Das kälteste aller kalten Ungeheuer? -  - E-Book

Das kälteste aller kalten Ungeheuer? E-Book

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Beschreibung

Der Staat ist eine multiple, intersektionale Herrschaftsstrukur. Die Beiträge des Bandes theoretisieren moderne westliche Staatlichkeit aus der Perspektive dieser Herrschaftsförmigkeit von Geschlechter-, Sexualitäts- und Klassenverhältnissen, rassifizierten und (post-)kolonialen Konstellationen. Mit dieser theoretischen Sicht werden die immer wieder hergestellten kombinierten Ungleichheits-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse systematisch durchleuchtet. Durch die Verknüpfung der Staatstheoretisierung mit für die kritische feministische Forschung wichtigen Begriffen wie Herrschaft, Gewalt, Körper, Autonomie, Sorge, Affekte und Begehren entsteht ein Mosaik kritisch-theoretischer Annäherungen an den modernen westlichen Staat.

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Cover for EPUB

Gundula Ludwig, Birgit Sauer (Hg.)

Das kälteste aller kalten Ungeheuer?

Annäherungen an intersektionale Staatstheorie

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Der Staat ist eine multiple, intersektionale Herrschaftsstrukur. Die Beiträge des Bandes theoretisieren moderne westliche Staatlichkeit aus der Perspektive dieser Herrschaftsförmigkeit von Geschlechter-, Sexualitäts- und Klassenverhältnissen, rassifizierten und (post-)kolonialen Konstellationen. Mit dieser theoretischen Sicht werden die immer wieder hergestellten kombinierten Ungleichheits-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse systematisch durchleuchtet. Durch die Verknüpfung der Staatstheoretisierung mit für die kritische feministische Forschung wichtigen Begriffen wie Herrschaft, Gewalt, Körper, Autonomie, Sorge, Affekte und Begehren entsteht ein Mosaik kritisch-theoretischer Annäherungen an den modernen westlichen Staat.

Vita

Gundula Ludwig ist Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse an der Universität Innsbruck. Birgit Sauer ist Professorin i.R. für Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Gundula Ludwig und Birgit Sauer: Der Staat und mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse: Eine Einleitung

Grundlagen feministischer Staatstheorie

Der Staat und mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse

Intersektionale Annäherungen an »das kälteste aller kalten Ungeheuer«

Zu den Beiträgen

Literatur

Zentrale Begriffe von Staatstheorien

Matti Traußneck: Formationen von (Un-)Zugehörigkeit und Staat

Einleitung

Standpunkttheorie des Mangels

Ästhetische Formationen des Begehrens

Vignette 1: Staat. Was ist das eigentlich?

Vignette 2: Stating the Obvious

Vignette 3: Über Sex kann man nur auf Englisch singen (Tocotronic 1995)

Vignette 4: Sequenziertes Werden

Vignette 5: Zugehörigkeitsgrenzregime

Vignette 6: Er gehört zu mir

Vignette 7: Asterix und Obelisk

Vignette 8: Jenseits des Staatsprinzips

Vignette 9: Down the Rabbit Hole

Vignette 10: Get together

Vignette 11: Das Souterrain

Vignette 12: In the Name of Love

Vignette 13: Beyoncé Knowledge

Literatur

Marion Löffler: Herrschaft: Erkundungen intersektionaler Staatlichkeit anhand eines Schlüsselbegriffs klassischer Staatstheorie

Einleitung: Feministische Staatstheorien als Herrschaftskritik

Der Staat und die ›Magie‹ männlicher Herrschaft

Die Vertragsmetapher als Herrschaftslegitimation

Intersektionale Staatlichkeit zwischen Herrschaft und Emanzipation

Literatur

Tamás Jules Fütty: Staat und Gewalt: Die Kolonialität von Geschlecht und Gewalt als ›postkoloniale Maske der Demokratie‹

Staat, Gewalt und Geschlecht

Staat, Gewalt und die ›Kolonialität von Macht und Wissen‹

Epistemische Gewalt, Staat und Subjektivation

Staat, Gewalt und die Kolonialität von Geschlecht und Sexualität

Die postkoloniale Maske des Staates

Die Kolonialität von Gewalt, Geschlecht und Sexualität am Beispiel der Verwerfung von LSBTQ-Geflüchteten in EU-Asylverfahren

Fazit

Literatur

Carolina Alves Vestena: Intersektionale Rechtskritik und die Ambivalenz des Rechts

Einleitung

Materialistische Rechtskritik und die Kritik der Klassenherrschaft

Rassismus, Kolonialismus und formelle Gleichheit

Hegemoniale Lebensweise und die Normalisierung männlicher Dominanz

Zwischenfazit: Grenzen des Rechts in der Überkreuzung von Klasse, race und Geschlecht

Die Logik des Rechts und die Umkämpftheit des juridischen Feldes

Die umkämpfte Rechtsauslegung

Die Konkurrenz um Anerkennung und strategische Positionen im Feld

Fazit: Intersektionalität als Ansatz für die Analyse von Rechtskämpfen

Literatur

Angela Wegscheider: Spezielle Abhängigkeiten, Autonomie und Staat

Behinderung als soziales und politisches Phänomen

(Relationale) Autonomie

Paradoxe Autonomie durch den Wohlfahrtsstaat

Autonomie und Inklusion als staatlicher Auftrag

Literatur

Gesellschaftliche Grundlagen von Staatlichkeit

Friederike Beier: Arbeit, Staat und die Techniken der Macht: Intersektionale und (neo-)koloniale Machteffekte transnationaler Arbeitsstatistiken

Vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und Techniken der Macht

Materialistisch-feministische staatstheoretische Ansätze

Techniken der Macht: Statistiken als binäre Trennungstechniken

Transnationale Grenzziehungen zwischen produktiver und re_produktiver Arbeit

Die Quantifizierung von Arbeit durch den Völkerbund

Grenzziehungen durch die Vereinten Nationen

Feministische Kritik am Arbeitsbegriff und deren staatliche Vereinnahmung

Ausblick: Staat, Wissen und transnationale Techniken der Macht

Literatur

Cari Maier: Eine Perspektive der Sorge im strukturell sorglosen Staat

»Das Private ist politisch!« Historische und aktuelle queer_feministische Kämpfe um Sorge

Der strukturell sorglose Staat

Eine Perspektive der Sorge

Literatur

Denise Bergold-Caldwell und Gundula Ludwig: Der Staat in den Körpern, der Körper im Staat: Staats- und körpertheoretische Perspektiven auf (negative) Subjektivierung, Ausbeutung und Bio_Nekropolitik

Körper und Staat – entfernte Verbindungen

Der Staat als Subjektivierungsinstanz

Der postkoloniale Staat, verkörperte Subjektivierung und die Legitimation von Ausbeutung

Staatliche Subjektivierung und die Körper der Ausbeutung

Der bio_nekropolitische Staat

Negative Subjektivierung

Staatliche (Nicht-)Subjektivierung und die internalistische Selbsterzählung des Staates

Fazit: Der Staat in den Körpern

Literatur

Birgit Sauer: Sine ira et studio? Das »Gehäuse der Hörigkeit« affekttheoretisch und intersektional gelesen

Kontext und Problemformulierung

Das liberale affektive Trennungsdispositiv

Staat als intersektional-affektives Terrain: Materialität, Hegemonie, Regieren

Materialistische Staatstheorie: Affektive Herrschaftsausübung durch intersektionale Klassifikation

Staat als Hegemonie: »feeling power«

Affektive Gouvernementalität: Der Staat als Subjektivierungsweise und Mechanismus von Othering

Emanzipationsperspektiven? Ausblick

Literatur

Christine M. Klapeer: Den Leviathan begehren: Thomas Hobbes Vertragstheorie, intersektionale Ungleichheiten und der Staat als affektives Phantasma

»Armselig, ekelhaft, tierisch«: Das zerstörerische Begehren des Naturzustands und seine kolonial-vergeschlechtlichten Implikationen

»Von den Leidenschaften dazu getrieben, sich einer Regierung zu unterwerfen«: Der Gesellschaftsvertrag als begehrenspolitischer Akt

Die Verschleierung der konstitutiven Funktion von Begehren: Der Staat als affektives Phantasma

Literatur

Marlene Radl: Autoritär-populistische Konjunktur? Spuren der Autoritarisierung in Staat und Subjekt

Autoritäre Grundierung kapitalistischer Staatlichkeit

Periodisierung von Staatlichkeit

Autoritärer Etatismus, autoritärer Populismus

Konjunktur des Autoritären?

Schlussfolgerungen

Literatur

Autor*innen

Vorwort

Die Grundlagen dieses Buches konnten wir auf dem Symposium Das kälteste aller kalten Ungeheuer? Perspektiven intersektionaler Staatstheorie im Mai 2022 an der Universität Innsbruck diskutieren. Diese Tage, an denen die ersten Skizzen der Texte vorgestellt und kommentiert wurden, waren sehr intensiv, lehrreich und unterstützend. Für dieses Engagement und die Kapitel in diesem Buch danken wir allen Autor*innen. Ebenso danken wir allen Teilnehmer*innen des Symposiums für ihre Kommentare und Fragen. Dank gilt auch dem Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) der Universität Innsbruck, das das Symposium finanziell ermöglicht hat. Besonders bedanken wollen wir uns bei Julia Tschuggnall, Magdalena Lohfeyer und Oliver Hergetz für die Unterstützung in der Organisation und Durchführung der Veranstaltung. Ebenso geht Dank an das International Relations Office der Universität Innsbruck für die finanzielle Unterstützung des Symposiums und an das Künstlerhaus Büchsenhausen für die Räume und angenehme Atmosphäre. Für die finanzielle Unterstützung des Lektorats danken wir dem Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) der Universität Innsbruck. Ganz großen Dank auch an Iris Weißenböck für das sorgfältige Lektorieren der Texte.

Der Staat und mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse: Eine Einleitung

Gundula Ludwig und Birgit Sauer

Grundlagen feministischer Staatstheorie

Feministische Staatstheorie basiert auf der Prämisse, dass die Politikwissenschaft in einem »vor-wissenschaftlichen Denken« (Kreisky 1995: 27) verbleibt, solange sie die Bedeutung von Geschlecht für die Analyse von Staat, Gesellschaft und Politik ignoriert. Feministische Politikwissenschaft ist demgegenüber, wie Eva Kreisky in den 1990er Jahren konstatierte, von dem erkenntnistheoretischen Interesse getragen, geschlechtsneutrale »Halbwahrheiten« (ebd.) aufzubrechen, die nicht nur die Disziplin präg(t)en, sondern ebenso staatliches Handeln. Die Vergeschlechtlichung staatlicher Strukturen, Institutionen und Normen aufzudecken sowie ihre vermeintliche Neutralität zu kritisieren, ist daher das Ziel feministischer Staatstheorie. Feministische Staatstheorie zeigt auf, wie der Staat in komplexen und widersprüchlichen Prozessen aus Geschlechterverhältnissen entsteht und wie er Geschlechterverhältnisse als Ungleichheits-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse reproduziert und legimitiert.

Die Auseinandersetzung mit dem Staat setzte innerhalb feministischer Theoriebildung erst relativ spät ein. Die steigende Bedeutung von Staaten für die Gleichstellung von Frauen, aber auch die neoliberale Ideologie der Verabschiedung des Staates zugunsten der Dominanz von Marktkräften ließen intensive theoretische Auseinandersetzungen mit dem Staat seit den 1990er Jahren vor allem im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum entstehen (u.a. Allen 1990; Pringle/Watson 1990; Watson 1990; Brown 1992, Kreisky/Sauer 1995, 1997). Staatstheoretische Texte wollen die Patriarchalität oder Maskulinität des Staates jenseits seiner buchstäblichen ›Bemanntheit‹ theoretisch fassen. Wendy Browns (1992) Text Finding the man in the state war hier für die frühen feministischen staatstheoretischen Debatten paradigmatisch, ging es ihr doch darum, Männlichkeit als staatliche Struktur zu theoretisieren, ohne das schlichte Argument, dass Männer staatliche Positionen besetzen.

Durchaus in der Tradition feministischer Wissenschaftstheorie verfolgt feministische Staatstheorie zwei Anliegen: durch die Suspendierung eines vermeintlich universellen Standpunkts Theoretisierungen von Staat, Politik und Gesellschaft komplexer zu machen (Bargetz/Ludwig 2023) und den »folgenreiche[n] männliche[n] Schulterschluß zwischen politischer ›Praxis‹ und politischer ›Wissenschaft‹« (Kreisky 1995: 36) aufzubrechen, der in vielfältiger Weise zur Naturalisierung von Ungleichheitsverhältnissen und zur Verengung des Politikverständnisses führt(e). Feministische Staatstheorie hat sich daher von Beginn an immer auch als eingreifende Wissenschaft verstanden: »Theoretisierung geschlechtsspezifischer Herrschaft im Hinblick auf Staatlichkeit soll ein Instrumentarium bereitstellen, das geschlechtsspezifische Herrschaft benennen, kritisieren, aber auch verändern kann. Damit sind Staatstheorien niemals nur festschreibend, sondern zugleich politisch und emanzipatorisch orientiert« (Löffler 2011: 193).

Um zu erklären, wie Geschlecht und Staat miteinander verwoben sind – aber auch, wie sich dieses Zusammenspiel immer wieder verändert –, intervenierten Feminist*innen in zweierlei Hinsicht in die Staatstheorie: Erstens wurden ›klassische‹ staatstheoretische Begriffe, Konzepte und Theorien erweitert, und zweitens wurden neue Begriffe, Konzepte und Theoreme als Teil der Staatstheorie etabliert.

So wies beispielsweise Carole Pateman (1988) den Gesellschaftsvertrag als zutiefst vergeschlechtlichte Übereinkunft aus, wird er doch von weißen, bürgerlichen, heterosexuellen Männern geschlossen. Zudem zeigte Pateman, wie die Konstruktion des vertragsfähigen Individuums »ein maskulinistisches Phantasma« darstellt (Ludwig 2023: 54): Denn nur wenn Abhängigkeiten, Emotionen und Sorgebeziehungen in den feminisierten Bereich der Privatheit ausgelagert werden, können die öffentlich-politischen Bürger (sic!) als autonome, rationale Individuen imaginiert werden. Mit dieser feministischen Erweiterung der Vertragstheorien legte Pateman dar, wie bereits die Grundlage moderner westlicher Staatlichkeit – der Vertrag – ohne ungleiche Geschlechterverhältnisse nicht aufrechtzuerhalten wäre.

In ähnlicher Weise wies Mechthild Rumpf (1992) die Annahme des staatlichen Gewaltmonopols als vergeschlechtlichte Konstruktion aus. Denn neben dem staatlichen Gewaltmonopol existiert ein maskulines ›privates‹ Gewaltmonopol innerhalb der Familie, das durch den Staat erst ermöglicht wird (Sauer 2002: 91). Patriarchal-heteronormative Geschlechter- und Familienkonstruktionen sind Kehrseite wie Fundament des politisch-theoretischen »Mythos des staatlichen Gewaltmonopols« (Rumpf 1992: 12) und der politischen Praxis der Legitimation der »Verfügungsgewalt des (Ehe-)Mannes über die (Ehe-)Frau bis hin zum Recht auf körperliche Gewalt« (Sauer 2008: 98).

Auch das Konzept der Staatsbürgerschaft als vermeintlich universelles konnte einer feministischen Kritik nicht standhalten. Der androzentrische Charakter von Staatsbürgerschaft manifestiert sich über den historischen Ausschluss von Frauen hinaus darin, dass die Parameter, die Staatsbürgerschaft definieren, Sedimentierungen weißer, männlicher, bürgerlicher, heterosexueller, ability-zentrierter Lebensweisen sind (Wilde 1997). Ebenso wurde das Recht aus feministischer Perspektive als androzentrische Konstruktion entlarvt. Nicht Gleichheit und Objektivität liegen ihm zugrunde, sondern Normen, die »männlich, aber auch weiß und einheimisch, heterosexuell und kulturell unauffällig sind« (Holzleithner 2009: 48). Konsequenterweise erweist sich der vermeintliche ›Universalismus‹ des Rechts nicht nur als »männliche Parteinahme«, sondern auch als Strategie, diese auszublenden (Baer/Berghahn 1996: 227).

Neben diesen Revisionen staatstheoretischer Konzepte bestand der Einsatz feministischer Konzeptualisierungen darin, neue Begriffe in die Staatstheorie hineinzutragen: Basierend auf der Suspendierung des androzentrischen Phantasmas des vermeintlich körper-, emotions- und beziehungslosen Bürgers als Grundlage für Staat und Politik und auf der Kritik an der Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wurde sichtbar gemacht, dass Reproduktion, Sorge, Körper, Affekte, Sexualität, Lebensformen und soziale Beziehungen zentrale Stützen für Staatlichkeit als auch Effekt staatlicher Regulierungen, Disziplinierungen und Norm(alis)ierungen sind.

Durch diese Integration neuer Begriffe und Konzepte in die Staatstheorie konnte gezeigt werden, dass westliche Wohlfahrtsstaaten auf privat erbrachter Reproduktionsarbeit von (zumeist) Frauen aufbauen (Sauer 2001: 125 ff.). Sorgearbeit und jene Ungleichheitsverhältnisse, die dazu führen, dass sie entweder privat und unbezahlt oder prekär und mit geringem Lohn und Prestige versehen geleistet werden, können erst Teil staatstheoretischer Kritik werden, wenn der politische Charakter von Sorge- und Familienverhältnissen anerkannt wird (Maier 2022).

Ebenso führte das feministische Beharren, dass auch Sexualität und Körper mit dem Staat verwoben sind, zu einer Erweiterung der Staatstheorie. Damit konnte eine umfassende

»Politisierung der Tatsache [angestoßen werden], dass dieses vermeintlich Private hochgradig staatlich reguliert ist – nicht nur durch explizite eugenische, pronatalistische (geburtenfördernde) oder antinatalistische (geburtenreduzierende) Bevölkerungspolitik, sondern durch Gesundheitspolitik wie Abtreibungsgesetze, Familien- und Sozialpolitik oder den wissenspolitischen Rahmen der Bevölkerungsstatistik. Eine Politisierung des Privaten meint in diesem Zusammenhang also immer schon eine Politisierung der Verstaatlichung des Privaten« (Schultz 2009: 183 f.).

Sexistische, heteronormative, klassistische, rassistische und ability-zentrierte Bevölkerungs- und Reproduktionspolitiken sind somit konstitutiv mit moderner westlicher Nationalstaatlichkeit verwoben (Kontos 1997; Schultz 2022).

Schließlich geriet mit dem »emotional« und »affective turn« (Clough/Halley 2007) auch die Rolle von Emotionen und Affekten für die Handlungsmotivation im Staat sowie in staatlichen Bürokratien in den kritisch-feministischen Blick. Entgegen dem Ideal einer rationalen, interesselosen Staatsverwaltung konnten die affektiven Grundlagen weißer männlicher Herrschaft sowie der Funktionsweise staatlicher Bürokratien sichtbar gemacht werden (Penz/Sauer 2020; Bargetz 2018).

Insbesondere in ihren Anfängen bezog sich feministische Staatstheorie in kritischer, wenngleich produktiver Distanz auf (neo-)marxistische Theorie. Dort existierte der größte Fundus an staatstheoretischen Arbeiten zu Ungleichheit und Herrschaft. Eine Theoretisierung des Staates legten die Klassiker allerdings nicht vor: Friedrich Engels (1969[1880]) bezeichnete den Staat als »ideellen Gesamtkapitalisten«, und Karl Marx, der die Staatskonzeption Friedrich Hegels vom Kopf auf die Füße stellte, argumentierte, dass der bürgerliche Staat nichts als eine »illusorische Gemeinschaftlichkeit« sei (Marx 1969 [1845/1846]): 33). Erst im 20. Jahrhundert wurde eine veritable marxistische Staatstheorie entwickelt: von Antonio Gramsci über Louis Althusser zu Nicos Poulantzas, Bop Jessop, Joachim Hirsch und Alex Demirović. Sie haben gezeigt, dass der Staat zwar formell von der kapitalistischen Ökonomie getrennt, aber dennoch ein bürgerlicher Staat ist mit dem Zweck, eine Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die auf Ausbeutung beruht und die Produktion von Mehrwert zur grundlegenden Rationale erhebt. Aus dieser Sicht konnte der Staat als gesellschaftliches Verhältnis und »materielle Verdichtung« (Poulantzas 2002[1978]): 159) gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse theoretisiert werden. Der Staat wird in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen immer wieder hergestellt, in denen freilich nicht alle Menschen die gleichen Ausgangspositionen haben. Dennoch aber ist konsequenterweise der bürgerliche Staat kein einheitliches Gebilde, das einen kohärenten Willen verfolgt, sondern ein »strategisches Feld und strategische[r] Prozess […], in dem sich Machtknoten und Machtnetze kreuzen, die sich sowohl verbinden als auch Widersprüche und Abstufungen zeigen« (ebd.: 167).

Anders als die liberale Staatstheorie legte die (neo-)marxistische Staatstheorie damit den Grundstein, um den Staat weder als Ausdruck des Allgemeinwohls noch als Garant von Freiheit und Gleichheit, sondern als jene Institution zu fassen, die kapitalistische Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse aufrechterhält, doch zugleich durch die liberalen Postulate von Freiheit und Gleichheit versucht, dies zu verschleiern. Und dennoch blieb die (neo-)marxistische Staatstheorie in ihrer Kritik begrenzt: Denn der Staat sichert nicht nur Klassenverhältnisse, sondern auch Geschlechterverhältnisse. Diese Einsicht stellt den Ausgangspunkt für feministisch-marxistische Staatstheorien seit den 1980er Jahren dar. Der bürgerliche Staat, so wurde unter anderem von Mary McIntosh (1978), Zillah Eisenstein (1984) und Catherine MacKinnon (1989) gezeigt, ist ein bürgerlicher und patriarchaler und dient der Aufrechterhaltung beider Herrschaftsstrukturen (Sauer 2001), nicht zuletzt, da sich der Kapitalismus ohne Geschlechterverhältnisse schlicht nicht reproduzieren könnte. Aus einer feministischen formanalytischen Perspektive legte Evi Genetti (2008: 148) dar, dass nicht nur die kapitalistische Ökonomie, sondern die vergeschlechtlichte kapitalistische Ökonomie die politische Form des Staates hervorbringt. »Ebenso wie der ›Klassencharakter‹ ergibt sich der geschlechtliche Charakter des Staates aus der ›Strukturadäquanz‹ zwischen den kapitalistischen und patriarchalen gesellschaftlichen Verhältnissen und der politischen Herrschaftsform.« Der Staat kommt daher »männlichen bzw. androzentrischen Interessen und Logiken strukturell entgegen, indem er hierarchische Geschlechterverhältnisse stabilisiert und absichert.« (Genetti 2010: 80)

Die »unglückliche Hochzeit« zwischen Feminismus und Marxismus, wie dies Heidi Hartmann (1979) Ende der 1970er Jahre formulierte, war für die Staatstheoretisierung nicht ganz so unglücklich und trug vergleichsweise weit (Beier/Haller/Haneberg 2018; Radl 2019). Doch konnten zentrale Dimensionen des feministischen Theorie- und Politikbegehrens damit nicht bearbeitet werden. Insbesondere die Bedeutung von Subjekten, Körpern und Gewalt blieb in der materialistischen Staatstheorie unbearbeitet. Um diese Leerstellen zu füllen, verknüpfte feministische Staatstheorie materialistische Ansätze mit diskurstheoretischen, vor allem den gouvernementalitätstheoretischen Überlegungen Michel Foucaults (2004a; 2004b). Foucaults Herangehensweise einer Genealogie des modernen westlichen Staates, nämlich seiner Gouvernementalisierung, ermöglichte es, neben Disziplinierung auch die Dimension der Selbstführung als staatliche Machttechnik zu denken, die ebenso notwendig ist, um den Staat als bürgerlichen und die Gesellschaft als kapitalistische aufrechtzuerhalten. Vor allem aber erlaubte der Foucault’sche Ansatz, Körperlichkeit als zentrales Terrain staatlich-biopolitischer Herrschaft sowie Subjektkonstitution als Effekt staatlicher Macht in die feministische Staatstheorie zu integrieren. Allerdings musste dafür auch Foucaults Ansatz vergeschlechtlicht werden, um die patriarchale und heteronormative, cis-zweigeschlechtliche Subjektivierungsweise moderner Staatlichkeit als Herrschaftsmodus zu erfassen (Ludwig 2011).

Die feministische Bezugnahme auf jene kritischen Staatstheorien, die den Staat als zentrale Institution für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaft konzipieren, und deren Ergänzungen und Revisionen führten in den letzten Jahrzehnten dazu, dass der Staat keineswegs mehr, wie Birgit Seemann (1996) noch Mitte der 1990er Jahre und Catherine MacKinnon bereits einige Jahre zuvor (1989) thematisierte, in der feministischen Theoriebildung eine Leerstelle ist. Vielmehr liegen viele Instrumentarien vor, um den Staat als vergeschlechtlichte wie kapitalistische Institution zu erfassen.

Allerdings lässt sich – durchaus auch selbstkritisch – konstatieren, dass feministische Staatstheorie in ihren Analysen und Kritiken eine folgenreiche Leerstelle in sich trägt: nämlich die systematische Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich historisch in staatliche Bürokratien, Verfahren und Normen mehrdimensionale Herrschaftsstrukturen miteinander verwoben in den Staat eingeschrieben haben und wie sie durch Staatlichkeit reproduziert werden, kurzum, wie Staatstheorie intersektional gedacht werden kann. Wie sich im und durch den Staat Rassismus, koloniale Logiken, Ability-Zentriertheit, Heteronormativität, Zweigeschlechtlichkeit und Kapitalismus miteinander verbinden, ist ein weitgehend unbearbeitetes Feld (als einen ersten Beitrag dazu vgl. Sauer/Wöhl 2008: 260 ff.).

An dieser Leerstelle setzt das vorliegende Buch an. Wir wollen damit einen ersten Versuch zur Diskussion stellen, Staatlichkeit intersektional zu theoretisieren. Im Folgenden referieren wir zunächst einige wichtige Arbeiten, die sich mit dem Staat als zentraler Herrschaftsinstitution befasst haben, ohne sich allerdings im engeren Sinne im Feld der Staatstheorie zu verorten. Doch – gemäß der Prämisse feministischer Staatstheorie, dass diese auf der analytischen Ausweitung der Staatstheorie beruht – erachten wir diese als wichtige Inspirationen für das Nachdenken über den Staat als Verdichtung mehrdimensionaler Herrschaftsverhältnisse.

Der Staat und mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse

Dass der Staat aus einer rassismustheoretischen Perspektive als herrschafts- und gewaltförmige Institution theoretisiert wird, ist evident, beruht er doch auf einem »racial contract«, der Schwarze Menschen, People of Color und Indigene Menschen ausschließt (Mills 1997). Die eurozentrischen Vertragstheorien sind Theorien der herrschaftsförmigen Begründung des Ausschlusses von rassifizierten Menschen. Vermeintlich naturgegebene Unterschiede wurden von den Vertragstheoretikern zur Legitimation herangezogen, um rassifizierten Menschen den Status freier, politischer, vertragsfähiger Subjekte abzuerkennen. »The black person […] can […] be denied full humanity, since full and ›true‹ humanity accrues only to the white European.« (Eze 1997: 121)

Arbeiten, die sich mit dem Zusammenwirken von Rassismus, Kolonialismus, Versklavung und Staatsbürger*innenschaft befassen, machten deutlich, dass auch das Konstrukt der Staatsbürger*innenschaft mit historischen wie konstitutiven Ausschlüssen von Schwarzen Menschen, Indigenen Menschen sowie People of Color korreliert (El-Tayeb 2001; Pateman/Mills 2007; Stoler 1995): Während versklavte und kolonialisierte Menschen aus Staatsbürger*innenschaftsrechten ausgeschlossen wurden, bildete sich das Ideal des ›freien‹, autonomen, souveränen Staatsbürgers der europäischen Moderne heraus. Manuela Boatcă und Julia Roth führten in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Aníbal Quijanos (2000) Konzept der »Kolonialität der Macht« das Konzept der »coloniality of citizenship« ein (Boatcă/Roth 2016). Ayelet Shachar (2009) bezeichnet Staatsbürger*innenschaft daher als »Birthright Lottery«, die arbiträr und gewaltvoll Rechte und Zugänge zu globalen Ressourcen innerhalb des (post-)kolonialen Macht- und Herrschaftsgefüges reguliert. Politische Partizipation und Rechte ebenso wie der Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen wie Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung werden mittels Staatsbürger*innenschaft bis in die Gegenwart auf jene beschränkt, die als ›natürliche Erben‹ einer politischen Gemeinschaft gelten (ebd.). Auch darin materialisiert sich die »coloniality of citizenship« (Boatcă/Roth 2018).

Die dem Staat inhärente rassistische Gewalt zeigen zudem jene Arbeiten auf, die sich mit den Staatsapparaten Justiz und Polizei auseinandersetzen. Bereits Frantz Fanon (2014: 210) argumentierte, dass eine fundamentale Form rassistischer und kolonialer Gewalt darin besteht, kolonisierten Menschen eine Identität als Subjekt zu verwehren und ihnen eine Identität aufzuzwingen, die sie zu Objekten degradiert. Diese Verobjektivierung und Negation sind eine Form von Gewalt, die wiederum weitere Formen von Gewalt ermöglichen. Diese Formen der Gewalt sind auch strukturell in den Staat eingeschrieben, wie Vanessa E. Thompson (2018) in ihren Arbeiten zum Polizieren darlegt. In staatlichen Praxen des Polizierens werden Schwarze Menschen und rassifizierte Menschen nicht als schützenswerte Subjekte konstituiert, sondern als bedrohliche Abweichung. Darin zeigt sich der weiße Blick des Staates, der Menschen rassistisch kategorisiert und sie verletzungsoffen macht. Praxen des Polizierens weisen eine direkte Kontinuität zu kolonialen Techniken der Überwachung und Kontrolle von versklavten Menschen auf (El-Tayeb/Thompson 2019; Vitale 2022).

Die Kontinuität zwischen dem kolonialen und postkolonialen Staat machte Ann Stoler (2002) auch mit Bezug auf Reproduktionspolitiken deutlich. Auch hier waren Kolonien Versuchsräume für westliche Staaten (Stoler 1995: 15), denn Reproduktion wurde in den Kolonien schon lange vor Europa zur staatlichen Aufgabe. Bevölkerungspolitiken legten fest, wer als Teil der Kolonialnation galt und mit entsprechenden Rechten und Privilegien ausgestattet wurde (Dhawan/Castro Varela 2005). Somit wird deutlich, wie der biopolitische Staat zugleich als rassistischer, kolonialer, heteronormativer und vergeschlechtlichter agiert.

Wie der biopolitische Staat durch das Phantasma einer vermeintlich naturgegebenen Heteronormativität und Cis-Zweigeschlechtlichkeit strukturiert ist, zeigen Beiträge aus den Queer Studies und Trans* Studies. Diese Arbeiten haben den Nachweis erbracht, dass das Recht eine entscheidende Rolle in der Hervorbringung, Stabilisierung und Legitimierung heteronormativer, cis-zweigeschlechtlicher Annahmen über Körper und Subjekte einnimmt. Adrian de Silva (2018) rekonstruierte in diesem Kontext das Zusammenwirken von sexualwissenschaftlichen Diskursen über Geschlecht und vermeintliche ›Geschlechtsidentitätsstörungen‹ und deren rechtliche Institutionalisierung sowie ihre Umkämpftheit durch Gegen-Wissen von trans* aktivistischen Bewegungen.

Wie jene Gewalt, die Trans*Menschen, nicht-binäre und geschlechternonkonforme Menschen in ihren Lebenschancen benachteiligt und einem erhöhten Risiko aussetzt, physische Gewalt zu erfahren oder getötet zu werden, grundlegendes Element des Staates ist, zeigte Tamás Jules Fütty (2019) auf. Fütty verdeutlichte, dass Gewalt gegen Trans*Menschen »systemisch-normativ in die bestehende Gesellschafts- und Staatsordnung eingelassen« ist (Fütty 2017: 110) und wie sich dies entlang intersektionaler Machtverhältnisse verstärkt (vgl. auch de Silva/Quirling 2005).

Inwiefern Heteronormativität das Konzept von Staatsbürger*innenschaft strukturiert, legte unter anderem Christine M. Klapeer (2014) mittels einer queeren Re-Lektüre der Vertragstheorien dar. Klapeer machte sichtbar, wie bei den Vertragstheoretikern maskulin-heteronormative Imaginationen über weibliche Körper und Sexualität als Begründung für politische Ausschlüsse fungieren. Bis in die Gegenwart sichert der Staat – trotz durch aktivistische Kämpfe errungener Veränderungen – die Grundlagen, um die Gesellschaft als cis-zweigeschlechtliche, patriarchale, kapitalistische zu reproduzieren (Engel 2003; Ludwig 2011; Raab 2011).

Wie mittels heteronormativer, cis-zweigeschlechtlicher sexueller Politiken rassistische und nationalistische Grenzziehungen legitimiert werden, stellte in den letzten Jahren ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld dar. Jin Haritaworn (2015) rekonstruiert, wie die partielle staatliche Anerkennung von lesbischen und schwulen Bürger*innen in Deutschland – allen voran durch die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – mit einer ›moral panic‹ gegenüber Menschen einhergeht, die durch rassistische und postkoloniale Politiken als bedrohliche Andere konstruiert werden (ebd.; s.a. El-Tayeb 2012).

Feministische Arbeiten betonen die staatliche Regulierung von Reproduktion als für den biopolitischen Staat zentral (Hajek 2020). Biopolitik, Pathologisierung und Medizinisierung wiederum sind auch zentrale Konzepte der wenigen Arbeiten, die bislang zu Staat und dis/ability vorliegen. Dass Staatsbürger*innenschaft auch von einer ability-zentrierten Logik durchzogen ist, machten Arbeiten sichtbar, die sich mit der politischen Ideengeschichte befassen. Während in den Vertragstheorien weißen, besitzenden, nicht-›behinderten‹ Männern die Fähigkeit zugeschrieben wird, durch ein souveränes Selbstverhältnis über ihre Körper zu politischen Bürgern (sic!) werden zu können, wird dies Menschen mit Behinderung abgesprochen. »The citizen […] is constituted in opposition to disabled dependents, outside the contract, who have needs that must be attended to as determined by the principles of charity and welfare.« (Arneil/Hirschmann 2016: 7) Die Aberkennung des Status als (Staats-)Bürger(*in) realisierte sich in staatlichem unmittelbaren Zwang und durch Disziplinierung in staatlichen ›Fürsorge-Einrichtungen‹ (Wegscheider 2020) sowie darin, dass bis in die Gegenwart (v.a. feminisierten) Menschen mit Behinderung beispielsweise Selbstbestimmung im Bereich der Reproduktion abgesprochen wird.

Theresia Degener und Swantje Köbsell (1992) sprachen schon in den 1990er Jahren von einer »neuen Eugenik«, die über Freiheit und Selbstbestimmung und nicht (nur) mittels staatlichem Zwangsapparat operiert. Das weitverbreitete ability-zentrierte Narrativ, dass »Gesundheit, Produktivität und Funktionieren« (ebd.: 23) ein ›gutes Leben‹ ausmachen, sind die subtilen Techniken dieser neuen staatlichen Eugenik, die sich wiederum nur durch einen weiten Staatsbegriff als staatliche Macht- und Gewaltform benennen lässt. In ihrer Kritik an staatlicher Biopolitik weisen Arbeiten aus den Disability Studies Überschneidungen zu Konzeptualisierungen auf, die sich mit der rassistischen und/oder klassistischen Ausrichtung staatlicher Biopolitik befassen. So zeigt Anthea Kyere (2021: 66), wie auch geflüchtete Frauen im Gesundheitssystem mit strukturellen Ausschlüssen und Diskriminierung konfrontiert sind. Daraus leitet Kyere ab, dass ein »systematisch fest verankerter vergeschlechtlichter Rassismus und ein damit verwobener Klassismus […] noch heute das hegemoniale Bild des deutschen Nationalkörpers« prägen (ebd.: 67).

Diese kursorischen Einblicke in Arbeiten, die sich aus kritischer Perspektive mit dem Staat und seiner Verwobenheit mit Herrschaftsverhältnissen befassen, dienen im vorliegenden Band als Grundlagen, um systematischer über den westlichen modernen Staat aus intersektionaler Perspektive nachzudenken. Wie in der knappen Zusammenschau deutlich wird, ist der westliche moderne Staat ein vergeschlechtlichtes, rassifiziertes, koloniales, heteronormatives, bürgerliches, ability-zentriertes Gebilde, das ein gewichtiger Akteur in der Aufrechterhaltung ebendieser Herrschaftsverhältnisse ist. Aus dieser Perspektive ist er ein »kaltes Ungeheuer«, um die Metapher von Friedrich Nietzsche (1968/1883: 57) in Also sprach Zarathustra aufzugreifen. Während Nietzsche den Staat als »Vernichter« des Volkes sieht und daher als kaltes Ungeheuer bezeichnet, das »Liebe« zerstöre, verwenden wir die Metapher, um in kritischer Absicht deutlich zu machen, dass der Staat trotz seines Selbstbilds als neutrale, befriedende Instanz nicht Garant von Freiheit und Gleichheit, sondern für Ausbeutung, Gewalt, Unsicherheit, Macht und Herrschaft verantwortlich ist. Diese Spannung zwischen Norm und Faktum auszutarieren gelingt dem Staat auch, weil er Effekt und Ausdruck mehrdimensionaler Herrschaftsverhältnisse ist. Er ist allerdings kein Gebilde, in dem Herrschaftsverhältnisse nebeneinander oder in additivem Verhältnis stehen, sondern eines, in dem sich diese miteinander verschränken, verknüpfen, überkreuzen. Genau weil er ein Terrain ist, auf dem sich mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse verdichten und verschränken, lässt sich der moderne westliche Staat als das »kälteste aller kalten Ungeheuer« begreifen (Nietzsche 1968/1883: 57).

Obgleich, wie in dem eben dargelegten Abschnitt deutlich wurde, es einen breiten Fundus an Arbeiten gibt, die unterschiedliche Herrschaftsdimensionen in ihrem Verhältnis zum Staat zentrieren und darüber hinaus auch Arbeiten vorliegen, die mehrere Dimensionen von Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen mit Bezug auf den Staat verbinden, wollen wir mit dem vorliegenden Buch weitere Annäherungen an eine intersektionale Staatstheorie vornehmen und Theoretisierungen und Konzepte des Staates zur Diskussion stellen, die die Analyse und Kritik des Staates durch eine intersektionale Perspektive schärfen.

Intersektionale Annäherungen an »das kälteste aller kalten Ungeheuer«

Intersektionalität kann als theoretische Übersetzung der gesellschaftlichen Realität verstanden werden (Combahee River Collective 1977; Crenshaw 1991). In Gesellschaften, die durch mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse strukturiert sind, leben und erfahren Menschen immer Überschneidungen von Rassismus, Kolonialismus, Sexismus, Cis-Heteronormativität, Klassismus und Ability-Zentriertheit. Die Überkreuzungen von Herrschaftsverhältnissen lassen sich in den Subjektivierungsweisen und Erfahrungen mit und im Staat, (in) der Gesellschaft, (in) der Ökonomie, (in) der Kultur etc. nicht trennen. Eindrücklich brachte dies schon Sojourner Truth (2019[1851]) in ihrer Rede »Ain’t I A Woman« 1851 zum Ausdruck. Im Aufsatz, in dem Kimberlé Crenshaw (1989) den Begriff der Intersektionalität einführte, wird dies ebenso evident: Diskriminierungs- oder Gewalterfahrungen, die als Verwobenheit von Rassismus und Sexismus erlebt werden, lassen sich weder nach einer Seite auflösen, noch bloß als Addition verstehen (ebd.: 140). Ähnlich schrieb das Combahee River Collective:

»We believe that sexual politics under patriarchy is as pervasive in Black women’s lives as are the politics of class and race. We also often find it difficult to separate race from class from sex oppression because in our lives they are most often experienced simultaneously. We know that there is such a thing as racial-sexual oppression which is neither solely racial nor solely sexual, e.g., the history of rape of Black women by white men as a weapon of political repression.« (Combahee River Collective 1977: 213)

Rassistische, sexistische, klassistische, ability-zentrierte, cis-heteronormative Macht-, Ungleichheits-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse sind miteinander verwoben und strukturieren in ihrer Verknüpfung Subjektivierungs- und Lebensweisen ebenso wie die gesellschaftliche Ordnung. Herrschaftsstrukturen und jene Diskurse, die diese legitimieren (sollen), sind daher nur aus einer intersektionalen Perspektive zu erfassen (ebd.: 213).

Intersektionalität ist jedoch nicht nur eine herrschaftsanalytische, sondern auch eine herrschaftskritische Forschungsperspektive. Dem Ansatz der Intersektionalität wohnt ein politisches Anliegen inne, das Crenshaw als »political intersectionality« (Crenshaw 1991: 1251 f.) bezeichnete. Demnach ist Intersektionalität auch eine transformative Perspektive, die das Bestehende nicht nur beschreiben, sondern überwinden möchte.

Dieses Konzept der Intersektionalität, wie es von Schwarzen, lesbischen, queeren, sozialistischen Feminist*innen ausgearbeitet wurde, wollen wir mit dem vorliegenden Band auf den Staat, staatliche Machttechniken, staatliche Herrschaftsformen und staatliche Gewaltregime beziehen. Leitend ist dabei die Doppelperspektive, die sowohl dem Konzept der Intersektionalität als auch feministischer Staatstheorie zugrunde liegt: Durch das In-Beziehung-Setzen des Staates mit intersektionalen Herrschaftsverhältnissen sollen Konzepte, Begriffe und Theoreme der Staatstheorie präzisiert und dadurch soll die Kritik am Staat als ›kältestem aller kalten Ungeheuer‹ ebenso gestärkt werden.

Was gilt es dabei zu bedenken? Wenn es um die Kritik staatlicher Herrschaft geht, dann reicht die Perspektive darauf, wie der Staat Herrschaft und Ungleichheit organisiert, reproduziert und aufrechterhält, nicht aus. Ergänzt werden muss dies durch die Sicht darauf, wie sich diese Strukturen historisch in den Staat eingeschrieben haben und weiter einschreiben. Außerdem braucht die Theoretisierung von Staatlichkeit einen Blick auf Menschen, also darauf, wie Menschen durch den Staat diszipliniert und unterworfen werden und auch, wie sie selbst daran beteiligt sind, dass der Staat trotz seines Herrschaftscharakters weiter existiert. Dies erlaubt auch zu theoretisieren, wie sich staatliche Architektur und Normen immer wieder ändern und partiell Freiheit, Gleichheit oder zumindest Gleichstellung ermöglichen – nicht zuletzt, indem intersektionale Trennungslinien verschärft werden.

Wenn der Staat, wie Nicos Poulantzas (1978: 119) schrieb, die materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ist, dann fehlen noch viele Antworten auf die Frage, wie sich im Staat intersektionale Kräfteverhältnisse verdichten und wie also »die Interessen bestimmter nationaler Klassenfraktionen, religiöser Gruppen, ethnischer Mehr- oder Minderheiten oder Weißer westlicher Männer« sich durch gesellschaftliche Kämpfe institutionalisieren, in denen zugleich Geschlechter-, Klassen- und Migrationsregime verhandelt werden (Sauer/Wöhl 2008: 260 ff.). Wie können wir Staatlichkeit als intersektionale Verdichtung von Ungleichheiten konzipieren, die sich in herrschaftliche Institutionen und Normen ebenso einschreiben wie in Körper, die in diesem Prozess kategorisiert werden? Dafür braucht es weitere Theoriearbeit, um zu erfassen, wie die verschiedenen Herrschaftsdynamiken im und durch den Staat verwoben sind. Hier geht es um Fragen, wie die Theoretisierung von staatlichen Machttechniken, Staatsapparaten und Transformationen präzisiert bzw. überdacht werden müssen, wenn wir sie aus einer feministisch-intersektionalen Perspektive denken.

Aus unserer Sicht rückt eine intersektionale Perspektive auf den Staat folgende Dimensionen ins Licht: Erstens ist der moderne westliche Nationalstaat aus intersektionalen Herrschaftsverhältnissen entstanden, und seine Herausbildung ist eingebettet in den vergeschlechtlichten racial capitalism und die »Kolonialität von Macht« (Quijano 2000). Die Idee, Genese und Architektur des Staates sind Resultat kolonialer, heteronormativer, androzentrischer, ability-zentrierter, kapitalistischer Logiken und Anforderungen. Dass beispielsweise Nationalstaatlichkeit mit Souveränität verknüpft wurde, zeigt, wie jene Logiken des Besitzens und Vernichtens, die aus der intersektionalen »Kolonialität der Macht« resultieren, auch das Verständnis von Staatlichkeit, politischem Gemeinwesen und Politik definier(t)en. Um diese Genese des Staates aus der Verknüpfung von Herrschaftsverhältnissen fassen zu können, erweisen sich historisch orientierte, oft empirische Studien als hilfreich, die Erkenntnisse über Verschränkungen, gleichsam Verknüpfungen im Prozess der ursprünglichen Akkumulation und des Kolonialismus bereitstellen. Auch wenn Konzepte wie Geschlecht oder race schon vor dem Kapitalismus existierten, so waren es doch die koloniale kapitalistische Produktions- und Lebensweise und der moderne Staat, die diese Unterscheidungen in neuer Weise zu Herrschaftstechniken formierten und territorial unterschiedlich verbreiteten (Robinson 2020; Gerstenberger 2017). Zudem liegen empirische Forschungen zur vergeschlechtlichten »Kolonialität der Macht« vor (Lugones 2007; Oyěwùmí 1997; Stoler 2002), die diese Verknüpfungen detailreich entwirren.

Zweitens weist eine intersektionale Perspektive mit Vehemenz das liberale Narrativ zurück, dass der Staat jene Instanz sei, die Allgemeinwohl und Gleichheit sichert. Vielmehr wird evident, dass das Gleichheitspostulat des modernen westlichen Staates ein zutiefst selektives und der Staat ein multiples Ungleichheits- und Gewaltgefüge ist. Rassifizierten Menschen wurde lange Zeit das Menschsein grundlegend abgesprochen (Wynter 2003), und Menschen, die nicht den ability-zentrierten, cis-zweigeschlechtlichen, androzentrischen Normen entsprachen, galten lange nicht als Rechtssubjekte. Bezogen auf den inhärenten Rassismus demokratischer westlicher Staaten spricht Achille Mbembe (2017: 37) statt von einer »Gemeinschaft der Gleichen« von einer »Gemeinschaft der Trennung«. Eine intersektionale Theoretisierung von Staat untersucht daher historische wie konstitutive Ausschlüsse und wie diese erst die »mythische Norm« des Bürgers hervorbringt, als jemand, der »weiß, schlank, männlich, jung, cis-hetero, christlich und finanziell abgesichert« lebt (Lorde 2019[1984]: 112).

Wie unter anderem Raewyn Connell (2003: 17) argumentierte, schreibt der Staat jene »social categories« fest, die Herrschaftsverhältnisse konstituieren. Mittels Verknotungen und Verknüpfungen kategorisiert der Staat Menschen in hierarchischer Form und legt jene Kombinationen fest, die zur Anerkennung als intelligibles Subjekt, und jene, die zur (partiellen) Verweigerung von Subjektstatus und Schutz führen. Der Staat ist so als Verdichtung (zivil-)gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse jenes Gebilde, das das Definitionsmonopol von Leben, Schutz und letztlich Menschlichkeit beanspruchen kann. Trotz der hier involvierten Gewalt, des Zwangs und der Disziplin lässt sich aus einer intersektionalen staatstheoretischen Perspektive das Verhältnis zwischen Staat und Leben dennoch nicht als erschöpfend denken: Gewaltvolle Anrufungen wurden und werden auch zurückgewiesen und diese Praxen können aus Sicht einer intersektionalen Staatskritik durchaus und im Gegensatz zu staatlichen Politiken als »Arbeit am Demokratischen« sichtbar gemacht werden (Bergold-Caldwell 2022). Davon zeugen beispielsweise die Leben von Menschen, die sich der cis-zweigeschlechtlichen heteronormativen Ordnung entziehen, Kämpfe von Geflüchteten, in denen diese auf ihrem Subjektstatus beharren, oder Communities of Care von Schwarzen Menschen und People of Color, in denen an die Stelle von gewaltvollen staatlichen Subjektivierungen Praxen antikolonialer und antirassistischer Sorge füreinander gesetzt werden (ebd.).

Drittens führt eine intersektionale Perspektive vor, dass mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse sich in Staatsapparaten, der staatlichen Bürokratie und Instrumenten – beispielsweise dem Recht – einschreiben. Insbesondere hier scheint uns die Metapher der Verdichtung hilfreich, mit der Poulantzas die »Aufladung eines einzelnen sozialen Interesses mit anderen« fasste, »sodass es als einzelnes umfassender wird als die anderen zusammengenommenen« (Demirović 2007: 112). Intersektional weiter gedacht bedeutet dies, danach zu fragen, wie sich mehrdimensionale Herrschaftsformen miteinander im Staat verdichten. Ebenso hilfreich erachten wir in diesem Zusammenhang die Überlegung von Patricia Hill Collins (1993), dass sich Intersektionalität oftmals in einer »both-and«-Logik darstellt, dass also Menschen in ihren Lebensweisen durchaus zugleich privilegiert und diskriminiert sein können. Aus staatstheoretischer Perspektive ist daher interessant, wie diese »both-and«-Logik auch durch unterschiedliche Staatsapparate forciert wird.

Eng damit verbunden fragt eine intersektionale Perspektive viertens danach, wie im Staat Spaltungslogiken entlang unterschiedlicher Facetten intersektionaler Herrschaftsverhältnisse zum Tragen kommen. Arbeiten, die sich mit sexuellen und Geschlechterpolitiken im europäischen Nationalstaat in der Zeit des Kolonialismus befassen (Dhawan/Castro Varela 2005; Stoler 1995; Walgenbach 2005), zeigten, wie verschiedene Dimensionen aus intersektionalen Herrschaftskonfigurationen so miteinander verwoben werden, dass sie sich wechselseitig stärken. Dass Geschlechter- und postkoloniale Migrationsverhältnisse den Wohlfahrtsstaat als Klassenkompromiss stützen, verweist ebenso darauf, dass der Staat ein geschickter Akteur ist, um Herrschaftsverhältnisse nicht nur zu verknüpfen, sondern in Zugeständnissen an soziale Bewegungen und Kämpfe verschiedene Herrschaftslogiken gegeneinander zu verschieben.

Hier schließt sich die aus intersektionaler Perspektive ebenso relevante Frage an, welche gesellschaftlichen Akteur*innen sich überhaupt in ihren Kämpfen an den Staat wenden (können). Wer grundlegend vom Staat als (menschliches, rechtliches, legitimes, ›normales‹) Gegenüber anerkannt wird oder aber wer mit Mitteln des karzeralen Staates in Gefängnisse oder Abschiebelager gezwungen wird (Thompson 2018), wessen politische Anliegen mittels Pathologisierung oder affektiver Ausgrenzungspolitiken delegitimiert werden, sind zentrale Fragen einer intersektional informierten Staatstheorie.

Fünftens gilt es zu diskutieren, ob jener Staat, der aus mehrdimensionalen Herrschaftsverhältnissen hervorgegangen ist, überhaupt Adressat sein kann, um gegen diese zu kämpfen (Rai 2020). Im Ausloten von Möglichkeiten emanzipatorischer Politiken im Staat entwickelte Nikita Dhawan (2020) den Vorschlag, den Staat als »pharmakon« zu begreifen. Ein derartiges Staatsverständnis weist die dichotome Gegenüberstellung von Staat als herrschaftssicherndes und Zivilgesellschaft als demokratisches Terrain zurück und plädiert dafür, dass der Staat auch marginalisierte Gruppen stärken kann (ebd.: 66 ff.). Diametral dazu stehen Positionen, die unter anderem von jenen abolitionistischen, dekolonialen, feministischen, queeren und trans*aktivistischen Kämpfen inspiriert sind, die die Überwindung des Staates als Voraussetzung von Emanzipation sehen. So geht es in diesen Ansätzen nicht um Reformen innerhalb des Staates, sondern darum, neue Formen des Politischen, sozialer Beziehungen und von Menschsein zu entwerfen, die erst jenseits des Staates beginnen (können) (u.a. Davis 2022). Hier wird aus der Annahme, dass es sich beim Staat als Verdichtung mehrdimensionaler Herrschaftsverhältnisse um das »kälteste aller kalten Ungeheuer« handelt, geschlussfolgert, dass Freiheit, Demokratie und Gleichheit erst durch die Überwindung ebendieses Ungetüms erlangt werden können.

Diese kurze Skizze verdeutlicht, dass es – durchaus in Analogie zu feministischer Staatstheorie – nicht die eine intersektionale Staatstheorie geben kann oder sollte. Daher wird es in diesem Band darum gehen, unterschiedliche Perspektiven auf die vielfältigen, komplexen und oft widersprüchlichen Prozesse staatlicher Herrschaft, Unterwerfung, Gewalt sowie der Selbstführung bzw. Selbstunterwerfung und (Nicht-)Subjektwerdung zu entwickeln und in ihren Verknüpfungen zu entschlüsseln. Der Band versteht sich als Debattenbeitrag sowie Einladung, die hier gesponnenen Fäden aufzugreifen und in zukünftigen Arbeiten zu vertiefen.

Die große Herausforderung für uns als Herausgeber*innen und wohl für viele der Autor*innen des Bandes war die Verknüpfung der Komplexität von Intersektionalität und Staatstheorie und die Einführung bzw. Einfügung eines zentralen politikwissenschaftlich-feministischen Begriffs wie Arbeit, Körper und Affekt bzw. einer Perspektive wie Sorge oder Autoritarisierung in dieses immer fragmentiert bleibende Theoriegebäude. Die Beschäftigung mit einem solchen Konzept, um eine intersektionale staatstheoretische Sicht zu entwickeln, erwies sich als lohnenswert. Allerdings ist auch klar, dass die komplexe Perspektive der Intersektionalität nicht in einem Aufsatz bewältigt werden kann. So legen viele Texte den Fokus auf die Theoretisierung des Verhältnisses von Staat und mehrdimensionalen Herrschaftsformen, und für die Theoretisierung von ihren Überschneidungen und Intersektionen werden oft erste Überlegungen angestellt, die noch weiter vertieft werden müssen. Auch zeigt der Band, dass spezifische Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen stärker bearbeitet werden, wie beispielsweise die Überschneidung von Geschlecht und (Post-)Kolonialität, während die intersektionalen Konturen der Klassenstruktur und Dis/Ability-Verhältnisse nur in einigen Artikeln im Zentrum stehen.

Die Arbeit an dem Band hat – einmal mehr – gezeigt, dass die Bedingungen, die wir in der gegenwärtigen Forschungslandschaft vorfinden, dem Projekt, kritische intersektionale theoretische Instrumentarien zu entwickeln, nicht zuträglich sind. Die in akademische Wissensproduktion eingeschriebenen Ausschlussmechanismen führen dazu, dass Menschen, die von der weißen, cis-zweigeschlechtlichen, heteronormativen, bürgerlichen, ability-zentrierten Norm des Forschers und Theoretikers (sic!) abweichen, strukturell benachteiligt sind. Dies zeigt sich im deutschsprachigen Raum auch in der akademischen Institutionalisierung von Forschung zu Intersektionalität, die, wie Matti Traußneck (2023: 112 f.) schreibt, »selbst auf eine intersektionale Leerstelle« verweist und daher ein »Paradebeispiel« dafür ist, »wie sich Ausschlussmechanismen wechselseitig verstärken«, sodass Schwarze, behinderte, geschlechternonkonforme Stimmen, Erfahrungen, Körper und Subjekte erneut marginalisiert werden. Durch diese »Ordnung der Körper« in den akademischen Debatten zu Intersektionalität werden »weiße Vorherrschaft und weiße Hegemonie« reproduziert (ebd.: 120). Daraus resultiert eine gewichtige systematische Verengung akademischer Wissensproduktion, da marginalisiertes Wissen und marginalisierte Erfahrung auf strukturelle Hürden – sei es in der Zulassung zu Studium, Stipendien und Stellen oder im Gehörtwerden und der Anerkennung als relevantes Wissen für Theoriebildung – treffen. Ganz besonders virulent wird dies bezogen auf dekoloniale Perspektiven, da Dekolonisierung von Wissen eine radikal andere materielle wie epistemologische Ausrichtung von Universitäten und Theorieproduktion bedeuten müsste (Bhambra/Gebrial/Nişancıoğlu 2018). Schließlich erweist sich die Neoliberalisierung von Universitäten und Stellenbesetzungspolitiken als hinderlich für ein Vorhaben, aus heterogenen Perspektiven über mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse nachzudenken. Denn die neoliberale Individualisierung, Beschleunigung und Technokratisierung von Forschung verläuft diametral zu jenen Anforderungen, die eigentlich notwendig wären, um intersektionale Staats- und Herrschaftskritik betreiben zu können. Hierfür bräuchte es anstelle von Befristungen, Drittmitteldruck und Peer-Review-Fetischisierungen Räume, um kollektiv denken, forschen, diskutieren, lernen zu können.

Zu den Beiträgen

Wir haben lange über die Struktur dieses Bandes nachgedacht. Eine Aufteilung der Kapitel anhand einer zentralen Herrschaftsachse, von der aus dann andere Herrschaftsachsen theoretisch eingefügt werden, haben wir verworfen. Das hätte vermutlich zu einer intrakategorialen Perspektive (McCall 2005) der Beiträge auf Intersektionalität und zu vielen Wiederholungen in den Kapiteln geführt. Stattdessen ist der Band entlang von elf Begriffen aufgebaut, die die Autor*innen aus intersektionaler Perspektive in Bezug zum Staat setzen.

Konkret ist der vorliegende Band von folgenden Fragen geleitet: Wie verteilt oder verweigert der Staat durch Normen, Diskurse und Praxen Zugehörigkeit und legitimiert diese Ungleichheiten von citizenship, Schutz und Sicherheit durch die Verknüpfung von rassistischen, postkolonialen, vergeschlechtlichten, klassisierten, heteronormativen und dis/ability-Regimen? Wie verhalten sich staatliche Herrschaft und Intersektionalität als Herrschaftsstruktur zueinander? Wie lässt sich der Staat als Gewaltverhältnis theoretisieren, der cis-zweigeschlechtliche, rassistische, koloniale, klassistische und ability-zentrierte Gewalt miteinander verknüpft und diese Verknüpfungen normalisiert? Inwiefern ist das Recht eine Verdichtung mehrdimensionaler, miteinander verwobener Ungleichheitsverhältnisse und welche Konsequenzen hat dies für (Un-)Möglichkeiten emanzipatorischer Politiken durch das Recht? Wie basieren staatliche Politiken auf einem ability-zentrierten, androzentrischen, weißen (phantasmatischen) Verständnis von Autonomie? Inwiefern sind materielle Grundlagen von Staatlichkeit wie Arbeit intersektional ungleich verteilt? Wie schreibt der Staat über miteinander verknüpfte Herrschaftsverhältnisse die ungleiche Verteilung von Sorge fort? Wie kann der Staat als Instanz verkörperter Subjektivierung theoretisiert werden, wenn berücksichtigt wird, dass Teil der Anrufung vergeschlechtlichter Schwarzer Subjekte koloniale Gewalt und nicht das weiße androzentrische Versprechen von ›Freiheit‹ ist? Inwiefern sind Affekte ebenso wie Gewalt Mechanismen, um multiple Ungleichheiten so zu verknüpfen, dass sich im Prozess der staatlichen Institutionalisierung intersektional ungleiche Normen herausbilden? Ist Staatlichkeit ein Gefüge, das Begehren mittels intersektionaler Herrschaftslogiken organisiert und hervorbringt? Welche Logiken mehrdimensionaler Herrschaftsgeschichte werden in den aktuellen Tendenzen der Autoritarisierung von Staatlichkeit reaktiviert?

Der Band orientiert sich an der eingangs beschriebenen Doppelperspektive feministischer Staatstheorie: So schlagen die Beiträge einerseits eine Rekonzeptualisierung und Präzisierung von staatstheoretischen Begriffen vor und etablieren andererseits neue Begriffe. Der Band ist in zwei Abschnitte gegliedert, deren Kapitel anhand der Schwerpunktbegriffe in Aspekte intersektionaler Staatstheoretisierung einführen. Der erste Abschnitt Zentrale Begriffe von Staatstheorien wird mit einem Beitrag von Matti Traußneck eröffnet, der den Begriff der Zugehörigkeit reflektiert. Dabei wird deutlich, dass aus einem Schwarzen, feministischen, kolonialismus- und kapitalismuskritischen Verständnis der Staat nicht primär aus der Perspektive der Zugehörigkeit, sondern aus der gewaltvollen Herstellung von Nicht-Zugehörigkeit theoretisiert werden muss. Marion Löffler diskutiert den Zusammenhang von staatlicher Herrschaft und Intersektionalität als Herrschaftsmodus und dechiffriert die Vertragsmetapher als grundlegende Figur der staatlichen Legitimation von mehrdimensionaler Herrschaft. Tamás Jules Fütty theoretisiert den Staat als zentrale Gewaltinstitution, in dem sich intersektionale Normierungen und Kategorisierungen von Menschen entlang von cis-zweigeschlechtlichen und rassistisch-kolonialen Logiken verdichten, wie Fütty unter anderem mit Blick auf Asylverfahren von LSBTQ-Menschen und der Verweigerung von Schutz darlegt. Carolina Alves Vestena erweitert eine marxistisch-formanalytische Sicht auf das Recht um vergeschlechtlichte und rassifizierte Dimensionen und lotet die Möglichkeiten aus, ob dem Recht trotz konstitutiver Einbettung in intersektionale Herrschaftsverhältnisse eine ermächtigende Dimension zugesprochen werden kann. Angela Wegscheiders Text nimmt dis/ability zum Ausgangspunkt intersektionaler staatstheoretischer Überlegungen und zeigt mit Fokus auf den Wohlfahrtsstaat auf, wie der Staat auf ability-zentrierten, androzentrischen Vorstellungen von Autonomie aufbaut.

Der zweite Abschnitt führt in Gesellschaftliche Grundlagen von Staatlichkeit ein. Friederike Beiers Text identifiziert in einer genealogischen Perspektive die Vermessung und Visibilisierung von reproduktiver Arbeit durch internationale staatliche Organisationen. Der Text legt dar, wie geschlechtsspezifische und koloniale Ungleichheitsverhältnisse zur Grundlage staatlicher Politiken von Arbeit wurden. Cari Maiers Text nimmt seinen Ausgangspunkt in einer Perspektive der Sorge und erläutert, wie der Staat durch die Verknüpfung von Cis-Zweigeschlechtlichkeit, Androzentrismus, Rassismus, Kolonialismus und Kapitalismus nicht nur Sorge abwertet und auslagert, sondern sich die ›Sorglosigkeit des Staates‹ auch in jenen staatlichen Praktiken zeigt, die selektiv Körper pathologisieren und kontrollieren. Denise Bergold-Caldwell und Gundula Ludwig legen dar, wie der Staat über und durch Körper eine Grenze zwischen Subjekten, Nicht-Subjekten und partikularen Subjekten zieht und wie diese negative Subjektkonstitution den weißen, androzentrischen, heteronormativen Staatsbürger konstituiert. Birgit Sauer konzipiert Affekte und Emotionen als Mechanismen der Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse und der Verkörperung von intersektionaler Herrschaft im und durch den Staat. Affekte und Emotionen kategorisieren Menschen und operieren als Techniken des Einschlusses in den und Ausschlusses aus dem Staat. Christine M. Klapeer erweitert die Staatstheorie um eine begehrenstheoretische Komponente und weist Thomas Hobbes »Leviathan« als affektives Phantasma aus. So wird die konstitutive Bedeutung rassifizierter, klassisierter und heteronormativer Praxen der Verwerfung für die Narration des Gesellschaftsvertrags und moderner Staatlichkeit gezeigt. Der Beitrag von Marlene Radl widmet sich mit dem Thema der Autoritarisierung einem Gegenwarts-, jedoch auch immer wiederkehrenden Phänomen von Staatlichkeit. Radl arbeitet heraus, wie die autoritäre Konjunktur auf einer Intensivierung intersektionaler Ungleichheitsverhältnisse beruht, die Klassenverhältnisse mit multiplen Ungleichheitsverhältnissen so verknüpft, dass Autoritarisierung akzeptiert wird.

Ganz sicher ist mit diesen Begriffen nicht das gesamte Spektrum feministisch (politikwissenschaftlicher) Theorie abgedeckt. Dieser Lücken sind wir uns durchaus bewusst. Auch spiegelt die Architektur des Buches die Positioniertheit von uns als Herausgeber*innen wider, die wir uns in der feministischen Staatstheorie verorten. Diese – bzw. genauer, der Wunsch, diese durch intersektionale Bezüge zu erweitern – war gleichsam Ausgangspunkt für unser Nachdenken über die Konzeption des Bandes.

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