Das Kind der Magd -  Wege der Wahrheit - Katja Hildebrand - E-Book

Das Kind der Magd - Wege der Wahrheit E-Book

Katja Hildebrand

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Beschreibung

Liz ist eine junge Lehrerin, die ihre erste Stelle in einer kleinen Schule im Jagsttal antritt. Magdalena ist eine junge Magd, die im Hause des Medicus Braunert im mittelalterlichen Heilbronn ihren Dienst beginnt. Zwischen den beiden Frauen liegen über 600 Jahre, und doch verbindet sie etwas. Ein Roman, der Geschichte lebendig werden lässt.

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Das Kind der Magd - Wege der Wahrheit

Das Kind der Magd -

Wege zur Wahrheit

KATJA HILDEBRAND

Prolog

Keine Ruhe finden kann ich. Auf der Suche bin ich, immer und immer und kann nicht ruh ‘n. Kann es nicht verwinden, was sie mir angetan. Mich trifft keine Schuld.

********************

1. Kapitel

Da liegst du. Ich kann dich sehen und spüren, aber nicht berühren. Du findest keinen Schlaf und keine Ruhe. Wie gern würde ich dir helfen. Doch du kannst es nur aus eigener Kraft tun. Du hast einen Weg vor dir, einen langen und schweren, ähnlich wie ich. Jung bist du, ohne viel Erfahrung. Rastlos bist du. Unabhängig möchtest du sein, doch bist du weit davon entfernt. Es fällt dir schwer, dich zu lösen und freizumachen. Du glaubst an die Liebe, doch kennst du die Liebe? Ich kann dich verstehen. Ich kann nachempfinden, wie es dir geht. Ach, wie nahe fühle ich mich dir. Vielleicht sollte ich dir meine Geschichte erzählen.

********************

Als Liz den Brief aus dem Briefkasten fischte, spürte sie, wie ihre Hände vor Aufregung zitterten. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie ungeduldig mit dem Finger eine Ecke des Umschlags aufbohrte und ihn hektisch aufriss. Endlich … die lang ersehnte Nachricht vom Schulamt … ihre erste Stelle als frisch gebackene Lehrerin. Nun würden sie zusammenziehen, Marcel und sie, eine schicke Wohnung in der Stadt würden sie sich suchen, vielleicht sogar mit Dachterrasse, das hatte sie sich schon immer gewünscht. Das Zimmer in der WG war für die Zeit des Studiums und auch während des Referendariats wirklich eine super Lösung gewesen: bezahlbar, zentral gelegen, fast immer war jemand da, wenn man reden wollte, abends noch einen Absacker trinken, sich auskotzen, wenn man frustriert war, sich eine zweite Meinung zu einer geplanten Unterrichts stunde einholen. So eine WG hatte große Vorteile. Aber jetzt sehnte sich Liz nach ihren eigenen vier Wänden.

Liz hatte sich bemüht, einen guten Abschluss hinzulegen, damit sie hier in Karlsruhe bleiben konnte. Welche Schule es wohl werden würde? Eine Schule am Stadtrand von Karlsruhe wäre gut, dachte sie, Innenstadt müsste nicht unbedingt sein. Ihr Notendurchschnitt war gut. Aber vielleicht nicht gut genug. Sie hatte eine Lehrprobe in den Sand gesetzt, nur eine „befriedigend“ bekommen. Eigentlich sollte es trotzdem knapp reichen. Karlsruhe war beliebt. Wer dort studiert hatte, wollte meistens bleiben. Liz überflog das Schreiben ein zweites Mal. Sicher hatte sie sich vertan. Ihre Augen begannen zu flackern, die Schrift verschwamm. Da stand nirgendwo etwas von Karlsruhe. Sie schaute noch einmal genauer hin. Nein! Das konnte nicht sein. Ihr Atem stockte. Noch einmal lesen, genauer lesen, zwang sie sich, doch sie merkte, wie sich ein Tränenschleier über ihre Augen legte, der nicht einmal durch heftiges Blinzeln wegzuwischen war. Schulamt Wiebittewo? Künzelsau? Wo war das denn? Das war doch … war das nicht in Hohenlohe? War das nicht da, wo keiner hinwollte? Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten? Jwd, janz weit draußen? Wo die Menschen einen Dialekt sprachen, den man nicht einmal erlernen konnte, so verquer war der? Das konnte nicht sein. Ihre Noten waren doch gut gewesen, sehr gut sogar. Weshalb sollte dann ausgerechnet sie … nach … wohin genau? Der Schulort … diesen Namen hatte sie noch nie gehört: Mulfingen, eine Grundschule anscheinend, so stand es da schwarz auf umweltschutzgrauem Papier. Zitternd ließ sie die Hände sinken. Der Briefbogen mit der Hiobsbotschaft segelte zu Boden. Liz spürte eine Welle der Wut in sich hochsteigen. Sie setzte sich in ihren grauen Sessel, ihren geliebten Sessel, den sie von ihrer Großmutter zum Abitur bekommen hatte, als Erbstück vom Opa; der Sessel, in dem sie gelesen, gelernt, gechillt und geschlafen hatte, der sie durch ihr gesamtes Studium begleitet hatte, den Marcel kitschig und altmodisch fand und der, wenn es nach ihm ging, auf keinen Fall mit in die neue, schicke, gemeinsame Wohnung durfte. Doch jetzt schien alles anders zu sein. Mit einem Schlag, mit nur einem Satz, gedruckt auf grauem Papier, mit einer Stelle an einem Ort, von dem sie nicht einmal wusste, wo er überhaupt war!

‚Ich google das jetzt‘, dachte Liz, ‚wo dieses Mulfingen ist.‘ Das Ergebnis war niederschmetternd schnell da. 150 km, peitschte ihr die Entfernung ins Gesicht. Rund zwei Stunden einfache Strecke. Das konnte man unmöglich pendeln. Nicht, wenn es Elternabende und Konferenzen gab. Liz stöhnte. Das durfte doch alles nicht wahr sein. ‚Habe Nachricht vom Schulamt bekommen,‘ tippte sie eine WhatsApp an Marcel. Mit weinender und verzweifelter Emoji. Zwei schwarze Haken, Nachricht empfangen, aber bis er es lesen würde, konnte es dauern. In der WG waren alle ausgeflogen. Keiner war da, mit dem man das mal eben bequatschen konnte. Ferien eben. Liz schrieb an ihre beste Preundin. Eva antwortete sofort. ‚Waaaas? Bist du sicher, dass keine Verwechslung vorliegt?‘ ‚Kann ich kurz anrufen?‘ ‚Klaro‘ mit Daumen-Hoch-Emoji. Eva war eine geduldige Zuhörerin, Seelentrösterin und Mutmacherin. Sie hatte direkt mehrere Vorschläge für Liz: Erstens Anruf beim Schulamt, um nachzufragen, wieso und weshalb, ob es sich vielleicht um eine Verwechslung handelte. Zweitens den Ort Mulfingen zumindest mal anschauen. Drittens überlegen, ob Marcel auch dort in Hohenlohe eine Stelle finden könnte. Viertens im größten Notfall die Stelle ausschlagen und sich auf die Warteliste setzen lassen, bis in Karlsruhe direkt was gesucht würde und solange als Krankheits-Vertreter zur Verfügung stehen. Da brauchte man immer Lehrer. „Danke, Eva, du bist ein Schatz!“, beendete Liz das Sorgentelefonat. Dass Eva direkt von ihrer Ausbildungsschule übernommen wurde, erfuhr Liz in einem Nebensatz am Ende des Gesprächs. Und das fühlte sich komisch an. Auch wenn sie es ihrer Freundin wirklich gönnte, es tat weh.

Ein kleiner, fieser Stachel bohrte fragend: ‚Warum funktioniert es bei ihr? Warum muss sie nicht weg?‘ Liz versuchte, nicht länger darüber nachzudenken. Sie wollte nicht neidisch sein, aber sie spürte, dass sie es doch war. Ruhelos schritt sie in ihrem Zimmer auf und ab, ging in das Bad, das eigentlich dringend mal wieder geputzt werden müsste, aber sie war diese Woche nicht dran. Außerdem hätte sie im Augenblick gar nicht die Kraft, etwas Sinnvolles zu tun. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr ein blasses Gesicht voller Sommersprossen, rötliche, lockige Haare, die sich widerspenstig aus dem Pferdeschwanz zu lösen begannen. Liz zwang sich, tief durchzuatmen, schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht, ging zurück in ihr Zimmer. Blick aufs Handy: Marcel hatte die Nachricht immer noch nicht gelesen. Dass er auch immer so furchtbar korrekt sein musste und sein Handy am Arbeitsplatz konsequent in der Schublade ließ. Mit viel Glück schaute er in der Kaffeepause mal drauf. Liz überlegte, ob sie mit Oma Doro telefonieren sollte, aber sie entschied sich dann für die Warteschleife auf dem Schulamt. Nervös kaute sie auf den Fingernägeln. Das hatte sie sich eigentlich abgewöhnt. Offenbar hatten viele andere genau zur selben Zeit ein dringendes Anliegen, denn Liz musste lange warten. „Oberschulamt Karlsruhe, Sie sprechen mit …“ Endlich! „Ähm, guten Tag, Elisabeth Breitner, ich habe eine Frage zu einem Schreiben, das ich heute vom Oberschulamt bekommen habe.“ „Ja, worum geht es denn?“ „Also, ich habe offensichtlich eine Stelle in Hohenlohe bekommen, und ich wollte …“ „Was ist das Problem?“ „Ich wollte eigentlich hier in Karlsruhe bleiben“, sagte Liz mit trockenem Mund. „Kann man da gar nichts mehr tun?“ „Sie sollten froh sein, dass Sie direkt übernommen werden. Aber Sie müssen die Stelle ja nicht annehmen. Melden Sie sich arbeitslos oder lassen sich als Krankheits-Vertreter auf die Liste setzen. Vielleicht klappt es dann im nächsten Jahr.“ Liz schluckte. Hatte nicht Eva genau das vorgeschlagen? Sie spürte, dass auf dem Amt nichts zu machen war, bedankte sich bei der Dame am anderen Ende der Leitung und legte auf. Immer noch keine blauen Haken bei Marcel. Wenn man ihn brauchte, war er nicht greifbar. Die Gedanken in Liz' Kopf drehten sich im Kreis. Plötzlich klingelte ihr Handy. Als Liz auf das Display blickte, machte sich eine Welle der Erleichterung in ihr breit, und sie musste unwillkürlich lächeln: Oma Doro. Die schien immer zu spüren, wann sie gerade dringend gebraucht wurde. Und bei Oma Doro musste Liz ihre Tränen nicht länger zurückhalten, die eigentlich die ganze Zeit schon gedrückt hatten. „Und Eva darf hier in Karlsruhe bleiben“, schniefte Liz, „und Marcel und ich wollten doch endlich zusammenziehen …“ „Das könnt ihr doch trotzdem tun, Liz. Dein Marcel findet sicher auch in Hohenlohe eine Stelle. Da gibt es viele große Firmen.“ „Ach was, niemals. Das kannst du erden“, schluchzte Liz. „Marcel geht nicht aus Karlsruhe weg. Er ist happy mit seinem Job, da passt einfach alles für ihn, das hat er neulich erst gesagt. Das wird eine Wochenend-Beziehung … Ach, Oma, was soll ich denn in Hohenlohe? Wer will da schon hin?“ „Also hör mal!“, empörte sich Oma Doro. „Weißt du denn nicht, dass Heilbronn schon ganz in der Nähe von Hohenlohe ist? Hier bei mir hat es dir doch immer gut gefallen.“ „Heilbronn ist zumindest eine Stadt, Omi,“ heulte Liz. „Ich habe mir das auf Google Earth angeschaut, da ist nichts, weit und breit ist es da nur grün …“ Oma Doro wollte wissen, wie der Schulort hieß. Und dann überlegte sie nicht lange und machte ihrer Enkeltochter einen Vorschlag: „Weißt du was, meine liebe Liz? Setz dich in dein Auto und komm deine alte Oma einfach besuchen. Ich habe die nächsten drei Tage keine Rentner-Termine. Und dann fahren wir zusammen in dieses Mulfingen und schauen es uns mal an, ganz unverbindlich. Hohenlohe ist ein unglaublich schönes Fleckchen Erde. Grün auf der Landkarte ist in der heutigen Zeit ein Segen. Vielleicht bist du noch zu jung, um das schätzen zu können. Aber gib der Sache eine Chance. Abgemacht?“ „Abgemacht“, willigte Liz ein. „Und … Omi?“ „Ja?“ Liz seufzte tief durch und sagte mit fester Stimme: „Danke!“ Sie konnte ihre Oma fast lächeln sehen. Dann klickte es, und Liz legte ebenfalls auf. Oma Doro hatte recht. Sie musste es sich zumindest erst einmal anschauen. Marcel hatte ihre Nachricht immer noch nicht gelesen. Worauf sollte sie noch warten? Liz warf wahllos ein paar Klamotten in ihre kleine Reisetasche, packte dazu, wovon sie annahm, dass sie es in den nächsten drei Tagen brauchen würde, schloss die Tür zu ihrem Zimmer in der Studenten-WG und hatte irgendwie das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Und so musste sie, als sie kurze Zeit später in ihrem alten Opel Corsa saß, auf den sie richtig stolz war, weil sie ihn sich von ihrem Referendarinnengehalt abgespart hatte, fast schon ein bisschen über sich selbst den Kopf schütteln. Als sie auf die Autobahn fuhr, kam gerade „Steh auf“ von den Toten Hosen. Liz kurbelte die Scheibe herunter, setzte die Sonnenbrille auf, drückte aufs Gaspedal und sang aus Leibeskräften mit. Das befreite fürs Erste.

Keine zwei Stunden später parkte sie ihren Corsa vor dem kleinen Reihenhaus in Heilbronn. Seit dem viel zu frühen Tod ihres Mannes wohnte Oma Doro alleine hier und fühlte sich hier sehr wohl. Sie hatte guten Kontakt zu den anderen Parteien in der Häuserreihe. Liz mochte die Wohnung ihrer Großmutter. Es gab ein kleines, gemütliches Gästezimmer, in dem ‚immer ein Bett für sie bezogen war‘, wie es ihre Oma zu sagen pflegte. Liz hatte kaum den Klingelknopf gedrückt, als Oma Doro schon die Tür aufriss und sie herzlich in ihre Arme schloss. „Liz, mein Schätzchen, komm erstmal rein. Trinken wir einen Tee?“ Liz nickte. Oma Doros Schwarztee mit Kandis und Rum war einfach unschlagbar gut und mit garantierter sofortiger Beruhigungswirkung. Was entweder am Rum oder an Oma Doro oder an beiden lag. Sie saßen auf der Terrasse, die ringsum voller üppigem Blumenschmuck war, von der Sonne mit einem großen Sonnensegel geschützt, und genossen die Aussicht auf die Weinberge. Oma Doro goss sich eine zweite Tasse Tee ein. „Weißt du, nach meiner Ausbildung musste ich auch den Wohnort wechseln. Da dachte ich anfangs, eine Welt bräche zusammen. Aber wäre ich nicht nach Heilbronn gekommen, hätte ich nicht deinen Opa kennen gelernt … und so manche Erfahrung nie gemacht.“ „Schon klar,“ murmelte Liz, „aber ich bin ja schon zum Studium von zuhause weg. Und jetzt hat es mir so gut in Karlsruhe gefallen …“ „Man sollte nie auf der Stelle treten. Kennst du nicht das Zitat von Hermann Hesse? Und jedem Anfang …“ „… wohnt ein Zauber inne“, vollendete Liz den Satz. „Im Augenblick kann ich nur leider den Zauber noch nicht erkennen“, seufzte sie und lehnte sich in dem bequemen Gartenstuhl zurück. „Wir besuchen morgen meine Freundin Gerti in Langenburg“, verkündete Liz' Großmutter. „Von dort aus können wir das Jagsttal erkunden. Denn dort liegt deine zukünftige Schule.“ „Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich wirklich dorthin gehe“, wandte Liz ein. „Warten wir's ab“, meinte Oma Doro und lächelte ihrer Enkeltochter aufmunternd zu.

„Weißt du was? Wir machen noch einen Stadtbummel. Was hältst du davon?“ Liz zuckte mit den Schultern. „Ja, warum nicht?“ So schlenderten Großmutter und Enkeltochter alsbald fröhlich schwatzend durch die Straßen, überquerten eine der Brücken über den Neckar und kamen zum Heilbronner Marktplatz. Liz blieb stehen und schaute zum Turm der Kilianskirche hinauf. Sie liebte alte Gemäuer, und diese Kirche war wirklich sehr alt. Der im Renaissancestil erbaute Westturm war nicht unbedingt das, was ihr jedes Mal ins Auge stach, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Wurzeln dieser Kirche bis ins 8. Jahrhundert zurückreichten. Als sie über den Marktplatz zum Rathaus schlenderten, fühlte sich Liz plötzlich unwohl. Sie hatte das Gefühl, als würden sie verfolgt, und hastig drehte sie sich um. „Was ist nur los mit dir, Liz?“, wunderte sich die Großmutter über die hektisch werdenden Schritte ihrer Enkelin. „Ich weiß nicht, ich fühle mich hier nicht wohl. Ich glaube, auf diesem Platz ist zu viel Geschichte“, mutmaßte sie. Oma Doro lachte auf. „Ja, das kannst du laut sagen. Schau mal da drüben, da ist eine historische Stadtführung. Davon gibt es hier viele.“ Liz blickte zu der Gruppe Menschen, die sich um einen Stadtführer in mittelalterlicher Gewandung scharten. Neugierig geworden, ging Liz betont langsam an der Gruppe vorbei, um den ein oder anderen Satz aufzuschnappen. „… das waren ganz bewusst öffentliche Hinrichtungen. Es sollte schließlich zur Abschreckung dienen …“, hörte Liz, und dann noch etwas wie „… Scheiterhaufen, vielleicht direkt hier …“ Eine Welle der Übelkeit überrollte sie, und sie musste sich rasch abwenden und sich von der Gruppe entfernen. „Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen hier verurteilt wurden und auf dem Platz öffentlich hingerichtet oder bestraft wurden“, raunte ihr die Großmutter zu. Liz spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken jagte. Gänsehaut pur. Nein, sie wollte hier weg. Kaum hatten sie den Marktplatz überquert, war alles wieder gut, und Liz hatte das beklemmende Gefühl rasch wieder vergessen.

Als sie abends auf ihr Handy schaute, erschrak sie. Sieben Anrufe in Abwesenheit: Marcel. Sie hatte ganz vergessen, ihm zu schreiben, dass sie nach Heilbronn gefahren war. Zum Glück war er ihr nicht böse, sondern eher erleichtert, dass ihr nichts zugestoßen war. In wenigen Sätzen erzählte Liz ihrem Freund den Stand der Dinge. „Du willst aber jetzt nicht ernsthaft nach Hohenlohe, Liz?“, fragte er entsetzt. „Nein, ich habe noch nichts entschieden“, beschwichtigte sie ihn. „Aber ich möchte es mir auf alle Fälle mal anschauen“, setzte sie nach. „Weißt du, dass das gefühlt am Ende der Welt ist? Da ist der Hund begraben. Ich habe gehört, die Menschen dort sprechen einen ganz eigenartigen Dialekt, den keiner verstehen kann, der nicht selbst dort geboren ist. Da gibt es Dörfer, in denen leben mehr Schafe oder Kühe als Menschen. Liz, wir wollten zusammenziehen. Wie stellst du dir das denn vor?“ „Du kannst ja mitkommen“, platzte es aus Liz heraus. Sie wusste, dass sie ihren Freund damit provozierte. Aber ihr gefiel es nicht, dass er so vorschnell urteilte, obwohl er die Gegend noch gar nicht kannte. „Bist du wahnsinnig? Du weißt, dass mein Job hier ein Sechser im Lotto ist.“ Marcels Reaktion überraschte sie nicht. „Jedenfalls, morgen fahren Oma Doro und ich nach Langenburg, und von dort aus erkunden wir das Jagsttal und schauen uns auch mal dieses Mulfingen an. Ich kann doch kein Urteil über etwas fällen, was ich nicht kenne.“ „Dir ist schon klar, was das für unsere Beziehung bedeuten würde?“, fragte Marcel. „Nein?“, sagte Liz fragend. „Eine Wochenend-Beziehung ist eigentlich nicht das, was ich mir auf lange Sicht vorgestellt habe …“, beantwortete sich Marcel die Frage selbst. Er klang verbittert und enttäuscht. Liz wusste nicht, was sie darauf noch sagen sollte, denn um ehrlich zu sein, hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Freund nun gleich ihre ganze Beziehung infrage stellen würde. Immerhin waren sie seit fast drei Jahren zusammen. „Marcel, ich glaube, Oma hat mich zum Essen gerufen. Wir schreiben morgen wieder, ja?“, flunkerte sie und legte traurig auf. Da war so wenig von ihrer Liebe zu spüren gewesen. Zum ersten Mal, seit sie mit ihm zusammen war, überlegte sie, ob sie sich wirklich so nahestanden, wie sie immer gedacht hatte.

Als Liz an diesem Abend in ihrem Bett lag, fand sie lange nicht in den Schlaf. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, bevor sie in einen unruhigen Traum fiel.

Ich hatte keine großen Erwartungen an meinen Herrn, denn ich war an ein Leben in Armut gewöhnt. Angeboten hatten sie mich, als wäre ich eine Kuh, die auf dem Markt verkauft wird. Meine Eltern hatten es so entschieden, und ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Ich war das siebte von elf Kindern. Meine Mutter war mit dem zwölften schwanger. Schon die Geburt meines kleinen Bruders hatte sie so mitgenommen, dass die Hebamme befürchtet hatte, sie würde es nicht überleben. An diese Nacht wollte ich nicht zurückdenken, und doch kamen die Erinnerungen immer wieder. Meine Aufgabe war es damals, der Hebamme heißes Wasser zu bringen und das blutige Wasser im Hof auszuschütten. Das Wasser musste ich vom Brunnen im Hof holen und in der Küche über dem Holzfeuer erhitzen. Den Topf mit dem heißen Wasser brachte ich in das Zimmer, zu dem sonst niemand Zutritt hatte, und in dem meine Mutter sich vor Schmerzen wand und krümmte. Das Baby war längst da, doch die Wehen hörten und hörten nicht auf. Noch schlimmer war, dass die Tücher, mit denen die Hebamme das dunkelrote Blut aufsaugte, nicht weniger wurden, sondern mehr. Zuerst hatte die Hebamme nichts gesagt, doch dass etwas nicht in Ordnung war, das spürte ich. Außerdem wurden die Schweißperlen auf der Stirn der erfahrenen, kräftigen Frau immer mehr. Und mein Vater wurde immer unruhiger. Die Schritte, mit denen er in der Stube auf und abging, wurden immer heftiger und verzweifelter. Sein Blick, wenn ich denn einen Blick erhaschte beim Hin- und Hertragen des Wassers, wurde immer hilfloser und leerer, als würde er in Gedanken schon durchspielen, wie er sich als Witwer mit elf Kindern durchschlagen konnte. „Die Nachgeburt löst sich nicht“, murmelte die Hebamme vor sich hin, „wenn sie nicht kommt, verblutet sie.“ Aber die langjährige Erfahrung der Frau und ein Trank, welchen sie aus unzähligen Kräutern gebraut hatte und in einer kleinen Glasflasche aus ihrem ledernen Koffer holte, brachten die entscheidende Wendung. DiePresswehen setzten ein letztes Mal ein, und mit einem kraftlosen Schrei gelang es meiner Mutter, einen unförmigen, dunkelroten Fleischfetzen aus ihrem Körper zu befördern. Die Blutungen ließen nach, ein letztes Mal das Wasser auswechseln, meiner Mutter ein stärkendes Bier bringen, den schreienden Säugling, um den sich keiner gekümmert hatte, waschen und gebündelt der entkräfteten Wöchnerin an die Brust legen … So war das gewesen. Elf Kinder waren schon zu viel gewesen. Zwölf Kinder gingen nicht mehr. Der kleine Hof meiner Eltern konnte längst nicht mehr alle Kinder ernähren. Meine Brüder arbeiteten auf dem Feld, doch die Ernten der letzten Jahre waren einer anhaltenden Dürre zum Opfer gefallen. Einen Teil galt es dennoch abzugeben, denn der Hof war nur zu Lehen, und es galt jedes Jahr den Zehnten abzugeben. Wovon aber den Zehnten abgeben, wenn die eigenen Mäuler nicht gestopft werden konnten? Zudem wurde ich älter. Ich hatte bereits die erste Monatsblutung gehabt; es war an der Zeit, dass ich unter die Haube kam oder in eine Anstellung. Da ich keine Mitgift hatte, mussten meine Eltern froh sein, als ihnen für mich Geld geboten wurde. Ich sollte Hausmagd beim Medicus Braunert in Heilsbronn werden. Schwere Arbeit war ich gewohnt. Auf dem Hof meiner Eltern hatte ich ein Bett mit zwei Geschwistern geteilt. In der Kammer standen drei Betten. Die jüngsten Geschwister schliefen im Zimmer der Eltern. Als mir die Gattin des Arztes, meine Herrin, eine Kammer unter dem Dach ganz für mich allein zuwies, fühlte ich mich wie eine Königin. Eine Bettstelle mit einem Strohsack und einer Decke aus Daunen ganz für mich allein? Genug zu essen, auch wenn es oftmals nur die Reste waren, welche die Herrschaften nicht aufgegessen hatten? Ich kam mir vor, als wäre ich im Himmel. Die Arbeit, die ich täglich zu verrichten hatte, war nicht unmenschlich. Meine Aufgaben bestanden darin, vor den Herrschaften aufzustehen und das Feuer im Kamin und im Herd anzuzünden, Holz ins Haus zu holen, der Köchin in der Küche zurHand zu gehen, Botengänge zu erledigen, auf dem Markt einzukaufen, die Böden zu schrubben, Teppiche zu klopfen, Betten aufzuschütteln, die Wäsche im Waschhaus zu waschen.

Bei meinen Eltern hatte ich im Stall gearbeitet und Wasser geholt, ich hatte die Wäsche zum Bach getragen und dort mit Asche geschrubbt, um sie anschließend zuhause im heißen Wasser auszuwaschen. Die Arbeit war viel schwerer gewesen. Der Medicus Braunert war ein angesehener Mann in der Stadt, und deswegen wohnte er in einem großen, herrschaftlichen Haus mit zwei Stockwerken. Im unteren Geschoss befand sich das Behandlungszimmer und seine Apotheke. Er verstand sich auf vortreffliche Weise vor allem darauf, Menschen mit langwierigem Husten und Schmerzen an den Gelenken zu helfen. So kamen die Kranken aus nah und fern zu ihm. An Arbeit mangelte es ihm nicht. Seine Gattin führte das Regiment über den Haushalt, besprach sich mit der Köchin, beschäftigte sich mit Handarbeiten und veranstaltete Essen mit anderen wichtigen Herrschaften der Stadt. Für meine Begriffe hatte sie ein einfaches Leben. Doch sie schien mir nicht glücklich dabei. Das konnte ich an ihren Gesichtszügen erkennen. Zwischen den Augen hatten sich schon strenge Falten gebildet, obgleich sie noch nicht wirklich alt war, und ihr Mund sah ganz verkniffen aus. Lächeln sah ich meine Herrin nie. Vielleicht war ihr Leben schwerer, als ich es mich vorstellen konnte. Ich war nur eine einfache Magd, ich konnte weder lesen noch schreiben, und zudem war ich völlig mittellos. Natürlich machte ich mir Gedanken. Warum, so fragte ich mich, hatte meine Mutter zwölf Kinder, die Frau des Medicus Braunert aber kein einziges? Meine Mutter hatte jeden Tag schwer gearbeitet, aber dennoch hatte ich gespürt, dass zwischen meinen Eltern so etwas wie Nähe oder Wärme war. Wenn der Medicus Braunert seine Sprechstunden beendet hatte, saßen die Eheleuteschweigend zu Tische. Ich glaube, das war für mich am schwierigsten auszuhalten, diese Stille, obwohl Menschen anwesend waren. Zuhause durfte man bei Tisch selbstverständlich auch nicht sprechen. Sprechen durfte nur der Vater, und zwar das Tischgebet. Danach war jeder damit beschäftigt, sich auf das wenige Essen zu konzentrieren, das es gab. Dennoch hatte es sich mehr nach Leben angefühlt als im Haus des Medicus. Der heilte andere Menschen, doch seine eigene Frau erschien mir kränker zu sein als alle, die den Medicus Braunert je aufgesucht hatten.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich im Hause des Arztes diente, als er begann, mir diese Blicke zuzuwerfen. Die Blicke konnte ich anfangs nur spüren. Ich nahm sie wahr, wenn ich mich von ihm wegdrehte, um abzutragen. Sie bohrten sich in meinen Rücken und breiteten sich wie heiße Wellen von dort aus. Wenn ich ihm begegnete, senkte ich meinen Blick. So hatten sie mir das beigebracht, dass man den Herrschaften nicht in die Augen zu blicken hatte. Doch er schaffte es, seinen Blick auf eine solch ungehörige Weise von unten her Richtung meinem zu wenden, dass ich nicht länger imstande war, ihm auszuweichen. Noch nie hatte ich solche Augen gesehen. Sie waren von stechend hellem, klarem Blau, und ich hatte das Gefühl, ich würde in diesen Augen versinken. Zittern ließen sie mich, beben, am ganzen Körper, und ich wusste nichts damit anzufangen, konnte es nicht einordnen und begreifen, was da vor sich ging. Ich spürte nur, dass es mir nicht unangenehm war, wenn er mich so anschaute. „Dein Name ist Magdalena, nicht wahr?“ Als er mich eines Tages ansprach, schreckte ich zusammen. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Zum ersten Mal hob ich meinen Blick und sah ihn an, während ich nickte. „Kannst du auch sprechen? Ich habe noch nie deine Stimme gehört“, sagte er leise. Fragend schaute ich ihn an. Was wollte er von mir? „Kannst du?“, wiederholte er sich. Wieder nickte ich undsenkte meinen Blick. Er machte mich verlegen, wie er da vor mir stand. Ich hatte den Arm voller gestärkter und gebügelter Tischtücher und war auf dem Weg, sie in den großen Wäscheschrank in der Diele zu bringen. Als ich versuchte, mich an ihm vorbeizudrücken, stellte er sich mir in den Weg. „Magdalena?“, fragte er mich erneut. Was wollte er von mir? Hatte ich einen Fehler gemacht? Doch in seiner Stimme lag kein strafender Ton, es ging keinerlei Bedrohung von ihr aus. Vielmehr schien er neugierig zu sein. „Mein Herr, ich habe den Auftrag, Ihrer Gattin die Tischwäsche in den Dielenschrank zu bringen“, sagte ich leise. Ich erschrak ein wenig, meine eigene Stimme zu hören, denn ich war es nicht gewohnt, sprechen zu dürfen in diesem großen Haus. Lediglich mit der gutherzigen, dicken Köchin Friedlinde plauderte ich ausgelassen, wenn wir in der Küche gemeinsam zugange waren. „Du kannst ja doch sprechen“, sagte der Herr Medicus, lächelte zufrieden und trat wieder einen Schritt zur Seite, um mich daran zu hindern, mit der Wäsche an ihm vorbeizuhuschen. „Weshalb sollte ich nicht sprechen können? Hättet Ihr wohl eine stumme Magd eingestellt?“, hörte ich mich sagen und verstummte augenblicklich, schämte ich mich doch für meine freche Antwort. Doch dem Medicus schien das zu gefallen. Das sagte er nämlich. „Du gefällst mir“, vernahm ich seine Stimme. Als er das aussprach, spürte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und die Wangen glühen ließ. „Bitte, lasst mich meine Arbeit tun“, murmelte ich. Da trat er zur Seite. „Du gefällst mir, Magdalena!“, wiederholte er. Weshalb sagte er das? Und wie konnten so wenige Worte so viel in mir aufwühlen? Ich drückte die Wäsche an meine Brust und eilte den Gang entlang.

Völlig neben mir kam ich mir vor. Das merkte auch Friedlinde, als ich in die Küche zurückkam. „Was ist los, Magdalena?“, fragte sie mich. Ich setzte mich, schüttelte den Kopf, atmete tief durch undhielt meine Hände gegen meine glühenden Wangen. „Der Herr …“, stammelte ich, „der Herr …“. Mehr konnte ich nicht sagen. „Hat er dich unsittlich berührt?“, fragte Friedlinde aufgebracht. Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein, wo denkst du hin!“, rief ich empört. „Dann ist es ja gut.“, meinte die dicke Köchin nur, strich mir über den Kopf und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. „Das Getreide muss gemahlen werden, wir wollen Brot backen“, trug sie mir auf. Gehorsam machte ich mich an die Arbeit, die sie mir angetragen hatte. „Bleib auf der Hut, hörst du?“, sagte sie noch zu mir. „Du wärst nicht die erste Magd, die …“ Sie sagte es leise. Und sie sprach den Satz nicht zu Ende, dessen Sinn ich nicht verstehen konnte. Aber ich spürte wohl, dass er nichts Gutes bedeutete.

2. Kapitel

Noch erreiche ich dich nicht. Durcheinander bist du, gefangen in deinen eigenen Sorgen und Nöten. Doch eines Tages, eines Nachts, da wirst du zuhören und verstehen …

********************

Liz mochte Gerti auf Anhieb. Sie war eine drahtige ältere Dame mit flottem Kurzhaarschnitt, die zu ihren grauen Haaren stand und nicht krampfhaft auf jugendlich machte, aber dennoch ein flottes Auftreten hatte. Offensichtlich hatte Oma Doro sie schon vorbereitet, denn sie begrüßte Liz mit den Worten: „So, du bist also Liz, die Hohenlohe kennenlernen möchte?“ Liz nickte und erwiderte den kräftigen Händedruck. „Dann fangen wir mal hier mit Langenburg an, einer kleinen Perle hier im Jagsttal, wie ich finde.“ Die beiden Freundinnen hatten sich viel zu erzählen und plauderten angeregt, während sie das Langenburger Schloss umrundeten. Schon bald schien es, als hätten sie Liz ganz vergessen, was diese nicht weiter schlimm fand.

Sie hatte nicht besonders gut geschlafen in der vergangenen Nacht. Wirres Zeug hatte sie geträumt. Wirklich einordnen konnte sie es nicht, auch konnte sie sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern, und vielleicht fühlte sie sich gerade deshalb wie gerädert. Deswegen war sie froh, nicht den ganzen Tag Konversation betreiben zu müssen. Stattdessen erkundete Liz den kleinen Ort auf ihre Weise. Sie liebte es, zu fotografieren. Ihre Digitalkamera hatte sie immer dabei, und damit fing sie Stimmungen und Bilder ein, auf die andere im Vorübergehen gar nicht achten würden. „Du hättest Fotografin werden sollen“, hatte neulich Johan aus der WG zu ihr gesagt, als sie ihre jüngsten Schnappschüsse ausgelegt hatte.

„Damit den Lebensunterhalt zu verdienen, ist eine Kunst für sich“, hatte sie nur zu ihm gesagt. Fotografieren sollte ihr Hobby bleiben, das stand fest. Die Schlossanlage zog Liz sofort in ihren Bann. Schon immer hatte sie ein Faible für alte Gemäuer gehabt. Sie entdeckte den einen und den anderen Winkel, betrachtete die Steine und wie sie behauen worden waren oder bewunderte die kleinen Blumen, die sich aus den Mauerritzen drängten und eifrig blühten. Interessiert studierte Liz die Hinweise zum Schloss und erfuhr, dass das Schloss bis heute im Besitz der Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg war und das ursprüngliche Gebäude aus dem Jahr 1235 stammte. Offenbar hatte es hier 1963 einen furchtbaren Brand gegeben, der sehr viel zerstört hatte, doch konnte Liz davon nichts mehr entdecken. Es gab ein Automuseum, durch dessen große Fenster Liz lugte und wunderschöne Oldtimer entdeckte. Dieses Langenburg schien ein kleines Juwel hier im Jagsttal zu sein, da hatten Gerti und Oma Doro nicht zu viel versprochen.

Als sie sich nach dem Rundgang im Schlosscafé trafen, verschlug es Liz fast den Atem beim Ausblick auf das Tal, das sich entlang des Flüsschens schlängelte. Weit und breit war nichts zu sehen als grüne Wiesen und Wälder an den Hängen. Kein Lärm drang zu ihnen herauf, keine Häuser versperrten den Blick, keine Fabriken, keine rauchenden Schornsteine, es waren keine Blechlawinen zu sehen, die sich durch Straßen quälten. Es war einfach atemberaubend schön. Und es war grün von einer satten Pracht, wie sie es noch nirgends zuvor wahrgenommen hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete Liz, wie Gerti ihrer Großmutter kichernd mit dem Ellbogen in die Seite stieß. „Eins zu null für das Jagsttal, würde ich sagen“, meinte Oma Doro und setzte ein spitzbübisches Grinsen auf. Liz lächelte und nickte. „Ja, es ist wirklich unwahrscheinlich schön hier. Aber ob ich hier leben könnte? Ich weiß nicht. Es ist wirklich GAR nichts los hier.“ „Los, los, los …“, echote die Großmutter, „was soll denn immer los sein? Ihr jungen Leute müsst immer was loshaben. Du solltest eher endlich mal zur Ruhe kommen, liebe Liz. Du machst auf mich ohnehin den Eindruck, als seist du immer nur auf der Flucht.“

Liz schwieg. Das saß. Sie wusste, was ihre Oma damit meinte. Und sie hatte sogar recht. Liz` größtes Problem war ihre permanente Unruhe. Sie war kaum beim einen angekommen, da musste sie schon das nächste planen. Für sie war es unglaublich schwer, sich einfach fallen zu lassen und im Hier und Jetzt zu verweilen. Natürlich fiel das in einer großen, hektischen Stadt, die per se schon unruhig war, deutlich weniger auf als hier in dieser ländlich ruhigen Langsamkeit.

Zunächst einmal ließ sie sich aber tatsächlich auf das Schlosscafé ein und genoss einen unglaublich leckeren Eisbecher. Und als sie sich anschließend auf den Weg Richtung Mulfingen machten, verspürte Liz zumindest ansatzweise so etwas wie Neugierde. Sie musste die Stelle nicht annehmen, wenn es ihr nicht gefiel, sagte sie sich. Außerdem musste sie sich heute noch nicht entscheiden, dachte sie. Einfach nur mal schauen. Die schmale Straße ließ ein flottes Fahren nicht zu, denn man konnte überhaupt nicht sehen, was nach der nächsten Kurve kam. Liz trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihrem Lenkrad herum, als auch noch eine Horde Fahrradfahrer vor ihr auf der schmalen Straße aufkreuzte. An ein Überholen war nicht zu denken, denn immer wieder kam Gegenverkehr. „Hast du es denn eilig, Elisabeth?“, fragte Oma Doro und legte ihre Hand beschwichtigend auf Liz' Unterarm. Liz seufzte: „Nein, natürlich nicht. Warum sind denn hier überhaupt so viele Fahrradfahrer?“ „Vielleicht weil es ihnen hier gut gefällt? Schau mal, links von dir, die Jagst. Ist das nicht idyllisch?“ Liz blickte kurz in die angezeigte Richtung, konzentrierte sich dann aber sofort wieder auf die kurvenreiche Straße. Ihre Großmutter hatte recht. Es war eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Aber wo blieben denn um Himmels Willen größere Ortschaften? Seit bestimmt 15 Minuten fuhren sie nun schon im Spazierfahrt-Tempo durch die schöne Landschaft. Das Flüsschen schlängelte sich glitzernd nur wenige Meter von der Straße entfernt durch das Tal. „Wir müssten bald in Mulfingen sein“, sagte Oma Doro lächelnd, als hätte sie Liz‘ Gedanken erraten.

Und dann passierten sie endlich das Ortsschild. Liz‘ Herz machte einen nervösen Hüpfer. Ungeduldig versuchte sie, rechts und links der Straße Blicke zu erhaschen, die ersten Häuser und Gärten. „Liebes, bitte schau auf die Straße“, mahnte die Großmutter, und Liz zwang sich, wieder konzentrierter zu fahren. „Da vorn musst du rechts abbiegen“, rief sie, und aufgeregt setzte Liz den Blinker. Ihr Herz begann im schnellen Takt des Blinkers zu pochen, und zugleich ärgerte sie sich darüber, dass sie so hibbelig war. Hier, JWD, was sollte hier schon passieren, was einen aufgeregt sein ließ? Hier wollte sie doch nicht wirklich ihre erste Stelle antreten? Sie überlegte, was Marcel jetzt wohl sagen würde, wäre er dabei. Doch er war nicht dabei. Vielleicht war das gut so, dachte Liz. Sie wusste, dass es ihm nicht gefallen würde, und dass er ihr das auch ganz schnell und unmissverständlich deutlich machen würde. Mit Oma Doro konnte sich Liz eine eigene Meinung bilden.

Die moderne Schule schmiegte sich harmonisch in das Tal. Sie war neu erbaut, mit Holz verkleidet, und sie war von einem großzügigen Pausenhof umgeben. Sportplätze schlossen sich an, ein weiteres Gebäude, das offenbar als Mensa diente, gab es obendrein. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren weitere große Gebäude zu sehen, die ebenfalls wie eine Schule aussahen, aber nicht zur Grundschule gehörten. „Das sind die Sporthallen und die weiterführende Schule“, wusste Oma Doro, die sich vorher im Internet schlau gemacht hatte. Gerti war mit ihrem eigenen Auto vorausgefahren. Als sie ausstieg, machte sie eine ausladende Bewegung mit den Armen. „Ist das nicht wunderschön hier? Ein modernes Gebäude, erst vor wenigen Jahren eingeweiht.“ In der Tat war Liz beeindruckt. Die Schule strahlte etwas Warmes und Einladendes aus, und zu gern wäre sie einfach direkt hineinspaziert. Aber es waren Ferien, und die Schule war geschlossen. „Na, habe ich dir zu viel versprochen?“, wollte Gerti wissen. Liz schüttelte den Kopf. „Die Schule sieht sehr schön aus. Was ist mit dem Rest der Stadt?“, fragte sie. Gerti lachte leise auf. „Welche Stadt? Mulfingen ist keine Stadt. Es ist im Grunde ein großes Dorf mit vielen kleinen Gemeinden im Umkreis, die noch mit dazu gehören.“ „Oh!“, entfuhr es Liz. Dabei wusste sie selbst nicht so recht, ob sie damit Enttäuschung oder Überraschung zum Ausdruck bringen wollte. Auf jeden Fall machte sie mit dem Smartphone zwei, drei Bilder. Sie wollte Marcel die Schule zeigen. ‚Das wäre die Schule in Mulfingen‘, tippte sie flink ein und drückte auf ‚Senden‘. „Puh, eine richtig gute Verbindung hat man hier aber nicht“, beschwerte sie sich. „Ja, nicht wahr, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, da braucht es kein Internet.“, spöttelte Oma Doro. „Mensch, Omi!“, sagte Liz mit einem vorwurfsvollen Blick. „Ich wollte nur Marcel die Schule zeigen. Weil sie mir sogar gefällt“, setzte sie nach. Kaum war ihre Nachricht gesendet, brummte ihr Handy. Das war aber schnell gegangen mit der Antwort. ‚Sieht ja richtig schick aus‘, schrieb Marcel. Das freute Liz. Immerhin war die erste Reaktion ihres Freundes nicht gleich negativ.

„Bist du Lehrerin?“ Liz fuhr herum. Ein Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren war mit ihrem Fahrrad neben sie gefahren und schaute sie durch ihre runde Brille neugierig an. Liz musste lächeln und nickte. „Und du, bist du Schülerin?“, fragte sie zurück. Das Mädchen nickte wichtig. „Das hier ist meine Schule!“, erklärte es stolz. „Und, gefällt es dir in der Schule?“, wollte Liz wissen. „Ja klar. Nach den Ferien komme ich schon in die dritte Klasse.“ Also war das Mädchen vermutlich acht, schlussfolgerte Liz. „Dann kannst du ja schon richtig lesen und schreiben“, sagte sie anerkennend. „Ja, wir haben vor den Sommerferien sogar den Füller-Führerschein gemacht. Ich liebe es, Schreibschrift zu schreiben“, schwärmte die Kleine. Liz lachte leise. „Liebst du auch, Schreibschrift zu schreiben?“, wollte das Mädchen wissen. Liz wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Hm, naja, was heißt lieben … ich schreibe schon gern, aber ich glaube, ich lese lieber. Liest du denn auch gern?“ Das Mädchen nickte und strahlte. „Ich lese am liebsten Sternenschweif-Bücher.“ „Ah, die kenne ich. Da bist du bestimmt eine richtig gute Schülerin, was?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Naja, Mathe mag ich nicht so. Plus geht, aber Minus finde ich echt schwierig.“ „Und Einmaleins?“, hakte Liz nach. „Das kann ich gut“, strahlte das Mädchen stolz. Oma Doro und Gerti hatten inzwischen eine Runde um das Schulgebäude gedreht. „Wo bist du Lehrerin?“, fragte die kleine Madame Naseweis. Liz lachte und überlegte, was sie antworten sollte. „Im Augenblick noch nirgends“, sagte sie dann. „Du kannst ja an meine Schule kommen“, sagte das Mädchen großzügig. „Tschühüß!“ Und damit radelte es wieder davon. Liz blickte ihm unauffällig nach und überlegte, ob das Mädchen wohl in ihre Klasse käme, wenn sie diese Stelle hier annehmen würde. Außerdem, das fiel ihr jetzt auf, hatte sie überhaupt keine Probleme gehabt, die Kleine zu verstehen. Vielleicht war der Dialekt doch nicht so kompliziert, wie sie gedacht hatte?

„Na, habt ihr euch gut unterhalten?“, wollte die Großmutter wissen. Liz lachte. „Ja, die Kleine meinte, ich könne sehr gern an ihre Schule kommen.“ „Na dann, worauf wartest du?“ Sie umrundete die Schule nun auch selbst. In die Zimmer im Erdgeschoss konnte man von außen gut schauen. „Meine Schule in Karlsruhe war richtig altmodisch im Vergleich zu der hier“, meinte sie. „Komplett veraltet, zusammengewürfeltes Mobiliar, düster. Da halfen auch die bunten Vorhänge und die Tierposter an den Wänden nicht viel“, erzählte sie. „Wichtig ist ja, wie man in den Räumen lebt und lernt“, meinte Gerti, „oder liege ich da ganz falsch?“ Liz zuckte mit den Schultern. „Natürlich kann man aus allem immer was Positives machen. Aber ich muss sagen, so eine schöne, freundliche, helle und einladende Schule habe ich echt schon lange nicht mehr gesehen.“ Sie war ehrlich beeindruckt. „Schade, dass sie nicht in Karlsruhe ist“, meinte sie dann. „Aber was nützte es dir, wäre sie in Karlsruhe?“, gab Oma Doro zu bedenken. „Du bist nach Hohenlohe versetzt.“ Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

Gerti wollte sich wieder auf den Heimweg nach Langenburg machen, empfahl Liz und ihrer Großmutter aber, auf ihrem Heimweg noch einen kleinen Schlenker zu fahren, um ein wenig von der Landschaft zu sehen. Als sie fast schon aus dem Dorf Mulfingen herauskamen, stach Liz die Ortschaft auf dem Berg ins Auge. Man konnte schon aus der Ferne Fachwerkhäuser und einen Kirchturm erblicken, die sich malerisch auf die Bergkuppe gesetzt hatten. „Können wir da mal hochfahren?“, bat sie und hatte schon den Blinker gesetzt. Die Straße führte in einigen Schleifen den Berg hinauf. Als sie das Ortsschild passierten, lief Liz ein Schauer über den Rücken, ohne einordnen zu können, ob er wohlig oder unangenehm war. Sie musste sich unweigerlich schütteln. „Was war denn das?“, fragte Oma Doro verwundert. „Keine Ahnung, das überkam mich einfach so“, gab Liz ebenso verwundert zurück. ‚Jagstberg‘, las sie auf dem Ortsschild. „Ob es hier mal eine Burg gab?“ „Bestimmt, bei dieser Lage so auf dem Berg oberhalb des Jagsttals liegt das ja nahe“, mutmaßte auch Liz' Großmutter. Viel zu kurz dauerte die Fahrt durch das kleine Dörfchen mit seinen schmucken Häuschen, da waren sie auch schon auf der breiten Landstraße.

Den Verkehrsschildern nach zu urteilen, befanden sie sich jetzt wieder auf der Straße Richtung Künzelsau, und von dort aus würde es sie weiter nach Heilbronn führen. „Du, Oma“, sagte Liz nach einiger Zeit, die sie schweigend im Auto gesessen hatten. Die Großmutter blickte sie von der Seite an. „Sollte ich mich tatsächlich entscheiden, die Stelle anzunehmen, ich glaube, ich würde am liebsten in Jagstberg wohnen.“ „Na, dann kannst du dich ja schon mal auf Wohnungssuche begeben“, meinte Oma Doro und lachte. Je weiter sie sich vom Jagsttal entfernten, desto nachdenklicher wurde Liz. Die Großmutter spürte, dass ihre Enkelin jetzt nicht zu langen Gesprächen aufgelegt war, und so fuhren die beiden schweigend dahin, wippten mit den Füßen oder klopften mit den Fingern zum Takt der Musik aus dem Radio.

Liz fühlte sich gut. Sie war ihrer Großmutter dankbar, dass sie darauf bestanden hatte, sich dieses Mulfingen im Jagsttal und die Schule anzuschauen. Vor allem aber hatte sie das Gefühl, als sei es wichtig gewesen, das kleine Dorf auf dem Berg zu entdecken. Am liebsten hätte sie dort angehalten. Aber was hätten sie dann tun sollen? Das war kein Ort, an dem Touristen Halt machten, das konnte man sehen. Es hatte geschäftiges Treiben geherrscht, wie es in kleinen, ländlichen und noch bäuerlich geprägten Dörfern oft der Fall war. Sie hätte sich unwohl gefühlt, wie auf dem Präsentierteller, und so etwas mochte Liz nicht. Ihr erster Gedanke, als sie wieder im Haus der Großmutter war, galt ihrem Freund, und sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Handy, um Marcel zu schreiben. Doch er war ihr schon zuvorgekommen: ‚Bist du jetzt geheilt vom Jagsttal? Wann kommst du zurück nach Hause?‘ Die WhatsApp ihres Freundes peitschte ihr regelrecht ins Gesicht. Zitternd setzte sie sich auf ihr Bett. Was meinte er mit ‚geheilt‘? Und warum konnte sie es nicht so empfinden, dieses ‚nach Hause?‘ Plötzlich hatte sie das Gefühl, als wisse sie gar nicht mehr, wo sie eigentlich hingehörte. Vor allem aber spürte sie, dass Marcel aus irgendeinem Grund emotional sehr weit weg von ihr war. Es wurde ein nachdenklicher Abend und eine unruhige Nacht.

Meinem Herrn auszuweichen, war an sich keine Schwierigkeit in dem großen Haus. Das Problem lag eher darin, dass ich ihm gar nicht wirklich ausweichen wollte. Ich ahnte, dass die Köchin recht hatte mit ihrer Warnung. Aber ich wusste nicht, wovor genau sie mich warnte. Vermutlich hatte es etwas mit dem Berühren zu tun, und das hatte der Herr ja nicht getan. Das tat er auch in den folgenden Tagen und Wochen nicht. Er berührte mich nicht mit seinen Händen, nein. Aber er berührte mich mit seinen Blicken. Wenn wir uns begegneten, dann waren es immer nur kurze Augenblicke, flüchtige Momente, doch sie genügten, um in mir ein Gefühl zu wecken, das ich so noch nie verspürt hatte. Später wusste ich, dass man es Sehnsucht nennt. Es war nicht zu vergleichen mit dem Wunsch nach körperlicher Nähe zu meiner Mutter, die ich immer schon mit den vielen Geschwistern hatte teilen müssen und die deswegen kostbar und rar gewesen war.

Wenn wir uns begegneten in dem großen Haus mit den dunklen Fluren, blieben wir stehen, und ich spürte seinen Blick, der so lange in mich bohrte, bis ich den Kopf hob und ihm in die Augen sah. Und dann begann zwischen uns etwas sehr Warmes zu fließen, alswären wir durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. ‚Magdalena‘ … Allein die Art, wie er nur meinen Namen sagte, ließ mich innerlich erzittern. Mehr sprachen wir nicht. Anfangs war es nur das zwischen uns; wir standen wortlos da und schauten uns in die Augen. Und genau danach begann ich mich zu sehnen. Deswegen suchte ich mehr und mehr Möglichkeiten, dem Medicus Braunert zu begegnen. Ich durfte es mir nicht anmerken lassen, und so versuchte ich, eher zufällig genau in dem Moment mit der Wäsche ins Waschhaus zu gehen, in dem er seinen Behandlungsraum verließ. Es sollte kein anderer sehen, wie wir uns mit unseren Blicken begrüßten. So vergingen viele Wochen, und wenn es einen Tag gegeben hatte, an dem wir uns nicht begegnet waren, so lag ich des nachts lange wach. Ich stellte mir vor, wir würden uns ansehen, und es gelang mir, eben dieses Gefühl in mir hervorzurufen und ihm nachzuspüren, dieses Ziehen und Brennen und Kribbeln, das durch den ganzen Körper fuhr und mich erröten ließ.

Je länger das so ging desto mehr wurde mir bewusst, dass es nicht rechtens war, was wir da taten, denn er warmein Herr und er hatte eine Ehefrau. Diese wiederum wirkte von Tag zu Tag noch betrübter, verbitterter und trauriger. Einmal wagte ich, die Köchin zu fragen, weshalb die Herrin so verbittert sei. Friedlinde zuckte nur die Schultern und seufzte. Dann blickte sie von ihrem Wurzelgemüse auf, welches sie gerade schabte, und dachte innehaltend nach. Ich vermutete, dass sie überlegte, mit welchen Worten sie mir den Sachverhalt erklären sollte. „Weißt du, Magdalena, ich vermute das nur. Die Herrin und der Herr wünschen sich schon lange ein Kind. Doch es scheint nicht Gottes Wille zu sein. Sie hatten sogar schon Ärzte da, die sich besonders gut auf diese Geschichten verstehen und offenbar anderen Eheleuten schon helfen konnten, doch vergeblich.“ Ich hatte schonso etwas vermutet. Das sagte ich ihr auch. „Weißt du, Friedlinde, vielleicht mag da kein Kind in ihr sein, wenn sie immer so böse schaut.“ Die alte Köchin musste herzlich lachen. „Ach, du dummes Ding“, rief sie. „Weißt du denn nicht, dass ein Mann bei einer Frau liegen muss, damit ein Kind in ihren Bauch gepflanzt wird?“ Das war nicht nett von ihr, mich auszulachen, und ich schämte mich für meine Worte. „Doch, das weiß ich wohl“, empörte ich mich, wenngleich es nicht die Wahrheit war. Die Wahrheit war, dass ich gar nichts wusste. Ich wusste nur, dass ich, seit ich meinen Blutfluss hatte, auch ein Kind bekommen konnte. Ich wusste auch, dass es dazu einen Mann bedurfte. Aber wie das Weitere von statten ging, das wusste ich nicht. Woher auch? Auf dem Hof meiner Eltern hatte das Schwein Jahr für Jahr Ferkel bekommen. Die Hühner hatten Eier gelegt. Die Kuh hatte ein Kalb bekommen, und dazu war es notwendig gewesen, zum Bullen des Großbauern oder zum Eber des Nachbarn zu gehen. Ich hatte gesehen, dass der Hahn die Henne besprang, dass der Eber die Sau bestieg und der Bulle die Kuh. Doch als ich die Mutter fragte, was die Tiere da trieben, hatte sie nur beschämt den Kopf geschüttelt und mich weggezogen. Sie hatte, als ich ihr eines Tages völlig verstört das Blut zwischen meinen Beinen gezeigt hatte, meine Hand genommen und mir gezeigt, wie ich die Monatshygiene zu betreiben hatte und dass ich mich ab sofort vor den Burschen in Acht nehmen musste. Mehr hatte sie nicht gesagt. Woher also sollte ich wissen, wie ein Kind entstand? „Aber die Herrin teilt doch ihr Bett mit dem Medicus Braunert?“, wunderte ich mich. „Ja, das ist ja eben das Sonderbare“, gab Friedlinde zurück. „Vermutlich kann die Herrin keine eigenen Kinder bekommen. Das ist bitter. Da kann man schon daran zerbrechen“, meinte sie.

Wenn das so war, konnte ich die Herrin verstehen. Sie tat mir fortan sogar leid. Das Gespräch mit der Köchin hatte mir geholfen,das Verhalten meiner Herrin annehmen zu können. Jetzt nahm ich es nicht mehr persönlich, wenn sie mich so barsch anfuhr oder durch mich hindurchzublicken schien. Aber ich fragte mich, ob sich die Herrschaften wohl auch mit denselben Blicken anschauten, die es so warm machten im ganzen Körper. Und ich kam zu dem Schluss, dass sie es vielleicht nicht taten, denn sonst wäre da ja ganz viel Wärme, und in diese Wärme hinein könnte man doch auch gut ein Kind pflanzen. So dachte ich mir das. Aber dennoch hörten der Herr und ich nicht auf, uns weiterhin heimlich mit tiefen Blicken zu bedenken.

Eines düsteren Wintertages im Dezember, als man das Gefühl hatte, der Tag sei schon gleich am Morgen in den Abend übergegangen, da trat mir der Medicus Braunert in den Weg. Anders als sonst, hob er seine Hände und legte sie mir auf die Schultern. Es war die erste Berührung, und ich erstarrte vor Schreck. „Magdalena, ich halte es nicht länger aus!“, sprach er leise. Ich verstand nicht recht, was genau er damit meinte, und doch jagten mir seine Worte einen Schauer über den Rücken. Fragend blickte ich ihn an, und das schien er als Zustimmung zu verstehen. Er schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass uns keiner beobachtete und zog mich dann in die kleine Kammer neben seinem Behandlungsraum, wo er seine Medizin aufbewahrte.

Mein Herz klopfte so stark, als wollte es gleich zerspringen, und meine Kehle war so trocken, dass ich kaum schlucken konnte. Der Herr hob seine Hand und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war unter der weißen Haube hervorgerutscht. Seine Berührung fühlte sich glühend heiß an, und ich zuckte erschrocken zurück. „Ssshhh“, machte er sanft und legte mir seinen Finger auf den Mund. Ein fast unerträgliches Brennen durchfuhr mich. Es war noch viel stärker als das, was ich bei unseren Blicken verspürt hatte. Zum ersten Mal blickte ich länger in seine Augen. Sie waren von einem so unglaublich tiefen Blau, wie ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte, und sie schienen mich zu durchdringen bis in die letzte Faser meines Körpers. ‚Weshalb schaut ihr mich so an?‘, hätte ich gerne gefragt, doch kam kein Laut über meine Lippen. Stattdessen nahm er meinen Kopf zwischen seine Hände und näherte sich langsam meinem Gesicht. Fast wurde mir schwindelig, und ich musste die Augen schließen. Da trafen seine vollen Lippen auf meinen Mund. Ich hatte das Gefühl,als würden meine Knie nachgeben, als würde ich in weiche Daunen versinken, doch als ich die Augen öffnete, stand ich auf dem Steinfußboden in seiner Kammer neben dem Behandlungszimmer. Ich wagte kaum zu atmen, diese Berührung, dieser Kuss, seine Nähe, sein Duft, seine tiefe Stimme, all das kam mir so unwirklich vor. Das Einzige, was ich wusste war, dass ich mir wünschte, es möge nie mehr aufhören. „Ich begehre dich, Magdalena, und ich spüre, dass du mich auch begehrst“, sagte er leise, und wieder lief ein wohliger Schauer über meinen Rücken. Ja, wenn dieses Gefühl ‚begehren‘ hieß, dann begehrte ich auch ihn. „Ihr solltet das mit eurer Frau tun.“ Meine Stimme klang, als würde ein alter Rabe heiser krächzen. „Das geht nicht. Meine Frau begehrt mich nicht und ich sie nicht.“ Ich schwieg, denn ich verstand nicht, was seine Worte bedeuten sollten. „Aber ihr seid Mann und Frau“, sagte ich fragend. „Das bedeutet noch lange nicht, dass man sich auch begehrt, Magdalena“, erklärte mein Herr. „Eine Magd sollte sich dennoch nicht von ihrem Herrn berühren lassen.“ Ich senkte meinen Blick und versuchte, einen Schritt zurückzugehen. Doch die steinerne Wand war in meinem Rücken. Er musste gemerkt haben, dass ich ihm auszuweichen versuchte, deshalb sagte er: „Ich werde nichts tun, was du nicht auch willst.“ Sein Blick ließ mich nicht los. Ich musste schlucken. „Ich sollte wieder in die Küche gehen, Friedlinde wartet schon auf mich“, sagte ich leise und drückte mich an ihm vorbei. Mit dem Ellbogen schob ich die Tür auf, die nur angelehnt war. Hektisch blickte ich den Gang hinauf und hinunter, doch es war niemand zu sehen. Eilig huschte ich hinaus.

Mein Herz klopfte immer noch bis zum Hals, und meine Wangen fühlten sich an, als hätte ich glühende Kohlen daraufgelegt, als ich zu Friedlinde in die Küche kam. Sie blickte mich an, und ich wusste, dass sie alles durchschaute. Aber sie sagte kein Wort.

3. Kapitel

Ich möchte dir zeigen, wie es mir ergangen ist, doch du kannst es nicht zulassen. Noch nicht. Der Tag wird kommen. Ich bleibe an deiner Seite, bis du verstehst.

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Liz hatte sich entschieden. Es war eine unruhige Nacht gewesen, sie hatte viel nachgedacht, und als sie endlich eingeschlafen war, wieder völlig wirr geträumt, gerade so, als wäre sie in eine andere Zeit versetzt. Doch als sie am Morgen nach dem Besuch in Mulfingen aufgewacht war, noch bei Oma Doro, da hatte sie es gewusst. Sie würde die Stelle annehmen. Sie würde sich eine Wohnung suchen, und sie würde umziehen. Marcel würde es schon verstehen. Eines Tages würde er es verstehen. Bestimmt würde er das. Er würde nicht ihrem Glück im Weg stehen wollen. So hatte sie sich das gedacht. Und sie hatte sich mit ihm verabredet und wollte mit ihm ausgehen. Da würde sie es ihm, bei Kerzenlicht und gutem Essen, erklären können. So hatte sie sich das vorgestellt.

Die Wirklichkeit sah aber so aus, dass er völlig konsterniert reagierte. Er hatte gar nicht gewartet, bis sie im Lokal waren. „Ist dir klar, dass du da allein hingehen wirst?“, fragte er. Liz zuckte nur mit den Schultern und erwiderte: „Warte doch einfach mal ab, bis ich mich dort eingelebt habe. Vielleicht gefällt es dir ja auch.“ „Pfft!“, schnaubte er verächtlich, drehte sich ab und tat so, als würde er den Aushang am Kino studieren. Sie betrachtete ihn von hinten und sah, wie er schwer durchatmete, um sich zu beruhigen. Jetzt war es besser, nichts zu sagen, das spürte sie. „Liz, dort ist der Hund begraben. Da gibt es wahrscheinlich noch nicht einmal ein Kino“, lamentierte er nach einigen Minuten aufs Neue. „Ich reise doch nicht ins Mittelalter“, konterte Liz. Seine Augen funkelten wütend. „Liz, ich habe keine Lust auf eine Wochenend-Beziehung!“, knallte er ihr entgegen. Seine Worte taten ihr weh. Sie spürte, was sie bedeuten könnten. Aber sie wollte es nicht wahrhaben. „Weißt du, dass du gerade auf eine ganz miese Art versuchst, mich zu manipulieren?“, schrie sie ihn an. „Ach ja, tue ich das? Merkst du das also noch? Ich dachte, du bist schon so im Landlust-Fieber, dass du gar nichts anderes mehr wahrnimmst!“, schrie er zurück. „Warum sollte es denn nicht funktionieren, wenn wir uns nur am Wochenende sehen?“, versuchte Liz in ruhigerem Ton einzulenken.

„Ach Liz,“ seufzte Marcel traurig, „ich dachte, wir suchen uns eine schicke Wohnung und richten uns die gemeinsam her. Wie soll das denn gehen, wenn du fast 200 Kilometer weit weg wohnst? Da hast du deine eigene Wohnung in Arschhausen, und ich bleibe in meiner kleinen Wohnung, weil alles andere unvernünftig und zu teuer wäre. Am Wochenende ist immer jemand auf der Autobahn unterwegs, ich kann mir das einfach nicht vorstellen!“ Liz schluckte. „Heißt das, du möchtest dann lieber unsere Beziehung beenden?“, fragte sie. Es fiel ihr schwer, diese Frage auszusprechen, aber sie wusste, dass sie ohnehin über ihnen schwebte. Marcel drehte sich ruckartig ab und schwieg. „Marcel? Ich habe dich was gefragt“, sagte Liz sanft und legte ihre Hand vorsichtig auf seine Schulter. Er schüttelte sie ab, als sei sie ein lästiges Insekt. „Das weiß ich nicht. Im Augenblick weiß ich einfach nicht, was ich denken soll. Versuche bitte, mich zu verstehen. Ich glaube, ich brauche jetzt erst einmal Zeit“, sagte er leise. „Okay. Dann geh ich jetzt besser allein nach Hause“, meinte Liz, wandte sich ab, doch hielt noch einen Augenblick abwartend inne, ob er es sich nicht vielleicht doch noch anders überlegen und ihr hinterhergehen würde, um sie aufzuhalten. ‚Er könnte mich jetzt auch einfach nur in den Arm nehmen‘, dachte sie und fühlte Trauer und Wut zugleich in sich aufsteigen. Was es auch immer war, es machte, dass ihr die Tränen kamen.