Die Rätsel von Regenbach - Katja Hildebrand - E-Book

Die Rätsel von Regenbach E-Book

Katja Hildebrand

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Beschreibung

Magnus Treu ist selbstständiger Schaumweinhersteller und übernimmt mehr zufällig die Rolle des Ortshistorikers in einem Dorf, in welchem im Mittelalter eine große Basilika stand. Er macht es sich zur Lebensaufgabe, Die Rätsel von Regenbach zu lösen. Plötzlich tauchen Krähen auf, die immer wieder merkwürdige Kreise am Himmel ziehen und die ihn mitnehmen auf verschiedene Reisen in längst vergangene Zeiten.

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Seitenzahl: 460

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Katja Hildebrand

Die Rätsel von Regenbach

Historischer Roman

Impressum

© 2019 Katja Hildebrand

1.Auflage

Autor: Katja Hildebrand

Umschlaggestaltung, Illustration: Katja Hildebrand, Beatrix Hellwage-Rathgeber

Fotos, Abbildungen: Hans-Jörg Wilhelm, Katja Hildebrand

weitere Mitwirkende: Hans-Jörg Wilhelm

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

978-3-7497-6814-1 (Paperback)

978-3-7497-6815-8 (Hardcover)

978-3-7497-6816-5 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind, abgesehen von den historischen Fakten, frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2. Kapitel

Jede Nacht das gleiche Spiel. Ärgerlich drehte er sich auf die Seite und versuchte zu ignorieren, dass sein Kopf mit einem Mal hellwach war. Man hätte die Uhr danach stellen können, aber er mochte Uhren ja nicht; jede Nacht Schlag drei wachte er auf und konnte exakt eine Stunde lang nicht wieder einschlafen. Da er wusste, es würde nichts bringen, sich weiter in der Schlaflosigkeit von einer Seite auf die andere zu drehen, knipste er seine Nachttischlampe an und griff nach der Kladde, die auf dem Nachttisch lag, löste den angeklipsten Kugelschreiber, schlug die erste Seite auf und begann zu schreiben, was ihm in den Sinn kam. Es war einiges, was sich darin angesammelt hatte. In den letzten Jahren hatte er Buch um Buch gefüllt, meist ohne eine der Seiten je wieder gelesen zu haben. Oft war ihm gar nicht wirklich bewusst, was er schrieb, es waren Gedanken und Worte, die einfach so aus ihm herausströmten und die seine Hand zu steuern schienen, unsichtbar und völlig autark.

In dieser Nacht aber war ihm sehr bewusst, was er da aufschrieb, denn er war im Traum zurückgekehrt an den Platz, den er plötzlich gesehen hatte, als er mit der Reisegruppe unter der Kirche gestanden hatte. Es ließ ihm einfach keine Ruhe, was er gesehen hatte und vor allem, was er gespürt hatte. Es war ein unglaublicher Zusammenhalt, den er hatte wahrnehmen dürfen. Da hatte eine junge Frau erfahren, dass ihr Mann, der Vater ihres Babys, nicht mehr heimkehren würde, dass er tot war, und in all ihrer Trauer war sie nicht allein, sondern aufgefangen und geborgen in den Ritualen und der unglaublich starken Spiritualität des Clans. Vor seinen Augen zeichnete sich noch einmal das Amulett ab, welches der Druide in das Grab des jungen Kriegers gelegt hatte – wie war nochmal sein Name? Raghnall… und sie, die junge Frau, sie hieß Floraidh. Wie fremd diese Namen waren und doch für ihn nicht fremd geklungen hatten. Warum konnte er sich jetzt überhaupt noch daran erinnern? Er sah den Druiden vor sich und die Bewegungen, welche dieser mit seiner Hand gemacht hatte. „Quelle“, notierte er in seinem Buch, und nach einiger Überlegung setzte er drei Fragezeichen dahinter. „Seltsam“, dachte er, „dass ich nicht im Geringsten an meinem Verstand zweifle.“ Irgendetwas sagte ihm, dass das, was er da gesehen hatte, etwas zu bedeuten hatte. War es eine Vision? War es ein Zeichen? Er versuchte, noch einmal einzutauchen in die Szene, die sich vor seinen Augen abgespielt hatte, doch es gelang ihm nicht. Zu gern hätte er noch mehr über diesen Clan gewusst. Waren es Kelten gewesen? „Keltische Zeichen“, notierte er. Er musste sich unbedingt über keltische Symbole informieren, aber nicht jetzt, nicht mitten in der Nacht. Er legte das Buch beiseite und löschte das Licht. Das Erlebte war so schön, dass er ein ganz starkes Bedürfnis verspürte, es in sich nachwirken zu lassen. So legte er sich zurück und schloss die Augen, legte die Hände auf seinen Bauch und ließ sich erneut in die Erinnerung des Gesehenen fallen. Die Kelten, bestimmt waren es Kelten gewesen, die hatten ihn schon immer fasziniert. Von den antiken Geschichtsschreibern als Barbaren verurteilt und auch ausschließlich so beschrieben, waren es in Wirklichkeit doch hoch sozialisierte und in der Handwerkskunst weit entwickelte Volksstämme gewesen. Vor seinen Augen tauchte die Kette auf, welche Floraidh in das kleine Grab gelegt hatte. „Ob das wirklich so gewesen sein könnte?“, überlegte er sich. Wie genial müsste es sein, Raghnalls Grabstelle zu finden. Er erinnerte sich an die beiden imposanten Eichen, die wie Zwillinge gewachsen waren, eine gleich wie die andere, beide mächtig und stark. Das musste er sich aufschreiben. Wieder machte er Licht und nahm sein Buch zur Hand. Und er notierte die Worte „Eiche - heiliger Baum?“. Magnus versuchte sich zu erinnern, wie sich plötzlich alles um ihn herum aufgelöst und er sich für Augenblicke gefühlt hatte, als würde er sich in einem Vakuum befinden, in dem weder Raum noch Zeit eine Rolle spielten. Und dann kam ihm plötzlich eine absurde Idee. Vielleicht könnte er versuchen, das gleiche Bild noch einmal hervorzurufen, wenn er erneut unter die Kirche steigen würde. „Ich müsste vielleicht nur den gleichen Stein berühren“, überlegte er sich. Diese Überlegungen ließen sein Herz bis zum Hals schlagen, und er musste ein paar Mal tief Luft holen, um es aus dem aufgeregten Stolpern wieder in einen gleichmäßigen Takt zu bringen. Die Sache mit den keltischen Symbolen ließ ihm keine Ruhe mehr. So schlug er energisch die Bettdecke zurück, stieg aus dem Bett und ging in das Nebenzimmer, wo sein Computer stand. Kühl war es, ihn fröstelte. Während der Computer in aller Seelenruhe hochfuhr, es war nicht mehr das neueste Modell und das Gerät sichtlich im nächtlichen Ruhemodus gestört, lief er auf und ab und rieb sich die Oberarme, um sich ein wenig aufzuwärmen. Endlich schien der Computer bereit zu sein. „Keltische Symbole“ gab er ein, und da stockte ihm der Atem. Sein erster Blick fiel auf ein Fünffachmuster, das er sofort den Krähen zuordnete. Sie hatten diese fünf Kreise am Himmel gezogen, als er das erste Mal nach Unterregenbach gekommen war. Es wurde auch das „Rad des Seins“ genannt und stand als keltisches Zeichen für die vier Himmelsrichtungen. War es Zufall gewesen, dass die Vögel dieses Muster in den Himmel gemalt hatten, oder hatten sie ihm damit etwas zeigen wollen? Als nächstes entdeckte er das Kreuz des Druiden, welches als „Keltisches Kreuz“ aufgeführt war. „Das keltische Kreuz verbindet das Geistige und Spirituelle mit der irdischen Welt“, las er leise murmelnd vor. Also die Verbindung zu höheren Mächten, dachte er, das machte Sinn. Der Druide könnte Raghnall also tatsächlich das keltische Kreuz mit ins Grab gelegt haben, um ihm die Reise vom Dieseits ins Jenseits zu erleichtern. Je weiter er las, desto mehr bestätigte sich seine Vermutung, dass es sich bei seiner Vision um eine Episode aus der Keltenzeit gehandelt haben musste. War er schon zuvor beeindruckt gewesen von dem unglaublichen Wissen der Kelten, so waren sie nach dieser nächtlichen Lesestunde in seiner Achtung um ein Vielfaches gestiegen. Er spürte den sehnlichen Wunsch, mehr über diesen Clan zu erfahren, noch einmal eintauchen zu dürfen in die Geschichte um Floraidh, Raghnall und den Clan, der hier an einem Platz mit Eichen gesiedelt haben musste, die es heute gar nicht mehr gab. Es war ein Stein gewesen, den er berührt hatte, erinnerte er sich – seine Hand hatte einfach nur auf dem Stein gelegen, und er hatte ihn gespürt und dann plötzlich nichts mehr gesehen außer Nebel. Unbedingt musste er noch einmal unter die Kirche steigen. Am besten noch, solange er im Besitz sämtlicher Kirchenschlüssel war. Entgegen seiner Angewohnheit blickte er nun doch auf die Uhr, um sich zu vergewissern. Es war kurz vor halb fünf Uhr am frühen Morgen und noch keine Spur von Morgendämmerung in Sicht. Jetzt in die dunkle Kirche zu gehen, dort Licht zu machen und dann auch noch in die unterirdische Kammer zu steigen, wäre mehr als auffällig gewesen. Er lebte in einem Dorf, und da waren alle Augen stets auf ihn gerichtet, den Fremden, den Freak, auf den, der einfach seinen Traum lebte und nicht besonders viel Wert auf materielle Güter legte. In ihren Augen war er derjenige, der in eine Bruchbude von Haus gezogen war und die ersten Monate unter freiem Himmel hatte schlafen müssen – oder dürfen, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete. Ihm war klar, dass es eine große Ehre und zugleich eine unglaublich große Verantwortung war, dass er nun diese Schlüssel hatte und er die Führungen übernehmen durfte, bis es dem Johan Dorn wieder besser ginge. Wobei, wenn er es sich recht überlegte, so war dieser in letzter Zeit schon recht wackelig auf den Beinen gewesen und schon lange nicht mehr selbst die eiserne Treppe in den karolingischen Vorgängerbau hinabgestiegen. Je mehr Magnus über die Kelten las, desto brennender interessierte ihn, was da wirklich passiert war. Die Zeit verflog, und als er das nächste Mal aus dem Fenster seines Häuschens blickte, war es hell geworden in Unterregenbach. Das Rasseln der Ketten der in Anbindehaltung stehenden Kühe im Stall schräg gegenüber, ein weg- und wieder herfahrender Traktor, welcher wahrscheinlich frisch gemähtes, frühherbstliches Futtergras von einer der immer noch saftig grünen Jagsttalwiesen gebracht hatte, all das waren ihm wohlvertraute Geräusche und zeigten ihm, dass das kleine Dorf so langsam zum Leben erwachte und bereit war, in den neuen Tag zu starten. Zeit für einen Kaffee, befand er und eine kleine Pause, um auf andere Gedanken zu kommen, die ihn wieder im Hier verankern würden. Der warme, würzigsüße Duft der gerösteten Bohnen erfüllte seine kleine Küche, und als er den warmen Becher mit dem schwarzen, dampfenden Wachmacher fest mit beiden Händen umschlossen hielt, machte er für einige Momente noch einmal die Augen zu und atmete tief ein und aus. Doch kaum öffneten sich seine Augen wieder, wanderte sein Blick zu dem Schlüsselbund, den er sorgfältig mitten auf dem Küchentisch platziert hatte, damit er ihn gleich wiederfinden würde. Jetzt noch nicht, sagte er sich und trat ans Fenster, von dem aus er direkt auf den Dorfbrunnen blickte. Hier holten die Regenbacher bis heute ihr Wasser; manche, um ihre Gärten zu gießen, manche aber auch, um ihr Vieh zu tränken. Sie ließen das Wasser, das aus dem Berg trat, in Kanister oder kleine Fässer laufen und transportierten diese in Schubkarren nach Hause. Es war ein ganz gewohntes Bild, es gehörte wie selbstverständlich dazu. Menschen, die nicht damit aufgewachsen waren, hätten es vielleicht als Pfennigfuchserei gewertet, weil man hier kostenlos an Wasser kam. Doch er wusste, dass die Regenbacher dieses Wasser Tag für Tag in wertschätzender Dankbarkeit holten. Sie wussten es zu schätzen, dass die Natur hier so gut für Mensch und Tier gesorgt hatte. Als in einem der letzten Sommer, in dem es monatelang keinen Tropfen geregnet hatte, die Quelle für Wochen versiegte, da sah man die tiefen Sorgenfalten der Menschen, vor allem der älteren, und sie wiegten bedenklich ihre Köpfe und sagten, dass es das noch nie gegeben hätte, und dass das ein Zeichen sei, und wenn wir nicht endlich auf die Natur hören würden, würde das noch böse enden. „Da hatten sie recht“, dachte er, „es ist so wichtig, auf das zu hören, was die Ahnen hinterlassen.“ Das war früher viel wichtiger gewesen, da hatte man das noch selbstverständlich getan, Wissen und Erfahrungen bewusst weiterzugeben. Wieder wanderten seine Gedanken zurück in die Keltenzeit. Die Kelten hatten schriftliche Aufzeichnungen bewusst abgelehnt und ihr ganzes Wissen ausdrücklich nur mündlich weitergegeben. Auch das Wissen der Heilerinnen und Heiler war nirgends festgehalten, und dennoch hatte es sich über Jahrhunderte gehalten und sogar weiterentwickelt. Er trat an das andere Fenster und ließ seinen Blick wandern, nahm die Bilder des morgendlichen Dorfes tief in sich auf und fühlte einmal mehr, wie sich tiefe Dankbarkeit in ihm ausbreitete. Hier hatte er eine neue Heimat gefunden, und er spürte, wie er sich täglich tiefer verwurzeln durfte. Wo sich die vielen Krähen heute wohl versteckten? Am Tag zuvor waren es so viele gewesen, heute konnte er keine einzige schwarze Rabenvogelseele erblicken. Der Kaffeebecher war leer, Hunger verspürte er noch keinen. Er wusste, dass er nicht länger warten konnte, er musste einfach noch einmal hinuntersteigen in den Kirchenraum. Voller Unruhe griff er den Schlüsselbund, trat aus dem Haus und blieb noch einmal stehen, um die kühle Morgenluft einzuatmen. Das würde ein herrlicher Tag werden. Der Nebel lag noch in weißen Schwaden über dem Fluss, doch konnte man schon das kräftige Blau des Himmels spüren, welches nur darauf wartete, sich von der Kraft der Sonnenstrahlen geleitet durch das Wolkengrau hindurch zu drängen. Ernte lag in der Luft. Der Duft des frisch gemähten Grases, das die Kühe in den Futtergang gegabelt bekommen hatten, vermischte sich mit dem Geruch eines umgepflügten, tiefbraunen Ackers, der am Tag zuvor die letzten Stoppelreste der Getreidehalme unter sich begraben hatte. Man roch die reifen Früchte, die Äpfel und Birnen, auch die Quitten am Baum nebenan, die ihn so inspiriert hatten und jetzt alle darauf warteten, voller Dankbarkeit, Wertschätzung und Achtung geerntet und zu dem geführt zu werden, was er daraus zu machen verstand. Halb vergorene Zwetschgen, die längst hätten aufgelesen werden müssen, mischten sich mostig mit dem süßherben Geruch des reifen Obstes. Was war das für ein schönes Fleckchen Erde hier, dachte er bei sich. Was war das für ein Glück, dass er hier leben durfte. Wie mochte es für die ersten Menschen gewesen sein, die hier gesiedelt hatten? Immer noch lag dieser Ort völlig einsam im Jagsttal, weit weg von Lärm und Hektik einer Stadt, aber natürlich auch weit entfernt von der nächsten Einkaufsmöglichkeit. Weiter flussaufwärts thronte oben am Berg mächtig und erhaben Schloss Langenburg, noch immer von einer dicken Mauer umgeben. Es war heute zu einem beliebten Ausflugsort für Motorradfahrer und andere Touristen geworden. Doch damals, das hatte er gelesen, als in Unterregenbach die große Basilika erbaut worden war, da hatte noch keiner über ein Schloss nachgedacht, da war auf diesem Berg noch nichts gewesen außer stattlichen Bäumen: Eichen, Buchen und Eschen. Die Menschen hatten dicht am Wasser gesiedelt, ohne das kein Überleben möglich gewesen wäre. Sie hatten diese Stelle hier ganz bewusst ausgewählt, weil es breite Flussauen gab mit fruchtbaren Wiesen, auf denen sie Äcker anlegen konnten, weil sich der Wald an den Hängen anschloss, in dem sie ausreichend Holz zum Bauen und Heizen vorfanden, und weil es zudem Fisch und Wild in Hülle und Fülle gab und sie ernährte. „Warum aber“, so überlegte er weiter, während er noch immer vor dem Haus stand, „warum aber ausgerechnet Unterregenbach?“ Es gab flussauf- und flussabwärts noch so viele Stellen, an denen man hätte siedeln können, an denen das Tal sogar noch breiter gewesen wäre. Warum hatten sich die Menschen ausgerechnet dieses Fleckchen Erde ausgesucht? Sie hatten auf Zeichen aus der Natur vertraut, sie hatten besondere Plätze ausgewählt, indem sie den Pfaden der Wildtiere gefolgt waren. Sie hatten besondere Plätze ausgewählt, weil da zum Beispiel besondere Bäume standen. Diese Eichen, so etwas hatte er noch nie gesehen. „Warum“, so überlegte er, „hat es mich ausgerechnet hierher verschlagen?“ Nichts im Leben geschah zufällig, alles hatte einen Sinn, davon war er überzeugt. Er gab sich einen kräftigen Ruck, um sich aus seinen Gedanken zu reißen und schritt mit schwingendem Schlüsselbund zur Kirche hinüber. Vorsichtig, fast andächtig, suchte er nach dem passenden Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. „Es ist verrückt, was ich da mache“, dachte er. Eigentlich war es verrückt, aber er musste es versuchen. Überzeugt, das Richtige zu tun, drehte er den Schlüssel um, wartete auf das leise Klicken und drückte die Klinke, um einzutreten in diese Kirche voller Vergangenheit. Von draußen fiel nun genug Licht in den Raum. Zielstrebig ging er direkt nach links zu der Falltür und stellte beschämt fest, dass er am Tag zuvor vergessen hatte, sie abzuschließen. Jetzt war er von einer nervösen Ungeduld gepackt und er konnte kaum abwarten, bis das Licht auch den unteren Raum erhellte. Fast stolperte er auf den steilen, eisernen Treppenstufen und eilig ging er an die Stelle, an der er glaubte, am Tag zuvor gestanden zu haben, als er mit der Reisegruppe zum ersten Mal in seinem Leben diesen Raum betreten hatte. Er blieb stehen, atmete tief ein und aus und nahm die feuchte, modrige, leicht abgestandene Luft wahr. Um sich zu sammeln und um ganz bei sich zu sein, schloss er die Augen. Welcher der Steine war es nur gewesen? Er hatte ziemlich weit hinten gestanden wegen der vielen Menschen, beim hinteren Kreuzkanal. Seine rechte Hand glitt ehrfürchtig über die Steine. Immer wieder hielt er inne und wartete ab, in sich lauschend, ob etwas passieren, ob der Boden wieder zu wackeln beginnen oder sich Nebel über seine Hand legen würde. Nichts geschah. Er tastete jeden Stein ab und spürte mit jedem Versuch, wie tiefe Enttäuschung in ihm hochstieg und er sich beinahe vor seiner kindlich wirkenden Naivität schämte. Wie hatte er ernsthaft annehmen können, dass sich diese Vision oder was auch immer es gewesen war, wiederholen ließ? Wahrscheinlich hatte ihm doch seine Phantasie einen Streich gespielt. Er schaute sich um. Nun war er schon mal hier, ganz alleine, ohne Neugierige, die etwas von ihm hören wollten. Jeder Winkel in diesem Raum unter dem Kirchenboden steckte voller Vergangenheit und schien ihm Geschichten erzählen zu wollen. Über 1200 Jahre mussten zwischen der Erbauung der ehemaligen Saalkirche, in der er jetzt stand, und der heutigen Zeit liegen. Doch warum hatte er ausgerechnet in einer Kirche dieses Bild eines vorchristlichen Rituals aus der Keltenzeit vor Augen gehabt? „Das Keltenkreuz und der Kreuzkanal“, überlegte er, „ist das eine mögliche Verbindung?“ Oder hatte es etwas mit dem Wasser zu tun? Waren die Eichen so etwas wie heilige Bäume gewesen? Hatten vielleicht spätere Bewohner von Unterregenbach beschlossen, eine vorchristliche Kultstätte einfach zu überbauen? Er hatte darüber gelesen, dass sich vorchristliche Rituale vor allem in ländlichen Gegenden oft noch sehr lange gehalten und mit christlichen Bräuchen gemischt hatten. Was könnte hinter den Kreuzkanälen stecken? Wozu waren sie gebaut worden? Waren es Aufbewahrungsstätten für Reliquien gewesen? Es gab kaum eine andere Kirche aus derselben Zeit, die eine ähnliche Besonderheit aufweisen konnte. Lediglich im heutigen Syrien, dem damaligen byzantinischen Reich, war so etwas gefunden worden. „Es muss eine tiefere Bedeutung haben“, überlegte er. Die beiden gemauerten Vertiefungen lagen auf der ehemaligen Mittelachse der Kirche und waren, das hatten die Archäologen in ihrem Grabungsbericht festgehalten, nicht exakt nach Osten hin ausgerichtet, was sehr ungewöhnlich war. Noch einmal legte er seine Hand auf einen Stein, der ihm besonders ins Auge stach, hoffte dass endlich doch noch etwas geschehen möge, doch der Stein blieb Stein, der Boden unter seinen Füßen blieb erbarmungslos fest und er selbst ernüchtert unter der Regenbacher Kirche stehen. Dennoch war er sich eigentlich sicher, dass er sich das nicht eingebildet hatte. Seine Zuhörer hatten sich schon Sorgen um ihn gemacht, denn er war für viele Momente abgetaucht gewesen in eine längst vergangene Zeit.

Doch es half alles nichts, die Gedanken so daran festhängen zu lassen, denn die Pflicht rief auch ihn – jetzt zur Erntezeit war viel für ihn zu tun. So ging er den engen Gang zwischen den Mauerresten hindurch zurück zur Eisentreppe, die ihn wieder nach oben führte. Er schloss die Tür im Boden, verließ die Kirche und schloss auch diese Tür hinter sich. Sollte er die Schlüssel wieder zurückbringen? Wie lange der Herr Dorn wohl im Krankenhaus bleiben musste? Keiner wusste so recht, was eigentlich los war, doch natürlich wurde viel geredet. Unterregenbach war schließlich ein Dorf, und das hatte doppelt so viele Augen wie Einwohner, und diese Augen sahen sehr viel. Der Karl hatte ihm den Schlüsselbund gebracht, am besten er würde ihn auch dort wieder abgeben. Andererseits könnte es vielleicht nicht schaden, noch ein wenig die Schlüsselgewalt zu haben, wenn auch nur geborgt, auf Zeit. Schließlich wusste Karl ja, bei wem die Schlüssel waren.

So widmete er sich in den nächsten Tagen ganz seiner Arbeit. Es war ein ausgesprochenes Quittenjahr, und es juckte ihn in den Fingern, allerhand Neues mit der pelzigen, harten Frucht auszuprobieren. Zwar war sein Quittensecco durchaus auch überregional auf Interesse gestoßen, und er hatte schon etliche Flaschen an namhafte Abnehmer verkauft, doch wusste er, dass er am Ball bleiben musste, denn davon leben zu können, das war so einfach nicht. Tagsüber war er also gut abgelenkt. Doch nachts, wenn er wach lag, kreisten seine Gedanken ständig um die Besiedlung Regenbachs, um die Kelten und um das, was er gesehen hatte. Er ertappte sich auch dabei, dass er öfter als früher zum Himmel schaute und Ausschau hielt nach den Rabenvögeln, doch diese hatten sich rar gemacht; nur hin und wieder sah er einzelne Krähen fliegen.

Der Tag, an dem sie zurückkamen, war grau und wolkenverhangen und ihm kam es vor, als läge eine merkwürdige Spannung in der Luft. Irgendwie war er nervös und ruhelos, so als hätte er den ganzen Tag nur starken Kaffee getrunken. Er hatte sie gehört, bevor er sie gesehen hatte, und als seine Augen sie am Himmel suchten, da waren sie wieder am Kreisen. Eine Welle der Erleichterung und der Dankbarkeit breitete sich in ihm aus. Er dachte nicht nach, sondern ließ alles stehen und liegen, um zu der Stelle zu gehen, die sie ihm zeigen wollten. Davon war er überzeugt, dass sie nicht ohne Grund gekommen waren. Die Stelle, an der sie kreisten, lag aber nicht, wie er erwartet hätte, bei der Kirche, der Krypta oder den Fundamenten der großen Basilika, sondern er musste ein Stück aus dem Ortskern hinaus, wo die Straße nach Oberregenbach entlangführte. Jetzt kamen ihm doch Zweifel, und kaum merklich blickte er sich um, ob ihn jemand gesehen hatte. Es kam ihm plötzlich ein wenig merkwürdig vor, was er da tat. Er blieb stehen und überlegte, wieder umzudrehen. Was sollte er da draußen, weit weg von den ehemaligen Ausgrabungsstellen? Doch die Krähen kreisten unentwegt oben am Himmel, als wollten sie mit aller Deutlichkeit zeigen, dass er nicht weggehen sollte. So lange hatte er darauf gewartet, dass sie zurückkommen würden, also ging er mit zögernden Schritten dort hin, um zu suchen, was er offenbar finden sollte. Gab es einen Stein, den er berühren musste? Doch er konnte nichts entdecken. Ratlos lief er im Kreis, hielt seinen Blick suchend auf den Boden gerichtet und schaute dann wieder nach oben, wo die Krähen kreisten, als würden sie warten, bis er es gefunden hatte. „Was soll ich denn finden, helft mir doch, ihr blöden Vögel“, murmelte er leise vor sich hin und bedauerte im gleichen Augenblick, so ungerecht zu den Tieren gewesen zu sein. Nichts geschah, außer dass von Zeit zu Zeit einer der Vögel ein forderndes Krächzen ertönen ließ. Er konnte nichts sehen, und er wusste nicht, wonach er suchen sollte. So blieb er einfach stehen, breitete die Arme aus und schaute zu den Vögeln auf. „Zeigt es mir bitte“, sagte er flehend. Als schienen sie ihn verstanden und erhört zu haben, löste sich erneut eine der Krähen aus der Formation und flog bedächtig in seine Richtung, um sich auf einem morschen, moosbewachsenen Baumstumpf niederzulassen. Stirnrunzelnd ging er zu der Stelle und erwartete, dass die Krähe vor ihm Angst hatte und davonfliegen würde, doch sie saß da und schaute ihn mit schiefgelegtem Kopf an, blickte ihm fest in die Augen, als wollte sie ihm sagen: „Nun mach schon“ und wartete, dass er genau das tat. Zögernd machte er einen ersten Schritt, einen zweiten, einen dritten und stand nun direkt vor dem Baumstumpf, auf dem immer noch die Krähe saß. Krähen können nicht zufrieden lächeln, dachte er noch, doch genau so sah das Tier aus, als er seine Hand ausstreckte, fast wie in Zeitlupe, als hätte er Angst vor dem, was ihn erwartete. Doch er spürte zugleich, dass seine Hand regelrecht angezogen wurde. In dem Moment, in dem die Krähe aufflog, berührte seine rechte Hand die moosige, grüne Oberseite des Baumstumpfes und eine heiße Welle, als wäre es ein Strom, fuhr durch seinen Körper. Diesmal war er darauf vorbereitet gewesen, dass etwas passieren würde, doch es fühlte sich anders an und ging viel schneller. Ihm wurde schwindelig, das Blut rauschte in seinen Ohren und für Augenblicke verschwand alles vor seinen Augen.

Als er wieder klarsehen konnte und der Schwindel vorbei war, erblickte er vor sich eine junge Frau, die mit einem Weidenkorb unter dem Arm über die Wiese ging und sich immer wieder gezielt bückte, um Blüten und Blätter zu pflücken und in den Korb zu legen. Ein Stück weiter hinten waren einige Männer mit mehreren kleinen, dampfenden Siedeöfen