Englisch und dem modernen Wissenschaftstrakt und biegt dann in einen schmalen, mit ordentlich getrimmten Buchsbaumhecken gesäumten Pfad ein, der zum Fachbereich Kunst führt. Die Kunsträume sind in einem schmalen, niedrigen Gebäude mit begrüntem Flachdach und raumhohen, auf den Wald hinausgehenden Fenstern untergebracht, das sich zwischen zwei Hügel schmiegt. Rachel läuft eine Schleife und biegt dann auf die langgezogene Kieszufahrt ein, die auf das schmiedeeiserne Tor zuführt, hinter dem die Straße beginnt.

Ihr Bewegungsdrang ist heute Morgen noch stärker als sonst, und das liegt nicht nur an der Flasche Rotwein, die sie gestern Abend zum Kochen entkorkt hat, für sich allein. Es war niemand zum Teilen da, niemand, der sie gebremst hätte, und Rachel hat sich dabei ertappt, wie sie sich mit dem Argument nachschenkte, der Wein würde ihr beim Einschlafen helfen. Hat er tatsächlich, aber dann ist sie irgendwann mitten in der Nacht mit pelziger, trockener Zunge aufgewacht. Sie hat automatisch die Hand über die Matratze neben sich gleiten lassen, auf der Suche nach Ben, doch ihre Finger haben nur die kalte, leere Stelle des einstigen Ehebetts ertastet.

Ihr ist auf einen Schlag bewusst geworden, welche neue Form ihr Leben jetzt hat. Ihr Exmann schläft auf der anderen Seite des Tals im Bett einer anderen, und ihre Tochter Ellie verbringt inzwischen das zweite Wochenende bei ihnen, so wie sie es in ihren höflichen, aber definitiv verkrampften Trennungsverhandlungen vereinbart haben. Ben hat ihrer Tochter garantiert den roten Teppich ausgerollt und gemeinsam mit Chrissie glückliche Familie gespielt, was für einen Teilzeitvater, dem die täglichen Reibereien erspart bleiben, ein Leichtes ist.

Rachel gibt sich Mühe, nicht verbittert zu sein. Für Ellie ist es gut so. Ein Wochenende bei ihrem Vater ist bestimmt genau das Richtige für sie. Rachel selbst gelingt es momentan nur schwer, zu ihrer Tochter durchzudringen. Mit ihrer letzten Aktion hat Ellie sich drei Tage Schulausschluss eingehandelt. Wenn sie so weitermacht, verliert sie ihr Stipendium und damit jede Chance auf den heiß ersehnten Platz am London Art College.

Rachel beißt die Zähne zusammen und steigert noch einmal ihr Tempo. Sie hält den Blick fest auf das hohe Tor am Ende der Zufahrt gerichtet, doch als sie sich der Ausfahrt und dem ehemaligen Jagdhaus nähert, das neben den steinernen Säulen steht, bleibt sie abrupt stehen. Das Entree zum Schulgelände hat seine makellose Pracht verloren. Mitten auf dem Weg liegt ein matschiger Kürbishaufen aus Rinde, Fruchtfleisch und Kernen, und das Jagdhaus ist mit mindestens einem Dutzend Eiern verziert. Angetrocknetes Eigelb klebt in impressionistischem Geschmier auf der Veranda und den Fenstern. Auch das Willkommensschild der Schule hat ein paar Eier abbekommen. Heftig keuchend und mit in die Hüften gestemmten Händen nimmt Rachel den Schaden in Augenschein.

Ganz eindeutig ein gedankenloser Halloween-Streich. Diejenigen, die auf die Idee gekommen sind, ausgerechnet das Wohnhaus ihrer Schulleiterin derart unverfroren zu verunstalten, kamen sich garantiert sehr mutig vor. Als Rachel den Blick hebt, sieht sie, dass im ersten Stock die Vorhänge zurückgezogen sind. Wahrscheinlich ist Malcolm schon wach, Margarets leidgeprüfter Ehemann, der sich später garantiert daranmachen wird, alles wieder in Ordnung zu bringen. Es ist ein Jammer! Ein paar rücksichtslose Kids genügen, um einem den Sonntag zu verderben.

An einem der Fenster geht eine dunkle Silhouette vorbei, verschwindet und kommt wieder, eine große Gestalt, hager, von hinten beleuchtet. Eindeutig Malcolm. Rachel hebt die Hand zum Gruß. Es ist ihr ein wenig peinlich, dass er sie dabei ertappt hat, wie sie das Haus anstarrt, aber er scheint sie gar nicht zu bemerken. Sie sieht ihn mit erhobenem Kopf dastehen, den Blick auf die bewaldeten Hügel in der Ferne gerichtet.

Rachel ergreift die Gelegenheit und macht sich davon. Sie umrundet die Sauerei in der Auffahrt, passiert das Tor und folgt der öffentlichen Straße bis zum Beginn des Wanderwegs, der bergauf in den Wald führt. Die Sonne steht bereits etwas höher und vertreibt die dunklen Schatten von den Hügeln. Rachel folgt dem gewundenen Pfad durch die Bäume, findet ihren Rhythmus, verliert sich im Geräusch ihrer Schritte, dem Geraschel des trockenen Herbstlaubs unter ihren Sohlen und im Anblick der weißen Atemwölkchen. Plötzlich tritt vor ihr ein Mann aus dem Gebüsch und reißt sie abrupt aus ihrer Versenkung.

Rachel stößt einen erschrockenen Schrei aus und greift sich an die Brust. «Haben Sie mich erschreckt!», sagt sie keuchend.

«Bitte entschuldigen Sie, Ma’am.» Der Mann ist breitschultrig, trägt eine dunkle Uniform und hat einen hellblonden Haarschopf. Er hält etwas Blau-Weißes zwischen den Händen. Absperrband.

Sie beugt sich vornüber und stützt die Hände auf die Knie. «Sperren Sie den Pfad?»

Mit einem Nicken führt der Polizist das Absperrband quer über den Weg, wickelt es um einen Baumstamm und führt es wieder zurück.

«Fürchte, ja. Der Zugang zum Turm ist bis auf Weiteres gesperrt.»

«Schade!» Rachel späht an dem Mann vorbei hügelaufwärts, kann aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Ihre übliche Runde beinhaltet einen fordernden Bergauflauf von etwa einer Meile bis zum oberen Ende der Steilwand, am Turm vorbei und dann auf der anderen Seite des Hügels durch den Wald wieder hinunter bis nach Thorncombe, dem kleinen Städtchen, zu dem die Schule gehört. Von dort aus geht es über die Straße wieder zurück bis zum Campus. «Was ist passiert?», fragt sie. «Ich hoffe, es ist niemand verletzt.»

Der Beamte sieht sich kurz um, dann beugt er sich zu ihr. «Ich darf eigentlich nichts sagen, aber so wie es aussieht, ist gestern Abend eine Halloween-Party aus dem Ruder gelaufen.»

Rachel runzelt die Stirn. «Ich bin Schulpsychologin und Betreuungspädagogin am Folly View College. Ich hoffe, es waren keine Schüler von uns involviert.» Sie muss an die allgemeine Aufregung auf den Gängen vor dem Halloween-Wochenende denken und an die Sauerei am Schultor vorhin.

«Tut mir leid, Ma’am, dazu kann ich nichts sagen, selbst wenn ich’s wüsste. Was ich nicht tue», fügt er eilig hinzu. «Mein Befehl lautet, den Leuten den Zugang zum Turm zu verwehren.»

Rachel beschleicht ein ungutes Gefühl. Internatsschüler dürfen das Schulgelände ohne Erlaubnis eigentlich nicht verlassen, aber sie ist nicht naiv. Ihr ist vollkommen klar, dass die Schülerinnen und Schüler immer Mittel und Wege finden, die Regeln zu umgehen, vor allem an den Wochenenden. Es wäre für die Schule ein Albtraum, wenn sich herausstellte, dass einer ihrer Zöglinge außerhalb des Schulgeländes an etwas Illegalem beteiligt war. Sie wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Braue. «Also dann, ich hoffe, Sie müssen nicht zu lange hier draußen rumstehen.» Sie schaut sich um. «Ist ziemlich trübe heute, nicht wahr?»

«Mir gefällt die Stille in diesem Wald nicht», gibt der Mann zu und mustert skeptisch die umstehenden Bäume. «Mich könnten keine zehn Pferde dazu bringen, nach Sonnenuntergang hier draußen zu feiern.»

«Nein.» Rachel gibt ihm recht. «Aber für die Kids aus der Gegend gibt es sonst kaum Möglichkeiten.»

«Ja. Zu schade, dass es für den Skatepark kein grünes Licht gab.»

«Meine Siebzehnjährige würde Ihnen da voll und ganz zustimmen.»

Sie winkt zum Abschied, dreht um und läuft den Weg zurück. Bucheckern und Zweige knacksen unter ihren Schuhsohlen und vertreiben die unheimliche Stille. Die Vorstellung, dass in unmittelbarer Nähe der Schule etwas passiert ist, direkt hier im Wald, ist beunruhigend. Wenigstens war Ellie gestern Abend bei Ben. Plötzlich ist Rachel dankbar für ihre Abmachung. Immerhin eine Sache weniger, um die sie sich Sorgen machen muss.

Ihre Gedanken bleiben bei Ellie und Ben und dem Vater-Tochter-Wochenende, bis sie am Fuß des Waldes wieder Asphalt unter den Füßen hat. Sie zieht ihr Telefon aus der Tasche und tippt eine kurze Nachricht. Ich hoffe, du hast es schön mit Dad. Hab dich lieb. X

Für eine Antwort ist es noch zu früh. Ellie schläft sicher noch.

Lass es gut sein, sagt sie zu sich. Das tust du jetzt nicht. Aber ihre Finger haben offensichtlich eigene Pläne und öffnen einen anderen Chat. Hi. Hier im Wald ist was passiert. Irgendwas, von dem die Schule wissen sollte? Sie überfliegt die Nachricht noch mal und drückt, zufrieden mit dem sachlichen Tonfall, auf Senden. Dann, fast sofort und ehe sie sich davon abhalten kann, tippt sie noch eine Zeile. Hoffe, du und Ellie, ihr hattet es schön gestern Abend. X

Wieder drückt Rachel auf «Senden» und starrt entgeistert den Bildschirm an. O Gott. Ein Kuss. Sie hätte auf keinen Fall das x für Kuss anfügen dürfen. Wahrscheinlich liegt Ben in diesem Augenblick neben Chrissie im Bett und liest ihr die Nachrichten laut vor, und beide verdrehen die Augen und lachen sich über ihre bedürftigen frühmorgendlichen Kontaktversuche kaputt. Die Ärmste! Hat offensichtlich immer noch kein eigenes Leben.

Sie steckt das Telefon wieder ein. Herrgott noch mal! Sie ist eine erwachsene Frau. Höchste Zeit, sich auch so zu benehmen. Rachel setzt sich wieder in Bewegung. Der Schweiß fängt bereits an, sie auszukühlen. Das Adrenalin und der Enthusiasmus ihres Laufs sind inzwischen verflogen; jetzt schleppt sich nur noch ein erschöpfter Körper zurück zu einem leeren Haus, während die Reue hinter ihr herrennt wie ein kleines, einsames Hündchen.

Kapitel 4

Sonntag, 9.30 Uhr

In dem Moment, als DS Ben Chase durch die Polizeiabsperrung auf den Waldparkplatz gewunken wird, hört er die Nachrichten auf seinem Telefon, zwei direkt aufeinander folgende «Plings». Er parkt seinen schlammbespritzten Allrad neben DCI Hassan Khans makelloser Limousine und greift zum Handy. Zwei Nachrichten. Beide von Rachel.

Der Anblick ihres Namens reicht, um das Telefon fester zu umklammern. Empört liest er die beiden Nachrichten. Ein Kuss? Im Ernst? Als würde das was an der Tatsache ändern, dass sie ihnen das Familienwochenende versaut hat. Keine Entschuldigung, keine Erklärung. Er hackt eine schroffe Antwort ins Telefon. Kann jetzt nicht. Bin arbeiten. Nach kurzem Zögern schreibt er noch: Für unsere Abmachung gibt es gute Gründe. Änderungen in letzter Minute sind für uns inakzeptabel. Er erkennt den Fehler gerade noch rechtzeitig und verbessert das «uns» in ein entschieden taktvolleres «mich».

Jemand klopft an die Scheibe und holt ihn gedanklich auf den Parkplatz zurück. Er winkt DCI Khan zu, greift nach seiner Jacke und begibt sich nach draußen in die kalte Morgenluft. «Morgen, Chief.»

«Tut mir leid wegen Ihrem freien Tag», sagt Khan und setzt sich bereits Richtung Wanderweg in Bewegung. «Ferguson ist krank, und die Sache hier erfordert umsichtiges Handeln. Ich hoffe, ich hab Sie nicht von was Wichtigem weggeholt?»

«Glücklicherweise nein.» Als er neben seinem Vorgesetzten Tritt fasst, vibriert tief in seiner Tasche das Telefon mit der nächsten Nachricht. Ben ignoriert es. Er hat jetzt keine Zeit für ein schnippisches Hin und Her mit Rachel. «Worum geht es?», fragt er und schließt den Reißverschluss seiner Jacke.

«Eine Leiche oben am Turm. Jung. Weiblich.»

«Scheiße.» Ben zuckt zusammen. «Selbstmord?»

«Hört sich eher nicht danach an. Es heißt, die Auffindungssituation sei ‹ungewöhnlich›. Silverton macht sich mit ihrem Team gerade an die Arbeit. Wir sind dabei, die Hauptwege rauf zum Turm abzuriegeln, aber so weitläufig, wie dieses Waldgebiet ist, wird es nicht einfach werden, die Unversehrtheit des Fundortes sicherzustellen. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass hier gestern Abend ganz schön was los war.»

Ben versucht, sich die Topografie des Geländes ins Gedächtnis zu rufen. Ihr Treffpunkt, ein kleiner Parkplatz am unteren östlichen Waldrand, ist ihrem Ziel, dem Turm auf der Hügelkuppe, am nächsten gelegen. Von hier aus muss man zu Fuß weiter. Der kürzeste der steilen Wanderwege windet sich ungefähr eine halbe Meile durch den Wald bis zum oberen Ende des Abhangs über dem Steinbruch und weiter bis zu dem allein stehenden, steinernen Zierturm. Von dort aus bietet sich allen, die mutig oder dumm genug sind, die enge Wendeltreppe zu der Plattform ganz oben hinaufzusteigen, ein atemberaubender Ausblick über das Avon Valley. Vom Turm aus in Richtung Westen gelangt man über mehrere längere Wanderwege runter auf die kurvige Straße, die bei den Einheimischen nur Sally in the Woodheißt. Von dort aus geht es Richtung Süden zur Privatschule, Richtung Norden nach Bath, oder aber man biegt noch ein Stück weiter westlich zur nächstgelegenen Ortschaft Thorncombe ab.

Ben ist seit Jahren nicht mehr zum Turm raufgewandert, doch er erinnert sich noch gut an den beinahe furchteinflößenden, exzentrischen Steinbau, der wie eine Längsachse auf dem Gipfel des Berges steht, und an das hügelige Waldgebiet darunter, das von mehreren aufgelassenen Steinbrüchen und Höhlen durchzogen ist, die seinerzeit einen Großteil des Baumaterials dieser Gegend lieferten.

Er schlägt den Jackenkragen hoch und folgt Khan hügelaufwärts. Bis jetzt ist der Herbst ungewöhnlich trocken gewesen, und sie finden auf dem festen Untergrund guten Halt. In der kalten Morgenluft liegt würziger Holzgeruch, durchmischt mit einer Spur kaltem Rauch und noch etwas Schwererem, das nasskalt und modrig riecht, beinahe pilzartig. Der herbstliche Verfall organischer Materie ist bereits in vollem Gange.

«Vor Jahren, als Teenager, war ich öfter mal hier», sagt Ben zu Khan. «Das war damals einer der wenigen Treffpunkte. Na ja, genauer gesagt, war es der einzige.» Ihm kommen Erinnerungen an dunkle, klamme Nächte, knisternde Lagerfeuer, Musik aus einem tragbaren CD-Spieler, Literflaschen mit billigem, viel zu süßem Wein und an ausgelassene Teenager, deren Schreie durch den Wald hallen.

«Hat sich offensichtlich nicht viel geändert», sagt Khan und tritt mit dem Fuß gegen eine leere Ciderflasche, die aus dem Gestrüpp ragt.

«Genau das ist Ellies Thema», sagt Ben. «Sie jammert seit Monaten rum, weil es nichts gibt, wo man sich treffen kann. Sie war total begeistert von den Plänen für den Skatepark, aber so, wie’s aussieht, hat der Plan für das Neubaugebiet endgültig den letzten Nagel in den Sarg geschlagen.»

«Ich habe davon gehört», sagt Khan. «Schade. Aber Geld regiert nun mal die Welt.»

Ben tun von dem steilen Anstieg langsam die Beine weh, und die Männer verstummen und nutzen ihre Energie, um die Steigung zu meistern. Khan, der kleinere der beiden, fällt etwas zurück, und Ben wird unauffällig langsamer, damit sein Chef Schritt halten kann.

Das letzte Mal ist er mit Rachel und Ellie hier hinaufgewandert. An einem Frühlingstag, er erinnert sich noch genau. Schlammige Pfützen, erstes, zartes Grün an den Zweigen und Ellie, ungefähr acht Jahre alt, die unbeschwert und mit einem langen Stock im Schlepptau den Wanderweg hinaufsprang. Gemma war zu Besuch aus London gewesen und hatte sie ebenfalls begleitet. «Tante Gem», wie Ellie sie immer genannt hat. Die beiden hatten zwischen den Bäumen Verstecken gespielt, nach Tierfährten und imaginären Elfenportalen Ausschau gehalten, während er und Rachel gemütlich hinterherschlenderten, Hand in Hand.

Es ist bestürzend, wie anders damals alles war. Wie einfach. Ehe Gemma starb. Bevor seine Ehe in die Brüche ging. Ehe Ellie letzten Monat bei den Protesten in Bristol mit dem Gesetz in Konflikt kam. Ehe das Leben langsam, aber unaufhaltsam ins Schlittern geriet. Zu viele Fehler. Mit Chrissie wird ihm das nicht mehr passieren. Bei dem Gedanken an sie und an das Gespräch mit Ellie im Garten gestern Abend muss er schlucken. Ellie, die im Dunkeln stand und ihn mit undurchdringlicher Miene ansah, in den Augen ganz kurz ein minimales Aufflackern von Emotion, ehe sie die Schotten wieder dichtmachte. Sie war verschlossen wie eine Auster, hat nichts preisgegeben, auch nicht, als er sie zur Seite genommen und sie gefragt hat, ob wirklich alles okay mit ihr sei. Nichts. Nur dieser ihn zur Weißglut treibende, ausdruckslose Blick, als sie sich steif abwandte.

«Himmel, ich muss dringend zurück aufs Laufband», keucht Khan. Ben dreht sich um und sieht, dass seinem Chef der Schweiß auf der Stirn steht. Die schmalen Schultern in dem Wollmantel sind gekrümmt, und die schwarzen, normalerweise zurückgekämmten Haare fallen ihm in die Augen. Khan ist der Inbegriff von Eleganz, trägt Designerklamotten und ist stets wie aus dem Ei gepellt, doch jetzt, an einem Sonntagmorgen auf einem steilen Wanderweg im Wald, wirkt er mit seiner schmal geschnittenen Anzughose und den auf Hochglanz polierten Halbschuhen komisch fehl am Platz.

Das Opfer sei jung und weiblich, hat Khan gesagt. Gott sei Dank ist Ellie gestern Nacht zu Hause gewesen, aber die Tochter von jemand anderem nicht, und jetzt gibt es einen Job zu erledigen. Er hat keine Zeit, sich in der Vergangenheit zu suhlen oder über seine eigenen Probleme zu grübeln. «Was soll das heißen, die Auffindungssituation ist ‹ungewöhnlich›?»

«Das werden Sie sehen, sobald wir oben sind.»

«Wer hat sie gefunden?»

«Ein paar Pfadfinderinnen. Ihr Trupp …», Khan hält keuchend inne, um wieder zu Atem zu kommen, «… war auf einer Sonnenaufgangswanderung.»

Ben zuckt zusammen. «Und wie geht es denen?»

«Wie man’s erwarten würde. Ich habe DC Maxwell beauftragt, sich um die Mädchen und ihre Familien zu kümmern.»

Ben nickt. Fiona Maxwell ist eine der stärksten Beamtinnen in ihrem Team, eine lebhafte, energische Rekrutin, die kürzlich von Manchester nach Bath versetzt worden ist. «Die ist sicher begeistert, so früh an einem Sonntagmorgen zum Dienst zitiert zu werden.»

«Maxwell ist ein Arbeitstier. Ich habe sie noch nie maulen hören. Ganz im Gegensatz zu ihrer Lebensgefährtin», sagt Khan. «Ihr Gezeter im Hintergrund war unüberhörbar.»

Bens Grinsen ist nicht von Dauer. «Sich mit einem Haufen traumatisierter Mädchen und deren Eltern auseinanderzusetzen, wird nicht leicht.»

«Nein. Zum Glück ist es der Gruppenleiterin gelungen, den Großteil der Mädchen vom Schauplatz fernzuhalten, als sie gemerkt hat, über was sie da gestolpert sind. Maxwell ist angewiesen, alle um Diskretion zu bitten, aber es wird nicht lange dauern, bis die Sache die Runde macht. Die Leute reden.»

Ben nickt nur, um sich den Atem zu sparen, während sie weiter steil bergauf durch den Wald eilen.

«Seltsamer Ort für einen Pfadfinderausflug mit einer Gruppe junger Mädchen in der Morgendämmerung», keucht Khan. «Im Dunkeln hier entlangzuwandern – ein Wunder, dass sie sich nicht vor Angst in die Hosen gemacht haben.»

«Das war wahrscheinlich der Witz an der Sache. Wissen Sie nicht mehr, wie das war als Kind? Wir haben uns ständig Gespenstergeschichten erzählt, und dann kamen die Horrorfilme.»

Khan sieht ihn missbilligend an. «Das Zeug mag ich nicht. Mochte ich noch nie. In der Welt existiert auch so schon genug Finsteres. Es gibt Dinge, an die man nicht rühren sollte.»

«Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Sie abergläubisch sind.»

Khan zuckt die Achseln. «Bin ich eigentlich auch nicht, aber Sie müssen zugeben, dass dieser Ort was Unheimliches an sich hat.» Er sieht sich um, und Ben registriert überrascht, dass seinen Boss ein Schaudern durchläuft.

«Über diese Wälder kursieren jede Menge Geschichten. Wir haben uns als Kinder gegenseitig damit Angst gemacht», gibt Ben zu. «Was mir jedoch wirklich Gänsehaut macht, ist der alte Zierturm. Es kursiert eine Geschichte über ein Mädchen, das an ihrem Hochzeitstag dort oben von ihrem Verlobten ermordet wurde; er hat sie in ihrem blutgetränkten Brautkleid den Krähen überlassen, die ihr die Augen aushackten.» Als er Khans Gesicht sieht, nickt er. «Manche behaupten, sie sei die ‹Sally›, nach der der Straßenabschnitt auf der anderen Seite des Steinbruchs benannt ist, das Gespenst im weißen Kleid, das plötzlich aus dem Wald kommt, von dem Autofahrer immer wieder berichten.»

Khan nickt. «Ich kenne die Geschichten.»

«Ja. Mehr ist es auch nicht. Eine Geschichte. Eine Gruselstory, die sich jemand aus der Gegend ausgedacht hat, um Kindern und Touristen einen Schauer über den Rücken zu jagen und um die Unfallstatistik auf dieser Straße zu erklären.» Ben spürt Khans Blick und weiß, was er denkt. «Sobald etwas Schlimmes passiert, brauchen die Menschen einen Grund.» Ben ballt die Hände zu Fäusten. «Aber Sie und ich, wir kennen die Wahrheit. Wenn man mit dem Smartphone in der Hand am Steuer sitzt, ist die Gefahr, von der Straße abzukommen, ziemlich groß, und auch, dass man dabei jemanden mitnimmt.» Ben hat unwillkürlich die Zähne zusammengebissen. Er schluckt, versucht, den dicken Kloß aus seiner Kehle zu vertreiben. Er geht etwas schneller, um Khans mitfühlenden Blick nicht sehen zu müssen. «Um das zu erklären, braucht es keine Gespenstergeschichte.»

«Haben Sie den Turm schon mal bestiegen?», fragt Khan, dem nicht entgangen ist, wie dringend Ben das Thema wechseln will.

«Nicht so mein Ding. Ich habe Höhenangst.»

Khan grinst. «Ach was? Unser ortsansässiger Actionheld hat also doch eine Achillesferse.»

Ben verdreht die Augen. Seit er vierzig geworden ist, sich den Schädel rasiert und sich im örtlichen Fitnessstudio angemeldet hat, hat sein Team keine Gelegenheit ausgelassen, ihn mit dem Midlife-Crisis-Klischee aufzuziehen. Aber damit hatte er gerechnet, er ist schließlich nicht dumm. Ihm ist bewusst, dass diese äußerlichen Veränderungen zumindest zum Teil mit seiner gescheiterten Ehe zu tun haben; der verzweifelte Versuch, gegen den schwammig werdenden Papibauch anzukämpfen; mit seiner jüngeren Freundin mitzuhalten. Gleichzeitig ist Ben stolz auf seine neuen Bauchmuskeln, und an einem Morgen wie diesem ist er froh über seine neue Kondition, auch wenn das bedeutet, sich von seinem Team ständig verarschen zu lassen.

«Haben Sie’s gesehen?», protestiert Ben. «Die Stufen führen in einer steilen Spirale nach oben. Kein Geländer. Nichts zum Festhalten. Ganz oben ist eine Plattform und ringsum vier große Öffnungen. Die Aussicht ist grandios, aber es gibt nichts, um einen Sturz zu verhindern.»

«Klingt beängstigend, auch ohne Höhenangst. Ich verstehe nicht, warum das nicht längst gesichert wurde.»

«Der Zustand des Turms ist ein lokales Dauerärgernis. Vor ein paar Jahren hat die Gemeindeverwaltung eine Sicherheitstür aus Stahl anbringen lassen, aber die hat nicht lange gehalten. Vandalen – oder irgendwelche Kids – haben die Tür aufgebrochen. Seitdem steht der Turm wieder ungehindert offen. Ist eben eines dieser verlassenen Gebäude, für die sich niemand zuständig fühlt. Ein Treffpunkt für Halbwüchsige, die nicht wissen, wohin mit sich, und ein Sicherheitsalbtraum, der offensichtlich durch sämtliche Zuständigkeitsbereiche rutscht. Die Gemeinde will nichts damit zu tun haben.» Ben bleibt abrupt stehen. «Riechen Sie das?»

Khan schnuppert. «Rauch?»

«Ich hatte das eben schon mal kurz in der Nase. Hier oben ist der Geruch stärker.»

Sie weichen ein paar Schritte vom Wanderweg ab und spähen über eine niedrige Trockenmauer. Unter ihnen erstreckt sich das ausgehöhlte Becken eines aufgelassenen Steinbruchs. Der flache, etwa einhundert Meter breite Kessel, der wie eine offene Narbe in der Landschaft liegt, ist von Bäumen und moosbewachsenen, abgesprengten Felsen umstanden. «Aha», sagt Ben mit ausgestrecktem Arm. «Dann wird hier oben also immer noch gefeiert.»

Unten finden sich zwischen Herbstlaub und abgerissenen Zweigen die achtlos weggeworfenen Überreste einer Party. Leere Dosen, dazwischen silbern schimmernde Vape-Kartuschen, im Morgenlicht glitzernde Glasscherben, und im Zentrum die verkohlten Überreste eines Lagerfeuers. Von einem Felsvorsprung grinst ein einsamer Kürbis mit geschnitzter Grimasse zu ihnen hinauf, und am oberen Ende der Steilwand flattert ein vergessenes, wie eine Fahne gehisstes T-Shirt in der morgendlichen Brise.

«Sieht nach einer Halloween-Party aus. Kids aus dem Ort? Oder aus dem Internat?»

«Hoffentlich nicht. Das ist Ellies Schule.»

Khan pfeift durch die Zähne. «Himmel, Chase. Haben Sie etwa im Lotto gewonnen?»

«Hat nichts mit mir zu tun. Liegt allein an Ellie. Sie hat ein Stipendium bekommen. Das hat sie ihrem Talent zu verdanken.» Ben kneift irritiert die Augen zusammen, als etwas leuchtend Rotes seine Aufmerksamkeit erregt. Er springt über die Mauer und kraxelt den steilen Abhang hinunter bis zu einem großen Felsbrocken am Rande des Kessels. In roter Farbe ist ein einzelnes Wort darauf gesprüht: SALLY. Ben mustert das Geschmier, dann berührt er mit dem Zeigefinger vorsichtig einen Buchstaben. «Trocken, aber frisch.»

«Darauf kommen wir später zurück», sagt Khan. «Sobald wir wissen, womit wir’s am Turm zu tun haben.»

Sie kehren zum Wanderweg zurück und laufen das letzte Stück durch den Wald, dann kommt zwischen den Bäumen der Turm in Sicht. Am Himmel stehen graue Wolken, und vereinzelte Sonnenstrahlen treffen auf die hohen Mauern.

«Wie hoch ist der?», fragt Khan und mustert, die Hände in die Hüften gestützt, den Turm. «Zehn, zwölf Meter?»

Ben nickt. «Würde ich auch sagen.»

«Was hat der eigentlich hier zu suchen, so mitten im Nirgendwo?»

«Das ist eine der Fragen, auf die ich tatsächlich eine Antwort habe. Der Zierturm, auch Folly genannt, war das Prestigeobjekt eines örtlichen Steinbruchbetreibers Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Er wollte damit die Qualität seiner Steine demonstrieren. Die Arbeit an dem Turm hat seine Leute während einer Krise der Branche in Lohn und Brot gehalten.»

Khan grinst. «Mann errichtet gigantisches Phallussymbol, um mit seinem Geschäftsgeschick anzugeben. Eine Geschichte, so alt wie die Menschheit.»

Als sie die Böschung betreten, ist das Team der Rechtsmedizin mitten in einem Briefing. Trish Silverton, die leitende Forensikerin, ist eine kleine, vogelhafte Frau mit kurzen, weißblonden Haaren und blitzenden grünen Augen. Sie winkt ihnen kurz zu, ohne ihre Ansprache an die versammelten Ermittler zu unterbrechen. Ben nickt ihr zu, zieht sich einen weißen Schutzanzug über und duckt sich dann unter dem Absperrband hindurch, das in einem großen Rechteck rund um den Turm gespannt ist.

Behutsam nähert er sich dem Fundort der Leiche, umrundet dabei den Turm und einen kleinen Haufen schwarzer Asche – Überreste eines weiteren frischen Lagerfeuers – und bleibt, sobald er den auf dem Erdboden liegenden Körper erreicht hat, stehen. Er geht in die Hocke, beruhigt seinen Atem, fokussiert seine Gedanken und lässt den Anblick auf sich wirken.

Was er sieht, ist verstörend, und auf den ersten Blick wirkt es geradezu unecht. Das ist kein Mädchen, das ist eher ein posierendes Modell oder eine bewusst drapierte Wachsfigur. Langsam lässt Ben den Blick über die Details schweifen. Das Gazekleid, eindeutig alt und mit Spitzen besetzt, wie ein viktorianisches Nachthemd oder Unterkleid. Der zerrissene Ausschnitt, der ein Stück zierliche weiße Schulter entblößt. Die blassen, sorgfältig über der Brust gefalteten Arme. Lange, blonde Haare, ordentlich um die Schultern gelegt. Die Füße geschlossen, die Spitzen der Turnschuhe exakt zum Himmel ausgerichtet.

Ben schluckt. Auf dem Kleid sind auf Brusthöhe eine erhebliche Menge Blutspritzer zu sehen, auch der Ausschnitt ist blutverschmiert, und der Kopf liegt in einer dunklen Pfütze, die schimmert wie Öl. Mit einem tiefen Atemzug lässt Ben den Blick weiter nach oben schweifen, hin zu dem mit Abstand verstörendsten Detail. Das Gesicht des Mädchens ist zur Hälfte verdeckt, nur das blau unterlaufene Kinn und die blauen Lippen sind zu sehen. Direkt darüber verwandelt sich der Kopf in einen ausladenden schwarzen Schnabel, und glänzende Rabenfedern vermischen sich mit den blonden Haaren. Eine Maske, erkennt Ben, mit grotesk gebogenem Schnabel, halb venezianisches Karnevalskostüm, halb Pestdoktor. Der verstörende Anblick wird weiter durch die Worte verstärkt, mit denen die Gliedmaßen der Toten beschmiert sind, in schwarzen Großbuchstaben steht da: BESTRAFEN. ZERSTÖREN. BEREUEN. Wieder und wieder, sämtliche freiliegende Haut ist damit bedeckt. Ben schaudert. Das also meinte Khan mit «ungewöhnlich».

Obwohl das Gesicht nicht zu sehen ist, ist eindeutig, dass das Opfer jung ist. Eine Teenagerin, wahrscheinlich nicht älter als Ellie. Faltenfreie Hände, auf den Fingernägeln pinkfarbener Glitterlack, ein silberner Schmuckanhänger – ein halbes Herz – schlaff an einer Kette um ihren Hals. Ben weiß, dass es von solchen Ketten immer zwei gibt, ein Herz in zwei Hälften, um es mit der besten Freundin oder mit dem Freund zu teilen. Irgendwo gibt es jemanden mit der zweiten Hälfte.

Der Schmerz in seiner Brust schwillt an. Dieses Mädchen hatte sich mit seinem Outfit Mühe gegeben, hatte sich auf den Samstagabend gefreut. Hatte sich fertig gemacht für eine Party oder ein Date. Sie ist zu jung, viel zu jung, um hier zu liegen, tot und allein, im Wald.

«Haben Sie so etwas schon mal gesehen?» Khan geht neben ihm in die Hocke. «Die Worte auf ihrer Haut … die Maske … die Körperhaltung.»

Ben schüttelt den Kopf.

Khan deutet auf die roten Kratzspuren an den Armen des Mädchens und auf den Bluterguss am Kinn. «Sieht aus, als hätte sie sich heftig gewehrt.»

«Schauen Sie, die Maske ist nicht befestigt.» Ben zeigt auf die beiden losen Gummibänder. «Jemand hat sie ihr aufs Gesicht gelegt.»

«Was glauben Sie? Hat das was mit Halloween zu tun? Irgendein okkulter Scheiß?» Khan hebt den Blick zum Turm und mustert die klaffende Öffnung hoch oben in der Mauer.

Eine leichte Brise weht über das Gelände, das trockene Herbstlaub zu ihren Füßen fängt an zu rascheln. Der Wind ergreift ein paar blonde Strähnen, dann sinken sie wieder auf die Schultern der Toten zurück. Ben runzelt die Stirn, versucht, ein Wort zu fassen zu bekommen, das ihm im Kopf herumspukt. «Ehrerbietung», sagt er, als er schließlich darauf kommt.

«Wie bitte?»

«Die Art, wie sie drapiert wurde, legt etwas … ich weiß nicht … etwas wie Sorgfalt oder Kunstfertigkeit nahe. Da hat jemand sich Zeit genommen. Und dann diese Worte. Die Maske. Das hat etwas zu bedeuten. Wir müssen herausfinden, was.»

Khan ruft einem der Beamten in der Nähe etwas zu. «Habt ihr schon was? Eine Tasche? Ein Telefon? Irgendwas, das uns verrät, wer sie ist?»

«Nein, noch nichts, Chief.»

Khan runzelt die Stirn. «Kennen Sie einen einzigen Teenager, der auch nur einen Schritt ohne sein Smartphone macht?»

Silverton hat das Briefing inzwischen beendet und kommt auf sie zu. «Wir sind jetzt bereit, das Zelt aufzustellen.»

Khan nickt. «Tun Sie sich keinen Zwang an.»

Ben steht auf und tritt zurück, um den Forensikern Platz zu machen. Er sieht zu, wie das Metallgestell und die weißen Leinwände wie Grabtücher um die Leiche des Mädchens aufgebaut werden, wie sie erste Abstriche nehmen und anfangen zu fotografieren. Er registriert die Umsicht, die Professionalität, mit denen die Leute von der Spurensicherung agieren. Auch eine Form von Ehrerbietung, denkt er. Als sie sich bereit machen, die Maske vom Gesicht zu nehmen, tritt Ben einen Schritt näher, ihm schnürt es fast die Kehle zu.

«Vorsichtig», sagt Silverton, als ein Rechtsmediziner mit einer langen Pinzette die gefiederte Maske anhebt.

Ben registriert das leichte Zittern, als der Mann die Vogelmaske hochhebt, um das Gesicht darunter zu entblößen – doch es ist eigentlich kein Gesicht mehr. Der halbe Schädel besteht nur noch aus blutiger Masse und Knochen.

«Herrgott!», sagt Khan und wendet sich ab.

Silverton wirft ihnen einen grimmigen Blick zu. «Die Identifizierung könnte länger dauern, als wir dachten.» Sie nickt zum Turm hinauf. «Ist ein weiter Weg von da oben.»

«Ist sie gestürzt? Gesprungen?» Aber Ben kennt die Antwort bereits. Niemand springt aus dreizehn Meter Höhe von einem Turm und landet auf diese Weise, ordentlich drapiert. Wieder mustert er die beschmierten Gliedmaßen. BESTRAFEN. Die Szenarien in seinem Kopf jagen ihm Schauder über den Rücken.

Khan räuspert sich. «Ich möchte eine gründliche Spurensuche in der gesamten Umgebung», sagt er. «Vom Waldparkplatz bis zum Turm und auf der anderen Seite bis ganz hinunter, wo der Wald auf die Straße trifft. Ich will, dass alles, was auch nur im Ansatz außergewöhnlich ist, markiert wird. Und schafft mir einen Techniker hier rauf.»

«Was ist mit den Trampelpfaden und Nebenwegen, die sich durch den Wald ziehen?», fragt Ben. «Davon gibt es mindestens ein Dutzend.»

«Vor uns liegt ein Haufen Arbeit, das steht fest. Und wir müssen uns beeilen. Die ganze Gegend abzusperren, ist unmöglich. Sobald die Nachricht von der Toten die Runde gemacht hat, werden wir von der Presse und jeder Menge Möchtegern-Columbos überrannt werden. Noch haben wir einen Vorsprung, aber sicher nicht sehr lange. Sobald sie Wind davon bekommen, werden sie angeschwirrt kommen wie die Schmeißfliegen. Ich will wissen, wer letzte Nacht alles in dem Steinbruch war, wer genau dort gefeiert hat. Die Schule ist ganz in der Nähe – könnte es sich um eine Schülerin handeln?»

Ben nickt. Er wendet den Blick von dem zerquetschten Gesicht des Opfers ab und konzentriert sich auf andere Einzelheiten. Die frisch gewaschenen Haare des Mädchens. Den Glitternagellack. Das glänzende Medaillon um ihren Hals. Er hat ein Mädchenzimmer vor Augen, einen Schminktisch voller Kosmetik, eine Schmuckschatulle mit geöffnetem Deckel, verstreute Klamotten und Poster mit Eselsohren, ein Bett, leer, wo eigentlich ein schlafwarmer Körper liegen sollte. Plötzlich wird ihm klar, dass er nicht irgendein Teenagerinnen-Zimmer vor Augen hat, sondern das von Ellie, damals, in ihrem ehemaligen Zuhause, dem, in dem er mit ihr und Rachel gelebt hat.

«Wir müssen das Opfer identifizieren. Und zwar schnell.»

Irgendwo vermisst irgendjemand dieses Mädchen. Hoffentlich dauert es nicht zu lange, bis die Betreffenden sich an die Polizei wenden.

Kapitel 5

Sonntag, 10.45 Uhr

Philippa Easton steht am Erkerfenster des Salons und nippt an dem Steinguttässchen mit Espresso. Von dem Platz, an dem sie steht, überblickt sie den gesamten parkartigen Garten bis hin zu der angrenzenden Koppel, wo Pferde ausgelassen herumgaloppieren, die Mähnen glänzend im Wind. Der Anblick der fröhlich tobenden Tiere entfacht ein hohles Ziehen in ihrer Brust, eine dumpfe Sehnsucht. Es ist ein seltsamer Tag, der Wind weht in heftigen Böen, widerspenstig und erregend und weckt eine tiefe Sehnsucht in ihr, die ihr nicht willkommen ist. Die Tabletten, die sie am Vorabend genommen hat, zirkulieren immer noch schwer durch ihre Adern. Sie wartet darauf, dass der Koffeinkick endlich einsetzt und sie mit sich in den Tag zieht.

Ein Blick auf ihre Rolex verrät ihr, dass es kurz vor elf ist. Dieser Tage entgleitet ihr die Zeit so leicht. Christopher ist schon seit frühmorgens auf den Beinen, aber die Mädchen sollten wirklich nicht den ganzen Vormittag im Bett rumlungern. Sie sollten endlich aufstehen und den freien Tag nutzen. Seufzend stellt Philippa die Tasse zurück auf den Unterteller, betritt das Vestibül und geht die gewundene Treppe hinauf.

Die Zimmertür ihrer Tochter im ersten Stock ist fest geschlossen. Philippa klopft verhalten und wartet einen Augenblick, dann öffnet sie die Tür einen Spaltbreit. «Olivia», ruft sie mit sanfter Stimme. «Zeit aufzustehen.»

Im Zimmer ist es dunkel und still, das Schweigen hängt regelrecht schwer in der Luft. Durch einen Spalt zwischen den Samtvorhängen dringt ein schmaler Streifen Licht. Philippa betritt das Zimmer. «Olivia?», wiederholt sie. «Es ist fast elf.»

Vorsichtig steigt sie über das Durcheinander auf dem Parkett, umrundet schemenhafte Bücherstapel, Klamottenberge und den Schulrucksack, dessen Inhalt sich quer über einen Lammfellvorleger ergießt. Sie tritt näher und keucht auf. Das Bett ihrer Tochter ist leer.

Sie blinzelt in die Dämmerung und macht noch einen Schritt. Panik steigt in ihr hoch, aber nein. Olivia ist doch da, der schmale Körper liegt dicht an die Wand gepresst unter der Decke, nur ein verräterischer Fuß schaut raus. «Olivia», sagt Philippa, die Erleichterung verleiht ihrer Stimme Kraft. «Zeit aufzustehen.»

In die Bettdecke kommt Bewegung. Ein Stöhnen ertönt.

«Wie war die Party?» Philippa geht zum Fenster, zieht die Vorhänge zurück und lässt helles Tageslicht ins Zimmer.

Olivias unverständliches Krächzen wird lauter.

«Ich hab euch gar nicht nach Hause kommen hören. Es war kurz vor Mitternacht, hat dein Vater gesagt.»

Unter der Zudecke taucht das blasse Gesicht ihrer Tochter auf. Sie reibt sich die Augen. Philippa bückt sich nach dem weißen Tüllrock zu ihren Füßen, hebt ihn auf und streicht ihn glatt. «Wirklich, räum doch deine Sachen auf», sagt sie. «Du hast so schöne Anziehsachen.» Sie hält sich den leichten Stoff ans Gesicht und atmet einen süßlichen, leicht rauchigen Geruch ein. Sie zieht die Nase kraus. «Hast du etwa geraucht?»

«Mum, heute wird nicht mehr geraucht. Wir vapen.» Olivia blinzelt in Richtung Fenster und dreht sich auf die andere Seite.

Philippa riecht noch einmal an dem Rock und verzieht das Gesicht. «Das riecht eindeutig nach Rauch.»

«Es gab ein Lagerfeuer.» Olivia streckt die Hand nach dem Telefon auf ihrem Nachttisch aus. Der Bildschirm leuchtet auf und taucht ihr schmales Gesicht in bläuliches Licht.

«Ich hoffe, ihr beiden habt nicht vergessen, dass ihr mir versprochen habt, mich nach Bath zu begleiten? Sarah sollte vorher dringend noch ihre Mutter anrufen. Diana sagt, sie hat die ganze Woche nichts von ihr gehört.»

Weil Olivia nicht reagiert, füllt Philippa schließlich die Stille. «Soll ich sie wecken, oder gehst du?»

Einen kurzen Augenblick lang sieht es so aus, als wollte Olivia zurück unter die Decke kriechen, doch dann rafft sie sich auf und schwingt die nackten Beine über die Bettkante. «Ich geh schon.»

«Gut. Ich mache euch Tee und Toast.» Sie wirft ihrer Tochter einen wissenden Blick zu. «Das ist gut gegen Kater.»

Philippa ist gerade dabei, losen Schwarztee mit Wasser zu überbrühen, als Olivia in die Küche kommt, immer noch in ihrem kurzen Nachthemd, die langen, blonden Haare lösen sich aus dem unordentlichen Dutt auf ihrem Hinterkopf. «Was ist los?», fragt sie, und das verhaltene Lächeln versiegt, als sie das Gesicht ihrer Tochter sieht. «Was ist passiert?»

«Sarah.» Olivias Stimme zittert. Sie überkreuzt die langen, nackten Beine und hebt das Medaillon, das sie um den Hals trägt, an ihre Lippen. «Sie ist nicht da.»

Philippa sieht sie stirnrunzelnd an. «Was meinst du damit, sie ist nicht da?»

«Ich meine, sie liegt nicht in ihrem Bett.»

Entgeistert starrt Philippa ihre Tochter an und versucht zu begreifen. «Ja, aber wo ist sie denn?»

Olivia schüttelt den Kopf. «Keine Ahnung. Das Bett … es sieht nicht aus, als hätte sie drin geschlafen.»

«Was? Gar nicht?» Philippa spürt, wie sich Unbehagen einen Weg durch den Nebel in ihrem Kopf bahnt und als Schaudern ihren Nacken hinunterrieselt. «Aber sie ist doch gestern Nacht mit dir zurückgekommen. Irgendwo muss sie ja sein.»

Olivia senkt betreten den Blick. «Na ja, … nicht direkt.»

Philippa stellt die Teekanne zurück auf den Tisch. Das Prickeln wandert den Rücken hinunter. «Was soll das heißen, nicht direkt? Willst du damit sagen, Sarah und du, ihr seid nicht zusammen nach Hause gekommen?»

Olivia schaut ihre Mutter an, dann schüttelt sie den Kopf und verzieht das Gesicht.

«Du erzählst mir jetzt, was gestern Abend passiert ist, verstanden?» Philippa geht quer durch die Küche auf ihre Tochter zu und packt sie am Arm. «Augenblicklich.»

Kapitel 6

Sonntag, 11.00 Uhr

Ellie ist tief unter der Bettdecke vergraben, und als sie das Kopfkissen wendet, um ihr viel zu heißes Gesicht in die kühlere Hälfte zu drücken, verheddern sich ihre Gliedmaßen. In ihrem Kopf schlägt jemand eine riesige Trommel, und ihre Zunge fühlt sich an wie die stinkige Innensohle aus einem ihrer Turnschuhe. Überreste der letzten Nacht sickern ihr aus sämtlichen Poren.

Sie macht ein Auge auf und sieht ihre Klamotten in einem unordentlichen Haufen auf dem Fußboden liegen – die abgeschnittene Jeans, die zerrissene schwarze Strumpfhose und ihren grauen Lieblings-Hoodie. Über die Vorderseite des Hoodies zieht sich ein rostbrauner Streifen, und sie ist sich ziemlich sicher, dass sich diese Schweinerei nicht einfach rauswaschen lässt. Ellie schluckt. Darüber will sie jetzt nicht nachdenken. Sie will an gar nichts denken, das irgendwie was mit letzter Nacht zu tun hat. Sie hebt den Kopf und schaut sich in der ungewohnten Umgebung um.

Auf der anderen Seite des Zimmers liegt Jasmine schnarchend in einem identischen Bett, unter einer mit kleinen Gänseblümchen verzierten Decke. Ein schmaler, brauner Arm ist über ihren Kopf gebreitet, ihr Mund steht weit offen. In der Ecke gluckert und stöhnt ein alter gusseiserner Heizkörper.

Als Ellie sich auf den Rücken dreht, kann sie im Dämmerlicht undeutlich die Poster erkennen, die neben ihr an die Wand geheftet sind, fröhliche, strahlende Popstargesichter grinsen sie an. Das sind nicht Jasmines Poster. Jasmine wäre lieber tot, als sich Harry Styles oder Ed Sheeran übers Bett zu hängen. Das Bett gehört Zara, Jasmines Zimmergenossin, die praktischerweise übers Wochenende nach Hause gefahren ist. Jasmines Seite des Zimmers ist vollgepflastert mit Greenpeace, Extinction Rebellion und Bob Marley. Viel besser.

Ellie kneift die Augen zusammen, um das grässliche Zahnpastagrinsen auszublenden, und zieht sich die Decke über den Kopf. Sie will einfach nur schlafen, sehnt sich nach der seligen Abwesenheit vom Sein, aber es geht nicht. Jetzt nicht mehr. Weil jetzt die Erinnerungen wieder da sind. Der Alkohol, der noch als süßsäuerlicher Geschmack in ihrer Kehle hängt. Die lodernden Flammen vor dem dunklen Nachthimmel. Das Kratzen von Zweigen. Der Streit und die Sticheleien, Worte so stechend wie glühende Metallsplitter. Weißer Stoff, der sich zwischen ihren Fingern dehnt und zerreißt, warmes Blut, das ihr über die Hände spritzt.

Auf ihrer Stirn prickelt der Schweiß, während grauenhafte Bilderfragmente in ihrem Kopf Karussell fahren.

Was hat sie getan?

Sie könnte ihre Klamotten verbrennen. Sie in einem Ölfass versenken, mit Benzin tränken und in Flammen aufgehen lassen. Sich umdrehen und einfach gehen, ohne einen Blick zurück, wie man es aus Filmen kennt. Aber wo soll sie ein Ölfass und einen Benzinkanister herkriegen? Das gehört nicht gerade zu den Sachen, die in einer Schule wie Folly View einfach so rumliegen.

Draußen gehen zwei Mädchen vorbei, ihre fröhlichen Stimmen dringen durchs Fenster. Jemand kichert ausgelassen, dann hört man rennende Schritte. Der Duft nach Spiegeleiern liegt in der Luft. Bald werden die Glocken der Kapelle läuten und die Internatsschüler zum Gottesdienst rufen. Ellie dreht sich der Magen um. Das lässt sich nicht wegschlafen. Den Kater und den ekelerregenden Geschmack von Selbsthass wird sie den ganzen Tag mit sich rumschleppen. Und was ist mit den Konsequenzen für das, was sie letzte Nacht getan hat? Die könnten ein ganzes Leben lang andauern. Ihr kommt die Galle hoch.

Ellie muss lernen, ihre Impulse noch besser zu kontrollieren.

Ellie muss sich dringend in Selbstbeherrschung üben.

Ellie sollte nachdenken, ehe sie handelt.

Sätze aus alten Zeugnissen schwirren ihr durch den Kopf. Erst handeln, dann denken – das war schon immer ihr Problem. «Die roten Haare hast du von deiner Mutter, aber dein feuriges Temperament hast du von mir», hat ihr Dad irgendwann mal gesagt und ihr die Haare zerzaust, und Ellie hat sich in seine Hand geschmiegt wie eine Katze. «Leidenschaftlich. Ungestüm. Das sind gute Eigenschaften … manchmal», hat er mit einem Grinsen hinzugefügt.

Als ihr leidenschaftliches Temperament sie dazu verführt hat, die Schule zu schwänzen, um sich der Sitzblockade auf der Autobahn in Bristol anzuschließen, um gegen die Klimapolitik zu protestieren, war er nicht mehr ganz so begeistert gewesen, oder neulich, als sie in der Stadt dabei erwischt worden war, wie sie die Werbeplakate einer Fast-Food-Kette mit Graffiti beschmierte. Sie hat drei Tage Schulausschluss kassiert, eine offizielle Verwarnung von Mrs Crowe und eine ernste Standpauke ihrer Eltern, beide mit betroffenen Gesichtern, sanften Blicken und tief enttäuscht.

Aber all das ist gar nichts im Vergleich zu letzter Nacht. Letzte Nacht ist sie zu weit gegangen.

Jetzt bist du am Arsch, Ellie Chase.

Ellies Herz pocht schmerzhaft in ihrem Brustkorb, ihre Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt. Sie hat komplett die Kontrolle verloren. Sie hat sich selbst Angst eingejagt. Was sie getan hat, ist unverzeihlich – und diesmal kann es sie tatsächlich die Zukunft kosten.

Endgültig wach, greift sie zu ihrem Telefon. Sie hat eine Nachricht von ihrer Mum, lauter Blabla voll geheuchelter Begeisterung über das Wochenende mit ihrem Dad. Das schlechte Gewissen steigt stechend in ihr auf, doch Ellie verdrängt den Schmerz. Hätten ihre Eltern es nicht dermaßen verkackt, hätte sie sie nicht anlügen müssen. Mit der Tatsache, dass sie nicht mehr verheiratet sein wollen, könnte sie umgehen. Womit sie nicht umgehen kann, ist, dass jetzt jeder winzige Aspekt ihres Lebens geregelt werden muss und sie zwischen ihnen hin- und hergereicht wird wie eine Sechsjährige. Schlimm genug, dass ihre Mutter ihr in der Schule tagtäglich auf die Pelle rückt. Sie hat keinen Bock darauf, dass ihre Eltern sich auch noch am Wochenende um sie zanken. Sie ist siebzehn. Es ist nicht okay, dass die ihr vorschreiben, wie sie ihre Freizeit zu verbringen hat.

Ellie ignoriert die Nachricht ihrer Mutter und geht weiter zu Snapchat, wo sie sich durch Storys voller Halloween-Selfies scrollt, beeindruckende Kürbisse mit geschnitzten Grinsegesichtern, ein Drei-Sekunden-Video von Jasmine, die einem Jungen die Zunge in den Mund geschoben hat, die Arme um seinen Hals geschlungen, Danny und Saul, die mit einer Flasche Wodka vor einem Lagerfeuer posieren, grinsend und mit Hang-Loose-Gesten. Dann noch ein verwackeltes Video, der Bildschirm ist die meiste Zeit schwarz, im Hintergrund dröhnt aus einer Box Elektro, dann schwenkt die Kamera auf knisternde Flammen. Aus Ellies Kehle steigt es bitter auf. Sie würde am liebsten das Telefon fallen lassen, aber sie kann nicht wegschauen.

«Sally», hört sie jemanden spöttisch rufen. «Saaaally!» Baumstämme kommen flackernd ins Bild, weißer Stoff, blonde Haare, dann die Nahaufnahme eines strahlenden Lächelns mit perfekten Zähnen. Dann ertönt Poltern, die Kamera fängt chaotisch an zu schlingern, und das Video ist vorbei.

Ellie könnte jetzt weitermachen, sich mit dem verhängnisvollen Scrollen weiter quälen und rausfinden, was es sonst noch in den Feed geschafft hat, aber die Fragmente, die sie gesehen hat, reichen, um ihr klarzumachen, dass sie nicht noch mehr sehen will. Wenigstens werden die Storys morgen um diese Zeit schon wieder verschwunden sein, automatisch von den Snapchat-Servern gelöscht. Sie switcht zu ihren privaten Nachrichten.

Hey, wo bist du hin? Alles okay?

💀

Letzte Nacht war KRASS.

Du aber auch. Ein Mädchen mit einer Mission.

🔥😈

Sie schließt die App. Sie hat Schmutz an den Händen, und unter ihren Fingernägeln hängt rotbraunes Zeug. Der Anblick verursacht die nächste heftige Welle Übelkeit. Sie schiebt die Decke weg, taumelt ans Fenster und muss mit dem klemmenden Riegel kämpfen, ehe sie es hochschieben kann und ihr endlich kalte Luft entgegenschlägt. Ellie atmet tief ein. In der Ferne hinter dem identischen Wohngebäude auf der anderen Seite des Innenhofs erheben sich die bewaldeten Hügel. Irgendwo da oben steht der Turm. Ellie macht die Augen zu und holt noch mal tief Luft. Scheiße.

Hinter ihr ertönt das Knarzen von Bettfedern. «Hey», stöhnt Jasmine. «Wie spät ist es?»

Ellie schluckt die Galle runter. «Nach elf.»

«Mist. Ich komme zu spät zum Gottesdienst. Was machst du da am Fenster? Es ist arschkalt.» Jasmine wirft sich dramatisch die Hand an die Stirn. «Hab ich einen Schädel!»

«Ich auch.»

«Was war überhaupt mit dir gestern Nacht? Weißt du noch, wie du hergekommen bist?»

«Nicht genau.»

«Du hattest Glück, dass ich dich gehört habe. Wenn die Hausmutter dich draußen erwischt hätte … aber die hat wahrscheinlich mal wieder zu tief ins Gin-Glas geschaut.» Jasmine rappelt sich mit einem weiteren theatralischen Stöhnen auf einen Ellbogen hoch. Ihr Kopftuch ist verrutscht und hat einen unordentlichen Zopf entblößt. «Also? Wohin bist du gestern Nacht verschwunden?»

Ellie schließt die Augen, aber es ist, als wären die aschfahlen Baumstämme und der steinerne Turm innen auf ihre Augenlider tätowiert. «Ich hab Bewegung gebraucht. Ich glaub, ich bin ständig im Kreis gelaufen. Wie spät war es, als ich hier aufgeschlagen bin?»

Jasmine zuckt die Achseln. «Keine Ahnung. Ich war völlig am Arsch.»

«Hast was gut bei mir.»

«Ja.» Jasmine grinst. «Allerdings.»

Ellie dreht sich zu ihr um. «Aber an eine Sache kann ich mich erinnern.»

«Und zwar?»

«An dich und Saul.»