Geheimnis der Gezeiten - Hannah Richell - E-Book

Geheimnis der Gezeiten E-Book

Hannah Richell

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Beschreibung

Eine Geschichte über Betrug, Vergebung und die Tragik eines Augenblicks

Dora ist vierzehn, als ihr kleiner Bruder beim Spielen an den Klippen von Dorset spurlos verschwindet. Eine Katastrophe, an der Doras Familie zerbricht. Elf Jahre später kehrt die junge Frau zurück in das Haus am Meer – und zu den Erinnerungen an jenen schrecklichen Tag. Endlich wird sie eine Wahrheit erfahren, die ihre Mutter zu lange verschwieg, denn alles begann mit einer unheilvollen Lüge ...

Dora Tide ist fast noch ein Kind, als ihr kleiner Bruder beim Spielen zwischen den steilen Klippen an der Küste Dorsets plötzlich verschwindet. Ein Augenblick der Unachtsamkeit führt zur Katastrophe, nach der die Familie Tide auseinanderbricht. Elf Jahre später kehrt Dora zurück nach Dorset, in das Zuhause ihrer Kindheit, und sucht Antworten auf die Fragen, die sie seit jenem Tag quälen. Wo waren die Eltern, als Dora damals mit ihren Geschwistern am Meer spielte? Welches Geheimnis verbirgt ihre Mutter Helen bis zum heutigen Tag vor ihrer Tochter? Nach all den Jahren erfährt Dora eine Wahrheit, die Helen ihr viel zu lange verschwieg. Für die beiden Frauen ist der Moment gekommen, sich der Vergangenheit zu stellen …

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HANNAH

RICHELL

Geheimnis

der Gezeiten

ROMAN

Aus dem Englischen

von Christiane Burkhardt

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Secrets of the Tides bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London

Herzlichen Dank an Orion für die freundliche Genehmigung der Fotos im Anhang: © Mark Rusher

Copyright © 2012 by Hannah Richell

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Claudia Krader

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

nach einer Originalgestaltung von Anne Kragelund;

Umschlagmotiv | © istockphoto/Pgiam und © istock/gioadventures

Autorenfoto © David Griffiths

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ePub-ISBN | 978-3-641-09024-1

www.diana-verlag.de

Für M, J & G

Herz und Hirn in Fieberqualen,

Kummer, Leid und Schmerzen mahlen.

Ängstlich Stöhnen, irres Lachen,

Alles Elend wird erwachen.

Einmal erst emporgeschwebt

Und Pandoras Büchs’ entronnen,

Wird’s die Menschheit überkommen.

Nur die Hoffnung überlebt.

Henry Wadsworth Longfellow, Die Maske der Pandora

Prolog

Ein halb leerer Zug rattert durch Felder und Wiesen, nimmt Kurs auf die betongraue Stadt. Im hintersten Winkel des letzten Waggons sitzt zusammengekauert eine junge Frau. Die Haare fallen ihr wie ein Vorhang ins Gesicht und verbergen ihre Tränen. In ihrer Manteltasche steckt eine antike Brosche. Ihre Finger fahren über das kühle Rund und drehen das Schmuckstück im Rhythmus der ratternden Räder hin und her. Als sie es gar nicht mehr erträgt, lockert die junge Frau ihren Griff und rammt sich den Dorn tief in den Handballen.

Das tut weh, aber sie hört nicht auf. Sie presst den Dorn tiefer hinein, bis warmes Blut über ihr Handgelenk rinnt und scharlachrot auf den Boden des Abteils fällt.

Endlich ruckelt der Zug und wird langsamer. Bremsen quietschen.

Am Ziel ihrer Reise verstaut sie die blutige Brosche tief in ihrer Manteltasche, greift nach ihrem Rucksack und springt auf den Bahnsteig.

Menschen hasten an ihr vorbei. Zwei Frauen umarmen sich mit spitzen Freudenschreien. Ein großer Mann mit Turban eilt zum Ausgang. Ein pickliger Teenager tritt unruhig von einem Bein aufs andere und starrt zur Anzeigetafel empor, während er sich Chips in den Mund stopft. Es herrscht aufgeregtes Treiben, während sie wie erstarrt auf dem Bahnsteig stehen bleibt und tief Luft holt.

Schilder weisen den Weg zur U-Bahn, doch sie beachtet sie nicht, sondern wirft sich den Rucksack über die Schulter und geht zum Ausgang. Sie benutzt einen belebten Fußgängerüberweg und wendet sich dann nach links, in Richtung Brücke. In der Ferne ragt Big Ben auf, es ist drei Minuten vor zwölf.

Sie zögert nicht, sie weiß, wo sie hinwill und was getan werden muss. Dann sieht sie den Fluss, und der Anblick der schwarzen Wassermassen, die eine Schneise durch die Stadt schlagen, jagt ihr einen Schauder über den Rücken. In ihrer Vorstellung ist die Wasseroberfläche stets grau und glatt gewesen, nicht dunkel und zähflüssig wie Öl. Aber egal, es gibt kein Zurück mehr.

In der Mitte der Brücke bleibt sie stehen und lehnt ihren Rucksack gegen die Mauer. Sie sieht sich um, klettert über das Geländer und klammert sich auf der anderen Seite daran fest.

Ihre Turnschuhe ragen gefährlich weit über den Betonsims hinaus. Sie hält sich an der Mauer fest und zuckt zusammen, als ihr blutiger Handballen über den Stein schrammt. Dann dreht sie sich um, sodass sie zum Wasser hinunterblickt. Der Wind zerzaust ihr Haar, peitscht es ihr ins Gesicht und treibt ihr Tränen in die Augen. Sie blinzelt sie weg.

»He!«, ruft jemand hinter ihr. »He, was machen Sie da?«

Ihr läuft die Zeit davon.

Sie starrt wie hypnotisiert auf das graue Häusermeer am Horizont und lässt mit einem letzten Seufzer das Geländer los. Sie fällt und fällt und fällt.

Das eiskalte Wasser raubt ihr den Atem. Sie kämpft gegen den Drang an, zu strampeln und zu paddeln, statt sich der Tintenschwärze anheimzugeben, dem Gewicht ihrer Kleider, das sie wie einen Stein nach unten sinken lässt.

Als Big Ben die Mittagsstunde schlägt, ist sie verschwunden. Die dunkle Tiefe hat sie verschlungen.

Dora

Gegenwart

Es ist schon spät, als Dora nach Hause kommt. Sie schließt die schwere Metalltür der ehemaligen Knopffabrik auf und steigt die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hoch. Im Treppenhaus ist es kalt und dunkel, aber als sie den Schlüssel im Schloss dreht, hört sie Musik und verheißungsvolles Töpfeklappern und Besteckklirren.

Sie ruft: »Ich bin wieder da, Schatz!«, schlüpft aus ihren Pumps mit den mörderisch hohen Absätzen und wirft sie auf den stetig anwachsenden Schuhhaufen neben der Haustür. Eine feuchte Schnauze und ein riesiges braunes Augenpaar kommen hinter dem abgewetzten Ledersofa hervor, gefolgt von einem langen wedelnden Schwanz. »Hallo, Gormley«, sagt sie und tätschelt liebevoll das Hinterteil des Hundes. »Hattest du einen aufregenden Tag?«

Dans schokoladenbrauner Labrador wedelt erneut mit dem Schwanz, gähnt und trollt sich dann wieder ins Wohnzimmer.

»Nicht in die Küche kommen«, hört sie Dan rufen. »Ich koche gerade. Was Experimentelles, frei nach Heston Blumenthal. Du wirst begeistert sein.«

Dora muss grinsen, denn sie wissen beide, dass Dan nicht kochen kann. Sie schaut die Post auf dem Tisch neben der Tür durch – nichts als Rechnungen. »Ich dachte, der Kühlschrank war leer?«, fragt sie misstrauisch.

»Äh, nein. Oh, Mist!« Etwas zerbricht.

»Warst du einkaufen?«

»So was in der Art. Bitte noch nicht reinkommen, ich bin gleich so weit.«

Dora betritt das Wohnzimmer, einen großen, hellen offenen Raum mit deckenhohen Fenstern. Aus den Augenwinkeln nimmt sie etwas wahr, das sie zusammenzucken lässt. Doch als sie ihr Spiegelbild in den Fensterscheiben erkennt, beruhigt sie sich wieder. Sie ist nervös. Gehorsam bleibt sie im Zimmer, macht ein paar Lampen an und stellt Dans Kunstbände zurück in das Regal neben dem Fernseher. Gormley hat sich bereits in seinem Körbchen neben dem Sofa zusammengeringelt und verfolgt mit einem Auge jede ihrer Bewegungen. Dora sieht sich um und fragt sich, wann sie wohl das Gefühl haben wird, hier richtig zu wohnen. Ein halbes Jahr leben sie nun schon hier, haben aber höchstens ansatzweise mit den anstehenden Renovierungsarbeiten begonnen. Die nackten Backsteinwände sind weiß gestrichen, die Dielenböden abgeschliffen und eingelassen. Es ist sauber und geräumig. Trotzdem hat man das Gefühl, in einem Ausstellungsraum zu leben, der erst noch eingerichtet werden muss. Sie haben einfach noch keine Zeit gehabt, ihn in ein echtes Zuhause zu verwandeln. Andere Dinge waren wichtiger.

»Du darfst jetzt reinkommen«, ruft Dan.

Dora stößt die Tür zur Küche auf, die kurz an dem kaputten Linoleumboden hängen bleibt, bis sie ihr mit der Schulter einen Stoß gibt und sie mit einem lauten Knall auffliegt.

Dan steht neben der wackeligen aufgebockten Tischplatte, die vorübergehend als Küchentisch herhalten muss. Stolz zeigt er auf zwei dampfende Schälchen Tomatensuppe und einen Teller mit gebuttertem Weißbrot. Hinter ihm sieht sie die geöffnete Dose auf der Küchentheke. Sie geht auf ihn zu, umarmt ihn und küsst sein unrasiertes Kinn.

»Das ist der Höhepunkt des Tages.«

»Echt, war der so schlimm? Wie ist deine Präsentation gelaufen?«

Dora zuckt mit den Schultern. »Schwer zu sagen, der Kunde hat sich ziemlich bedeckt gehalten.«

»Aber dein Chef war zufrieden?«

»Ich denke schon. Doch noch zufriedener wird er sein, wenn der Auftrag zustande kommt. Das wäre ein echter Coup für die Agentur – und natürlich für mich«, fügt sie noch hinzu. »Es wäre mein Etat.«

Dan löst sich aus der Umarmung und führt sie zum Tisch. »Los komm, lass uns essen, bevor es kalt wird.«

Dora setzt sich und greift nach einer Scheibe Brot. »Danke.«

»Gern geschehen.« Er schiebt ihr einen Becher Tee hin. »Alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen blass aus.«

»Alles bestens, ich hatte nur einen anstrengenden Tag. Ich bin müde.«

Er mustert sie besorgt. »Du arbeitest zu viel.«

»Alles bestens«, wiederholt sie schulterzuckend. »Aber erzähl, wie war es bei dir?«, lenkt sie von sich ab. »Hast du viel geschafft?«

Wie auf Knopfdruck beginnt Dan zu strahlen. »Es war fantastisch! Ich hatte einen Riesendurchbruch und weiß jetzt genau, wie meine nächste Arbeit aussehen wird. Kate Grimshaw hat auch zurückgerufen und ihren Auftrag für drei Skulpturen bestätigt. Ich werde also in den nächsten Monaten viel zu tun haben.«

»Das ist ja großartig!« Dora hebt ihren Becher und prostet ihm damit zu. »Das sind tolle Neuigkeiten.« Beide wissen, dass Dan dringend auf eine neue Inspiration gewartet hat. Seine letzten Bronzeskulpturen, die von einer winzigen Londoner Galerie ausgestellt wurden, sind zwar von einer bekannten Kunstsammlerin erworben worden, aber seitdem hat sich Dan unter Druck gefühlt, etwas Besseres nachzulegen. Dora weiß, wie sehr ihn das gequält hat, deshalb ist sie erleichtert, zu hören, dass er endlich eine Eingebung hatte. »Möchtest du mir davon erzählen?«

Dan schüttelt den Kopf. »Nein, diesmal nicht, tut mir leid. Es soll eine Überraschung sein.«

»Dann bin ich gespannt. Ich darf das hintere Zimmer also in der nächsten Zeit nicht betreten?«

»Ja. Es ist übrigens ein Atelier und kein Zimmer.«

Sie grinst in ihre Suppe hinein, und sie verfallen in einträchtiges Schweigen, schlürfen ihre Suppe und starren in ihre leeren Schälchen.

»Ich spüle ab«, schlägt sie vor.

»Warte, ich habe dir das hier besorgt«, sagt er und hält ihr zwei braune Kapseln entgegen.

»Was ist das für ein Zeug?«, fragt sie und betastet sie misstrauisch. »Das sieht so aus, als könnte man Pferde damit betäuben.«

»Das sind Vitamine. Mr. Singh vom Lebensmittelladen meint,du solltest anfangen, die zu nehmen.« Er strahlt sie an. Dora nimmt sie ihm aus der Hand, um sie neben ihre leere Suppenschale zu legen.

»Danke«, sagt sie und fragt sich, wie viele Leute er wohl schon eingeweiht hat. Ihr wird klar, dass sie dringend reden müssen. Aber nicht jetzt, wo er gerade so euphorisch von seiner Arbeit berichtet. Das hat Zeit.

In derselben Nacht wacht sie auf, weil Regen auf das Dach über ihrem Bett prasselt und Dan panisch durchs Zimmer läuft.

»Brauchst du Hilfe?«, fragt sie und stützt sich in der Dunkelheit auf.

»Nein, bleib du im Warmen liegen. Ich schaff das schon.« Sie hört, wie er über einen Topf stolpert, woraufhin Wasser auf den Boden klatscht. »Dieses bescheuerte Dach!«

Sie lächelt in sich hinein, während er die ausgeklügelte Ansammlung von Töpfen und Pfannen neu arrangiert, bis das Geräusch von Wasser, das auf Blech tropft, sich mit dem Rauschen des Regens vermischt.

»Bald ist Sommer«, sagt sie aufmunternd.

»Hm«, sagt er nur, was sie beunruhigt. Normalerweise ist er der Optimist. Als der Makler ihnen die verfallene alte Fabrik gezeigt hat, hat er sie stolz als »Loft« angepriesen. Das war natürlich stark übertrieben. In Wahrheit standen sie im schäbigen, baufälligen Obergeschoss einer Fabrik im Londoner East End. Doch die Fabrik besitzt viel Potenzial und ausreichend Platz für Dans raffinierte Bronzeskulpturen. Aber bis daraus die schöne, moderne Loftwohnung wird, die Dora bei der ersten Besichtigung vor sich gesehen hat, liegt ein weiter Weg vor ihnen. Die Realität ist jedoch ziemlich gewöhnungsbedürftig. Seit sie das alte Gebäude gekauft haben, ist es Dan, der ihre ständigen Sorgen wegen faulender Dielenböden, lecker Leitungen und undichter Stellen im Dach zerstreut.

»Komm zurück ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag«, schlägt sie vor.

»Das sagen wir schon seit einem halben Jahr.«

»Ich weiß. Aber wir werden uns darum kümmern, einverstanden?«

Dan gibt auf und schlüpft zu ihr unter die Decke, wärmt seine kalten Füße an den ihren, sodass sie laut aufschreit. »Tut mir leid, aber du bist so schön warm.«

Sie kehrt ihm den Rücken zu und schmiegt sich an ihn. Sie liegen Löffelchen. Er hat die Arme um ihre Taille gelegt, und seine rauen, kräftigen Hände ruhen auf ihrem Bauch. Sie kann seinen Atem im Nacken spüren und merkt, dass er bereits eindöst. Sie beneidet ihn darum, so schnell einschlafen zu können: der Schlaf des Gerechten. Sie kann das schon lang nicht mehr, und jetzt, wo sie wach liegt, verselbstständigen sich ihre Gedanken.

Zunächst zieht die Bewerbung um den Sunrise-Cereals-Werbeetat wieder an ihrem inneren Auge vorbei. Sie denkt an ihre Präsentation zurück. Eigentlich hat sie ein gutes Gefühl gehabt, aber jetzt, wo sie im Dunkeln daliegt und auf den Regen lauscht, kommen ihr Zweifel. Sie weiß, dass sie sich da nicht hineinsteigern darf, sonst liegt sie die nächsten Stunden wach. Also versucht sie, sich darauf zu konzentrieren, ihre Zehen zu entspannen. So steht das doch in den Ratgebern gegen Schlaflosigkeit? Man soll mit den Zehen beginnen und sich dann die Beine hocharbeiten, jeden Körperteil einzeln nacheinander entspannen. Bis man die Nase erreicht hat, ist man längst eingeschlafen.

Dora ist erst bei den Knien angelangt, auf die sie sich nur schwer konzentrieren kann. An Entspannung ist nicht zu denken. Panik steigt in ihr auf. In den letzten Nächten war es genauso, plötzlich fand sie sich in einem eiskalten Klammergriff wieder, glaubte, von einer schweren Last schier erdrückt zu werden. Doras Herz hämmert wild gegen ihre Rippen.

»Dan?«, fragt sie in die Dunkelheit hinein. Doch es kommt keine Antwort, nur das Prasseln des Regens und das laute Pochen ihres Herzens sind zu hören.

»Dan, bist du wach?« Sie stupst ihn an.

»Hm«, stöhnt er. »Nein.«

»Wir müssen reden.« Sie hält es einfach nicht mehr aus.

Dan verstärkt seine Umarmung. »Schlaf weiter. Das mit dem Dach besprechen wir morgen.«

»Es geht nicht ums Dach.« Sie schluckt, um den schlechten Geschmack in ihrem Mund loszuwerden. »Es … es geht um das Baby.«

Sie spürt, wie seine Arme erstarren und seine Atmung kurz aussetzt. »Was ist mit dem Baby?«, murmelt er.

»Ich finde, wir müssen darüber reden.«

»Jetzt?«

»Ja.«

Dan stützt sich im Dunkeln auf einen Ellbogen und sieht sie an. »Was ist?«

Sie holt tief Luft und versucht, ihr Zittern zu kontrollieren. »Es kommt mir vor, als würden wir uns einfach nur treiben und vom Leben mitreißen lassen. Ich finde, wir sollten eine bewusste Entscheidung treffen. Ein Kind ist eine Riesenverantwortung. Wie können wir über ein Kind nachdenken, wo wir nicht einmal ein richtiges Dach über dem Kopf haben?« Dora hört den hysterischen Unterton in ihrer Stimme.

Dan schweigt einen Moment. »Wir werden die Wohnung renovieren. Mach dir darüber keine Sorgen. Die neuen Aufträge bringen frisches Geld rein. Jetzt, wo es Frühling wird, können wir das Dach reparieren lassen. Und anschließend kümmern wir uns um die feuchten Stellen in Küche und Bad. Bleiben nur noch ein paar kosmetische Reparaturen.« Er unterdrückt ein Gähnen. »Wir haben von Anfang an gewusst, dass die Fabrik aufwendig renoviert werden muss. Ich dachte, du wärst dazu bereit?«

»Das war ich auch, ich meine, das bin ich auch«, verbessert sie sich. »Es geht nicht nur um die Wohnung. Es geht um viel mehr.« Sie schluckt. »Fragst du dich nie, ob du reif genug für ein Kind bist?«

Schweigen.

»Ich weiß nicht genau, ob ich Mutter werden möchte«, sagt sie kleinlaut. »Das ist eine Riesenverantwortung. Wir wären dann kein Paar mehr, sondern – eine Familie.«

Dan seufzt. »Das geht bestimmt allen werdenden Eltern so, Dora. Das ist ganz natürlich. Ich weiß, dass es nicht geplant war.« Er gähnt erneut. »Aber es ist doch aufregend, findest du nicht? Eine Familie.« Er schweigt kurz. »Ich finde, das hört sich gut an.«

Dora ändert ihre Lage, starrt in die Leere über ihren Köpfen. Für Dan ist immer alles so einfach. Er sieht alles schwarz-weiß, und genau das liebt sie so an ihm. Aber ihr Leben ist nicht schwarz-weiß. Es besteht aus Grauschattierungen wie eine Gewitterwolke auf einem Ölgemälde über dem Kamin. Aber wie soll sie das einem so unbeschwerten Mann wie Dan, einem geborenen Optimisten, bloß begreiflich machen?

»Dora, geht es um deine Familie? Um … na ja, du weißt schon?«

Sie nickt in der Dunkelheit, bringt aber kein Wort heraus.

»Ich weiß, wie schrecklich das war. Und nach allem, was du mir darüber erzählt hast, weiß ich auch, dass es dich belastet. Aber glaub mir, Dora, ich möchte verstehen, wirklich verstehen.«

Sie liegt da wie erstarrt.

»Gleichzeitig ist das eine Chance. Deine Chance, dich weiterzuentwickeln, verstehst du?« Sie spürt, wie er den Griff um ihre Taille verstärkt, wie seine Hände sanft und beruhigend über ihren Bauch streichen. »Es ist ein neues Leben, ein Neuanfang. Nur wir beide und unser Baby. Wir werden eine Familie sein. Möchtest du das nicht?«

Dora weiß nicht, was sie sagen soll. Natürlich möchte sie mit Dan zusammen sein. Sie liebt ihn und ihr gemeinsames Leben in London. Er ist ihr Fels in der Brandung. Gleichzeitig fühlt sie sich wie gelähmt. Die Jahre vergehen, doch sie ist immer noch das Mädchen von damals. Nichts hat sich verändert, zumindest nichts Wesentliches. Wie kann sie sich bloß einbilden, ein Kind zu bekommen, für einen anderen Menschen Verantwortung zu übernehmen, wo sie doch in der Vergangenheit so verantwortungslos gehandelt hat! Wie kann sie darüber nachdenken, eine Familie zu gründen, wenn diejenige, in der sie aufgewachsen ist, kaputtgegangen ist? Die Familie, die sie geliebt und für unzerstörbar gehalten hat. Im Grunde hat sie gar keine eigene Familie verdient und auch keinen Neuanfang mit Dan. Sie verdient es nicht, glücklich zu sein. Aber wie soll sie ihm das bloß beibringen?

»Schlaf weiter«, murmelt Dan in ihren Nacken hinein. »Du wirst sehen, bei Tageslicht betrachtet sieht alles ganz anders aus. Wir reden morgen weiter.« Er lockert seine Umarmung etwas, und sie merkt, dass er wieder wegdöst. »Morgen fühlst du dich besser«, flüstert er.

»Nacht«, sagt sie, bevor sie sich in seinen Armen umdreht und in die Schwärze des Schlafzimmers starrt. Dan täuscht sich. Sie weiß, dass sie sich auch morgen nicht besser fühlen wird. In den letzten zehn Jahren hat sie sich jeden Morgen gewünscht, besser zu sein, sich besser zu fühlen. Nur um jeden Morgen in der traurigen Gewissheit aufzuwachen, dass sie schuld ist am Zerfall ihrer Familie. Manchmal hat sie das Gefühl, von allen verlassen, von ihnen abgeschnitten worden zu sein. Aber dann fällt ihr wieder ein, dass es ihre Schuld ist, dass sie jetzt überall verstreut sind wie Trümmer eines Schiffswracks. Sie erlebt ihre Schuld wie einen heftigen, pochenden Schmerz.

Während Dan anfängt, leise zu schnarchen, schließt Dora die Augen. Sie wünscht sich, ebenfalls vom Schlaf übermannt zu werden, weiß aber, dass das dauern wird. Stattdessen eilen ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit, zurück zu der breiten baumgesäumten Zufahrt. Sie glaubt, den Wind in den großen Platanen rauschen zu hören, die salzige Meeresluft zu riechen. Als sie um die Ecke biegt, ragt er vor ihr auf, der große alte Landsitz auf den Klippen von Dorset. Mit seinen weißen Wänden strahlt er in der Sonne wie ein Leuchtfeuer. Als sie näher kommt, sieht sie den Efeu, der sich an der Fassade emporrankt, sich um die Dachrinne des grauen Schieferdachs windet. Sie tritt noch näher und sieht die massive, verwitterte Eichentür. In Gedanken stößt sie die Tür auf, das glatte Holz unter ihren Fingern fühlt sich vertraut an. Sie betritt den kühlen, dunklen Flur, in dem die Schritte vieler Generationen der Familie Tide widerhallen. Sie passiert eine offene Tür, ignoriert die elegante dunkelhaarige Frau, die sich über einen Schreibtisch mit Büchern und Unterlagen beugt. Sie wendet sich von dem Gekicher ab, das durch das knarrende Treppenhaus hallt, und kommt an einem gut aussehenden blonden Mann vorbei, der im Wohnzimmer sitzt und in die Zeitung auf seinem Schoß schaut. Sie ignoriert den Lockruf des Hauses und begibt sich stattdessen zum Wintergarten, wo es verführerisch nach Rosen und Flieder duftet. Sie huscht weiter über den Rasen, dem Sirenengesang des Meeres entgegen, das sich in der Ferne an den Klippen bricht.

Als sie den knorrigen alten Kirschbaum im Obstgarten erreicht, dreht sie sich um und betrachtet das Haus, schaut zu seinen breiten Schiebefenstern empor. Sie starrt sie an, sucht nach Antworten in ihren Schatten, aber die Scheiben werden von der grellen Sonne geschwärzt.

Clifftops, ihr einstiges Zuhause.

Dan bewegt sich seufzend im Schlaf, und als Dora die Hände auf ihren noch flachen Bauch legt und an die Zukunft denkt, weiß sie endlich, was sie tun muss. Sie kann sich nicht länger verstecken. Sie muss in das Haus auf den Klippen zurückkehren und sich ihrer Vergangenheit stellen.

Helen

Sechzehn Jahre zuvor

Helen stand im Flur und musterte den stetig anwachsenden Berg von Koffern, Taschen, Schuhen und Mänteln. Von ihr aus konnte Ostern gern ausfallen. Allein schon das Packen: Wäschehaufen mussten sortiert, der Kühlschrank abgetaut und im Trockenschrank nach lang nicht benutzten Strandhandtüchern gesucht werden. Anschließend galt es, alles im ächzenden Kofferraum des Autos zu verstauen. Richard saß währenddessen bis zur letzten Minute in seinem Arbeitszimmer und telefonierte, und die Mädchen irrten wie in Zeitlupe ziellos durchs Haus, was Helen zur Weißglut trieb.

Sie betrat die Küche, um den Mülleimer zu leeren, und sah, dass Dora dort über ihren Frühstücksflocken saß und verträumt in den Garten starrte.

»Du isst doch nicht immer noch deine Cornflakes?«, fragte sie, während sie mit der überquellenden Mülltüte kämpfte.

»Doch.«

»Beeil dich«, sagte sie und schaffte es endlich, die Tüte vom Eimer zu befreien und zuzubinden. »Ich muss die Spülmaschine anstellen.«

Dora nickte und führte einen Löffel Frühstücksflocken zum Mund. Zufrieden verließ Helen die Küche und machte sich auf die Suche nach Cassie. Sie ging davon aus, dass sie oben in ihrem Zimmer war und packte. Aber dann sah sie, wie ihre Älteste halb angezogen auf ihrem Bett lag und ein Taschenbuch las, wobei sie träge an ihren Haarspitzen lutschte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Hab ich dir nicht gesagt, dass wir spätestens um zehn losmüssen?«, schrie Helen. »Sonst kommen wir in den Stau.« Sie sah sich entnervt in Cassies unaufgeräumtem Zimmer um. »Und hab ich dich nicht gestern Abend gebeten, dieses Chaos zu beseitigen? Du hast noch nicht einmal angefangen zu packen!«

»Entspann dich, Mum! Dafür brauche ich fünf Minuten. Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so aufregst. Wir bleiben doch nur eine Woche bei Grandma und Grandpa. Dad und du, ihr führt euch auf, als würden wir zu einer Polarexpedition aufbrechen.«

Dieser Zynismus war neu. Helen sah, wie Cassie sich wieder ihrem Buch zuwandte, und musste sich schwer beherrschen, es ihr nicht wegzunehmen und aus dem Fenster zu werfen. Stattdessen holte sie tief Luft und zählte bis drei. Mit ihren elf Jahren war Cassie nicht auf den Kopf gefallen. Sie wusste genau, welche Knöpfe sie drücken musste.

»Nun, ich werde dich kein zweites Mal darum bitten«, sagte Helen warnend und verließ das Zimmer. Das war wenig überzeugend, aber ihr fiel kein geeignetes Druckmittel ein. Sie konnten sie schließlich schlecht hierlassen, auch wenn der Gedanke durchaus verlockend war.

Sie knallte Cassies Tür zu und ging in ihr eigenes Zimmer. Sollte sie ein Kleid oder noch eine Hose einpacken? Eine Hose wäre praktischer, aber sie wusste, dass ihre Schwiegermutter erwartete, dass sie sich am Ostersonntag etwas mehr Mühe gaben. Helen musterte das grüne Seidenkleid in ihrem Schrank und anschließend die schwarze Cordhose, bevor sie klein beigab und das Kleid auf den wachsenden Stapel legte. Wenigstens dieses Jahr konnte sie versuchen, sich nicht mit Daphne anzulegen.

»Das ist hübsch, habe ich das schon mal an dir gesehen?«, fragte Richard, der gerade ins Zimmer kam und das Kleid im Koffer entdeckte.

Helen verdrehte die Augen. »Höchstens eine Million Mal.«

»Oh … Nun, es ist entzückend. Sind wir so weit?«

Helen stellten sich sämtliche Nackenhaare auf. Sie hatte schließlich nicht den ganzen Vormittag telefoniert! »Die Mädels trödeln noch«, sagte sie und kämpfte mit dem Reißverschluss ihres Koffers, bis Richard sich mit seinem ganzen Gewicht darauf stützte. »Aber wir sollten in etwa anderthalb Stunden aufbrechen.«

Das war optimistisch gedacht, aber wenn sie ehrlich war, machte ihr die Verspätung nichts aus. Sie war sowieso nicht wild darauf, nach Dorset zu fahren, um dort eine Woche mit Small Talk, Spaziergängen und langweiligem Teetrinken mit Richards Eltern zu verbringen. Sie wusste, dass es bei den Tides Tradition war, sich an Ostern in dem großen Haus zu versammeln. Und sie wusste auch, wie sehr Richard sich darauf freute, sie und die Mädchen in sein Elternhaus mitzunehmen. Aber sie wäre in den Ferien lieber daheimgeblieben, um einkaufen zu gehen, ein bisschen zu lesen, in der Küche herumzuwerkeln und vielleicht ein wenig im Garten zu arbeiten. Doch das war unrealistisch, denn dazu würde es niemals kommen. In puncto Familientraditionen konnte sich Daphne Tide stets durchsetzen.

»Mum ist schon ganz aus dem Häuschen, dass wir kommen«, sagte Richard, so als könnte er Gedanken lesen. »Anscheinend hat sie die ganze Woche für uns gebacken. Und Dad will mit den Mädchen segeln gehen.«

»Wie schön«, sagte Helen und zwang sich, das Lächeln ihres Mannes zu erwidern. Sie würde sich fügen so wie jedes Jahr, ihrer Familie zuliebe. Sie würden schließlich nur eine Woche in Clifftops verbringen.

Eine Dreiviertelstunde später, nachdem Helen noch einmal durchs Haus gewischt, den Kofferraum umgepackt und in letzter Minute panisch nach Doras fehlendem Badeanzug gefahndet hatte, schlossen die Tides ihr Reihenhaus im Norden Londons ab und stiegen ins Auto. Wie durch ein Wunder schafften sie es bis nach Winchester, bevor auf dem Rücksitz Streit ausbrach.

»Das ist nicht fair«, jammerte Dora. »Nie darf ich die Musik bestimmen.« Helen konnte im Rückspiegel sehen, wie sie mit einem neuen Boy-Band-Album herumwedelte.

»Du hast einfach einen furchtbaren Geschmack«, sagte Cassie.

»Quatsch!«

»Und ob!«

»Greif bitte ein«, murmelte Richard leise, während er auf die beiden Mädchen zeigte und einen weiteren der vielen Wohnwagen überholte, die sich wegen der Osterfeiertage im Schneckentempo westwärts bewegten.

Helen drehte sich auf dem Beifahrersitz um und warf jeder Tochter einen mahnenden Blick zu. Cassie saß zusammengesunken in der Ecke und hatte den Kopf zum Fenster gedreht. Ihr Gesicht versteckte sie hinter einem Vorhang blonder Haare. Sie war ein Dickkopf, und Helen wusste, dass sie ihren Blick nicht erwidern würde. Also wandte sie sich Dora zu, deren grüne Augen sie unter dem schiefen, selbst geschnittenen Pony flehentlich ansahen. Helen seufzte. »Würdest du dich bitte beruhigen? Dein Vater versucht, sich auf den Verkehr zu konzentrieren.«

»Aber ich bin dran, die Musik zu bestimmen!« Dora lief rot an.

»Wenn ihr nicht aufhört, euch zu streiten, wird überhaupt keine Musik gehört.«

»Aber …« Dora verstummte unter dem Blick ihrer Mutter, und Helen wandte sich wieder nach vorn.

»Alles in Ordnung, mein Schatz?« Richard löste eine Hand vom Lenkrad und legte sie auf ihren Arm.

»Hm«, sagte sie nickend und starrte auf die endlose Reihe Katzenaugen, die auf sie zurasten. Einer ihrer Migräneanfälle kündigte sich an, und sie hätte lieber ihre Ruhe gehabt, statt wummernde Popmusik über sich ergehen zu lassen. Aber selbst die war ihr lieber als einer von Cassies Wutanfällen. Sie seufzte leise. Auch nach zwölf Jahren verlief die Fahrt kein bisschen entspannter als damals.

Helen wusste noch genau, wann sie zum ersten Mal mit Richard nach Clifftops gefahren war. Es war ein grauer Märztag mit bewölktem Himmel gewesen, sodass man sich fragte, ob je wieder die Sonne scheinen würde. Sie hatte im Wagen gesessen und nervös mit den Lederfransen an ihrer Handtasche gespielt, während Richard aufs Lenkrad getrommelt hatte und sie zu dem Haus fuhr, in dem er aufgewachsen war. In dem seine Eltern lebten, die – wenn alles nach Plan lief – bald ihre Schwiegereltern sein würden.

»Sie werden dich lieben«, versicherte er ihr. »Fast so sehr, wie ich dich liebe.«

»Und das Baby?«, fragte sie und fuhr sich mit einer beschützenden Geste über den kaum sichtbaren Bauch.

Richards Blick folgte ihren Händen, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Ich mach das schon. Alles wird gut, vertrau mir.«

Und das hatte sie auch getan, was seltsam war, da sie sich erst seit wenigen Monaten kannten. Helen studierte im letzten Jahr Altphilologie, und der etwas ältere Richard war gerade dabei, sein Architekturstudium abzuschließen, um in das Büro seines Vaters einzutreten. Sie hatten sich kennengelernt, wo sich die meisten Studenten kennenlernen: im Pub. Und es hatte auf Anhieb zwischen ihnen gefunkt.

Richard war groß und blond, hatte kornblumenblaue Augen, breite Schultern und das stabile Selbstbewusstsein eines verwöhnten Einzelkindes. Helen war aufgefallen, dass er sie von der Bar aus beobachtete. Sie hatte es gewagt, ihm zuzulächeln, und wie er ihr später erzählte, hatte er sich wegen dieses Lächelns Knall auf Fall in sie verliebt. Liebe auf den ersten Blick hatte er das genannt. Er war an ihren Tisch gekommen und hatte sich vorgestellt. Ihr gefiel, wie er das tat: so ganz ohne Umschweife, ohne blöde Anmachsprüche, ohne ein anzügliches Grinsen und ohne seinen Freunden zuzuzwinkern. Er machte einen aufrichtigen, sympathischen Eindruck. Und wenn sie aus ihren überschaubaren Erfahrungen mit Männern etwas gelernt hatte, dann das, dass so etwas wirklich selten ist.

Sie verabredeten sich mehrmals, und es war immer sehr nett. Er nahm sie zu Rugby-Spielen mit und bot ihr seinen Mantel an, wenn sie auf der Tribüne fror. Er reservierte einen Tisch in romantischen Restaurants und gab ihr einen Schnellkurs in Architektur, indem er sie durch die Stadt führte und ihr Bauwerke und Baustile zeigte, die er bewunderte. Sie hatten erbittert über Politik gestritten und konnten sich nie auf einen Film einigen, aber all das spielte keine Rolle, wenn sie spätabends zusammen ins Bett gingen. Ihre Gegensätze entfachten eine tiefe Leidenschaft. Mit Richard zusammen zu sein war eine ganz neue Erfahrung für Helen. Er wirkte deutlich erwachsener als ihre früheren Freunde, war aufmerksamer und selbstbewusster. Selbst als sich ihr der Magen zusammenzog vor Entsetzen, weil sie feststellen musste, dass sie schwanger war, hatte er sich als Fels in der Brandung erwiesen. An seiner Blässe und den zitternden Händen konnte sie sehen, dass er erschrocken war, trotzdem sagte er auf Anhieb das Richtige: Es sei ihre Entscheidung, und egal wie sie ausfalle – er halte zu ihr. Als sie dann beschlossen hatte, das Baby zu behalten, machte er ihr in der Woche darauf einen Heiratsantrag, während ihr vom Tisch eines italienischen Restaurants ein wunderschöner antiker Diamantring entgegenfunkelte.

»Wir tun genau das Richtige, Helen. Lass uns diesem Baby den nur denkbar besten Start ins Leben geben. Lass uns ein gemeinsames Leben aufbauen.«

Helen war sich dessen anfangs nicht so sicher gewesen. Es war furchterregend genug, sich für das Baby zu entscheiden. Mutter zu werden, war eine Sache … aber Ehefrau? »Viele bekommen heutzutage Kinder und heiraten nicht«, hatte sie gesagt. »Wir können auch eines dieser modernen Paare sein.«

»Nein, Helen«, hatte er gesagt. »Ich liebe dich. Wenn wir ein Kind bekommen, dann sollten wir auch tun, was sich gehört.«

»Wo sollen wir wohnen? Womit sollen wir Geld verdienen? Ich wollte reisen, mir einen Job suchen.«

»Ich habe ein paar Rücklagen. Meine Familie … nun ja, es geht uns nicht schlecht. Wir schaffen das schon! Wir werden dieses Kind bekommen, und wenn es ein wenig älter ist, machst du Karriere. Ein Kind ist schließlich keine lebenslange Freiheitsstrafe«, scherzte er. »Du musst nicht alles aufgeben, Helen.«

Er hatte so beruhigend gewirkt, ihr strahlend den Ring angesteckt und sofort vorgeschlagen, nach Dorset zu fahren, damit sie seine Eltern kennenlernen konnte. Und so hatte Helen nur ungläubig auf den großen Stein gestarrt, der so extravagant an ihrem Ringfinger funkelte. Es war romantisch, aber eben auch furchteinflößend. Und eines stand fest: Ihr Leben würde nie mehr so sein wie vorher.

Bei ihrem ersten Besuch waren sie direkt zum Strand gefahren, um sich nach der langen Fahrt die Beine zu vertreten. Richard hatte auf einen romantischen Strandspaziergang gehofft, aber das bleifarbene Meer brandete an den Kiesstrand, und ein unangenehmer Wind umtoste sie, zerrte an ihren Mänteln. Fröstelnd stolperten sie die Küste entlang, bis sie beide klein beigaben und mit eingezogenen Köpfen zum Wagen eilten.

»Na, das war ja ein voller Erfolg«, scherzte Richard und drehte die Autoheizung auf. »Es gibt wirklich nichts Schöneres als einen englischen Frühling.«

Helen musste trotz ihrer Nervosität lachen und legte eine Hand auf sein warmes Knie.

Er fuhr durch einen verschlafenen Weiler namens Summertown, vorbei an winzigen bonbonfarbenen Cottages und über gefährliche, kurvenreiche Landstraßen, bis sie schließlich ein unscheinbares schmiedeeisernes Tor passierten und eine lange gewundene Auffahrt hinauffuhren. Die Reifen knirschten laut auf dem Kies, als sie an den windgepeitschten Platanen vorbeirollten, die den Weg zum Haus säumten.

»Da wären wir«, rief Richard und zeigte auf ein großes steinernes Bauwerk, das düster vor ihnen aufragte. »Das ist Clifftops, mein Zuhause.«

Helen wusste noch, wie ihr der Atem gestockt hatte. Keine Ahnung, was sie erwartete, aber bestimmt nicht so ein schönes altes Haus, das zwischen den Zweigen der sich biegenden Bäume hindurchschimmerte. Ein wunderschönes Landhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert und perfekt proportioniert. Es bildete ein attraktives L auf dem Felsvorsprung – ganz so, als wäre es die leidenschaftlichen Umarmungen des Meeres leid und hätte sich halb von ihm abgewandt. Ein Großteil der weißen Außenmauern war mit Efeu bewachsen, der auch die Fassade emporrankte. Die war von breiten Schiebefenstern unterteilt, und in ihrer Mitte befand sich eine im Lauf der Jahre verwitterte Eichentür, eingerahmt von einem steinernen Bogen. Das Haus war hell erleuchtet, ein warmes orangefarbenes Licht drang aus den Fenstern, während am anderen Ende des Schieferdachs ein Kamin vielversprechenden taubengrauen Rauch in den sich verdunkelnden Himmel schickte.

Unterhalb des Hauses konnte Helen eine lang gestreckte Rasenfläche entdecken, die zu einem eingezäunten Obstgarten führte, hinter dem das schäumende Meer lag. Sie brauchte das Haus gar nicht erst zu betreten, um zu wissen, dass es eine spektakuläre Aussicht bot. Schon das Haus an sich war zum Niederknien schön, ein Landsitz wie aus dem Bilderbuch. Doch wegen seiner abgeschiedenen Lage auf den windgepeitschten Klippen über der Lyme Bay wirkte es ganz besonders eindrucksvoll. In Helens Fantasie lud es regelrecht zu romantischen Rendezvous und geheimen Schmugglertreffen ein.

»Du hättest mir ruhig sagen können, dass du ein Landedelmann bist«, rief sie, während sie beim Gedanken an die spießige Doppelhaushälfte ihrer Eltern innerlich zusammenzuckte.

»So groß ist es auch wieder nicht«, sagte Richard lachend. »Das täuscht.«

»Von wegen«, schnaubte sie.

Er drückte besänftigend ihre Hand, aber je näher sie dem Haus kamen, desto mehr schien es sich auf dem Felsvorsprung auszubreiten und stolz in den Himmel zu ragen.

»Jetzt weiß ich auch, woher es seinen Namen hat«, brachte Helen schließlich heraus. Und auf einmal fürchtete sie sich davor, seine Eltern kennenzulernen und zwei Tage in einer solch einschüchternden Umgebung zu verbringen.

Zum Glück bereitete ihnen das Haus einen wärmeren Empfang als das Meer. Daphne und Alfred Tide waren hocherfreut, ihren Sohn zu sehen, und die Begrüßung verlief problemlos. Helen fand Richards Vater sogar richtig charmant. Alfred war eine ältere Ausgabe seines Sohnes. Er war groß, breitschultrig, hatte silbergraues Haar, ein sympathisches Lächeln und Richards klare blaue Augen. Als Helen durch die Eichentür trat, schüttelte er begeistert ihre Hand und zwinkerte Richard anerkennend zu, als er dachte, sie bemerke es nicht. Anschließend wandte sich Helen an Daphne, Richards Mutter. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass es nicht leicht sein würde, die attraktive, grauhaarige Dame zu beeindrucken. Sie besaß markante, ernste Züge, stahlgraue Augen und eine Haltung, die auf den jahrelangen Besuch eines Schweizer Mädchenpensionats schließen ließ. Sie trug ein schickes blaues Wollkleid und eine Perlenkette, und auf einmal kam sich Helen, die in ihrem besten Kleid neben ihr stand, billig und schäbig vor.

Daphnes Begrüßung war freundlich gewesen, aber Helen spürte den kühlen, durchdringenden Blick, als sie sich umdrehte, um Alfreds lebhafte Fragen zu beantworten. Es war der Raubtierblick einer Mutter, die die Partnerin ihres Sohnes auf Schwächen oder Anzeichen für mögliches Liebesleid hin untersucht.

Sie hatten den Tee im Wohnzimmer eingenommen, an einem Feuer, das im gemauerten Kamin knackte und prasselte. »Das mag euch übertrieben vorkommen«, hatte Alfred halb entschuldigend gesagt, nachdem sie sich auf den verblichenen Chintzsofas niedergelassen hatten, »aber heute ist es kühl, und da dachte ich, so ein Kaminfeuer ist genau das Richtige.«

Helen hatte gelächelt und ihre Hände an den Flammen gewärmt. Sie war dankbar für die Wärme, die das Kaminfeuer abstrahlte, während sie Höflichkeitsfloskeln austauschten. Sie sprachen über Richards und Helens Fahrt nach Dorset, über Daphnes neue Kissenbezüge und das stürmische Wetter, bevor Richard sich räusperte und sagte, er habe etwas zu verkünden. Helen verspannte sich und versuchte, den beunruhigten Blick zu ignorieren, den Daphne Alfred zuwarf.

Er begann mit den guten Neuigkeiten. »Helen und ich haben beschlossen zu heiraten.«

»Oh«, rief Daphne. »Ach du meine Güte, was für eine Überraschung!« Nach einer kurzen Pause sagte sie noch einmal: »Ach du meine Güte«, und spielte mit einem Strang ihrer Perlenkette. Diese Nachricht schien ihr die Sprache verschlagen zu haben, sodass sie sich Hilfe suchend nach ihrem Mann umsah. Alfred räusperte sich, aber Richard kam ihm zuvor.

»Helen ist schwanger.«

Alfred konnte sich gerade noch zusammenreißen. Hilflos sah er seine Frau an.

»Wir wissen, dass das ein wenig plötzlich kommt«, gab Richard zu und sah erst seine Mutter, dann seinen Vater und schließlich wieder seine Mutter an. »Ihr werdet einen Moment brauchen, um euch an die Vorstellung zu gewöhnen. Doch im Grunde braucht ihr nur zu wissen, dass wir uns lieben, uns auf dieses Kind freuen und beschlossen haben, noch in diesem Sommer zu heiraten.«

Das Schweigen wurde unerträglich, bis Daphne endlich ihre Sprache wiederfand. »Nun, mein Schatz, da hast du recht: Das kommt wirklich ziemlich plötzlich. Meine Güte, vielleicht sollten wir darauf etwas trinken. Was meinst du, Alfie, Liebling?«

Alfie war froh, irgendetwas tun zu können, und trat dankbar in Aktion. »Ja, natürlich, Daffy. Eine hervorragende Idee. Whiskey, Sherry? Oder wollen wir eine Flasche Schampus aufmachen? Ich glaube, wir haben noch welchen im Keller.«

»Ich hätte gern einen Sherry«, erwiderte Daphne rasch, der eindeutig nicht zum Feiern zumute war. »Ich glaube, ein kleiner Sherry wird auch Helen guttun«, fügte sie noch hinzu. »Du siehst ein wenig blass aus, Liebes.«

Helen wollte nicht unhöflich sein und stimmte mit einem kurzen Nicken zu.

Das ließ sich Alfred nicht zweimal sagen. Er schien eine Ewigkeit zu brauchen, um Gläser und Karaffe aus dem Esszimmer zu holen. Während Daphne die Falten ihres Kleides glatt strich, ließ Helen die lässige Eleganz des Wohnzimmers auf sich wirken. Die Möbel waren hübsch und wiesen Gebrauchsspuren auf. Verblichene geblümte Bezüge und abgewetzte Perserteppiche verliehen dem Zimmer eine behagliche Atmosphäre. Neben einem alten Reisewecker stand eine Vase mit ersten Frühlingsblumen, Blütenblätter waren über den ganzen Kaminsims verstreut. Ein heller Kaschmirschal lag quer über einer verschnörkelten Ottomane. Überall Kuriositäten und Antiquitäten: ein altes Barometer an der Wand, angelaufene Silberrahmen auf einem Tisch, eine bunte Mischung von Lampen und Bildern und ein durchgesessener Chesterfieldsessel neben der Tür, bei dem die Füllung aus einer zerschlissenen Armlehne quoll. Die Einrichtung war sehr schick – vielleicht ein bisschen zu überladen für Helens Geschmack. Trotzdem musste sie anerkennen, dass sie von gutem Geschmack und Stil zeugte.

»Setz dich, mein Lieber«, drängte Daphne Richard, der vor den Terrassentüren nervös auf und ab ging. Er gehorchte, setzte sich neben Helen und nahm ihre Hand. Sie spürte den Schweißfilm auf seiner Handfläche, und beide zuckten zusammen, als ein Holzscheit auf das Kamingitter fiel und Funken den Kamin hochschickte.

Schließlich kehrte Alfie zur allgemeinen Erleichterung zurück. Er reichte Gläser herum und brachte einen halbherzigen Toast aus.

»Auf das glückliche Paar!«

Sie tranken schweigend.

»Nun«, sagte Daphne bemüht fröhlich. »Erzähl uns doch ein wenig von dir, Helen.«

Der Nachmittag hatte sich ewig hingezogen. Abends nahmen sie eine unbehagliche Mahlzeit in einem ziemlich prunkvollen, holzvertäfelten Esszimmer ein. Sie saßen an einem großen Mahagonitisch, der mit Leinentischwäsche, Silberbesteck und zwei riesigen Kandelabern gedeckt war. Letztere tauchten die Tischgesellschaft in ein warmes goldenes Licht. Während Daphne das Fleisch servierte und Gemüse herumreichte und Richard von ihren gemeinsamen Plänen berichtete, sah Helen zu, wie flüssiges Wachs an einer der Kerzen herablief und eine klebrige Pfütze auf dem weißen Tischtuch bildete.

»Am besten, wir ziehen so schnell wie möglich nach London. Wir werden uns nach einer Wohnung umschauen, bevor ich in die Firma einsteige.« Er streckte den Arm aus und drückte liebevoll Helens Hand. »Es ist alles sehr aufregend.«

»Ja. Natürlich kann Helen dann euer neues Zuhause hübsch einrichten. So hat sie etwas zu tun, bis das Baby kommt«, sagte Daphne zustimmend.

Helen runzelte die Stirn und warf Richard einen spöttischen Blick zu, der ihm jedoch entging, weil er gerade nach dem Wein griff.

»Du solltest mit Edmund reden«, schlug Daphne vor. »Er hat Wohnungen in ganz London und kann dir bestimmt weiterhelfen, Richard. Warum rufst du ihn nicht an?« Als sie Helens neugierigen Blick bemerkte, sagte sie erklärend: »Edmund ist mein Bruder, Richards Onkel. Ein ganz reizender Mann und völlig vernarrt in Richard.«

Helen nickte höflich, während sie ausgiebig auf einer grünen Bohne kaute. Insgeheim fragte sie sich, welche Familie »Wohnungen in ganz London« haben konnte. Hier, bei seinen Eltern, wirkte Richard noch selbstbewusster und erwachsener als sonst. Unwillkürlich verglich sie sein Auftreten mit dem, das sie an den Tag legte, wenn sie ihre Eltern besuchte. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie kam sich dabei immer vor wie ein störrischer Teenager und nicht wie eine Erwachsene.

Während die Unterhaltung ohne ihre Beteiligung dahinplätscherte, sah sich Helen verstohlen in dem prunkvollen Zimmer um. An einer Wand hingen Gemälde, Stillleben und Landschaftsbilder, die verführerisch im Kerzenlicht schimmerten. Es gab eine Mahagonikommode, auf der alles Mögliche stand, darunter ein eleganter silberner Champagnerkübel, der aussah, als könnte er eine Politur vertragen, eine verstaubte alte Kristallkaraffe, eine handgeschnitzte Schale mit Zitronen und eine sehr hübsche Porzellanvase, auf der zwei Frauen unter den Zweigen einer Trauerweide abgebildet waren. Dieses künstlerische Durcheinander bildete einen starken Kontrast zum sterilen Esszimmer ihrer Eltern mit Teewagen, Tellerwärmer und den guten, auf Hochglanz polierten Sherrygläsern in der Vitrine. Es lagen Welten zwischen dieser Umgebung und dem ordentlichen Haushalt ihrer Mutter.

Das Essen zog sich in die Länge, doch Helen zwang sich trotz ihrer Übelkeit, alles aufzuessen, was Daphne ihr aufgetan hatte. Bis sie irgendwann wirklich nicht mehr konnte und sich Müdigkeit vorschützend entschuldigte.

»Aber natürlich«, sagte Daphne. »Du musst erschöpft sein. Ich habe das blaue Zimmer für dich vorbereitet, Liebes. Ich hoffe, du hast es dort bequem.« Richard hatte ihr bereits erzählt, dass sie in getrennten Zimmern übernachten würden. In dieser Hinsicht waren seine Eltern altmodisch.

»Bestimmt«, sagte sie. »Danke, Mrs. Tide.«

»Oh, bitte nenn mich Daphne. Wir sind jetzt schließlich eine Familie.« Die falsche Freundlichkeit wurde mit lautem Schweigen quittiert.

»Ja, danke, Daphne. Nun, gute Nacht allerseits.«

»Gute Nacht«, riefen die anderen betont munter, während sie den Rückzug antrat.

Helens Erleichterung war enorm, als sie sich die knarrende Treppe zum Gästezimmer hinaufschleppte. Sie ließ sich angezogen auf das breite Messingbett fallen und atmete tief durch. Die verblichene Pracht setzte sich auch hier fort. Das Zimmer sah wunderschön aus. Die Wände waren in einem hellen Taubenblau tapeziert, in einer Ecke stand ein hübscher Schminktisch, vor seinem teilweise blinden Spiegel stand ein samtbezogener Hocker. Verstaubte, ledergebundene Bücher reihten sich in einem massiven Mahagoniregal aneinander, kleine weiße Spitzenkissen lagen auf dem Sofa im Erker, von dem aus man einen fantastischen Blick in den Garten hatte. Auf dem Nachttisch stand ein kleiner Übertopf mit Schneeglöckchen, und am Fußende des Bettes lag ein kuscheliger, handgemachter, von der Sonne ausgeblichener Quilt. Fernab des Kerzenlichts und der Gespräche spürte Helen plötzlich die nächtliche Kälte. Sie fröstelte und legte sich den Quilt über die Beine, wobei sie den intensiven Duft nach frischer Wäsche, Bienenwachs und Geld in sich aufsog.

Clifftops zu betreten bedeutete, eine ganz neue Welt zu betreten. Eine Welt, in der der Boden unter Helens Füßen zu schwanken schien, sodass sie jeden Moment stolpern und hinfallen konnte. Sie legte die Hände auf den Bauch und fragte sich zum millionsten Mal, ob es ein Fehler gewesen war, das Baby zu behalten. Ob sie wirklich bereit war, ihre Träume und Ambitionen für das kleine Wesen aufzugeben, das sich in ihr eingenistet hatte. Ob es nicht Wahnsinn war, sich an einen Mann zu binden, den sie im Grunde kaum kannte. An eine Familie, deren gesellschaftliche Stellung meilenweit von ihrer kleinbürgerlichen Herkunft entfernt war. Währenddessen versuchte sie vergebens, die gereizten Stimmen zu ignorieren, die aus dem Erdgeschoss zu ihr emporhallten.

Am nächsten Morgen sah die Welt ein wenig freundlicher aus. Alle waren ausgeruht, und beim Frühstück im Wintergarten wurde nicht mehr von Hochzeiten oder Babys gesprochen. Trotzdem war Helen dankbar, als Richard vorschlug, einen Spaziergang zu zweit zu unternehmen.

»Warum heißt es Golden Cap?«, fragte sie und kam sich plump vor in den geliehenen Gummistiefeln und dem sich im Wind bauschenden Regenumhang.

»Na ja, die Klippe, die du vor uns sehen kannst, ist der höchste Punkt der Südküste Englands. Sie hat ihren Namen vom gelben Sandstein des Gipfels. Ich habe darin immer eine Art goldene Krone gesehen.«

Helen starrte auf den kahlen Fleck, der die Klippe krönte. Im trüben Licht des bedeckten Himmels wirkte es nicht golden, sondern eher schmuddelig und senffarben.

Richard schien Gedanken lesen zu können. »An einem Sonnentag sieht es eindrucksvoller aus. Von dort hat man eine tolle Aussicht. Der Weg ist es wert, das verspreche ich dir.«

»Wie lang lebt deine Familie schon in Clifftops?«

»Oh, schon eine ganze Weile«, überlegte Richard laut und nahm ihre Hand, um sie zu wärmen. »Die Geschichte ist sogar ziemlich romantisch. Mum und Dad haben das Haus zufällig auf ihrer Hochzeitsreise entdeckt. Damals war es unglaublich heruntergekommen. Der Bauer, dem das Grundstück gehörte, hatte viel Geld verloren und war anschließend schwer erkrankt. Es war also kaum mehr als eine Ruine. Dad hat den alten Knaben überredet, es zu verkaufen, und es Mum zur Hochzeit geschenkt. Seitdem haben sie viel Liebe und Arbeit hineingesteckt. Natürlich verschlingt der Kasten jede Menge Geld, aber sie lieben ihn. Ich glaube, ihre Leidenschaft für Clifftops hat mich dazu gebracht, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und Architektur zu studieren.«

Helen nickte. »Es ist ein wirklich ungewöhnliches altes Haus.«

»Du magst es auch, nicht wahr?«

Helen spürte, wie wichtig ihm ihre Antwort war. »Es ist unvergleichlich«, erwiderte sie, was nicht gelogen war. Beim Rundgang durchs Haus war sie sich vorgekommen wie auf einem Filmset. Jedes Zimmer barg andere Überraschungen, die darauf warteten, an regnerischen Nachmittagen erkundet zu werden. Aber sie hatte schon nach einem Nachmittag beziehungsweise nach einem Wochenende genug. Sie würde verrückt werden, müsste sie in so einem abgelegenen, zugigen alten Haus auf den Klippen leben. Mit nichts als dem winzigen Weiler Summertown in der Nähe. Zum Glück lag ihre gemeinsame Zukunft in London.

»Komm«, sagte Richard plötzlich. »Wer zuerst oben auf dem Gipfel ist.«

»Warte«, protestierte Helen. »Das ist nicht fair. Ich bin schließlich zu zweit.« Aber Richard sauste bereits den Hang hinauf, wobei der Wind seine Wachstuchjacke bauschte und sein dickes helles Haar dermaßen zerzauste, dass Helen über seine kleiner werdende Gestalt lachen musste.

Als sie am Nachmittag ihre Tasche packte, hörte sie Stimmen aus dem Garten. Sie spähte aus dem offenen Fenster und sah Daphne und Alfred nebeneinander im Blumenbeet hinter dem Haus stehen. Sie befreiten die Pflanzen vom Wintermulch.

»Sie wirkt so ruhig, geradezu reserviert. Glaubst du, sie liebt ihn?«

Alfred murmelte etwas, das sie nicht hören konnte.

»Sie ist hübsch, wenn nicht sogar schön«, fuhr Daphne fort. »Aber ich kann einfach nicht verstehen, wie er so blöd sein konnte. Gut, er ist ein heißblütiger junger Mann, und natürlich will er sich die Hörner abstoßen. Ich dachte nur, wir hätten ihm etwas anderes beigebracht.«

»Wir haben ihm Verantwortungsgefühl beigebracht. Ich bin stolz darauf, wie er reagiert hat.« Alfred versuchte, seine Frau aufzumuntern.

Daphne senkte ihre Stimme, aber Helen verstand sie trotzdem: »Ich meine, wie gut kennt er sie eigentlich? Er ist eine gute Partie. Woher will er wissen, ob das Kind überhaupt von ihm ist? Glaubst du, sie spielt mit ihm, legt ihn herein?«

Helen wurde rot vor Zorn, schaffte es aber nicht, wegzuhören.

»Er ist nicht blöd, mein Schatz. Und er sagt, dass er sie liebt.«

»Aber Richard hat gestern Abend selbst zugegeben, dass sie sich erst seit wenigen Wochen kennen. Das ist der helle Wahnsinn, wenn du mich fragst.«

»Dabei vergisst du jedoch, dass ich mir bei dir auch vom ersten Tag an sicher war«, sagte Alfred und erwiderte Daphnes Blick.

»Ach, du alter Schmeichler, komm her.« Als sich Alfred vorbeugte, um seine Frau liebevoll zu umarmen, trat Helen vom Fenster zurück. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

Wie konnten sie es wagen, sie als berechnend hinzustellen? Ihr zuzutrauen, dass sie ihren Sohn bewusst hereingelegt hatte? Sie versuchte, das Richtige für das Baby, für ihr Enkelkind, zu tun, und sie erhoben solche Anschuldigungen? Helen war außer sich vor Wut. Für Richard würde sich nichts ändern. Er würde seinen Uniabschluss und in der elterlichen Firma eine tolle Karriere machen. Nein, wenn jemand reingelegt worden war, dann ausschließlich sie! Sie musste ihre Träume vom Reisen und Unterrichten aufgeben, siemusste verrauchte Pariser Cafés und die spanische Sonne gegen schmutzige Windeln und schlaflose Nächte eintauschen. Wie konnten sie sie nur für eine dermaßen jämmerliche, bemitleidenswerte Gestalt halten, die sich zu so etwas herabließ? Helen warf ihre restliche Habe in die Reisetasche. Sie konnte es kaum erwarten, von Clifftops und Daphne Tide wegzukommen.

Danach war alles ganz schnell gegangen: Helen hatte noch im Sommer ihren Abschluss gemacht, kurz darauf hatten Richard und sie in kleinem Kreis standesamtlich geheiratet. Wenige Monate später war Cassie zur Welt gekommen – ein winziges zerknittertes rosa Bündel mit blauen Augen und einem goldblonden Haarflaum. Helen hatte ihre Tochter nur ansehen müssen, um zu wissen, dass sie das Richtige getan hatte. Später würde sie genug Zeit haben, Karriere zu machen. Vorerst genügte es ihr, das Baby im Arm zu halten und seinen warmen, süßen Duft einzuatmen.

Die Mutterschaft ging mit einer unglaublichen, unvergleichlichen Liebe einher. Mit einer so urwüchsigen, reinen Liebe, dass Helen das Gefühl hatte, zu einem ganz anderen Menschen zu werden.

Auf Daphne hatte ihre Tochter dieselbe besänftigende Wirkung. Zu Helens Überraschung stand ihre Schwiegermutter schon einen Tag nach der Geburt mit einem kleinen Strauß später Sommerblumen an ihrem Bett.

»Aus dem Garten von Clifftops«, sagte sie zu Helen und übergab ihn einer übermüdeten Krankenschwester. »Sind Sie so nett und stellen sie ihn ins Wasser?« Dann wandte sie sich wieder Helen zu. »Darf ich?«, fragte sie und streckte die Arme nach dem Baby aus. Helen unterdrückte die spontane Regung, ihre Tochter an sich zu drücken, und reichte sie ihr.

»Sie ist wunderschön«, säuselte Daphne und gab dem Baby den kleinen Finger. »Ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Helen gestattete sich ein kleines, triumphierendes Lächeln und sah, wie Daphne die unglaublichsten Grimassen für das Baby zog.

»Sag, Helen, warum hast du sie Cassandra genannt?«

Helen zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Namen schon immer gemocht. Wir nennen sie Cassie.«

Daphne schnaubte kurz auf. »Selbstverständlich kenne ich die Klassiker, aber war Cassandra nicht eine ziemlich tragische Figur?«

»Ja, am Ende schon. Aber sie war auch eine Prinzessin, eine der Töchter von König Priamos – und eine Seherin. Außerdem ist es nur ein Name«, fügte Helen hinzu, als sie merkte, dass Daphne skeptisch blieb.

Beide Frauen schwiegen und warfen dem kleinen, schwer atmenden Bündel in Daphnes Armen bewundernde Blicke zu.

»Ich habe noch etwas mitgebracht«, sagte Daphne unvermittelt. »Etwas, das du für Cassandra aufbewahren sollst, bis sie älter ist. Es ist in meiner Handtasche.« Mit einer Geste forderte Daphne Helen auf, die Tasche zu öffnen. Helen griff hinein und zog ein winziges, lederbezogenes Schmuckkästchen heraus. Als sie den Verschluss vorsichtig öffnete, lag darin auf schwarzem Samt eine kostbare antike Brosche in Gestalt eines Schmetterlings. Der Körper des Insekts war aus feinsten Goldfäden gesponnen und mit ein paar wenigen Diamanten besetzt, während die Flügel aus Perlmutt bestanden. Helen hielt sie ins Licht, drehte sie hin und her und brachte die Diamanten in dem grellen Krankenhauslicht zum Funkeln.

»Sie ist wunderschön.«

»Ja, nicht wahr? Es ist das erste Schmuckstück, das mir Alfred geschenkt hat. Es hatte seiner Großmutter gehört, und jetzt soll es Cassandra bekommen – meine erste Enkeltochter. Würdest du es für sie aufbewahren?«

»Aber natürlich.« Lächelnd sah Helen zu Daphne empor. »Danke, das ist sehr großzügig.«

»Ja, nun …« Auf einmal sah sich Daphne verlegen um. »Wo stecken die Kerle bloß? So lang kann es doch auch nicht dauern, einen Kaffeeautomaten ausfindig zu machen!«

Helen hatte das winzige Schmuckkästchen sorgfältig in ihrer Handtasche verstaut, bevor sie die Arme ausstreckte und ihr Baby zurückforderte.

Anderthalb Jahre später war Dora zur Welt gekommen. Da sich die neue Generation der Tides dadurch verdoppelt hatte, festigte sich auch Helens Position innerhalb der Familie. Daphne und Alfred vergötterten ihre Enkelinnen. Helen brauchte nur in ihre Gesichter zu sehen, um zu wissen, dass sie ihr das »Hereinlegen« ihres Sohnes verziehen hatten. Doch selbst nach zwölf Jahren fühlte sich Helen immer noch unwohl, wenn sie in dem eleganten alten Haus zu Besuch war. Sie ging durch die Zimmer und Flure, ohne ihren Platz zu kennen, ohne sich den Tides wirklich zugehörig zu fühlen. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie nie das Gefühl, gut genug für Daphnes perfekten, blauäugigen Sohn zu sein.

»Da ist es«, rief Richard und riss sie aus ihren Gedanken. Er zeigte auf den glitzernden Ozean in der Ferne. »Da ist das Meer, Mädels, und schaut nur, die Sonne kommt raus.«

Dora beugte sich vor und drückte dabei gegen Helens Rückenlehne. »Ich sehe es.«

Auch Helen konnte es sehen, und obwohl sie sich nicht gerade auf diese Ferien freute, hob sich auch ihre Stimmung beim Anblick des spektakulären smaragdgrünen Tals mit seinen Feldern und Wäldern, die bis hinunter ans Meer reichten. Sie kurbelte das Fenster herunter und überließ sich der frischen Frühlingsluft. Auf einmal war London sehr weit weg.

»Gleich sind wir da«, sagte Richard und lenkte den Wagen über schmale, von Hecken gesäumte Landstraßen, die förmlich vor Schlüsselblumen und wilden Narzissen überquollen. Dabei drückte er das Gaspedal durch. Wenige Hundert Meter später fuhren sie mit knirschenden Reifen die lange Auffahrt von Clifftops hinauf.

Und da stand es, das Haus, wie schon seit mehr als hundert Jahren, und hob sich strahlend weiß vom hellblauen Himmel ab. Seit Helens erstem Besuch hatte es sich kaum verändert. Bald darauf sah Helen, dass die Haustür offen stand und Daphne und Alfred im Schatten des steinernen Torbogens geduldig darauf warteten, ihre Gäste begrüßen zu können. Helen fragte sich, woher sie wohl wussten, dass sie kamen. Standen sie schon seit Stunden dort und warteten, bis sie in der Auffahrt auftauchten? Beim Gedanken daran musste sie lächeln.

Richard sah ihre sich kräuselnden Lippen und tätschelte aufmunternd ihre Hand. »Euer Schloss wartet schon«, sagte er zu Cassie und Dora.

Nachdem sie vor den Stufen zur Haustür gehalten hatten, sprang Dora aus dem Wagen und rannte auf ihre Großeltern zu. »Grandma! Grandpa! Wir sind da!« Sie warf sich in Alfreds ausgebreitete Arme und quietschte vor Vergnügen, als er sie hoch in die Luft warf.

»Dein Vater wird sich noch eines Tages den Rücken ausrenken«, sagte Helen leise zu Richard, während sie beide zusahen, wie Alfred Dora herumschwenkte. »Sie wird langsam zu groß dafür.«

»Ach, lass ihn nur, wenn es ihm Spaß macht«, sagte Richard liebevoll.

Auch Cassie schien es kaum noch erwarten zu können. Sie griff nach ihrer Tasche und stapfte über den Kies, um ihre Großeltern zu begrüßen, während Helen und Richard immer noch mit ihren Gurten, diversen Landkarten und Einwickelpapierchen kämpften.

»Cassandra«, rief Daphne und streckte die Arme nach ihrer ältesten Enkelin aus. »Lass dich anschauen! Wie groß du geworden bist. Und die schönen langen blonden Haare. Wie hübsch! Ist sie nicht hübsch, Alfred?« Daphne trat einen Schritt zurück und musterte Cassie, bis diese nervös von einem Bein aufs andere trat und die Augen niederschlug, weil es ihr unangenehm war, so angestarrt zu werden.

»Und ob«, pflichtete Alfred ihr bei. »Sie sieht aus wie Rapunzel. Hallo, Cassie, mein Mädchen, wie geht es dir?« Er drückte sie an sich, während Dora neben ihm begeistert auf und ab hüpfte.

»Daphne, Alfred«, sagte Helen und begrüßte sie an der Tür. »Wie schön, euch zu sehen. Frohe Ostern!«

»Und jetzt zu dir, Liebes. Wie war die Fahrt? Es gab hoffentlich nicht allzu viel Verkehr?«

»Es ging, aber jetzt sind wir ja da.« Helen lächelte höflich.

»Nun, wir freuen uns, euch hier zu haben, nicht wahr, Alfred?« Daphne zog ihren Cardigan enger um die Schultern und drehte sich nach ihrem Sohn um. Schwer bepackt stapfte er mit mehreren Taschen, Eimern und Schaufeln auf sie zu. »Meine Güte, Richard«, rief Daphne, »lass das stehen, mein Lieber. Nachher ist noch genug Zeit zum Auspacken. Kommt rein, kommt rein, ich habe Osterwecken gebacken. Ihr sehnt euch bestimmt nach einer schönen Tasse Tee.«

»Und ob«, stimmte Dora ihr zu. »Mum und Dad haben sich gestritten, ob wir irgendwo anhalten sollen oder nicht. Mum war dafür, aber Dad meinte, wir sollten weiterfahren.«

Helen spürte, wie sie rot wurde.

Richard hüstelte. »Das war kein richtiger Streit, Dora, nur eine kleine … Diskussion.«

Jetzt war Daphne diejenige, die höflich lächelte. »Nun, wie dem auch sei, lasst uns hineingehen. Cassandra, Pandora, mir nach.«

Sie stürmten ins Haus, und Helen blieb zurück, um Richard mit den Taschen zu helfen. »Warum besteht sie darauf, sie so zu nennen? Sie weiß doch, dass die Mädchen das hassen«, zischte sie leise.

Richard zuckte mit den Schultern. »So heißen sie nun mal.«

Helen fügte sich. Dagegen ließ sich nichts einwenden.

Helen brauchte sich gar nicht umzusehen, als sie durch den Flur zum Wohnzimmer ging. Sie wusste, dass alles noch genauso aussehen würde wie bei ihrem letzten und vorletzten Besuch. Derselbe Duft nach Blumen und Bienenwachs hing in der Luft, dieselben abgewetzten Perserteppiche lagen quer über dem Steinboden. Im Wohnzimmer, inmitten goldener Staubpartikel, die in der Sonne funkelten, sah sie den antiken Reisewecker, der auf dem Kaminsims laut tickte, die vertraute, verblichene Tapete und das übliche, knarzende Holzmobiliar. Genau das war Clifftops, hier änderte sich nie irgendwas.

»Setz dich.« Daphne lief geschäftig hin und her. »Du musst müde sein. Mach es dir bequem, während ich mich um den Tee kümmere. In einer Minute bin ich wieder da.«

Helen setzte sich auf eines der Chintzsofas und ließ sich in eine wilde Mischung unterschiedlich gemusterter Kissen sinken. Die meisten davon hatte Daphne selbst genäht. Cassie ließ sich am anderen Ende des Zimmers in den durchgesessenen Ledersessel direkt neben der Tür fallen. Richard zauste im Vorbeigehen zärtlich ihr Haar, bevor er gegenüber von Helen auf dem Sofa Platz nahm. Dann warf sich Dora in Richards Arme, der sie lachend auf seinen Schoß zog. In dieser kleinen Geste erkannte Helen die immer größer werdende Kluft zwischen ihren beiden Töchtern: Die neunjährige Dora war noch naiv und kindlich, während Cassie von Tag zu Tag störrischer, unabhängiger und erwachsener wurde.

Ihre Tochter machte eine fast unheimliche Verwandlung durch. Cassies Zimmertür, die einst hatte offen stehen müssen, damit Licht aus dem Flur einfiel, war jetzt fast immer geschlossen. Und erst letztes Wochenende war ein kleines, aber unübersehbares, handgeschriebenes Schild aufgehängt worden, das dazu aufforderte, vor dem Eintreten zu klopfen. Helen wusste, dass das eine ganz natürliche Entwicklung war. Doch es tat trotzdem weh zu merken, wie Cassie zu ihr auf Distanz ging und mehrere Schritte hinter ihr lief, wenn sie Lebensmittel oder neue Schuhe einkauften. Ganz so, als schämte sie sich für sie. Dora dagegen war nach wie vor ein kleines Mädchen, das gern Händchen hielt und zum Kuscheln kam.

Aber bei genauerer Betrachtung waren die beiden schon immer sehr verschieden gewesen. Und das nicht nur äußerlich, obwohl das sicherlich der auffälligste Unterschied war: Mit ihren blonden Haaren, der blassen Haut und den eisblauen Augen kam Cassie ganz nach Richards Familie. Dora dagegen ähnelte Helen. Sie hatte die dunklen Haare ihrer Mutter geerbt, ihre olivbraune Haut und ihre algengrünen Augen. Richard nannte sie »meine kleine Zigeunerin«.

Cassies Geburt war mit einer regelrechten Kakophonie einhergegangen. Sie hatte aus Leibeskräften geschrien und diese Angewohnheit lang beibehalten. Sie war ein schwieriges, schwer zu durchschauendes Baby gewesen und hatte sich stets gegen den Schlaf gewehrt. Helen hatte sich wahnsinnige Sorgen über Reflux und so gemacht, bis sich Cassie allmählich in ein trotziges Kleinkind und schließlich in ein stürmisches Mädchen verwandelt hatte. Jetzt, wo sie langsam in die Pubertät kam, rechnete Helen mit ganz neuen Herausforderungen. Helen liebte Cassies Kämpfernatur, aber manchmal raubte sie ihr auch den letzten Nerv.

Doras Geburt war vollkommen anders verlaufen – sie war schnell und lautlos zur Welt gekommen, so lautlos, dass Helen vor Angst fast gestorben war, weil sie dachte, irgendetwas stimme nicht. Bis die Hebamme Dora einen festen Klaps auf den Po gegeben und diese ihren kleinen Mund geöffnet hatte, um ein leises, protestierendes Wimmern auszustoßen. Anders als Cassie hatte sich Dora von Anfang an eingefügt. Sie saß zufrieden in einer Babyschaukel und lutschte an ihrer Faust, während ihre grünen Augen der Mutter durch das Zimmer folgten, bis Helen wieder daran dachte, ihr die Windel zu wechseln oder sie zu füttern.