7,99 €
Claire und Victor sind schon seit langem ein Paar. Doch als er auf eine baldige Heirat drängt, nimmt sie ihren Jahresurlaub und flüchtet nach Irland. Dort hat ihr Bruder einen Bauernhof mit einem Gestüt gekauft. Zu diesem Besitz im romantischen Galway gehört auch ein altes Steinhaus. Claire, die schon seit Jahren von einem eigenen Hotel träumt, ist begeistert - und der sympathische Architekt Ben bringt ihre Gefühle gehörig durcheinander. Die Leute im Dorf wollen ihr Projekt jedoch mit allen Kräften verhindern. Dann taucht auch noch Vitor auf und will Claire nach Deutschland zurückholen. Nun muss Claire entscheiden, was sie wirklich will.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 450
Veröffentlichungsjahr: 2011
Der unbefestigte Weg war mit Hufspuren übersät. Er führte an der Rückseite der Stallungen vorbei, aus denen dumpfe Geräusche zu hören waren. Neben den Stallungen befand sich eine schon ältere Scheune. Dazwischen war eine kleine Lücke geblieben, in der sich Brennnesseln und buschartige Pflanzen mit gelben Blüten breitmachten. Müllreste wirkten wie bunte Tupfen auf einer Leinwand. Zwei leere Flaschen schienen sich unter dem Unkraut verstecken zu wollen.
Das Haus stand auf der anderen Seite des Grundstücks. Wie gebannt blieb sie stehen. Die Sonne, die langsam am Horizont hochkletterte, gab dem verwitterten Stein eine goldene Farbe und spiegelte sich in den Fenstern wider. Leichter Nebel umhüllte das Gebäude, auf den Schindeln glänzte noch ein Hauch des morgendlichen Taus. Einen Moment kam es ihr so vor, als steige Rauch kräuselnd aus dem Schornstein hoch.
Sie fröstelte und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Vorsichtig trat sie etwas vor und achtete darauf, nicht mit den Brennnesseln in Berührung zu kommen.
Das Haus war zweigeschossig. Die breite Eingangstür war alt, sah aber solide aus. Die einladenden Stufen waren zum Teil mit Moos bedeckt. Ein riesiger Strauch Hortensien ließ diesen Bereich des Hauses im Schatten liegen. Die Blüten der Hortensien waren vertrocknet, leuchteten aber immer noch in einem verwaschenen Blau.
Sie konnte den Blick nicht abwenden und hatte das seltsame Gefühl, die Natur halte ihren Atem an, als warte sie auf etwas.
Aber dann ertönte von irgendwoher der Ruf eines Kuckucks und eines der Pferde wieherte kurz, als antworte es dem Vogel, und der Augenblick war vorbei und sie wusste, was sie so überwältigte.
Das Haus übertraf all ihre Vorstellungen.
Es regnete wieder einmal. Wie die letzten Tage schon. Ein einzelner dicker Tropfen wollte sich offenbar Zeit lassen, denn er rollte gemächlich nach unten, blieb zwischendurch an einem winzigen Schmutzfleck hängen, wie um sich zu sammeln, und rollte dann unverändert langsam weiter.
Die Fenster waren dreckig, ein grauer Film trübte den Blick nach draußen. Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Fensterputzer seit Monaten nicht mehr da gewesen waren. Zwei schon ältere Männer im blauen Arbeitsanzug, die freundlich waren und immer ein paar Minuten mit ihr plauderten. Wahrscheinlich hatte man den Vertrag mit der Firma, die neben Gebäudereinigung auch mobile Hausmeistertätigkeiten anbot, nicht verlängert. Das tat ihr leid. Sie hoffte, dass dies keine Auswirkungen auf die Männer hatte, die in ihrem Alter kaum eine neue Anstellung finden würden.
Das Telefon schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Hastig nahm sie den Hörer ab.
»Claire?«
Viktors helle, etwas atemlose Stimme, die viel jünger klang, als er war.
»Wann sehen wir uns?«
Sie spielte mit einem Stift, den sie zwischen Mittel- und Zeigefinger drehte.
»Heute geht es leider nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich habe zu viel zu tun«, sagte sie schnell. »Ich habe gleich eine Präsentation.«
»Seit wann machst du denn Präsentationen?«
»Ich, äh...«, der Stift flog in einem Bogen hoch und landete vor der Tür. »Seit Kurzem. Und anschließend muss ich noch einiges für die Quartalssitzung vorbereiten.«
Es gab nicht nur Quartalssitzungen, sondern auch Sitzungen an jedem Montag, die sogenannte ›Montagsrunde‹, und tägliche kurze Sitzungen um elf. Der neue Chef liebte Besprechungen.
»Ach so«, er klang niedergeschlagen. »Schade.«
»Wir sehen uns doch am Wochenende«, tröstete sie ihn und verdrängte schnell das Bild seines enttäuschten Gesichts.
»Du hast recht, ich freue mich darauf. Bis dahin.«
Mit einem Seufzen legte Claire auf.
Unlustig blickte sie auf die vor ihr liegenden Unterlagen für die Quartalssitzung. Sie waren vollständig, aber für die nächste Montagsrunde fehlten ihr die Tagesordnungspunkte, die Pessoa ihr noch nennen wollte. Er gab sie ihr immer erst auf Anfrage, statt sie ihr unaufgefordert per Mail zu übermitteln, wie Dick Rogers es immer getan hatte. Aber Pessoa war nicht mit ihrem früheren Chef zu vergleichen. Bei ihm hatte ihr die Arbeit Spaß gemacht. Sie musste keine langweiligen Statistiken oder Kalkulationen erstellen. Und es gab auch keine monatlichen Zielsetzungen, die immer wieder überprüft und abgeändert wurden, weil sie in der Regel nicht zu erreichen waren.
Als Dick Rogers noch lebte, freute sie sich jeden Tag auf ihre Arbeit in der Verwaltung einer Hotelkette. Damals gehörte es unter anderem zu ihren Aufgaben, die Hotels der Kette aufzusuchen, um Probleme vor Ort zu klären. Meistens waren sie zusammen unterwegs gewesen, aber manchmal war sie auch alleine gefahren, wenn Dick Rogers verhindert war. Sie mochte den Kontakt zu den Menschen und liebte die lässige Atmosphäre der Hotels. Im Laufe der Zeit kannte sie fast alle Hoteldirektoren persönlich und wusste sogar einiges über deren Familien.
Als ihr Chef unerwartet starb, nahm Conrad Pessoa dessen Stelle ein. Und damit änderte sich auch ihr Arbeitsgebiet. Sie wurde sofort mit unterschiedlichen Verwaltungsaufgaben betraut, die sie langweilig und überflüssig fand. Als sie sich kurz nach seinem Arbeitsantritt bei Conrad Pessoa darüber beschwerte, sagte er nur, sie sei für das Controlling zuständig und dazu gehörten nun einmal auch Statistiken. Und gerade diese seien in den letzten Jahren stark vernachlässigt worden. Das stimmte sogar.
Claire erhob sich und bückte sich nach dem Stift.
Conrad Pessoa war noch keine Woche im Dienst, als er ihr mitteilte, dass er von nun an die Hotels aufsuchen würde, wenn es sein musste. Er sagte, die dauernden Dienstreisen seien zu teuer und ineffizient und er habe vor, den Kontakt auf Telefonate zu beschränken. Und so hielt er es auch. Einige der Hoteldirektoren beschwerten sich bei ihr, aber ihr waren die Hände gebunden.
Anstatt direkt in den Hotels Lösungen für aufgetretene Schwierigkeiten zu finden, musste sie Berge von Papieren durcharbeiten, weil ihr Chef auch für die letzten fünf Jahre Zahlen verlangte. Außerdem sollte sie die Organisation der elektronischen Ablage überwachen, eine banale Arbeit, die jeder Praktikant ohne Vorkenntnisse erledigen konnte. Sie kochte vor Wut, konnte aber nichts daran ändern.
Sie sah sich um. So ungefähr stellte sie sich ein schickes Büro vor. Höhenverstellbare Schreibtische, orthopädische Stühle mit Tiefenfederung, Flachbildschirme. Viel Licht, das durch große Fenster einfiel, verstellbare Jalousien, um die Sonne abzuhalten. Zwei Palmen, die dem Raum einen mediterranen Anstrich gaben.
Und alle waren sehr freundlich, wie die junge Frau am Empfang, die sofort vorschlug, sie solle ihre Unterlagen doch persönlich beim Personalleiter abgeben. Genau das war ihr Ziel gewesen. Deshalb hatte sie sich nicht per E-Mail beworben, sondern eine altmodische Bewerbungsmappe zusammengestellt.
Nach der Arbeit fuhr sie zu der Firma, die verschiedene chemische Produkte herstellte und weiter expandieren wolle, wie es in der Anzeige hieß.
Und nun sollte sie ein erstes Vorstellungsgespräch führen.
Der Personalleiter kam auf sie zu, lächelte und sagte: »Sie haben Glück gehabt. Eben ist ein Termin geplatzt.«
Er nahm sie mit in sein Büro und begann von der Firma zu sprechen, die er mit aufgebaut habe und die innerhalb der nächsten zehn Jahre den ganzen europäischen Raum beliefern sollte. Sie hörte aufmerksam zu, konnte einige interessierte Fragen stellen und verabschiedete sich eine Stunde später mit einem guten Gefühl. Wenn das klappte!
Den Entschluss, sich beruflich zu verändern, fasste sie spontan nach dem letzten Affront ihres Chefs. Er hatte kurzfristig eine Sitzung mit den Abteilungsleitern angesetzt. Sie wunderte sich darüber, kümmerte sich aber nicht weiter darum, bis Patricia in der Tür erschien.
»Sie sollen auch dazukommen«, sagte sie kurz. »Und was zum Schreiben mitbringen.«
Claire nahm sich einen Block und einen Kugelschreiber und ging in den am anderen Ende des Ganges liegenden Konferenzraum. Die Tür stand offen, sie grüßte und setzte sich. Einer der Abteilungsleiter, ein schon älterer mit beginnender Glatze, zwinkerte ihr zu. Er war der einzige, der ihr gegenüber zugab, dass er den neuen Chef nicht mochte. Die anderen hielten sich bedeckt.
»Guten Morgen«, Conrad Pessoa trat ein und schloss die Tür hinter sich. Allgemeines Gemurmel.
Pessoa hielt keine lange Vorrede, sondern kam sofort zur Sache. Der Vorstand hatte eine Unternehmensberatung mit der Überprüfung der Geschäftsstrukturen beauftragt. Alles schwieg. Ziel war die Zusammenlegung verschiedener Abteilungen. Jeder wusste, was das bedeutete.
Pessoa handelte nacheinander alle Punkte ab, die er auf seinem Zettel notiert hatte. Seine Stimme war monoton und Claire gab sich ihren Gedanken hin. Bereits zweimal waren externe Unternehmen mit einer Überprüfung beauftragt worden. Jedes Mal waren die Änderungsvorschläge langfristig nicht zu verwirklichen gewesen. Dick Rogers hielt überhaupt nichts von Beratern. Sie glaubte auch nicht, dass Fremde sich wirklich ein Bild von einer Firma machen konnten.
Pessoa sprach immer noch, jetzt sogar ohne Vorlage. Das Thema schien ihm zu gefallen.
Einmal hob einer der Abteilungsleiter den Arm, aber Pessoa winkte ab und sprach weiter. Erst nach einer weiteren Viertelstunde kam er zum Ende und blickte in die Runde.
»So, jetzt können Sie Ihre Fragen stellen«, sagte er und in Claires Richtung: »Frau Sammers, würden Sie uns bitte noch eine Kanne Kaffe machen?«
Das war eine Unverschämtheit. Für Kaffee war Patricia zuständig, die als Sekretärin für sie und Conrad Pessoa angestellt war und ungenießbaren Kaffee aufbrühte. Pessoa wollte sie bewusst vor den anderen bloßstellen. Das wusste sie und er wusste, dass sie es wusste.
Er räusperte sich und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie fasste einen Entschluss, sagte aber nur: »Ja, mache ich.«
Dann verließ sie den Raum. Patricia telefonierte gerade. Sicher privat.
Sie kehrte mit einer vollen Kanne zurück. Pessoa sprach wieder, aber er hatte nicht mehr die volle Aufmerksamkeit der Mitarbeiter. Zehn Minuten später war die Sitzung beendet. Den Kaffee hatte niemand angerührt.
Noch am selben Abend schrieb sie ihre Bewerbung.
Am nächsten Tag wurde Claires Hochgefühl wieder gedämpft. Eigentlich wollte sie früher Schluss machen. Die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch waren nicht gerade einladend. Lauter trockene Zahlenkolonnen.
Sie stützte den Kopf in die Hand und versuchte sich ihre neue Arbeit vorzustellen. Ein etwas größeres Büro, gleitende Arbeitszeit natürlich, ein charmanter Chef. Den anderen Mitarbeitern, die sie nach dem Vorstellungsgespräch kurz begrüßte, schien es dort jedenfalls zu gefallen. Sie wirkten alle sehr nett. Die meisten duzten sich. Ob der Chef verheiratet war? Wie albern von ihr. Sie schüttelte ihre Tagträume ab und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Als sie fertig war, ging sie mit den Unterlagen zu Patricia.
»Würden Sie das bitte zehnmal kopieren und Mappen zusammenstellen?«
»Wieso?«
Patricia nahm die Unterlagen nicht an.
»Weil diese für die morgige Sitzung benötigt werden«, antwortete sie verblüfft.
»Das ist nicht meine Aufgabe«, sagte Patricia.
»Wie bitte?«
Mit selbstzufriedenem Gesicht begann die Sekretärin einen Bleistift zu spitzen.
»Das ist nicht meine Sache«, wiederholte sie seelenruhig. »Ich habe heute und morgen sowieso keine Zeit.«
Claire starrte sie wortlos an. Dann ging sie zu Pessoa, klopfte an seine Tür und trat ein, ohne auf seine Aufforderung zu warten.
»Was gibt es?«, fragte er, den Blick auf die geöffnete Unterschriftsmappe gerichtet.
»Patricia weigert sich, für mich Kopien zu machen«, sagte sie aufgebracht. »Sie scheint nicht zu wissen, dass sie auch meine Sekretärin ist.«
»Na und?«, fragte er und unterschrieb einen der Briefe. »Ich dachte, Sie fühlten sich unterfordert. Das haben Sie jedenfalls gesagt.«
Das stimmte. In ihrem ersten Gespräch hatte sie gesagt, sie sei mit ihren neuen Aufgabengebieten unterfordert. Dennoch war sie nicht bereit, die Arbeit für Patricia zu erledigen.
»Das ist etwas völlig anderes.«
»Ach so?«
Jetzt erst sah er sie an. Er klappte die Mappe zu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Mit etwas zu viel Schwung, denn der Stuhl begann zu kippen. Hektisch ruderte er mit seinen Armen und konnte den Sturz nach hinten gerade noch verhindern. Sie biss sich auf die Lippen und bemühte sich um ein ernstes Gesicht.
Conrad Pessoa machte es einem nicht leicht. Schon sein Äußeres brachte so manchen Geschäftspartner zum Lachen. Er trug einen durchgestuften Schnitt, mit dem er offenbar seine starke Natur zu bändigen versuchte. Das Ergebnis war aber gegenteilig. Hinzu kam, dass er in Stresssituationen leicht schielte. Mit der aufgebauschten Frisur, die wie eine Löwenmähne aussah, und dem Silberblick erinnerte er an 'Daktari' und den schielenden Löwen. Er war zwei Jahre jünger als sie und schien seine mangelnde Lebenserfahrung mit Arroganz ausgleichen zu wollen.
»War es das?«, fragte er nun verärgert.
Sie dachte an die neue Stelle, zuckte gleichmütig mit den Schultern und sagte: »Schon gut.«
Patricia konnte ihren Triumph nicht gut verstecken oder wollte es vielleicht auch gar nicht. Aber das wunderte sie nicht. Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.
Als sie sie damals als ihre Sekretärin begrüßte, sagte Patricia sofort, sie pflege sich ›Assistentin‹ zu nennen. Assistentin also. Dabei trug sie immer zu enge und kurze Kleider und stark toupierte Frisuren. Sie zeigte gerne ihre wohlgeformten Beine und liebte hochhackige Sandalen. Ihr Vorbild schien eine Popdiva zu sein, die sich ebenfalls nur in zu engen Kleidern zeigte. Conrad Pessoa hatte Patricia eingestellt, als die langjährige Sekretärin nach dem Tod von Dick Rogers kündigte. Patricia war nicht im Mindesten für den Job qualifiziert und sah nicht wie eine Sekretärin oder Assistentin aus. Aber der Chef sah trotz Anzug und Krawatte auch nicht wie ein Chef aus.
Claire sah an sich hinunter. Sie liebte ihre Hosenanzüge, die ihr eine klassische Note verliehen. Es stimmte einfach nicht, dass sie konventionell war.
Als sie Patricia an deren erstem Arbeitstag auf ihre aufreizende Kleidung ansprach, sagte diese aber genau das. Sie wirke langweilig, wie eine Politikerin. Als ob Patricia das beurteilen könne. Sie trug weiterhin Hosenanzüge und die Sekretärin zu enge Kleider.
Viktor rief kurz vor Feierabend an und Claire erzählte ihm von ihrem Vorstellungsgespräch. Als sie die Firma nannte, sagte er sofort, diese sei dafür bekannt, dass sie nur Zeitverträge abschließe.
»Der Geschäftsführer ist eiskalt, kein Vergleich zu Dick Rogers. Für ihn gibt es nur Zahlen.«
So war er ihr überhaupt nicht vorgekommen. Aber sie wollte sich die Freude nicht nehmen lassen.
»Es ist immerhin einen Versuch wert.«
»Was nützt dir denn ein Zeitvertrag?«
Über die Laufzeit eines Anstellungsvertrages war gar nicht gesprochen worden, fiel ihr jetzt erst ein. Sie war von einem unbefristeten Vertrag ausgegangen.
»Zieh die Bewerbung zurück, du hast keine Chance.«
Sie zupfte an einer Haarsträhne. Es war wieder einmal Zeit für einen Friseurbesuch. Vielleicht sollte sie sich endlich einen Termin holen.
»Außerdem ist der Job nichts für dich«, fuhr Viktor fort. »Da ist Stress an der Tagesordnung. Und die Leute sind alle unzufrieden und wollen wieder weg.«
Niemand hatte unzufrieden gewirkt. Und mit Stress konnte sie umgehen.
»Du bist das nicht gewohnt und wirst das nicht durchstehen.«
Wenn sie nicht so gut gelaunt wäre, hätte sie ihm jetzt widersprochen.
»Ruf an und sag, dass du es dir überlegt hast«, forderte er sie auf.
»Ich kann ja mal abwarten, ob ich überhaupt in die engere Wahl komme«, entgegnete sie diplomatisch und dachte nicht daran, die Bewerbung zurückzuziehen.
»Wirst du nicht.«
Immer noch guter Dinge, schloss Claire die Wohnungstür auf. Sie freute sich auf einen ruhigen Abend mit einem Buch. Seit sie mit Viktor zusammen war, fehlte ihr oft Zeit für sich selbst. Seine plötzliche Präsenz in ihrem Leben war ihr manchmal zu viel. Und er war sehr präsent. Und unruhig. Er konnte nicht einfach die Seele baumeln lassen und wenigstens am Wochenende einmal in den Tag hinein leben. Nein, er musste alles planen, während sie gerne spontanen Eingebungen folgte.
Deshalb war sie hin und wieder auch froh, wenn sie sich ein paar Tage nicht sahen. Ihre Freundin Zoe sagte immer, Liebe oder Verliebtheit bedeute, dass man den Partner immer sehen wolle. Jeden Tag, jede Stunde. Deshalb war Zoe auch vor einem Jahr mit ihrem Freund nach Neuseeland gegangen. Weil sie ihn nicht nur wenige Male im Jahr, sondern täglich sehen wollte. Selbst wenn sie dafür eine Schaffarm in Kauf nehmen musste. Aber Zoe war auch total verliebt in Ole. Sie hatte nun schon zwei Monate nichts mehr von ihr gehört, demnach ging es ihr gut.
Zoe hatte Viktor noch kennengelernt und sie eingehend über ihre Gefühle befragt. Sie war damals unsicher gewesen. Natürlich war sie in Viktor verliebt und irgendwann würde daraus Liebe entstehen. Hieß es doch. Aber dennoch gab es Dinge, die sie störten. Zum Beispiel, dass er gerne zu früh zu Verabredungen erschien. Oder dass er Wert darauf legte, dass sie immer, wirklich immer eine gepflegte Erscheinung war. Gammeln konnte sie mit ihm nur im eleganten Hausanzug und dezentem Make-up.
Zoe sagte, wenn man frisch verliebt sei, dürften diese Dinge überhaupt keine Rolle spielen. Taten sie aber.
Sie ging ins Badezimmer und blieb vor dem Spiegel stehen. Warum konnten die Dinge nicht einfacher sein? Vielleicht sollte sie einmal für ein Wochenende alleine verreisen, ohne Viktor. Ohne jede Stunde verplant zu haben, so wie bei ihrem letzten Urlaub mit ihm, in dem sie drei Tage von Kopfschmerzen gequält wurde. Der Gedanke munterte sie auf. Sie könnte vielleicht … Es klingelte an der Tür. Viktor? Das war auch so etwas, was sie nicht mochte, dass er sich nicht anmeldete, wenn er zu ihr kommen wollte. Er stand einfach vor der Tür und erwartete, dass sie Zeit hatte.
Sie ging zur Tür und machte sie auf. Aber es war nur ihre Nachbarin, die ein Paket abgab, das der Postbote bei ihr abgeliefert hatte.
Sie entschuldigte sich in Gedanken bei Viktor und überlegte, ob ihn ihre Art nicht manchmal störte.
Am nächsten Tag brachte sie kurz vor Feierabend zwei Aktenordner in den Keller, in dem sich das Archiv befand. Die älteren Unterlagen sollten vorerst nicht elektronisch gespeichert werden. Sie entdeckte, dass die Ordner willkürlich in die Regale gestellt worden waren und ärgerte sich über Patricia, die sich nicht die geringste Mühe gab, wenn sie etwas für sie tun sollte. Entschlossen sortierte sie die Ordner nach Jahrgängen, zog zwei aus den Regalen, die nicht dorthin gehörten, und nahm sich vor, die Ordner neu zu beschriften.
Als sie wieder zurückkam, saß Patricia nicht an ihrem Platz, aber der Cursor auf ihrem Bildschirm blinkte. Und dann hörte sie etwas. Ein Stöhnen. Es kam aus dem Büro ihres Chefs. Die Tür war nur angelehnt. Sie wusste, dass sie es besser lassen sollte, dass sie ihre Tasche nehmen und nach Hause fahren sollte. Aber sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür und drückte diese vorsichtig ein winziges Stück auf. Ihr Chef küsste Patricia und schob gerade mit seiner linken Hand deren Kleid hoch.
Das Wochenende verbrachte Claire bei Viktor, in dessen makellos sauberer Wohnung, die er direkt nach seinem Studium erworben und seinem Geschmack entsprechend eingerichtet hatte. Claire gefiel sie nicht. Alles war irgendwie nüchtern und steril. Seine teuren Designermöbel waren handgefertigt, die modernen Bilder sprachen sie nicht an, auch wenn sie, wie Viktor meinte, eine ausgezeichnete Geldanlage seien. Im Schlafzimmer stand eine Skulptur, die sie ausgesprochen albern fand, ein Mädchen auf der Flucht. Sie musste immer lächeln, wenn sie sie sah, worüber Viktor sich ärgerte.
Der Fernseher war in einem Wandschrank im Wohnzimmer versteckt. In einer alten, etwas zu wuchtigen Vitrine standen teure Gläser und ein Porzellan, das er von einer Tante bekommen hatte und in Ehren hielt, obwohl es nichts Besonderes war. Die metallische Küche blinkte und strahlte Kälte aus. Die ganze Wohnung war ungemütlich und lud nicht zum Verweilen ein. Sie war jedes Mal wieder froh, wenn sie ihre eigene Wohnung betrat.
Eigentlich hätte sie sich gerne einen Film angesehen, aber Viktor begann zu reden. Und sie wusste schon, was kam. Er wollte, dass sie bei ihm einzog. Und heiraten wollte er auch.
Das Thema war ihr unangenehm, weil sie sich allmählich unter Druck gesetzt fühlte. Nie konnten sie beisammen sein, ohne dass er darauf zu sprechen kam. Auf die Heirat, die Kinder und das Haus, das er bauen wollte.
»Claire«, er streichelte ihre Hand. »Ich liebe dich, daran ändert sich nichts mehr. Ich will mit dir zusammen sein und eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Ich habe so viele Pläne.«
Genau das war es. Sie wollte noch nicht alles planen. Viktor sprach weiter, aber sie blickte aus dem Fenster. Es dämmerte schon, bald würde es dunkel sein. Sie mochte die kalten Jahreszeiten und setzte sich gerne mit einem Buch hin, um die Welt um sich herum für einige Zeit zu vergessen. Aber Lesen ging nicht in Viktors Gegenwart. Er suchte immer wieder das Gespräch. Als sei er eifersüchtig auf das Buch, das sie gerade las.
Sie sah kurz einen dunklen Schatten an der Tür auftauchen, und ein paar grünliche Augen, die zu schmalen Schlitzen verengt waren. Viktors Kater Ascot, den sie nicht mochte. Das Tier verschwand sofort wieder, wie um ihr zu bedeuten, dass sie zu belanglos war, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Oder du hörst ganz auf.«
Sie konzentrierte sich wieder auf ihn.
»Was hältst du davon? Hast du eigentlich deine Bewerbung zurückgezogen?«, fragte er.
Sie fröstelte plötzlich, zog die Beine vor ihren Oberkörper und schlang die Arme darum.
»Nein, habe ich nicht.«
»Du hast keine Chance, sieh das doch endlich ein.«
Viktors Worte waren etwas heftiger geworden und sie sehnte sich plötzlich nach ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung.
»Ich verdiene genug für uns beide. Du brauchst nicht zu arbeiten und dich herumkommandieren zu lassen.«
Wieder ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Sie war nicht unbedingt auf eine große Karriere aus. Aber nur Hausfrau und Mutter zu sein, würde ihr auch nicht reichen. Der Gedanke, den ganzen Tag ans Haus gefesselt zu sein, mit der Nachbarin den neusten Tratsch auszutauschen und abends auf Viktor zu warten, war öde. Sie würde lieber in ferne Länder reisen und internationale Hotels aufsuchen. Vielleicht als Beraterin oder so etwas. Dick Rogers sagte kurz vor seinem Tod, die Firma wolle nach Übersee expandieren. Das hätte sie interessiert.
»Und ich will bauen, im eigenen Haus leben. Ich habe übrigens schon einen Grundriss entworfen.«
Er stand auf und kam mit zusammengerollten Papieren wieder. Als er die Pläne vor ihr ausbreitete, sah sie den Stempel eines Architekturbüros in der rechten unteren Ecke. Demnach war er mit seiner Planung schon ziemlich weit. Er zeigte ihr die Anordnung der Räume und sprach davon, mit einer Solaranlage das Wasser erwärmen zu wollen. Sie musterte die Pläne, tippte dann auf eine Stelle im Schlafzimmer und sagte: »Hier hätte ich gerne eine Mauer für ein zusätzliches kleines Zimmer zum Ankleiden oder als begehbarer Kleiderschrank. Und die Küche soll zum Wohnzimmer hin offen sein, damit ich mich mit den Gästen unterhalten kann, während ich koche.«
Er schüttelte sofort den Kopf.
»Nein, die muss geschlossen sein, weil ich im Wohnzimmer einen offenen Kamin habe. Die Bauvorschriften lassen eine Abzugshaube und einen offenen Kamin nicht im gleichen Raum zu. Und das kleine Zimmer ist unsinnig, lieber habe ich etwas mehr Platz im Schlafzimmer. Und hier …«
Sie überlegte, wie ihr Traumhaus eigentlich aussehen musste. Sie wollte kein neues Haus, sondern ein schon etwas älteres. Ein Haus mit einer Geschichte, das Leuten gehört hatte, deren Schicksal immer noch wie ein Windhauch spürbar war. Ein Haus mit dicken Wänden, damit es im Winter warm und im Sommer schön kühl war. Und sie wollte ein Morgenzimmer haben, in dem sie vormittags die Sonne genießen konnte, während sie Briefe schrieb oder arbeitete. Ein goldenes Haus, so nannte sie es insgeheim.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, Viktor sah sie beleidigt an.
»Nein«, gab sie zu. »Ich dachte gerade an mein Traumhaus.«
»Dein Traumhaus?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. Die Pläne rollten sich zusammen.
»Und wie sieht das aus?«
Es würde ihm nicht gefallen, das wusste sie. Und er würde es sofort schlechtmachen.
»Ach, nicht weiter wichtig.«
Claire wollte das Thema wechseln und versuchte, auf seine Familie zu sprechen zu kommen. Sie wusste nicht viel über sie, nur dass Viktor aus schlechten Verhältnissen kam und sich auf klassische Weise hochgearbeitet hatte. Seine Eltern hatten sich noch vor seiner Geburt getrennt. Seine Mutter lebte mit immer neuen Männern zusammen, die Viktor hasste. Er verließ seine Mutter, so schnell es ging, studierte und jobbte nebenbei, um seinen Unterhalt aufbringen zu können. Mittlerweile gab es keinen Kontakt mehr und er wollte auch keinen.
»Ich weiß überhaupt nicht, ob Bobby noch lebt.«
»Bobby?«
»Mein Bruder«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Was ist mit ihm?«, fragte sie vorsichtig.
»Er ist obdachlos.«
Der Gedanke, auf der Straße leben zu müssen, ließ sie noch mehr frieren. Sie kuschelte sich an ihn. »Was würdest du tun, wenn du ihn plötzlich irgendwo sehen würdest?«
Er dachte keine Sekunde nach. »Ich würde an ihm vorbeigehen und so tun, als erkenne ich ihn nicht.«
Ja, das würde er.
»Aber er ist dein Bruder, ihr gehört zu einer Familie«, wandte sie vorsichtig ein.
»Das sehe ich anders«, stieß er heftig hervor. »Wir hatten beide die gleiche Ausgangsposition. Aber er hat aus seinem Leben nichts gemacht. Ich sehe ihn nicht mehr als Bruder an.«
Bobby war offenbar sein wunder Punkt.
»Ihm ist nicht zu helfen.«
Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie konnte verstehen, warum er manchmal so unnachgiebig war. Er hatte selbst zu viel leisten müssen, um Mitleid mit anderen zu haben, die nichts erreicht hatten. Sie verstand ihn. Er zog sie an sich und sie genoss die Wärme seines Körpers und fragte sich, warum sie immer noch an ihren Gefühlen zweifelte.
Am Anfang schmeichelte ihr sein Interesse an ihrer Person. Er sah aus wie ein Schauspieler, war gebildet und kultiviert.
Schon nach drei Monaten sprach er von Verlobung. Aber zu diesem Zeitpunkt war sie sich ihrer Gefühle für ihn nicht mehr sicher. Sie hatte schon zwei Beziehungen gehabt, die zerbrochen waren. Anfangs war sie verliebt, aber irgendwann ließ das Gefühl nach und hinterließ nichts. Sie dachte immer, dass Liebe etwas Überwältigendes war, etwas, das alles andere überdeckte. Aber ihre Gefühle für Viktor waren nicht so. Noch nicht.
Sie streckte ihre Beine aus, die langsam einschliefen. Sie brauchte eben noch etwas Zeit. Außerdem war sie erst siebenundzwanzig Jahre und konnte noch ein wenig warten. Bis sie Viktor so liebte, wie es sein sollte.
»Und dann meine Mutter. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich ihren geblümten Morgenmantel gehasst habe«, stieß er hervor. »Ich habe mich, solange ich zu Hause lebte, immer nur geschämt. Für den Dreck, die Unordnung, für meine Mutter, die manchmal wie eine gealterte Nutte aussah.«
Sie schmiegte sich an ihn. Wie sehr er doch unter seiner Herkunft litt.
Sie gingen früh zu Bett, aber sie konnte schlecht einschlafen und wachte gegen drei Uhr auf. Dass sie überhaupt geschlafen hatte, erkannte sie an den Träumen, an die sie sich aber nur schemenhaft erinnern konnte. Viktor hatte darin mitgespielt und der Personalchef der Firma, in der sie sich vorgestellt hatte. Und Pessoa war plötzlich dort aufgetaucht, Hand in Hand mit Patricia, die ein durchsichtiges Kleid trug.
Hellwach blieb sie neben Viktor liegen, der friedlich schnarchte. Schließlich schlug sie vorsichtig die Decke zurück und lief barfuß in die Küche. Mit einem Glas Wasser schlenderte sie leise durch die Wohnung. Es gab keine Teppiche, weil Viktor diese unhygienisch fand. Die teuren Fliesen waren überaus elegant, verstärkten aber noch den Eindruck von Kälte. Nein, Viktors Wohnung war einfach nicht behaglich. Zu Hause hätte sie sich sicher vor den Fernseher gesetzt und ein wenig durch die Programme gezappt. Aber Viktors Ledergarnitur schreckte sie ab.
Plötzlich stand sie vor Ascot, der sie anfauchte, als sei sie sein persönlicher Feind und dann wie der Blitz verschwand. Blödes Tier. Sie ging wieder zurück ins Bett. Viktor schlief tief und fest. Sie blieb noch lange wach neben ihm liegen.
Viktor war die ganze nächste Woche geschäftlich unterwegs. Am Samstag war er mit zwei Freunden zu einem Marathontraining verabredet. Abends rief er Claire an und lud sie für den nächsten Tag zum Essen ein. Ins ›Xantos‹.
Das ›Xantos‹ war die beste Adresse in der Stadt. Ein kleines Restaurant mit französischem Ambiente, geführt von einem noch ganz jungen Koch, der regelmäßig in den Medien war und eine eigene Fernsehsendung hatte.
Zu ›Xantos‹ ging man zu einem besonderen Anlass. Wie damals, als sie zum ersten Mal miteinander verabredet waren. Es hatte sie mächtig beeindruckt, dass er keine Kosten scheute, um sie auszuführen.
Sie trödelte nach dem Aufstehen herum, las in aller Ruhe die Zeitung vom Vortag und sah sich dann einen Beitrag im Fernsehen an. Gegen drei Uhr kam ihr der Gedanke, ihre Bücher anders zu sortieren. Sie hatte sie kreuz und quer stehen, ohne jede Ordnung. Sie nahm sie aus den Regalen, wischte sie ab und begann sie auf dem Boden alphabetisch zu sortieren. Nach zwei Stunden kam ihr das Unternehmen sinnlos vor. Vielleicht war es besser, die Bücher nach Schwerpunkt zu ordnen. Dann fand sie ein Buch, das sie schon lange suchte. Eine rührende Liebesgeschichte zwischen einem alten Mann und einem jungen Mädchen. Begeistert begann sie darin herumzublättern und vergaß die Zeit. Erst um halb sechs sah sie auf und ließ vor Entsetzen das Buch fallen.
Viktor würde jeden Moment kommen und sie hatte noch nicht geduscht. Rasch packte sie ihre Haare notdürftig hoch und stellte sich unter die Dusche. Sie zog sich gerade ein Kleid an, als es klingelte. Sie warf einen hastigen Blick in den Spiegel. Ihre Frisur sah gar nicht so schlecht aus. Dann öffnete sie die Tür. Es war natürlich Viktor, wie immer etwas zu früh.
»Hallo Claire«, er zog sie an sich. »Du siehst gut aus. Warst du etwa noch extra beim Friseur?«
Das gefiel ihm natürlich, der Gedanke, dass sie sich besonders bemühte, nur um ihm zu gefallen.
»Ähm, nein. Setz dich einen Moment, ich bin gleich fertig.«
Er ging ins Wohnzimmer, kam aber dann ins Bad und fragte: »Was hast du denn mit den Büchern gemacht?«
»Ich wollte sie eigentlich umstellen, bin aber nicht fertig geworden.«
Er begann von seinem Training zu sprechen, während Claire sich rasch schminkte. Sie wählte einen natürlichen Lippenstift und betrachtete noch einmal ihre Frisur. Doch, das konnte so bleiben. Sie sah aus, als sei sie eben erst vom Friseur gekommen. Sie schlüpfte in sandfarbene halbhohe Schuhe, die genau zur Farbe ihres Kleides passten, und zog eine ihrer neuen Handtaschen aus der Schublade.
»Die Tasche ist neu, oder?«, fragte er.
Sie unterdrückte ein Lächeln.
»Ja, wie findest du sie?«
»Sie gefällt mir. Und deine Frisur ist toll. Hat wohl was gedauert, bis du es so hinbekommen hast, oder?«
»Ja«, log sie. »Ich habe eine halbe Stunde rumgefummelt, bevor sie so saßen.«
»Du siehst wunderschön aus«, sagte er und küsste sie.
Sie waren wirklich ein gut aussehendes Paar. Viktor verdankte seine athletische Figur regelmäßigem Training, seine ganze Erscheinung war auffällig. Sobald er einen Raum betrat, konnte er sich der Augen aller Frauen sicher sein. Und der mancher Männer ebenfalls. Manchmal fragte sie sich, was er eigentlich an ihr fand. Er konnte jede haben.
Es war schon dunkel, der Mond zeigte nur eine schmale Sichel. Die Luft war immer noch mild. Als er Claire die Autotür aufhielt, lächelte sie ihn an und er lächelte ebenfalls. Sie fuhren los, er war schweigsam und auch sie hing ihren Gedanken nach.
Schon interessant, was sie über ihren Chef und Patricia herausgefunden hatte. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass es jemand erfuhr. Er spielte bestimmt nur mit ihr und würde sie bald fallen lassen.
Was würde Pessoa wohl sagen, wenn sie ihn darauf ansprach? Sein spöttisches Lächeln würde purem Entsetzen weichen. Schöne Vorstellung. Und Patricia?
Viktor hielt vor einer roten Ampel und trommelte mit den Fingern auf dem Rand des Lenkrads.
Patricia würde es natürlich genießen. Eine Affäre mit dem Chef wertete sie auf. Machte aus einer kleinen Sekretärin eine ernst zu nehmende Frau.
Vielleicht war es sogar noch weitergegangen, vielleicht hatten sie Sex auf seinem sonst immer so steril sauberen Schreibtisch gehabt. Von Patricia konnte sie sich vorstellen, dass es dabei laut zugegangen war. Und er? Sie musste grinsen. Patricia jedenfalls konnte ihr jetzt nichts mehr vormachen. Sex im Büro, wie billig. Das passte gut zu den engen Fummeln, die sie immer trug.
»Na, was ist denn?«, murmelte Viktor und starrte auf das Rotlicht der Ampel, als könne er damit die Phasen verkürzen.
Wahrscheinlich dachte Patricia jetzt, sie habe ihn an der Angel. Sie wollte sicher heiraten und Kinder haben und ihren Lebensstandard verbessern. Nicht länger die kleine Angestellte sein, sondern die Frau des Bereichsleiters.
Die Ampel sprang auf Grün und Viktor gab etwas zu viel Gas, sodass die Reifen quietschten.
Pessoa verdiente gut und konnte noch weiter aufsteigen. Aber er dachte sicher nicht im Traum daran, sie irgendwann zu heiraten. Er suchte sicher eine Frau mit Klasse und keine Sekretärin, die nicht einmal anständig englisch sprechen konnte.
Claire lachte leise und Viktor fragte sofort: »Was amüsiert dich denn so?«
»Ach, nichts«, sagte sie leichthin. Viktor hätte für die Geschichte kein Verständnis. Nicht für Pessoas zweifelhafte Affäre und auch nicht für ihr Amüsement darüber. Viktor war standesbewusst. Und diskret. Er hätte nicht an der Tür gehorcht, sondern sofort das Büro verlassen. Ganz leise.
»Bist du denn überhaupt hungrig?«, fragte er nun.
»Ja, und wie.«
Das war gelogen. Sie hatte am Nachmittag noch eine Tüte Plätzchen gegessen.
Er fuhr vor das ›Xantos‹ vor und sofort kam ein Angestellter im schwarzen Anzug und öffnete die Beifahrertür.
Wie albern, dachte sie und stieg aus. Auch beim letzten Mal kam sofort jemand gesprungen und sie war davon sehr beeindruckt gewesen. Jetzt aber fand sie es übertrieben. Der Angestellte verbeugte sich vor Viktor und übernahm den Wagen. Dann gingen sie hinein. Während sie auf den Maître warteten, sah sie sich um. Wie immer war das ›Xantos‹ dezent, aber stilvoll dekoriert, vorwiegend in den Farben Rot und Grün. Die noch wenigen Gäste passten zu den eingedeckten Tischen mit den hochstieligen Gläsern und der üppigen Blumendekoration. Ganz in der Nähe saß eine ältere Frau, die eine Kette mit einem funkelnden Diamanten trug. Bestimmt ein echter Stein. Eine andere Frau sah mit ihrem weißen Abendkleid wie eine Braut aus. Ihr Begleiter trug sogar einen Smoking. Sicher wollten die Herrschaften noch in die Oper.
Ein Mann in mittleren Jahren, der von einem ganz jungen Mädchen in einem kleinen Schwarzen begleitet wurde, sah immer wieder auf die Uhr, so als könne er es nicht erwarten zu gehen. Wahrscheinlich in ein Hotelzimmer.
Ein Kellner brachte eine Flasche Wein an einen anderen Tisch und präsentierte höflich das Etikett, und der Gast, ein Fünfzigjähriger mit angegrauten Schläfen, studierte die Angaben und nickte dann gnädig.
Claire fühlte sich plötzlich fehl am Platze. Viel lieber würde sie zu ihrem Lieblingsitaliener gehen, eine kleine Pizzeria, in der die Reste unaufgefordert eingepackt wurden, damit man sie mit nach Hause nehmen konnte. Nur einmal war sie mit Viktor dort gewesen. Es wurde ein Reinfall. Er störte sich an der vertraulichen Art des Kellners, den jungen Gästen, die ihm zu laut waren, und den harten Bänken, die bei ihm sofort Rückenschmerzen verursachten. Nein, die Pizzeria war einfach nicht Viktors Welt.
Sie drehte sich zu ihm. Viktor lächelte auf eine Weise, die sie einen Moment irritierte. Aber bevor sie darüber nachdenken konnte, hörte sie eine bekannte Stimme.
»Na, so was. Habe ich doch richtig gesehen.«
Auch das noch. Es war tatsächlich Lena. Und ein Schritt hinter ihr, wie ein Prinzgemahl, Max, ihr Dauerverlobter. Viktors beste Freunde.
»Lena«, sagte Viktor in einem Ton, der ihr unecht vorkam. »Was macht ihr denn hier? Das ist aber eine Überraschung.«
Lena begrüßte sie und Viktor mit Küsschen links, Küsschen rechts, Max mit dem üblichen schlaffen Händedruck.
»Warum habt ihr nicht gesagt, dass ihr hier essen wollt? Dann hätten wir uns einen gemeinsamen Tisch bestellen können«, sagte Lena. Claire sah auf ihre Füße.
Der Maître erschien und Viktor fragte ihn, ob sie einen größeren Tisch haben könnten. Was selbstverständlich ging. Der Livrierte führte sie in eine ruhige Ecke. Claire ärgerte sich. Am liebsten wäre sie gegangen. Warum zum Teufel mussten sie nun den Abend mit Lena und Max verbringen?
Die beiden waren verspätete Yuppies, die Golf spielten, Aktienpakete hatten und Karriere machen wollten. Lena sprach gerne vom Lifestyle und war immer nach der neuesten Mode gekleidet. Max war nicht sehr gesprächig, außer wenn es um Politik ging. Davon verstand er etwas.
Claire mochte die zwei nicht und fand es ausgesprochen komisch, dass beider Vornamen schon seit Jahren auf der Beliebtheitsskala ganz oben standen. Sogar darin lagen sie genau im Trend.
Viktor rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich neben sie.
Sie überlegte, ob sie Unwohlsein vorschützen sollte, um den Abend zu verkürzen. Lena setzte sich ihr gegenüber und lächelte wieder, als ob sie sich total freue, sie zu sehen. Nein, es war sinnlos, sie brachte es nicht fertig. Also ergab sie sich in die Situation und atmete einmal tief durch.
Als der Sommelier ihnen die Getränkekarte reichte, sah sie hoch und fing den Blick auf, den Lena Viktor zuwarf. Sie runzelte die Stirn, was war da los? Viktor wirkte anders als sonst. Irgendwie, sie kam nicht darauf.
»Ist dir das recht?«, fragte er sie nun.
Sie hatte nicht zugehört, sagte aber: »Ja, sicher.«
Sie kannte sich mit Wein sowieso nicht aus und trank alles, sofern es nicht zu trocken war. Während der drei Gänge schaffte Lena es, ununterbrochen zu reden und gleichzeitig alles aufzuessen. Max sagte nicht viel, nickte nur hin und wieder mit dem Kopf.
Claire sah einmal unauffällig auf ihre Uhr, es war schon nach zehn. Da sie sich nicht am Gespräch beteiligte, langweilte sie sich und beobachtete die anderen Gäste. Die Frau im weißen Abendkleid würde wohl doch nicht mehr in die Oper kommen, denn sie hatte ihr Glas Wein umgestoßen und das Kleid damit ruiniert. Der Smoking redete leise auf sie ein. Er wirkte ein wenig ungehalten, während sie verlegen und mit rotem Kopf ihr Kleid mit einer Serviette betupfte.
In der Nähe ihres Tisches stand abwartend einer der Kellner und blickte zu ihnen hin. Wie aufmerksam.
Sie dachte an das Vorstellungsgespräch, das so gut gelaufen war. Vielleicht konnte sie dort sogar weiter aufsteigen. Der Personalleiter hatte auf ihre diesbezügliche Frage immerhin gesagt, es gebe verschiedene Möglichkeiten. Es wäre einfach zu schön. Sie schaute auf ihre farblos lackierten Fingernägel, auch ein Zugeständnis an Viktor. Sie mochte eigentlich keinen Nagellack, er aber fand unlackierte Nägel ungepflegt.
Hoffentlich klappte es. Eine neue Stelle wäre jetzt genau das Richtige. Als sie wieder hochsah, bemerkte sie, dass Viktor dem Kellner zunickte. Dieser verschwand kurz und kam dann mit einem Tablett an ihren Tisch. Neben der Flasche Champagner und den vier Gläsern stand auch eine winzige Torte. In ihr steckten Wunderkerzen, die ihre Funken nach allen Seiten versprühten. Wie unglaublich kitschig. Und das im ›Xantos‹.
Blitzschnell überlegte sie, was der Anlass sein konnte. Ein Geburtstag? Nein, Viktor war im November geboren. Von Lena und Max wusste sie nicht, wann sie ihren Geburtstag hatten. Sie beugte sich zu Viktor und flüsterte: »Was wird denn heute gefeiert?«
Er legte seinen Arm auf ihren und sagte feierlich: »Jetzt warte einmal.«
Irritiert sah sie ihn an. Und dann fiel es ihr ein. Siegessicher. Er sah siegessicher aus. Den ganzen Abend schon. Und Lena nickte ihm nun verständnisvoll zu. Der Kellner entfernte sich und Viktor ergriff ihre linke Hand. Vor ihm auf dem Tisch lag plötzlich eine winzige quadratische Schachtel.
»Claire«, begann er und sie wusste, was los war. Und Lena und Max wussten es ebenfalls. Sie hatten es zusammen eingefädelt.
»Wir kennen uns jetzt seit über einem Jahr und ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Dieser Ring«, er ließ ihre Hand los und öffnete die Schachtel und sie blickte auf einen goldenen, schmalen Ring mit einem rötlichen Stein, »soll ein Symbol für meine Liebe sein.«
Er wollte ihre Hand ergreifen, aber sie zog sie schnell weg. Wie konnte er nur mit Lena und Max gemeinsame Sache machen? Und dann denken, sie merke es nicht. Lena kam sich sicher ungeheuer klug vor. Sie hatte ihm bestimmt gesagt, dass sie seinen Antrag kaum zurückweisen könne, wenn sie und Max dabei waren.
»Claire, ich will dich heiraten.«
Ihr wurde schlagartig heiß und sie wusste zwei Dinge sofort. Sie hasste es, dass er etwas so Persönliches vor anderen inszenierte. Als brauche er Publikum. Wo blieb da sein Gefühl für Stil?
Und zum anderen war sie einfach noch nicht so weit. Sie konnte hier und jetzt keine Entscheidung treffen, die immerhin weitreichende Folgen hatte. Und Viktor wusste das. Aber statt ihr Zeit zu lassen, versuchte er sie zu überrumpeln und spannte dazu seine Freunde ein, die sie nicht leiden konnte. Überhaupt nicht. Lena lächelte süßlich, aber auch ein wenig boshaft. So, als freue sie sich insgeheim, dass Viktor ihr keine Wahl ließ? Keine Wahl?
Sie zerknüllte die Serviette mit der linken Hand und schluckte einmal. Alles war still geworden, auch an den Nachbartischen waren die Gespräche verstummt. Die Gäste sahen erwartungsvoll zu ihnen hin. Auf dem Gesicht der jungen Frau im schwarzen Kleid spiegelte sich grenzenlose Bewunderung.
Sie stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl beinahe nach hinten kippte.
Es wurde im Lokal noch ruhiger, nur im Hintergrund erklang leise Musik. Klirrend fiel irgendwo Besteck auf den Boden.
Sie ergriff ihre Handtasche und sagte leise: »Tut mir leid, aus deinem Plan wird nichts. Ich wünsche dir und deinen Freunden noch einen schönen Abend.«
Und damit ging Claire zum Ausgang. Sie versuchte die Blicke der Gäste zu ignorieren, sah aber noch, dass das junge Mädchen mit offenem Mund zu ihr hinstarrte. Dann war sie draußen. Ein Taxi fuhr gerade vor und sie stieg hastig ein und nannte dem Fahrer ihre Adresse. Er fuhr los, als Viktor gerade am Hoteleingang erschien. Zum Teufel mit ihnen allen.
Der Taxifahrer, ein schon älterer Pakistaner, redete von seiner Tochter, die in den Staaten sei und studiere und schon perfekt englisch sprechen könne. Sie wünschte nur, so schnell wie möglich zu Hause zu sein und hätte ihm gerne gesagt, er solle schweigen. Aber der Mann konnte nichts dafür. Nichts für Viktors lächerlichen Versuch, sie zu überrumpeln, und auch nichts für Lenas intrigante Art. Sie murmelte etwas und war froh, dass Viktor keinen Schlüssel für ihre Wohnung besaß. Sie gab dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld und hörte im Geist Viktors Ermahnung, man dürfe dem Gesinde nicht zu freundlich begegnen, da dieses das auf Dauer nur ausnutzen werde. Gesinde! Wenn sie das schon hörte.
Noch bevor sie die Wohnungstür aufschloss, hörte sie das Klingeln des Telefons. Sie ignorierte es und zog sich einen alten Morgenmantel an, der kein bisschen elegant war. Dazu noch eine dicke Schicht Creme aufs Gesicht. Auch so etwas, was Viktor nicht mochte. Er sagte einmal, eine Frau im alten Morgenmantel mit Lockenwicklern oder Gesichtsmaske sei für ihn der Inbegriff einer Schlampe.
Immer noch klingelte es. Sie nahm eine angebrochene Flasche Rotwein mit ins Wohnzimmer und setzte sich hin.
Was fiel ihm eigentlich ein? Und ausgerechnet mit Lena und Max. Lena, die überhaupt keine Klasse hatte und so von sich eingenommen war. Und dabei hatte sie ihr Jurastudium abbrechen müssen, weil sie es einfach nicht schaffte. Und Max hatte es zwar bis zum zweiten Staatsexamen gebracht, arbeitete aber in einem Unternehmen in der Rechtsabteilung. Soviel sie wusste, verdiente Lena sogar mehr als er. Klar, weil sie sich besser verkaufen konnte als Max.
Die beiden waren ein einfältiges, völlig uninteressantes Paar und sie konnte zuerst nicht verstehen, wieso Viktor die Freundschaft mit ihnen pflegte. Aber dann ging ihr auf, dass es die Bewunderung war, mit der beide ihn betrachteten. Das sah ihm ähnlich. Bewundert werden zu wollen, was sie nie getan hatte.
Das Telefon begann wieder mit seinem Klingelterror, aber Claire blieb sitzen. Sollte es doch die ganze Nacht klingeln. Sie konnte immer noch den Stecker aus der Dose ziehen. Sie stellte den Fernseher an, zappte sich durch die Programme und blieb bei einer Verkaufsshow hängen, in der ein übergewichtiger Moderator ein Handy mit etlichen Funktionen anpries.
Sie nahm sich ein zweites Glas Wein und merkte, dass sie allmählich betrunken wurde. Egal, morgen würde sie etwas länger schlafen. Sie konnte auch einmal zu spät kommen, so wie Patricia.
Was hatte sie vorhin im Auto noch gedacht? Viktor sei diskret? Was für ein schlechter Menschenkenner sie doch war. Wie konnte er bloß seine blöden Freunde in eine so private Sache hineinziehen. Ob sie ihm am Ende noch den Vorschlag gemacht hatten? Genau, so musste es gewesen sein. Lena hatte ihm sicher gesagt, er solle ihr einen Antrag in ihrem Beisein machen. Und Viktor war sofort darauf hereingefallen. Weil er sie nicht wirklich durchschaute. Seine tollen Freunde. Lena musste wissen, dass sie so etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Sie trank noch ein Glas und wurde schlagartig müde. Benommen erhob sie sich und brachte das Glas in die Küche. Wieder klingelte es. Viktor. Was fiel ihm eigentlich ein? Wütend ging sie zum Telefon und riss den Hörer von der Gabel.
»Lass mich bloß in Ruhe, du arrogantes Arschloch. Ich will dich nie mehr sehen.«
»Claire?«, eine zaghafte Stimme. Nicht Viktors. »Bist du das?«
Tim. Ihr kleiner Bruder Tim. Sie war sofort wieder nüchtern. Und ihr Herz begann einen Trommelwirbel.
»Tim«, sagte sie beunruhigt. »Entschuldige, ich dachte, es sei Viktor.«
»Viktor? Und warum nennst du ihn ein Arschloch?«
Sie lehnte sich an die Wand. Einen Moment wurde ihr schwindelig. Sicher der Alkohol.
»Mein Gott Tim, ich hätte nicht gedacht, dass du so spät noch anrufst. Weißt du denn nicht, dass nächtliche Telefonate nur Notfällen vorbehalten sind?«
Schweigen.
»Tim? Was ist los?«
Er sagte mit kläglicher Stimme: »Aber es ist ein Notfall.«
War ihm das Geld ausgegangen? Oder war er krank? Ihr brach der Schweiß aus.
»Was ist passiert?«, sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Es ist Nina. Sie ist fort.«
Nina also. Erleichtert atmete sie aus.
Nina war seit der gemeinsamen Zeit im Sandkasten seine treue Gefährtin. Die beiden waren schon als Kinder unzertrennlich. Sie spielten mit Tims Autobahn und Legosteinen und mit Ninas heiß geliebter Barbiepuppe. Dann durfte Tim reiten gehen und Nina ging wie selbstverständlich mit und sah ihm zu. Die Pferde schweißten die beiden noch mehr zusammen. Dennoch dachte Claire, dass spätestens in der Pubertät Schluss sein würde. Weil jeder für sich andere Interessen entwickeln und sich natürlich verlieben würde. Aber die Pubertät kam und die beiden unternahmen weiter alles gemeinsam, fuhren täglich in den Stall und kümmerten sich um die Pferde. Sie lernten für die Schule, gingen ins Kino und liehen sich Bücher aus. Pferdebücher natürlich. Irgendwann wurde aus ihnen ein Liebespaar.
Vor zwei Jahren waren sie nach Irland gefahren und hatten dort einen Hof mit Pferden entdeckt, der zum Verkauf stand. Tim kaufte den Hof und ging mit Nina nach Irland.
Und Nina war nun also gegangen.
Sie hatte immer darauf gewartet, dass die beiden eines Tages merken würden, dass sie erwachsen waren. Vielleicht war das jetzt passiert. Zumindest bei Nina.
»Oh, Tim, das tut mir leid«, sagte sie. Dann fiel ihr etwas ein. »Bist du sicher, dass nichts passiert ist? Dass niemand sie entführt hat oder so?« Alberne Vorstellung. Wer würde Nina schon entführen?
»Nein, sie ist freiwillig gegangen. Claire, ich weiß jetzt überhaupt nichts mehr.«
Seine Stimme rührte sie.
»Wie geht es dir denn jetzt?«, fragte sie und überlegte, ob sie so kurzfristig Urlaub bekommen würde.
»Nicht besonders gut.«
Typisch Tim, er untertrieb immer. Wenn er sagte, es gehe ihm »nicht so gut«, ging es ihm in Wirklichkeit sehr schlecht.
»Ich werde zu dir kommen«, sagte sie und fragte sich, wie sie ihren kurzfristigen Urlaub begründen sollte.
»Ja, bitte komm.«
Sie hörte seiner Stimme die Erleichterung an.
»Okay, ich spreche morgen mit meinem Chef und rufe dich dann an. Tim, wir kriegen das schon wieder hin. Alles wird gut.«
Als sie auflegte, brummte ihr der Schädel. Natürlich würde sie zu ihm fliegen. Er brauchte sie jetzt wirklich. Tim war in ihren Augen immer noch der kleine Bruder. Was mochte nur in Nina gefahren sein? Ob sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte?
Irgendwie konnte sie sich das nur schwer vorstellen. Und was war der Trennung vorausgegangen? Ein Streit? Ich bin ja bald bei ihm, sagte sie sich. Dann erfahre ich alles.
Dann fiel ihr Viktor ein, den sie vor ihrer Abreise nicht mehr sehen wollte. Er würde nicht wissen, was passiert war und wo sie steckte. Geschah ihm ganz recht. Dann konnte er sich einmal Gedanken machen.
Sie ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen, und starrte ihr weißes Gesicht an. Die Creme war getrocknet, sie sah aus wie ein Gespenst. Sie rieb sich das Gesicht mit einem Waschlappen ab, bis ihre Haut ganz rot war. Wieder erfasste Schwindel sie. Wie konnte sie nur so viel trinken? Aber normalerweise vertrug sie einiges an Alkohol.
Müde tappte sie ins Schlafzimmer und setzte sich auf den Bettrand. Sie überlegte, ob sie ihre Eltern benachrichtigen sollte, gab den Gedanken aber sofort wieder auf. Ihre Eltern interessierten sich nicht für Nina, sie würden ihre Sorgen nicht verstehen. Und Ninas Eltern? Der Gedanke war beinahe lächerlich. Sie kümmerten sich seit Jahren nicht mehr um ihre Tochter und wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass sie in Irland war.
Sie legte sich hin, sicher, dass sie keinen Schlaf finden würde. Erst der Stress mit Viktor, jetzt Tim. Aber sie schlief sofort ein.
Sie wachte mit leichten Kopfschmerzen auf und fuhr eine Stunde früher ins Büro, weil sie so viel wie möglich noch erledigen wollte, bevor sie ihren Urlaub beantragte.
Wie meistens war sie die Erste. Hastig ging Claire ihre Post durch und begann mit dem Protokoll der letzten Sitzung.
Aber was würde sie tun, wenn Pessoa ihr keinen Urlaub gab? Zum Beispiel aus dienstlichen Gründen?
Sie zwang sich zur Ruhe und legte sich Argumente zurecht. Sie würde sagen, ihr Bruder sei ins Krankenhaus gekommen und sie müsse sofort zu ihm. Da konnte er ihr den Urlaub eigentlich nicht verweigern.
Sie speicherte die fertiggestellte Datei im allgemeinen Ordner ab, auf den jeder in der Abteilung Zugriff hatte. Wenn Pessoa ihr den Urlaub verweigerte, würde sie einfach sagen, er läge auf der Intensivstation und es ginge ihm sehr schlecht.
Sie öffnete ein neues Dokument für die schriftliche Übergabe.
Und wenn er sich dann immer noch sperrte? Ihr linkes Auge zuckte. Notfalls würde sie anfangen zu weinen. Da wurden die meisten Männer schwach.
Nervös machte sie die letzte Statistik fertig, verrechnete sich zweimal und speicherte auch diese ab.
Patricia kam mit der üblichen Verspätung von dreißig Minuten. Anfangs waren es nur fünfzehn Minuten gewesen, sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein.
Eine weitere Stunde später kam Conrad Pessoa, der ihr und Patricia nur stumm zunickte und in seinem Büro verschwand. Nach fünf Minuten ging Patricia zu ihm, mit einem selbstgefälligen Lächeln auf dem Gesicht. Aber höchstens eine Minute später kam sie wieder mit nach unten gezogenen Mundwinkeln hinaus.
Claire wartete noch zehn Minuten, dann atmete sie einmal tief durch, ging an der Sekretärin vorbei und klopfte an seine Tür. Ein mürrisches »Herein.« Er saß hinter seinem Schreibtisch, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
»Was gibt es?«, fragte er kurz.
»Ich wollte um Urlaub bitten«, begann sie. »Aus familiären Gründen.«
Sie musste wieder an ihre Eltern denken, die kurz nach Tims achtzehntem Geburtstag nach Kanada auswanderten, um sich dort etwas aufzubauen, wie sie es nannten. Von einem Tag auf den anderen gaben sie jede Verantwortung für ihre Kinder ab.
»Was heißt das? Familiäre Gründe?«, fragte er, ohne aufzusehen.
In seinem Haar befand sich noch ein Klecks Gel, den er nicht richtig verrieben hatte.
»Es geht um meinen Bruder. Er ist krank und ich muss zu ihm. Wenn es geht, schon morgen.«
Tim brauchte sie wirklich.
»Was hat er denn?«
Er sah endlich hoch.
Sie musste darauf nicht antworten, es ging ihn schließlich nichts an. Aber wenn er ihr den Urlaub nicht genehmigte, konnte sie nicht fahren.
»Er ist krank«, sie überlegte fieberhaft. »Tuberkulose. Ich muss sofort zu ihm. Wahrscheinlich muss ich ihn wieder in die Schweiz bringen. Wie beim letzten Mal.«
Es hörte sich unglaublich an. Aber sie hatte noch nie gut lügen können.
»In die Schweiz?«, er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
»Das ist aber ganz schön teuer.«
Das sagte ausgerechnet er, der selbst ein teures Coupé fuhr.
»Nun, vielleicht muss er wieder ins Sanatorium, das weiß ich aber noch nicht. Ich muss zuerst mit seinem Arzt sprechen. Bekomme ich den Urlaub?«
Er zögerte einen Moment und sie dachte, dass sie notfalls kündigen könne. Aber dann nickte er gnädig.
»Von mir aus. Aber Sie müssen mit Patricia eine Übergabe machen.«
»Ja, natürlich. Ich möchte meinen Resturlaub nehmen, drei Wochen. Ist das in Ordnung?«
»Drei Wochen? So viel Urlaub haben Sie noch?«, fragte er.
Wieso wusste er das nicht? Er kontrollierte doch so gerne die Zeitkonten der Mitarbeiter.
»Ja, und ich möchte ihn komplett antreten. Dann kann ich auch alles erledigen, was nötig ist.«
Er musterte sie und sie hielt seinem Blick stand.
»Na, gut. Patricia kann Sie vertreten. So viel ist es ja nicht.«
Er wollte sie beleidigen. Sie sah das übliche spöttische Funkeln in seinen Augen. Aber sie sah auch seine Hand auf Patricias Hinterteil und unterdrückte ein Grinsen. Sie würde ihn nie wieder ernst nehmen können.
Sie gab Patricia das Übergabeprotokoll, das diese nur unwillig annahm. Dann bat sie sie, für sie einen Flug zu reservieren, was sie ebenso widerwillig tat. Kurz nach Mittag verließ sie das Büro. Sie hatte sich von Pessoa noch verabschieden wollen, aber er saß bei einem der Abteilungsleiter und wollte nicht gestört werden.
Als sie auf die Straße trat, musste sie an ihren früheren Chef denken. Dick Rogers war so ganz anders gewesen. Er hatte sie gemocht und ihr das auch gesagt. Als sie einmal nach längerer Krankheit wieder ihren Dienst antrat, hatte er sie herzlich begrüßt und gesagt, sie solle es langsam angehen. Er war charismatisch und stets über alle Vorgänge informiert. Er ließ ihr viele Freiheiten und verstand es trotz seines stressigen Jobs, das Leben zu genießen. Am meisten schätzte sie seine lockere und manchmal sehr witzige Art. Er war ein fröhlicher Mensch, in dessen Gegenwart sich jeder wohlfühlte. Sie vermisste ihn.