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Beschreibung

Antisemitische Beleidigungen auf offener Straße, Diskriminierung im Beruf oder der Kampf um staatliche Wiedergutmachung: Die »Alltagsgeschichten « sammeln Eindrücke, Erlebnisse und Geschichten, die viele Jüd:innen aus drei Generationen erlebt haben und klarmachen: Das kann immer noch in Wien passieren. Diese Geschichten sollen nicht »anklagen«. Sie sind voll Humor, aber auch von Trauer und Wut erfüllt, sie ironisieren und verfremden. Sie finden in Wien statt, wo sich Kosmopolitisches mit Provinziellem vermischt; wo sich viele so wohlfühlen und trotzdem immer vom Auswandern sprechen; wohin viele zurückgekehrt sind, nachdem sie vertrieben worden waren; wo dem Antisemiten Karl Lueger ein großer Platz mit Statue am Ring gewidmet ist, an Sigmund Freud aber nur ein kleiner Park erinnert. Der alltägliche Antisemitismus besitzt auch in Wien eine so lange Tradition, dass er oft gar nicht mehr auffällt. Und genau deshalb soll dieser Band seine Leser:innen zum Nachdenken anregen. Mit Beiträgen von: Robert Schindel, Doron Rabinovici, Anna Goldenberg, Ernst Strouhal, Verena Krausneker, Oscar Bronner, Sophie Lillie, Ariel Muzicant u. v. m.

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Seitenzahl: 281

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Ruth Wodak (Hg.)

DAS KANN IMMER NOCH IN WIEN PASSIEREN

Alltagsgeschichten

Ruth Wodak (Hg.)

DAS KANN IMMER NOCH IN WIEN PASSIEREN

Alltagsgeschichten

Czernin Verlag, Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur,des Zukunftsfonds der Republik Österreich unddes Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer desNationalsozialismus

Wodak, Ruth (Hg.): Das kann immer noch in Wien passieren / Ruth Wodak

Wien: Czernin Verlag 2024

ISBN: 978-3-7076-0832-8

© 2024 Czernin Verlags GmbH, Wien

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Druck: Finidr, Český Těšín

ISBN Print: 978-3-7076-0832-8

ISBN E-Book: 978-3-7076-0833-5

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

INHALT

Ruth Wodak

Einleitende Worte zur zweiten Auflage

Ruth Wodak

Anstelle eines Vorwortes

Peter Weinberger

Hilfe! Ich bin Zeitzeuge geworden!

Doron Rabinovici

Jenseits aller nationalen Begrenztheit

Peter Schwarz

Der straff gespannte, schmerzende Spagat der ÖVP zwischen Kampf gegen Antisemitismus und von (Macht-)Interessen gesteuertem Opportunismus

Anna Goldenberg

Die Etiketten meines Großvaters

Mitchell G. Ash

Das Hakenkreuz auf dem Mistkübel. Mit einem Nachtrag zur Erinnerungskultur

Ariel Muzicant

Drei Anekdoten

Carl Djerassi

Wien, Wien, nur du allein

Rubina Möhring

Ene, mene, muh – und raus bist du

Georg Schönfeld

Drei kurze Geschichten

András Mádai

Begegnungen mit Wiener Professoren

Erich Loewy

Die Fliege und andere Geschichten

Sophie Lillie

Zu viel Empathie für die Opfer?

Konrad Rennert

Unermordete Großeltern

Ernst Strouhal

Nostrifikation

Robert Schindel

Mein Wien

Herbert Kuhner

Woher ich komme

Verena Krausneker und Konrad Rennert

Waschecht

John Bunzl

Es war einmal im Piestingtal

Egon Schwarz

Wien, »wie es wirklich ist«

Karl Pfeifer

Rückkehr nach Österreich

Stephen Laufer

Diese Hassliebe kennt kein Entkommen

Frank Stern

Ankünfte

Oscar Bronner

Kontinuität in der österreichischen Justiz

Autor:innenverzeichnis

RUTH WODAK

EINLEITENDE WORTE ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Nun, nach 22 Jahren, ist es an der Zeit, eine zweite Auflage der erfolgreichen ersten Auflage »Das kann einem nur in Wien passieren« zu publizieren. Seit 2001 hat sich unsere Welt stark verändert – in manchen Aspekten und Dimensionen scheint sie manchmal kaum wiedererkennbar.

Seit 2001 erschütterten und erschüttern uns vielfache Krisen, von der Finanzkrise 2007/2008 bis zur Covid-19-Pandemie 2019–2023, der Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine am 24. Februar 2022 und dem sich gerade im Herbst 2023 abzeichnenden und eskalierenden Terror und Krieg im Nahen Osten. Ganz abgesehen von der schon sehr lange andauernden Klimakrise.

Angesichts der vielen schrecklichen, ja traumatischen Erfahrungen und Ereignisse könnte man nun fragen, warum gerade jetzt eine zweite Auflage eines Bandes notwendig erscheint, der vor allem antisemitische Alltagserfahrungen in Wien präsentiert. Viele der dargestellten Erlebnisse sind, so könnte man meinen, nicht mit physischer Gewalt oder einer unmittelbar bedrohlichen Gefahr verbunden; daher in Relation zu den oben genannten Krisen und damit verbundenen Erfahrungen minder wichtig und nur für wenige Betroffene interessant. Man könnte auch fragen, warum gerade antisemitische Ausgrenzungs- und Diskriminierungserlebnisse in Wien dokumentiert und diskutiert werden, wo doch in unserer globalisierten Welt jede und jeder potenziell mit jeder und jedem weltweit durch verschiedenste Kommunikationsmöglichkeiten verbunden ist. Daher, so könnte man weiter argumentieren, betreffen solche ausgrenzenden Erfahrungen viele andere Menschen, andere Minderheiten – auf der ganzen Welt. Denn aufgrund der aktuell fortschreitenden Aushöhlung pluralistischer, liberaler Demokratien in Europa und darüber hinaus steigt der Anteil sogenannter illiberaler Demokratien, autoritärer Regime und von Diktaturen. Minderheitenrechte werden zunehmend unterdrückt, Menschenrechte missachtet, Diskriminierungen verschiedenster Art nehmen zu.

Und doch markieren gerade scheinbar unbedeutende verbale Ausgrenzungen nur die Spitze eines Eisbergs. Im Fall des vorliegenden Bandes handelt es sich um antisemitische Einstellungen und Vorurteile. Manchmal bewusst, oft unbewusst geäußerte Verletzungen. Denn nicht immer sind Antisemitismen explizit und für alle erkennbar. Es kann sich auch um Anspielungen, um Verharmlosungen, um Euphemismen handeln, die nur in einem größeren Kontext verständlich werden. Es handelt sich jedoch immer um vorschnelle Generalisierungen, also um Vorurteile, um die Zuschreibung negativer, judenfeindlicher Eigenschaften an eine imaginierte, scheinbar homogene Gruppe von »allen Juden und Jüdinnen«, also um einen Trugschluss.

So wird angenommen, dass alle Juden und Jüdinnen reich seien, gierig, betrügerisch, heimat- und ehrlos, mächtig, rachsüchtig oder feig, schön oder hässlich, ausbeuterische Kapitalisten oder konspirative Bolschewisten (um nur einige der bekannten negativen, oft durchaus widersprüchlichen Stereotype aufzulisten). Vor allem in Wien weist der Kontext häufig auf historische Ereignisse hin und – wie im Fall des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus – auf eine spezifische judenfeindliche Terminologie, die durchaus noch im kollektiven Gedächtnis verankert geblieben ist. Denn in Wien (und Österreich) gab es besonders seit dem 19. Jahrhundert einen virulenten Antisemitismus, der zunächst noch vor der Vernichtungsideologie der Nazis im antisemitischen Populismus eines Karl Lueger, des damaligen Wiener Bürgermeisters, gipfelte. Beispielsweise gehen die meisten Verschwörungsnarrative, die während der Covid-19-Pandemie und der Demonstrationen mancher Impfgegner:innen zu beobachten und zu hören waren, auf traditionelle antisemitische Muster der sogenannten »jüdischen Weltverschwörung« zurück. So waren Poster und Slogans mit Anschuldigungen gegen die Familie Rothschild und den Philanthropen George Soros zu sehen, die – als Sündenböcke auserkoren – angeblich an der Pandemie schuld seien. Immer wieder dienten und dienen Juden und Jüdinnen als Sündenböcke für komplexe Probleme. Ich bezeichne dies als die »Iudeus ex Machina«-Strategie: In Erklärungsnot greift man schnell zum »bewährten« Sündenbock; seit Jahrhunderten eignen sich dafür immer wieder »die Juden«.

»Worte können unsagbar wohltun und fürchterliche Verletzungen zufügen«, stellte Sigmund Freud fest (1976, 214)1. Worte und Äußerungen können verletzen, aufhetzen; Gewalt verordnen, begleiten und rechtfertigen. Äußerungen sind Handlungen, diese gewinnen eine Eigendynamik und werden in ganz unterschiedlicher Weise rezipiert. Gesagtes lässt sich in den seltensten Fällen rückgängig machen. Worte besitzen Geschichte. Wir leben nicht in einem un- bzw. ahistorischen Raum, die negativen und positiven Bedeutungen schwingen mit. Insofern ist es notwendig, ja unerlässlich, die ersten Anzeichen einer Ausgrenzungspolitik gegenüber Minderheiten zu beobachten, festzuhalten, diese explizit zu benennen und dieser entgegenzuwirken.

In der vorliegenden zweiten Auflage sind einige Beiträge literarisch und fiktiv, hätten so stattfinden können und sind als Schlüsselgeschichten erzählt; andere Beiträge sind programmatisch und als Appell gedacht. Wieder andere stammen aus dem Erlebten und sind als Oral History zu lesen. Manchmal sind es nur kleine oder kleinste markante, aber typische Episoden, dann wiederum sind Erlebnisse lebensgeschichtlich eingebettet, um besseres Verständnis zu ermöglichen. Einige Beiträge betreffen direkt die österreichische Nachkriegsgeschichte – wie nach der Shoah mit Rückkehrer:innen bzw. Juden oder Jüdinnen, die zurückkehren wollten, aber daran behindert wurden, offiziell oder im Alltag umgegangen wurde. Leider sind in den letzten 22 Jahren einige Autor:innen verstorben – ihre Beiträge bleiben selbstverständlich im vorliegenden Band erhalten. Neu hinzugewonnene Autor:innen ergänzen aus ihrer jeweiligen Perspektive bisher fehlende Aspekte und liefern neue Erfahrungen, andere wiederum schreiben ein Nachwort aus heutiger Sicht und haben geringfügige Änderungen vorgenommen. Für wiederum andere bleiben die Erlebnisse, die in der ersten Auflage dokumentiert sind, als solche weiterhin gültig. Auch die komplexen Geschehnisse rund um die Restituierung arisierter Güter werden aus eigener Erfahrung geschildert sowie die unheilvolle Verquickung politischer Parteien wie der ÖVP mit Parteien wie der FPÖ, die Ausgrenzung zum wichtigen und notwendigen Teil ihres Programms gemacht haben. Und in einigen Fällen dient die Lebensgeschichte per se als Beispiel einer jüdischen Alltagsgeschichte, wie sie »nur« und »noch immer« »in Wien passieren kann und konnte«. Stilbrüche sind dabei unvermeidbar, ja eigentlich erwünscht, da es um die subjektive Wahrnehmung und Perspektive jedes und jeder Einzelnen geht.

Das vorliegende Buch möchte zum Nachdenken anregen. Auch zu Rücksicht und Respekt gegenüber vulnerablen Gruppen mahnen, seien es Juden und Jüdinnen, Muslime, Roma und Sinti, Flüchtlinge, Migrant:innen und sexuelle Minderheiten. Es soll vor allem auch zeigen, welche kleinen Erfahrungen sich im Alltag ansammeln und wie sehr Worte, Sätze und Äußerungen nachhaltig zu kränken vermögen. Reflektierte Anerkennung ist gefragt: Anerkennung von Wünschen, Bedürfnissen, Erfahrungen, Verletzungen und Problemen. In immer mehr polarisierten Gesellschaften ist dies schwierig; in Gesellschaften, in denen Differenzierungen, eine Meinungsvielfalt nicht mehr erlaubt oder möglich sind. Umso mehr möchte dieses Buch zu einem fruchtbaren Dialog und Austausch führen, zum Zuhören, zum Erzählen, zum Fragenstellen und zum Verstehen.

Ruth Wodak

Wien, im September 2023

PS: Das fertige Buchmanuskript wurde bereits im September 2023, also vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Pogroms der Terrororganisation Hamas, der brutalen Ermordung unschuldiger Menschen in Israel, zum Druck freigegeben.

Dieses schreckliche Ereignis und der seither stattfindende Krieg im Nahen Osten betreffen in unterschiedlichster Weise Staaten, Politik, Zivilgesellschaft und sehr viele Menschen weltweit, nicht nur in Wien. Gedanken über die Zukunft und Entwicklungen zum Wiener Alltagsantisemitismus wurden von mehreren Autor:innen geäußert, hier aber (noch) nicht aufgenommen.

Die noch nicht absehbaren globalen wie lokalen Folgen, sowohl geopolitisch wie in Bezug auf weitere Polarisierungen, Rassismen wie Antisemitismen, mögen daher Thema neuer Bücher werden.

1 Sigmund Freud. 1976. Dir Frage der Laienanalyse. GW XIV, Frankfurt/Main: 77–251.

RUTH WODAK

ANSTELLE EINES VORWORTES

»Das kann einem nur in Wien passieren«

Geschichten, die das Leben schreibt1

Es war einmal. So beginnen viele Märchen und Geschichten, Fiktion und Realität, oft subjektive Wahrheiten. Erinnerungen sind immer subjektiv. Sie enthalten aber für jeden und jede wichtige Funktionen. Sie erscheinen in bestimmten Situationen und verschwinden wieder. Aber sie bleiben auch dann wirksam, denn Vergessen fällt oft schwer. Von solchen Erinnerungen soll hier die Rede sein. Es sind – im oben genannten Sinne – wahre Erinnerungen, auch wenn die handelnden Personen anonym bleiben.

Die Geschichten werden bei einem Abendessen in meiner Wohnung erzählt. Freunde und Freundinnen, Journalist:innen, Ärzte, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen, alle eher progressiv und agnostisch, aus der »jüdischen Schicksalsgemeinschaft«, beginnen, nach getaner Arbeit, Erinnerungen von ausgrenzenden Erlebnissen vielerlei Art auszutauschen: was uns allen irgendwann passiert ist, weil wir Frauen, Männer, Juden und Jüdinnen, Linke, Studierende, interdisziplinär Arbeitende usw. sind. Bis tief in die Nacht sitzen wir um den Küchentisch herum, eine Erzählung ergibt die andere, wie im Wartezimmer eines Arztes, wo die Patienten und Patientinnen ihre Leidensgeschichten berichten, aus Solidarität, Mitleid, vielleicht auch, um sich zu profilieren. Die Krankheit jedes und jeder Einzelnen soll die vorhergehende übertreffen. Gemeinsam lachen wir, gemeinsam sind wir betreten und beklommen, manchmal scheinen uns die Geschichten zunächst unglaubwürdig, trotz der Beteuerungen der Erzählenden und trotz der eigenen ähnlichen Erfahrungen, manchmal können wir uns sofort alle mit ihnen identifizieren.

Die Geschichten sind einzigartig, sie sind wissenschaftlicher Kategorisierung und Systematisierung nicht zugänglich. Die Begebenheiten verlangen nach einem anderen Genre, eben einem erzählenden, sie sind voll Humor und Witz, aber auch von Trauer und ironischer Wut erfüllt. Das Einzige, was uns schließlich als gemeinsames Merkmal einfällt, ist der Ort: Wien. Diese Stadt, in der sich Kosmopolitisches mit Provinziellem vermischt, wo zwar der Feminismus viel erreicht hat, der Sexismus aber noch allerorts spürbar ist; Wien, wo Neid anscheinend dazu gehört; Wien, wo sich viele so wohl fühlen und trotzdem immer vom Auswandern sprechen; Wien, wohin die Eltern einiger Anwesenden zurückgekehrt sind, nachdem sie vertrieben worden waren; und die Kinder sich heute fragen, warum die Eltern dies gemacht hätten; Wien, wo dem katholischen Antisemiten Karl Lueger noch immer ein großer Platz am Ring gewidmet ist, an Sigmund Freud aber nur ein kleiner Park erinnert. Von diesem Wien ist die Rede.

Die Erzählungen an diesem Abend beginnen mit einer Geschichte über »Waluliso«, ein mittlerweile verstorbenes echtes Wiener Original, ein alter Mann, der jahrelang einem Wahrzeichen ähnlich in der Innenstadt halbnackt mit einem Lorbeerkranz auf seinem Haupt herumspazierte.

Walter: »Zusammen mit anderen Jugendlichen der jüdischen Jugendorganisation Haschomer Hazair ging ich am Abend des9. November 1988 oder 1989 Flugzettel zur Erinnerung an das Novemberpogrom von 1938 verteilen. Als Ort wählten wir den Stephansplatz. Es war ein kalter Abend, und es waren nur relativ wenige Leute auf der Straße. Dennoch fanden sich Abnehmer für die Flugzettel. Die meisten Leute nahmen sie stillschweigend mit, einige Leute nickten uns aufmunternd zu, andere wollten, nachdem sie einen Blick auf das Flugblatt geworfen hatten, keines in die Hand gedrückt bekommen.

Plötzlich sah ich eine stadtbekannte Gestalt auf mich zukommen. Es war der als ›Wiener Wahrzeichen‹ gehandelte Waluliso, der von mir wissen wollte, was wir denn hier für Zettel verteilen. Als ich ihm erklärte, dass es bei unserer Aktion um die Erinnerung an die sogenannte ›Reichskristallnacht‹ ginge, begann er davon zu erzählen, dass es sich die meisten Juden damals eh haben richten können. Die meisten Juden, so Waluliso, seien reich und in der Lage gewesen, sich die Ausreise zu erkaufen. Nur die (wenigen) armen Juden, die von den reichen Juden im Stich gelassen wurden, hätten leiden müssen. Nach etwa zehn Minuten Diskussion zog Waluliso wieder von dannen …«

Walulisos Vorurteil überraschte uns alle nicht. Ähnliches hatten wir schon oft gelesen und gehört. Allein die Erfahrungen unserer Eltern konnten dieses Vorurteil leicht erledigen: Mein Vater war geflüchtet, ohne irgendeinen Besitz, und gelangte 1938 auf abenteuerliche Weise nach England. Meine Mutter musste ebenso kurz nach dem sogenannten »Anschluss« Wien verlassen, kam ohne Geld in London an und arbeitete zunächst als Putzfrau und Kindermädchen. Was verwundert, ist die Hartnäckigkeit dieses Vorurteils.

Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die mein Vater immer mit Vergnügen und beißender Ironie erzählt hat: »Diese ergab sich bei seiner ersten Rückkehr nach Wien, als Soldat der Britischen Armee. Den ganzen Krieg hindurch hatte er sich auf den Besuch seines geliebten Wiener Kaffeehauses gefreut, wo er seinerzeit jeden Tag, um8 Uhr Früh, seine Melange getrunken und die Zeitung durchgeblättert hatte. Als er nach dem Mai 1945 in ebendieses Kaffeehaus trat und sich an den gewohnten Tisch setzte, kam derselbe Ober wieder, der ihn auch vor dem Krieg und dem Exil bedient hatte, und sagte: »Schön, dass Sie wieder hier sind, Herr Doktor!« Und sonst nichts … Welcome to Vienna! Mein Vater war natürlich gerührt, man hatte ihn nicht vergessen. Der Ober stellte keine weiteren Fragen, er ging einfach zum Alltag über. Als wäre nichts gewesen.«

Die nächste Geschichte – von mir selbst erzählt – bewegt gleich viele zu Assoziationen über die gängigen Vorurteile der »Macht der Juden« und der »Weltverschwörung«:

»Als ich einen renommierten Wissenschaftspreis – den Wittgensteinpreis – erhielt, begannen vielfältige und mühsame Erklärungsversuche, warum gerade ich diesen zugesprochen bekommen hatte; ein Kollege – so wurde mir berichtet – meinte ernsthaft dazu: ›Das müssen die jüdischen Kanäle gewesen sein.‹«

»Genau«, meint der Nächste. »Als ich berufen wurde, hob man in einer Rede lobend hervor, dass ich international sehr vernetzt sei und dass ich gute Beziehungen mit dem jüdischen Finanzkapital besäße. Dies würde dem Institut sehr zugutekommen.«

»Ja«, ruft Paul, links danebensitzend: »Bei mir wurde bei einer Sitzung, in der es um Fundraising ging, die besondere Fähigkeit zum ›Schnorren‹ betont, für wissenschaftliche Projekte. Ein anderes Mal wurden die vielen internationalen Kooperationen hingegen kritisiert.«

Alle biegen sich vor Lachen: denn dass wir Wissenschaftler:innen als so mächtig und bedrohlich erlebt würden, finden wir einfach zu absurd. Es stimmt uns auch nachdenklich. Sollen wir nun also internationale Kontakte pflegen oder nicht? »Wie man es macht, ist es also falsch!« Und dass Frauen aus eigener Kraft etwas erreichen könnten, das wird von vielen in Wien und in Österreich leider noch immer bestritten; aber das war ja an sich nichts Neues …

Nach einer Pause, mit Nachtisch und Kaffee, hebt der Nächste an und erzählt, dass er einmal bis in die Morgenstunden beim Schottentor mit einem ihm unbekannten älteren Mann über »die Juden« diskutiert hätte.

Dieser hatte ihm zunächst auf den Kopf zugesagt: »Sie sind Jude!«

»Warum?«, fragte der Angesprochene.

»Weil Sie so gescheit reden.«

Und dann entspann sich die Diskussion. Um vier Uhr Früh bot ihm der Erzähler an, ihn mit dem Auto nach Hause zu bringen. Der alte Mann lehnte erst ab, schaute sich vorsichtig um, stieg dann doch ins Auto und ließ sich nur in die Nähe seines Zuhauses bringen, »damit ihn niemand sehen würde«. Die Angst vor den »mächtigen Juden«, wie er es sogar explizit sagte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Erzähler hat diese Begebenheit niemals vergessen, sie zeigte ihm, wie verwurzelt manche Überzeugungen nach wie vor sind.

Darauf unterhalten wir uns lange darüber, woran manche glauben anderen anzumerken, dass sie Juden bzw. Jüdinnen seien. Denn, so meinen wir, wir schauen doch gar nicht anders aus. Es ist uns allerdings schon oft aufgefallen, dass auch jüdische ältere Bekannte die Zugehörigkeit zum Judentum zu erkennen glaubten und dass viele noch in der Terminologie der »Rassengesetze« sprachen; etwa ob jemand »Halb-, Viertel- oder Achteljude« sei. Derart haben sich, so folgern wir, die früheren Nürnberger Rassegesetze im Alltagsbewusstsein festgesetzt.

Noch immer ist mir das nicht klar. Judith berichtet, dass ihre Klassenkolleginnen in der Schule von ihr antisemitische Karikaturen, ähnlich denen im »Stürmer«, gezeichnet hätten. Daraufhin hätte sie jahrelang ungern in den Spiegel geschaut, aus Angst, so hässlich zu sein. Diese Geschichte trifft uns alle sehr. Solche Kränkungen können traumatische Effekte erzielen, in den bekannten jüdischen Selbsthass umschlagen. Judith hatte auch lange gebraucht, bis sie diese Zuschreibung überwunden hat, vor allem durch eine später mühsam erworbene positive Beziehung zu ihren historischen familiären Wurzeln.

Meine Mutter erzählte mir – immer wieder – eine ähnliche Geschichte. Bei einem Empfang kam eine Dame auf sie zu: »Du bist doch die Erna! Hast noch immer eine schiefe Nase; warum lebst du eigentlich noch?« Meine Mutter (um deren Stupsnase ich sie immer beneidet hatte) erkannte eine frühere Studienkollegin. Sie war jedoch so geschockt, dass sie sprachlos blieb. Wurde ihr das Überleben vorgeworfen? Wie sollte sie die Frage interpretieren?

Auch ich werde und wurde öfters von Wildfremden auf der Straße angesprochen, ob ich denn wirklich Österreicherin sei oder Wienerin. Diese Frage ist vielleicht sogar nett gemeint. Ich bin ja klein, zierlich und dunkelhaarig. Vor dem Hintergrund der latenten Vorurteile, der immer vorhandenen Skepsis aber, was denn solche Fragen »eigentlich« bedeuten könnten, bin ich vorsichtig geworden. Die Ideale von großen, blonden (also »arischen«) Typen, den »echten« Österreicher:innen, bleiben ja präsent. Wenn ich wissen wollte, warum sie eine solche Frage stellten, bekam ich meist vage Antworten: »Sie schauen halt südländisch aus, spanisch, italienisch, nicht österreichisch.« Ich habe beschlossen, dies als Kompliment zu werten, da ich spanische und italienische Frauen oft als elegant, apart und schön empfinde. Ich versuche, die anderen möglichen Interpretationen auszublenden. Es gelingt aber nicht immer …

Es scheint, als ob kein bekanntes antisemitisches Stereotyp nicht schon von einem oder einer der Anwesenden erlebt worden wäre:

Eine etwas jüngere Kollegin war einmal auf einem Seminar von einem der anwesenden Teilnehmer:innen gefragt worden, nachdem er sie tatsächlich »beschnuppert« hatte: »Welches Parfum benützen Sie denn?«

Auf ihre Antwort »Chanel« hin meinte dieser: »Seltsam, ich dachte, Juden stinken.« Daraufhin hätte sie sich geschockt einen halben Tag ins Bett gelegt, hatte Angst, sich weiterhin unbekannten Menschen auszusetzen. Sie verkroch sich eben. Ein anderer Kollege, der diesen Wortwechsel gehört hatte und zunächst sprachlos verblieben war, versuchte, den Lehrer rational aufzuklären. Aber ohne Erfolg. Dieser blieb bei seinem Vorurteil.

Wir überlegen, was wir in einem ähnlich gelagerten Fall machen würden: auch zu überzeugen versuchen oder das Gespräch abbrechen? Gespräche mit Menschen, die derart tief verankerte Vorurteile besitzen, vermeiden? Ignorieren? Wir kommen zu dem Schluss, dass dies nicht geht: Denn solche expliziten Demütigungen sind zu groß, treffen ins Innerste. Rationalität hilft nicht. Nur Ironie, Zynismus oder Verachtung. Wenige sind in einer solchen Situation dazu fähig.

Unsere Vergangenheiten sind stets präsent. Bis in kleine und kleinste Begebenheiten, die den Sprecher:innen oft gar nicht bewusst sind. Dass sogar gebildete Beamte und Beamtinnen meinen, man müsse die »Judenfrage in den Schulbüchern« endlich lösen, im Kontext einer Diskussion über die Integration jüdischer Geschichte in österreichische Schulbücher. Letzteres habe ich in einem international besetzten Gremium in einem Wiener Ministerium erlebt. Dieser »Sager« fiel damals nur mir auf. Als ich mich nachher darüber aufgeregt zu Kolleg:innen äußerte, wurde mir – wieder einmal – gesagt, ich sei zu sensibel, das sei ja sicherlich nicht so gemeint gewesen. Ich höre also anscheinend überall das Gras wachsen.

Sind wir da alle schon »übersensibel«, fast »paranoid«? Ich glaube nicht. Es stehen ja nicht unbedingt böse Absichten dahinter, oft ist es einfach Gedankenlosigkeit oder Naivität. Oder mangelnde Bildung, mangelndes Geschichtswissen. Bei der jüngeren oder jungen Generation sicher auch oft Unwissen. Trotzdem überraschen und verletzen solche Äußerungen. Es lohnt sich, darauf aufmerksam zu machen. Ein wenig Vorsicht kann Beleidigungen vermeiden, wie dies durchaus mit sexistischen Witzen oder Begriffen schon ab und zu gelingt.

Begriffe und Idiome wie »Sonderbehandlung« sind schon Teil der Umgangssprache geworden; diese Begriffe sind »normalisiert«. Vorträge und aufklärende Broschüren haben nur selten geholfen, all dies sitzt zu tief und oft unbewusst. Und als »Sprachpolizei« wollen wir uns ja nicht gerieren. Den Vorwurf, wir alle – Frauen, Juden und Jüdinnen, Ausländer – wären viel zu sensibel, den kennen wir ja.

Auch im Privatleben waren manche vor antisemitischen Vorkommnissen nicht gefeit.

So erzählt Michael, dass die Tante seiner Frau ihm bei der ersten Begegnung nicht die Hand reichen wollte. Betroffen fragte Michael nachher seine Frau, ob er denn was falsch gemacht habe. »Nein«, erwiderte seine Frau beschämt. »Sie ist eben antisemitisch und will Juden nicht die Hand schütteln.«

Also eine von den berühmten sieben Prozent fanatischer Antisemit:innen, wie sie statistisch durch Meinungsumfragen berechnet worden waren. Die Drohung, solche Treffen nicht mehr abzuhalten, führte dann zu einem (pragmatischen) Umdenken. Hände wurden fortan in dieser Familie gereicht und geschüttelt. Was sich die Tante weiterhin dachte, bleibt dahingestellt.

Noch immer will niemand gehen. Alle sprudeln Erlebnisse hervor; man lacht und weint gleichzeitig.

»Ich habe die beste Story zu bieten«, rufe ich dann schließlich aus, nachdem ich lange überlegt hatte, ob ich sie erzählen soll: »Mein Analytiker entpuppte sich als Mitglied der Waffen-SS.«

»Das ist unmöglich«, sagt ein anderer Gast, der auch Analyseerfahrung hat. »Das geht doch in der Psychoanalytischen Vereinigung, in der Psychoanalyse nicht.«

»Doch«, belehre ich ihn. »Ich erfuhr es aus der Zeitung, die mir ein guter Freund gezeigt hatte, mit dem Hinweis: ›Das wird dich interessieren.‹ Man kennt ja solche ›besten‹ Freundinnen und Freunde …«

»Na, der kann man doch nicht glauben, der Zeitung. Medien … das wissen wir doch.«

»Ich habe den Analytiker sogar besucht und darauf angesprochen. Er hat es zugegeben und gleich erzählt, dass er nie was gesehen, nichts gewusst habe und keine Schuld auf sich geladen hätte. Und er meinte sogar weiter, dass er aufgrund seiner Kriegsgefangenschaft, in der er fast verhungert wäre, gelernt hätte, mit KZ-Überlebenden therapeutisch umzugehen. Auf diesen Vergleich hin habe ich den Kontakt abgebrochen. Denn wie kann man unschuldige Opfer der Nazi-Verbrechen, Kinder, Frauen und Männer, mit Tätern vergleichen?«

»Und hast du das dann der Psychoanalytischen Vereinigung berichtet?«

»Ja, einigen befreundeten Analytikerinnen und Analytikern. Doch fast alle meinten, dies sei mein Fehler gewesen: Ich hätte doch fragen müssen.«

In Wien müsse man immer fragen, bei Angehörigen aus dieser Generation. Zwei Analytikerinnen konnten sich jedoch mit meinem Gefühl identifizieren, ›betrogen‹ worden zu sein.«

»Das ist doch lächerlich. Wer kommt denn bei der Psychoanalyse auf eine solche Idee?«

»Na ja, das meine ich auch. Wenn ich gefragt hätte, hätte doch ein Analytiker immer nur therapeutisch gegengefragt: ›Was fällt Ihnen dazu ein, dass Sie mich das fragen?‹ Eine aussichtslose Situation …«

Ein Buchtitel wird alsbald für diese Story erfunden: »How to deal with your Nazi analyst!« Analog den vielen Selbsthilfebüchern, die jeder und jede in amerikanischen Supermärkten zu kaufen bekommt.

Vergangenheiten scheinen alle irgendwann einzuholen, man kann ihnen nicht entkommen; auch Analytiker:innen werden von ihrer Vergangenheit eingeholt. Die Fragen, die sich stellen, sind: Wie geht man damit um? Wie gehen wir damit um? Was erzählen wir unseren Kindern? Welche Strategien geben wir ihnen mit, solche immer wieder vorkommenden Ereignisse sinnvoll zu verarbeiten? Wie schützt man sich? Versuchen wir weiter zu diskutieren, zu überzeugen, zu schreiben, zu lachen … oder – und wieder steht die Möglichkeit im Raum – wandern wir aus? Wenn ja, wohin?

Langsam werden alle doch sehr müde. Alle sind aufgewühlt, vom Erzählen, Lachen und von Emotionen verschiedenster Art erschöpft. Und spät ist es ja auch.

Wessen Problem ist der Alltagsantisemitismus nun? Unseres oder das Problem der anderen? Das Problem unserer Generation oder auch der jüngeren Generationen? Haben diese mehr Distanz? Fragen, auf die ich/wir keine Antwort hatte/n. Jener Abend schließlich war für das Entstehen dieses Buches ausschlaggebend. Es ist der Versuch einer Antwort.

Und 2023 …

Zweiundzwanzig Jahre später frage ich mich, ob bei einem Abendessen die eingeladenen Gäste wieder solche Geschichten parat hätten. Wahrscheinlich wäre es der Fall, dass ähnliche Erlebnisse geschildert würden, trotz der Bildungsarbeit zu Diskriminierung, Ausgrenzung, Antisemitismus, Sexismus und Rassismus, die es inzwischen sowohl in öffentlichen Institutionen wie auch an vielen Schulen gibt.

Aufgrund der Flüchtlingsbewegung 2015/16 stieg die Angst vor Fremden, auch wenn viele Gemeinden und Städte sowie die Zivilgesellschaft großartige Hilfe geleistet hatten. Die restriktive Asyl- und Migrationspolitik der letzten Jahre verschärften bei vielen Menschen die Angst vor den sogenannten »Anderen«, der Slogan einer »Festung Österreich« bzw. einer »Festung Europa« signalisiert immer wieder, dass manche Fremde hier nicht willkommen sind.

Die vielen skandalösen »Einzelfälle«, die die mediale Berichterstattung immer wieder während der türkis-blauen Koalition 2017–2019 dominierten, trugen das Ihre dazu bei, auch explizite antisemitische Äußerungen und Inhalte weiterhin zu verbreiten. Ebenso die Demonstrationen gegen die Impfpflicht während der Covid-19-Pandemie. Tabus wurden gebrochen, wenn etwa bei Demonstrierenden gegen die Impfpflicht im Herbst und Winter 2021, die einen gelben Stern auf ihren Jacken trugen, »Ungeimpft« zu lesen war. Doch stete Erregung und Empörung nutzen sich ab; ausgrenzende Äußerungen werden verharmlost, nicht mehr hinterfragt, damit normalisiert.

Übrigens – gut Gemeintes kann ebenfalls vorurteilsbehaftet sein. Dazu noch eine häufige Erfahrung aus den letzten Jahren: Oft wurde und werde ich von Kolleg:innen eingeladen, wenn jüdische und/oder israelische Wissenschaftler:innen in Wien zu Gast sind. Auch wenn diese in ganz anderen Bereichen und Disziplinen forschen als ich. Es ist natürlich immer spannend, neue Kolleg:innen kennenzulernen. Aber trotzdem: Diese Einladungen setzen offenbar voraus, dass ich automatisch an Kolleg:innen Interesse habe, weil sie Juden oder Jüdinnen sind; und nicht etwa aus fachlichem Interesse oder einer zumindest benachbarten Expertise.

Wünschenswert wäre wohl, dass nach den kommenden zweiundzwanzig Jahren ein solches Buch nicht mehr nachgefragt wird, optimistisch bin ich aber leider nicht.

1 Es handelt sich um wahre Geschichten, nur die Personen (außer der Erzählerin) sind anonymisiert. Ich bin meinem Sohn Jakob für seine kritischen Kommentare sehr dankbar, ebenso all jenen, die die erste Fassung dieses Vorwortes gelesen und Verbesserungen vorgeschlagen haben.

PETER WEINBERGER

HILFE! ICH BIN ZEITZEUGE GEWORDEN!

Ab wann und warum ist man Zeitzeuge? Ab dem achtzigsten Lebensjahr? Weil man gerade noch zu den Holocaustopfern1 gezählt wird? Weil man glaubt, (politisch aktiv) Teil der österreichischen Nachkriegsgeschichte gewesen zu sein? Alle, eben gestellten Fragen kann ich für mich mit einem eindeutigen Ja beantworten. Ob ich schon einmal ein »traditioneller« Zeitzeuge gewesen bin? Auch das kann ich mit einem Ja beantworten: vor Kindern in der deutschen Schule2 in White Plains, im Staate New York.

Vorgestern und gestern

Allerdings ganz so einfach ist es nicht, diese Fragen zu beantworten, denn eine Gegenwart existiert im Prinzip nicht, sie ist ein singulärer, sich kontinuierlich auf der Zeitachse verschiebender Punkt. Wir befinden uns stets in der Vergangenheit und können bloß Wünsche oder Absichten an die Zukunft richten. Welche Vergangenheit soll demnach bezeugt werden? Stefan Zweigs »Die Welt von gestern« beschreibt eigentlich »die Welt von vorgestern«, die »Welt von gestern« zu vermitteln liegt an »uns«, an den zu Zeitzeugen Gewordenen. Und schon erhebt sich die nächste Frage, nämlich, wie kann aus »unserer Welt von gestern« berichtet werden?

Am einfachsten geschieht dies »akustisch«, mit Worten. Das entspricht dem bisherigen Bild von Zeitzeugen, nämlich von genügend alten Personen, die Schülern gegenübersitzen und von Ungeheuerlichkeiten während der nationalsozialistischen oder (nur?) austrofaschistischen Zeit berichten. Sie allerdings – wie schon angedeutet – wird es bald nicht mehr geben.

Bilder und das Transportieren von Bildern

Als ich den etwa Zwölfjährigen in der deutschen Schule erzählte, dass es in der Wohnung meiner Eltern im Gegensatz zu anderen Familien keine Fotos oder Bilder von Verwandten an den Wänden gab, dass diese Wände bedrückend leer waren, hat sie das vermutlich tiefer beeindruckt als der eigentliche Grund, nämlich, dass die allermeisten meiner Verwandten in Vernichtungslagern der Nazis ermordet worden sind. Einige Schüler haben sogar in den darauffolgenden Tagen Zeichnungen von leeren Wohnungswänden angefertigt. Das Beispiel zeigt, dass die bildliche Ebene – und sei’s nur fiktiv in Form einer leeren Wand – bestens geeignet ist, »unsere Welt von gestern« aufleben zu lassen.

Dies führt mich zum Porträt von Elisabeth Neumann-Viertel1 aus dem Jahr 1987, angefertigt von Edith Kramer.2 Womit drei berühmte Namen gefallen sind: Elisabeth Neumann-Viertel war eine international bekannte Schauspielerin, ihr Mann, Berthold Viertel,1 ein sehr geachteter Literat, und Edith Kramer, eine hervorragende Malerin, eine Schülerin von Friedl Dicker-Brandeis. Edith malte stets im kräftigen Stil des »social realism« und war die Begründerin der Kunsttherapie in der Kinderpsychiatrie. Es ist nicht das unmittelbare Porträt von Neumann-Viertel, die mit einem Hut hinter einem Frühstücks- oder Jausentisch sitzt, das betroffen macht, es ist die grün-weiß gestreifte Gmundner Keramik auf dem Tisch und das Stück Gugelhupf auf einem Teller. Das Bild vermittelt die Sehnsucht von Emigranten nach eigentlich Nebensächlichkeiten in ihrem »Gestern«. Es ist ein Stück Geschirr, das Geschichten erzählt, das Erinnerungen an das »Gestern« aufrecht erhält. So gesehen, ist auch das Bild von Edith Kramer ein »Zeitzeuge« sogar in unserer Welt von gestern.

Nicht immer geben Bilder ein adäquates Zeitzeugnis ab. Das Staatsvertragsbild2 »Die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags im Oberen Belvedere 1955« von Robert Fuchs ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Nicht nur enthält es »Fakes«, es ist auch im Geiste der nationalsozialistischen Ästhetik konzipiert, was nicht weiter verwundert, da Fuchs bereits ab 1933 der (illegalen) NSDAP angehörte und der Auftraggeber, der damalige Bundeskanzler Julius Raab, ein prominenter Vertreter des Austrofaschismus gewesen ist.

Die Germanistin Barbara Zeisl,3 Tochter des Komponisten Erich Zeisl und Schwiegertochter von Arnold Schönberg, erzählte mir vor etlichen Jahren, dass sie einmal als junges Mädchen mit ihrem Vater einen Ausflug in den Griffith Park,1 Los Angeles, unternommen habe. Sie sei stehen geblieben und habe gemeint: »Schau, Papa, wie schön es hier ist.« Worauf er erwiderte: »Das ist nichts gegen den Wienerwald.« Erich Zeisl hat ein virtuelles Bild vom Wienerwald ein halbes Leben mit sich herumgeschleppt, es war sein Zeitzeuge aus seiner Welt von gestern. Übrigens, zurück nach Wien, in seinen Wienerwald, hat er es nicht geschafft.

Überschneidende Welten von gestern

Der Zugang zu »unserer Welt von gestern« geschah oft reichlich spät, denn die Generation unserer Eltern hat sehr lange beharrlich über ihre Vergangenheit geschwiegen. Erst die mir 1997 zugeschickten Briefe meiner Mutter und die bis zu seinem Tod (2007) von meinem Vater unter Verschluss gehaltenen – zum Teil solche von meinen in Nazi-Lagern verschwundenen direkten Verwandten – machten mich zum Zeitzeugen. Eigentlich zu einem doppelten Zeitzeugen, denn ich versuchte, meine Welt von gestern, die eines Kindes und später Jugendlichen in einem Wiener Außenbezirk, jener vorgefundenen Realität gegenüberzustellen.2 Es war eine Welt auf zwei Ebenen, die mit einem Schock endete, denn plötzlich wurde mir bewusst, dass ich der einzige Überlebende in Wien einer ehemals großen jüdischen Familie war und eigentlich erst herauszufinden hatte, was dies für mich bedeutete.

Und da war noch etwas, das es zu bezeugen galt, die unendlich provinzielle Langweile, die in Österreich jahrzehntelang vorherrschte,3eine Vergangenheit, in der noch immer »Christlich-Soziale« und ehemalige Nazis die Universitäten, die Bildung schlechthin und die Justiz beherrschten; in der es genügte zu behaupten, »man hätte nur seine Pflicht erfüllt«, um der Vergangenheit zu entkommen. Abhandengekommen ist für Jahrzehnte bloß die Intellektualität gewesen. Es war mühsam, dieser Provinzialität zu entkommen.

Es ist insbesondere die Überschneidung von Generationszeiten, die sehr oft für Überraschungen sorgt. Als 2018 das Elternhaus meiner Frau Kitty, eine Josef-Frank-Villa in Niederösterreich, an sie fiel, war klar, dass dieses Haus vollgefüllt mit »Geschichte« sein muss. Bloß nach den Voreigentümern zu forschen, entpuppte sich als eine umfassende Studie eines der größten Arisierungsfälle in Österreich.1 Die Unverschämtheiten der Arisierung an sich konkurrierten fast auf gleichem Niveau mit der Unwilligkeit zur Restitution in den sogenannten Nachkriegsjahren.

Verbunden mit dem Haus war aber auch die Geschichte einer Familie mit insgesamt sieben Kindern:2 sechs Schwestern und ein Bruder. Eine der Schwestern war Kittys Mutter, deren überlebende Schwestern so ziemlich alle Dokumente, betreffend die Zeiten vor, während und nach der Emigration, aufgehoben haben, sowie alle Briefe untereinander. Beim Durchblättern dieser Dokumente und Briefe konnte man plötzlich die Angst ums Überleben selbst verspüren, Angst, weil sich Fluchtwege noch immer nicht ergeben haben, und Niedergeschlagenheit, aus dem gewohnten Leben ausgeschlossen zu sein. Bilder aus dieser Sammlung bedürfen keiner »erklärenden« Worte, sie sprechen für sich selbst. Warum diese Bilder auch zu meiner Welt von gestern gehören? Weil ich sie alle sehr gut gekannt habe und die jämmerliche Situation nicht vergessen kann, in die einige von ihnen die Emigration gebracht hatte.

Musik

Als Hans Krásas Kinderoper »Brundibar« am 5. Mai 2014 im Rahmen der Befreiungsfeier des KZ Mauthausen im österreichischen Parlament aufgeführt wurde,1 sah man zwar mitunter auch gelangweilte Gesichter unter den Abgeordneten, aber es war offensichtlich, wie sehr Musik als Zeitzeuge dienen kann. Tausende Musiker und Dutzende Komponisten hatten das Land fluchtartig zu verlassen, etliche von ihnen wurden in KZs ermordet. Von Chansons, über Operette bis zur (modernen) klassischen Musik, sozusagen von Hermann Leopoldi bis Hanns Eisler, das gesamte Spektrum der Musik war davon betroffen. Nicht nur Bilder können für sich sprechen, sondern auch Aufführungen »Vertriebener Musik«. Die kreative Leere der Nachkriegszeiten in der Musik beschreibt übrigens Kurt Schwertsik in seiner Autobiografie2. Sie lässt sich unter »Richard Strauss, ja, Gustav Mahler, nein« am besten charakterisieren. Der Untertitel dieser Autobiografie »Erzählung der Lernzeit« impliziert geradezu, Zeugnis der eigenen Vergangenheit zu sein.

Bei einem Hermann-Leopoldi-Abend vor einigen Jahren im Österreichischen Kulturinstitut in New York, stellte sich heraus, dass alle anwesenden »ehemaligen« Wiener den Text aller Lieder bis zur letzten Strophe kannten und mehr oder weniger laut (falsch) mitsangen. Das kleine Cafe in Hernals berührte viele noch immer emotional zutiefst. Interessanterweise, da einer der damals Anwesenden (der älteste Enkel von Arnold Schönberg übrigens) bei gegebenen Anlässen gelegentlich laut Ja, die Feuerwehr von Gigritzpotschen vortrug, führte dieses Lied zu einiger Verwirrung unter New Yorker Gedenkdienern, da der Komponist allen unbekannt war. Erst eine zwischen Europa und den USA laufende Recherche konnte klären, dass es sich um einen weniger bekannten Titel von Leopoldi handelt. Seine Lieder dienten, wie die Gmundner Keramik bei Edith Kramer, für viele als Erinnerungsblöcke an ihre Zeit in Wien. Dort war nach 1945 die Stimmung dagegen eher anders: »Den Hermann Leopoldi woin mia scho zruck, an Hersch Kohn (sein ursprünglicher Name) aber ned.«