Das Kind - Sebastian Fitzek - E-Book
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Das Kind E-Book

Sebastian Fitzek

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Beschreibung

»Als Robert Stern diesem ungewöhnlichen Treffen zugestimmt hatte, wusste er nicht, dass er damit eine Verabredung mit dem Tod einging. Noch weniger ahnte er, dass der Tod etwa 1,43 m messen, Turnschuhe tragen und lächelnd auf einem gottverlassenen Industriegelände in sein Leben treten würde.« Fitzeks neuer Psychothriller – mit einem unmöglichen Serienmörder? Strafverteidiger Robert Stern ist wie vor den Kopf geschlagen, als er sieht, wer der geheimnisvolle Mandant ist, mit dem er sich auf einem abgelegenen und heruntergekommenen Industriegelände treffen soll: Simon, ein zehnjähriger Junge, zerbrechlich, todkrank – und fest überzeugt, in einem früheren Leben ein Mörder gewesen zu sein. Doch Robert Sterns Verblüffung wandelt sich in Entsetzen und Verwirrung, als er in jenem Keller, den Simon beschrieben hat, tatsächlich menschliche Überreste findet: ein Skelett, der Schädel mit einer Axt gespalten. Und dies ist erst der Anfang. Denn nicht nur berichtet Simon von weiteren, vor Jahren hingerichteten Opfern, schon bald wird auch die Gegenwart mörderisch … Hochspannend, unerwartet, ungewöhnlich – Dieser Psychothriller wird dir den Schlaf rauben Sebastian Fitzek versteht es wie kein Zweiter in seinen Bann zu schlagen. Unerwartete Wendungen und ungewöhnliche Figuren machen diesen Roman zu einem Psychothriller der Sonderklasse.  »Fitzek beherrscht sein Handwerk, als hätte er Jahrzehnte nichts anderes getan. Nach drei Büchern steht fest: Dieser Autor macht süchtig!« Focus online

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Seitenzahl: 448

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Sebastian Fitzek

Das Kind

Psychothriller

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Über dieses Buch

»Als er diesem ungewöhnlichen Treffen zugestimmt hatte, wusste er nicht, dass er damit eine Verabredung mit dem Tod einging …«

Strafverteidiger Robert Stern ist wie vor den Kopf geschlagen, als er sieht, wer der geheimnisvolle Mandant ist, der ihn auf einem abgelegenen Industriegelände treffen wollte: Simon, ein zehnjähriger Junge, zerbrechlich, todkrank – und fest überzeugt, in einem früheren Leben ein Mörder gewesen zu sein. Doch Roberts Verblüffung wandelt sich in Entsetzen, als er in jenem Keller, den Simon beschreibt, tatsächlich menschliche Überreste findet: ein Skelett, der Schädel mit einer Axt gespalten. Robert ahnt noch nicht, dass von nun an der Tod sein ständiger Begleiter sein wird …

Inhaltsübersicht

Widmung

Das Treffen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Die Suche

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Die Erkenntnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Der Handel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Die Wahrheit

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Der Anfang

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Zehn Tage später

Danksagung

Leseprobe »Die Einladung«

Das Quiz für dein nächstes Fitzek-Abenteuer

Für meine Eltern und Viktor Larenz

Das Treffen

Kindermund tut Wahrheit kund

Lebensweisheit

1.

Als Robert Stern vor wenigen Stunden diesem ungewöhnlichen Treffen zugestimmt hatte, wusste er nicht, dass er damit eine Verabredung mit dem Tod einging. Noch weniger ahnte er, dass der Tod etwa hundertdreiundvierzig Zentimeter messen, Turnschuhe tragen und lächelnd auf einem gottverlassenen Industriegelände in sein Leben treten würde.

»Nein, sie ist noch nicht da. Und ich habe langsam keine Lust mehr, auf sie zu warten.«

Stern sah entnervt durch die regennasse Windschutzscheibe seiner Limousine auf das fensterlose Fabrikgebäude in hundert Metern Entfernung vor ihm und verwünschte seine Anwaltsgehilfin. Sie hatte vergessen, die Verabredung mit seinem Vater abzusagen, der in diesem Augenblick wütend an der anderen Leitung hing.

»Rufen Sie Carina an und fragen sie, wo sie verdammt noch mal bleibt!«

Stern drückte energisch auf einen Knopf am Lederlenkrad, und nach einem atmosphärischen Knacken hörte er seinen Alten Herrn über die Lautsprecher husten. Der 79-Jährige rauchte ununterbrochen. Jetzt hatte er sich sogar für die kurze Zeit in der Warteschleife eine Zigarette angesteckt.

»Tut mir leid, Papa«, sagte Stern. »Ich weiß, wir wollten heute zu Abend essen. Aber wir müssen das auf Sonntag verschieben. Ich bin zu einem völlig unerwarteten Termin gerufen worden.«

Du musst kommen. Bitte. Ich weiß nicht mehr weiter. Noch nie zuvor hatte Carinas Stimme am Telefon so ängstlich geklungen wie vorhin. Wenn es geschauspielert gewesen war, verdiente sie einen Oscar.

»Vielleicht sollte ich dir auch fünfhundert Euro die Stunde zahlen, damit ich dich mal wieder sehe«, fauchte sein Vater wütend.

Stern seufzte. Er besuchte ihn dreimal die Woche, aber es hatte überhaupt keinen Sinn, das jetzt zu erwähnen. Weder die Hundertschaften gewonnener Strafprozesse noch die verlorenen Schlachten seiner zerrütteten Ehe hatten ihn lehren können, wie er in einer Auseinandersetzung mit seinem Vater die Oberhand behielt. Sobald er mit dem Alten diskutierte, fühlte er sich wieder wie das kleine Kind mit den schlechten Schulnoten, und nicht wie der fünfundvierzigjährige Robert Stern, Seniorpartner von Langendorf, Stern und Dankwitz, den führenden Strafverteidigern Berlins.

»Ich habe, ehrlich gesagt, nicht die leiseste Ahnung, wo ich hier gerade bin«, versuchte er die Unterhaltung aufzulockern. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, irgendwo in Tschetschenien. Mein Navigationssystem hat nur mit Mühe hierhergefunden.« Er schaltete das Fernlicht seines Wagens an und leuchtete damit Teile des ungepflasterten Vorplatzes aus, auf dem sich abgerissene Stahlträger, verrostete Kabelrollen und anderer Gewerbemüll türmten. Vermutlich waren hier einmal Farben und Lacke hergestellt worden, wenn er den Berg leerer Metallfässer richtig interpretierte. Vor der baufälligen Backsteinbaracke mit dem eingefallenen Schornstein sahen sie aus wie die Requisiten eines Weltuntergangsfilms.

»Hoffentlich findet dein Navigationsdingsbums später einmal den Weg zu meinem Grab«, hustete der Vater, und Stern fragte sich, ob diese Verbitterung erblich war. Immerhin trug er sie ansatzweise in sich selbst. Seit nunmehr zehn Jahren.

Seit Felix.

Die traumatischen Erlebnisse damals auf der Säuglingsstation hatten ihn auch äußerlich seinem Vater nähergebracht. Stern war vorzeitig gealtert. Früher war er noch jede freie Minute auf dem Basketballplatz gestanden, um seine Wurftechnik zu verbessern. Heute traf er kaum den Papierkorb seines Büros, wenn er vom Schreibtisch aus eine leere Getränkedose entsorgen wollte.

Die meisten Menschen, die ihm nicht zu nahekamen, ließen sich vielleicht durch seine großgewachsene, schlanke Gestalt und die breiten Schultern täuschen. In Wahrheit versteckten die perfekt sitzenden Maßanzüge seine mittlerweile untrainierten Muskeln, die Augenringe wurden durch eine naturgegebene Dauerbräune kaschiert, und ein geschickter Schnitt seiner dunklen Haare verhinderte, dass die lichten Stellen über den Schläfen durchschimmerten. Morgens brauchte er nun fast eine Stunde, um die Müdigkeit aus seinem Gesicht zu schrubben, und wenn er das Bad verließ, fühlte er sich mehr und mehr wie eine lebendige Mogelpackung; ein aufpoliertes Designermöbelstück, dessen verborgene Macken erst sichtbar wurden, wenn man es im schonungslosen Deckenlicht des heimischen Wohnzimmers aufgestellt hatte.

Es klopfte in der Leitung an.

»Entschuldige, ich bin gleich wieder dran«, floh Stern vor weiteren Vorwürfen seines Vaters und nahm den Rückruf seiner Sekretärin entgegen.

»Lassen Sie mich raten: Carina hat den Termin abgesagt?« Das würde ihr ähnlich sehen. In ihrem Beruf war sie eine zuverlässige und tüchtige Krankenschwester, ihre privaten Verpflichtungen organisierte sie hingegen genauso wie ihr Liebesleben: chaotisch, wechselhaft und absolut unkoordiniert. Obwohl ihre Beziehung schon vor drei Jahren nach nur wenigen Wochen in die Brüche gegangen war, telefonierten sie noch regelmäßig miteinander und trafen sich sogar manchmal auf einen Kaffee. Beides endete in der Regel im Streit.

»Nein, ich konnte Frau Freitag leider nicht erreichen.«

»Okay, danke.« Stern aktivierte die elektronische Zündung und zuckte nervös zusammen, als der Herbstwind unvermittelt einen Regenschwall auf die Windschutzscheibe klatschen ließ. Er schaltete die Wischer an und blieb mit seinem Blick kurz an einem rotbraunen Ahornblatt hängen, das sich außerhalb ihres Einzugsbereichs festgesaugt hatte. Dann drehte er sich um und setzte langsam mit knirschenden Reifen über den Rollsplitt zurück.

»Wenn Carina sich melden sollte, dann sagen Sie ihr bitte, dass ich hier unmöglich noch länger …« Stern stockte, als er wieder nach vorne sah und den ersten Gang einlegen wollte. Was immer da mit blinkenden Warnleuchten in zweihundert Meter Entfernung frontal auf ihn zuraste – es war nicht Carinas altersschwacher Kleinwagen. Der weiß-rote Kastenwagen schoss mit der höchsten Geschwindigkeit die Zufahrt hoch, die die Schlaglöcher erlaubten.

Für einen kurzen Moment dachte Stern, der Fahrer wolle ihn tatsächlich rammen, doch dann drehte dieser ab, und der Krankenwagen kam seitlich von ihm zum Stehen.

»Papa?«, aktivierte Robert wieder die andere Leitung, nachdem er sich von seiner Sekretärin verabschiedet hatte. »Mein Termin ist da, ich muss Schluss machen«, erklärte er, obwohl sein Vater bereits aufgelegt hatte. Dann drückte er die schwere Limousinentür gegen eine Windböe nach außen und stieg aus.

Was zum Teufel will sie mit einem Krankenwagen?

Carina sprang von der Fahrerseite in eine Pfütze, aber es schien ihr nichts auszumachen, dass sie damit ihre weiße Schwesterntracht mit tiefschwarzen Dreckfäden besprenkelte. Sie trug ihr langes, rotweinfarbenes Haar zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden und sah damit so blendend aus, dass Stern sie gerne in den Arm genommen hätte. Doch irgendetwas an ihrem Blick hielt ihn davon ab.

»Ich stecke echt verdammt tief in der Scheiße«, sagte sie und zog eine Packung Zigaretten hervor. »Ich glaube, dieses Mal habe ich wirklich Mist gebaut.«

»Was soll das Theater?«, fragte Stern. »Warum treffen wir uns nicht in meiner Kanzlei, sondern ausgerechnet hier, auf diesem … diesem Schlachtfeld?«

Jetzt, da er nicht mehr von den gut isolierten Türen seiner Limousine abgeschirmt wurde, spürte er die unangenehme Kälte des auffrischenden Oktoberwindes. Er zog seine Schultern fröstelnd zusammen.

»Lass uns keine Zeit verlieren, ja? Ich hab mir den Krankenwagen nur ausgeborgt und muss ihn ganz schnell zurückbringen.«

»Okay. Aber wenn du was ausgefressen hast, bespricht sich das bestimmt besser an einem zivilisierten Ort.«

»Nein, nein, nein.« Carina schüttelte den Kopf und hob dabei abwehrend die Hand. »Du verstehst nicht! Hier geht’s nicht um mich.«

Sie ging mit festen Schritten um den Rettungswagen herum, öffnete die Hintertür und deutete ins Wageninnere.

»Dein Mandant liegt da drinnen.«

Stern warf Carina einen prüfenden Blick aus den Augenwinkeln zu. Er hatte schon viel erlebt, und der Anblick eines angeschossenen Bankräubers, eines Opfers von Bandenkriminalität oder sonst eines zwielichtigen Klienten, der dringend und vor allen Dingen anonym seine Hilfe brauchte, war nichts Neues für ihn. Er fragte sich nur, was Carina damit zu schaffen hatte.

Als sie nichts weiter zu ihm sagte, stieg er langsam die Metallstreben nach oben ins Innere des Rettungswagens. Sein Augenmerk fiel sofort auf den Körper, der reglos auf der Trage lag.

»Was soll das?« Er drehte sich ruckartig zu Carina um, die unten vor dem Wagen stehen geblieben war und sich eine Zigarette anzündete. Etwas, was sie nur selten tat, und immer nur dann, wenn sie extrem nervös war. »Du schleppst einen kleinen Jungen hier raus? Wozu?«

»Das soll er dir selber sagen.«

»Der Knirps sieht aber nicht so aus, als ob er …«, reden könnte, hatte Stern den Satz vollenden wollen, denn das leichenblasse Kind machte auf ihn einen fast apathischen Eindruck. Doch als Robert sich wieder zu der Liege umwandte, richtete der Junge sich gerade auf und setzte sich, Beine baumelnd, auf deren Kante.

»Ich bin kein Knirps«, protestierte er. »Ich bin schon zehn! Vor zwei Tagen hatte ich Geburtstag.«

Unter einer gefütterten Cordjacke trug das Kind ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgebügelten Totenschädel zu nagelneuen, aber nach Sterns Meinung viel zu großen Flickenjeans. Doch was kannte er sich schon aus? Wahrscheinlich war es gerade in Mode, Viertklässlern die Hosenbeine umzuschlagen und ihnen mit Filzstiften bemalte Skateboardturnschuhe anzuziehen.

»Sind Sie Anwalt?«, fragte der Junge etwas heiser. Das Sprechen schien ihm Probleme zu bereiten, als hätte er lange nichts mehr getrunken.

»Ja, das bin ich. Strafverteidiger, um es genau zu sagen.«

»Gut.« Der Junge lächelte, wodurch er erstaunlich gerade und weiße Zähne entblößte. Dieser niedliche Kerl benötigte wahrlich keine Zahnlücke, um das Herz seiner Oma zum Schmelzen zu bringen. Dazu genügten schon seine streichholzlangen dunklen Wimpern und die vollen, leicht aufgesprungenen Lippen.

»Sehr gut«, wiederholte er und stieg vorsichtig von der Liege herunter, wobei er Robert für einen kurzen Moment den Rücken zukehrte. Seine frisch gewaschenen hellbraunen Haare fielen ihm leicht gelockt bis auf die Schultern, und von hinten betrachtet, hätte er gut und gerne als Mädchen durchgehen können. Robert fiel auf, dass seine Haare im Nacken ein kreditkartengroßes Pflaster überdeckten.

Als der Junge sich wieder zu ihm umdrehte, lächelte er immer noch.

»Ich bin Simon. Simon Sachs.«

Er streckte Robert seine zierliche Hand hin, die dieser zögernd schüttelte.

»Schön, und ich bin Robert Stern.«

»Ich weiß. Carina hat mir das Foto von Ihnen gezeigt, das sie in ihrer Handtasche hat. Sie sagt, Sie sind der Beste.«

»Danke sehr«, murmelte Stern etwas unbeholfen. Soweit er sich erinnern konnte, war das die längste Unterhaltung, die er seit Jahren mit einem Minderjährigen geführt hatte. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er deshalb etwas ungelenk.

»Ich brauche einen Anwalt.«

»Alles klar!« Stern sah fragend über seine Schulter zu Carina, die mit unbewegter Miene den Rauch ihrer Zigarette inhalierte.

Warum tat sie ihm das an? Weshalb bestellte sie ihn auf ein Abrissgelände und brachte ihn hier mit einem Zehnjährigen zusammen, obwohl sie wusste, wie wenig er mit Kindern anfangen konnte? Und wie konsequent er sich von ihnen fernhielt, seitdem die Tragödie erst seine Ehe und dann ihn selbst zerstört hatte.

»Und warum, glaubst du, brauchst du einen Anwalt?«, fragte er und schluckte die aufkeimende Wut nur mühsam herunter. Vielleicht entwickelte diese skurrile Situation wenigstens noch einen gewissen Unterhaltungswert für die Sitzungspausen in der Kanzlei.

Stern deutete auf das Pflaster an Simons Nacken. »Ist es deswegen? Hat dir jemand auf dem Schulhof eins übergezogen?«

»Nein. Das nicht.«

»Was dann?«

»Ich habe getötet.«

»Wie bitte?« Stern stellte diese Frage erst nach einer kurzen Pause, fest davon überzeugt, dass diese brutalen Worte nicht aus dem Mund eines Zehnjährigen gekommen sein konnten. Sein Kopf wanderte jetzt wie der eines Zuschauers beim Tennis zwischen Carina und dem Jungen hin und her. So lange, bis Simon es noch einmal wiederholte. Laut und deutlich:

»Ich brauche einen Anwalt. Ich bin ein Mörder.«

Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, und das Geräusch mischte sich in das stetige Rauschen der nahe gelegenen Stadtautobahn, doch Stern hörte es genauso wenig wie die harten Regentropfen, die unregelmäßig auf das Blechdach des Krankenwagens ploppten.

»Okay. Du denkst, du hast jemanden umgebracht?«, fragte er, nachdem eine weitere Schrecksekunde vorüber war.

»Ja.«

»Darf ich fragen, wen?«

»Weiß nicht.«

»Aha, weißt du nicht.« Stern lachte trocken auf. »Und wahrscheinlich weißt du auch nicht, wie, warum oder wo es war, weil das Ganze hier nämlich ein Dummer-Jungen-Streich ist, und …«

»Mit einer Axt«, flüsterte Simon.

Trotzdem klang es für einen Moment so, als würde er schreien.

»Wie bitte?«

»Mit einer Axt. Auf den Kopf. Von einem Mann. Viel mehr weiß ich nicht. Ist schon lange her.«

Robert blinzelte nervös. »Was heißt lange? Wann war das denn?«

»Am 28. Oktober.«

Der Anwalt sah auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr.

»Das ist heute«, sagte er irritiert. »Eben hast du doch noch gesagt, es sei lange her. Was denn nun? Du musst dich schon entscheiden.«

Stern wünschte sich kurz, er hätte es im Kreuzverhör immer mit so einfachen Zeugen zu tun. Zehnjährige, die sich schon in den ersten Minuten ihrer Aussage in Widersprüche verstrickten. Doch dieser Wunsch währte nicht lange.

»Sie verstehen mich nicht.« Simon schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe einen Mann getötet. Und zwar genau hier!«

»Hier?«, echote Stern und sah fassungslos zu, wie Simon sich sanft an ihm vorbeidrängte, aus dem Krankenwagen stieg und sich draußen interessiert umschaute. Soweit Stern seinen Blicken folgen konnte, blieben diese an einem heruntergekommenen Geräteschuppen hängen, etwa hundert Meter entfernt neben einer kleinen Baumgruppe.

»Ja. Hier war es«, bestätigte Simon zufrieden und griff Carinas Hand. »Hier habe ich einen Mann erschlagen. Am 28. Oktober. Vor fünfzehn Jahren.«

2.

Robert stieg aus dem Rettungswagen und bat Simon, kurz zu warten. Dann packte er Carina grob am Handgelenk und führte die Krankenschwester drei Schritte weiter hinter den Kofferraum seiner Limousine. Der Nieselregen hatte etwas nachgelassen, dafür war es dunkler, windiger und vor allem kühler geworden. Weder Carina mit ihrem dünnen Dienstkittel noch er in seinem schwarzen Westenanzug war für dieses Schmuddelwetter passend angezogen. Doch im Gegensatz zu ihm schien sie überhaupt nicht zu frieren.

»Kurze Frage«, flüsterte er, obwohl Simon ihn aus dieser Entfernung sicher nicht hören konnte. Der Wind und das monotone Brandungsrauschen der Stadtautobahn schluckten alle anderen Geräusche. »Wer von euch beiden hat hier die größere Schraube locker?«

»Simon ist Patient bei mir auf der Neurologie«, sagte Carina, als hätte das irgendetwas erklären können.

»Auf der Psychiatrie wäre er vielleicht besser aufgehoben«, zischte Stern. »Was soll der Quatsch mit dem Mord vor fünfzehn Jahren? Kann er nicht rechnen oder ist er schizophren?«

Er öffnete mit der Funksteuerung seines Autoschlüssels den Kofferraum. Gleichzeitig aktivierte er das Innenlicht, damit man in dem regentrüben Halbdunkel hier draußen überhaupt etwas erkennen konnte.

»Er hat einen Hirntumor.« Carina formte mit Daumen und Zeigefinger einen Ring, um die Größe zu demonstrieren. »Sie geben ihm noch wenige Wochen. Vielleicht nur noch Tage.«

»Großer Gott, und das Ding hat diese Nebenwirkungen?« Stern nahm einen Regenschirm aus dem Kofferraum.

»Nein. Daran bin ich schuld.«

»Du?«

Er sah von seiner Hand auf, in der er das nagelneue Designerstück hielt, dessen Funktionsweise sich ihm gerade nicht erschloss. Er fand noch nicht einmal den Druckknopf, um den Schirm aufzuspannen.

»Ich sagte doch, ich hab Mist gebaut. Du musst wissen, der Kleine ist hochintelligent, unglaublich sensibel und für sein Alter erstaunlich gebildet, was angesichts der Verhältnisse, aus denen er stammt, für mich an ein Wunder grenzt. Als er vier Jahre alt war, hat man ihn von seiner asozialen Mutter befreit. Aus einer völlig verwahrlosten Wohnung – man fand ihn halb verhungert neben einer toten Ratte in der Badewanne. Dann kam er ins Heim. Dort fiel er auf, weil er lieber im Lexikon las, als mit Gleichaltrigen zu raufen. Seine Betreuer hielten es für normal, dass einem Kind, das so viel nachdenkt, ständig der Kopf wehtut. Doch dann wurde das Ding in seinem Gehirn entdeckt, und seit er auf meiner Station liegt, hat er niemanden mehr außer dem Krankenhauspersonal. Eigentlich hat er nur mich.«

Jetzt fröstelte Carina doch, denn ihre Lippen begannen zu zittern.

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

»Simon hatte vorgestern Geburtstag, und da hab ich ihm ein besonderes Geschenk machen wollen. Ich meine, er ist zwar erst zehn. Aber er ist durch seine Lebenserfahrung und seine Krankheit um so vieles reifer als andere Kinder in diesem Alter. Ich dachte, er wäre nicht zu jung dafür.«

»Wofür? Was hast du ihm geschenkt?« Stern hatte es endgültig aufgegeben, den Schirm öffnen zu wollen, und hielt ihn jetzt wie einen Zeigestab auf ihre Brust gerichtet.

»Simon hat Angst vor dem Tod, also hab ich eine Rückführung organisiert.«

»Eine was?«, fragte Robert, obwohl er erst kürzlich etwas darüber im Fernsehen gesehen hatte.

Es war typisch für Carina, natürlich auch diesen esoterischen Trend mitzumachen. Die Idee, in einem früheren Leben schon einmal auf der Welt gewesen zu sein, faszinierte anscheinend Menschen aller Altersklassen. Diese Sehnsucht nach dem Übernatürlichen bot den idealen Nährboden für zwielichtige Therapeuten, die gerade wie Unkraut aus dem Boden schossen und gegen ein stattliches Honorar solche »Rückführungen« anboten: Reisen in die Vergangenheit vor der Geburt, auf denen man, meistens unter Hypnose, erfuhr, dass man vor sechshundert Jahren auf einem Scheiterhaufen verbrannt oder in Frankreich zum König gekrönt worden war.

»Guck mich nicht so an. Ich weiß, was du von so etwas hältst. Du liest ja noch nicht einmal dein Horoskop.«

»Wie konntest du diesen Jungen nur einem solchen Hokuspokus aussetzen?«

Stern war ehrlich entsetzt. In dem Fernsehbeitrag hatten sie vor schweren psychischen Schäden gewarnt. Labile Persönlichkeiten konnten es oft nicht verkraften, wenn ihnen ein Quacksalber einredete, ihre gegenwärtigen seelischen Probleme hätten etwas mit einem ungelösten Konflikt in einem früheren Leben zu tun.

»Ich wollte Simon nur zeigen, dass es danach nicht vorbei ist. Nach dem Tod. Dass er nicht traurig sein muss, nur so kurz gelebt zu haben, weil es doch immer weitergeht.«

»Sag mir, dass das ein Scherz ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich brachte ihn zu Dr. Tiefensee. Er ist ein examinierter Psychologe und gibt Kurse an der Universität. Also kein Scharlatan, wie du sicher denkst.«

»Was ist passiert?«

»Er hypnotisierte Simon. Und eigentlich geschah nicht viel. Unter Hypnose konnte Simon kaum etwas erkennen. Später sagte er nur, er wäre in einem dunklen Keller gewesen, in dem er Stimmen gehört hätte. Grausame Stimmen.«

Stern verzog schmerzhaft sein Gesicht. Die Kälte, die ihm den Rücken heraufkroch, wurde von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, aber das war nicht der einzige Grund, warum er so schnell wie möglich von hier fortwollte. Irgendwo in der Ferne grub sich ein Güterzug seinen Weg zum nächsten Bahnhof, und Carina flüsterte jetzt, so wie Stern zu Beginn ihrer Unterhaltung.

»Als Tiefensee ihn wieder aus der Hypnose zurückholen wollte, schaffte er es zuerst nicht. Simon war in einen tiefen Schlaf gefallen. Und als er wieder aufwachte, sagte er uns das Gleiche, was er eben dir erzählt hat. Er denkt, er war einmal ein Mörder.«

Stern wollte sich seine feuchten Hände an seinen dichten braunen Haaren abwischen, aber selbst die waren vollständig vom Nieselregen durchtränkt.

»Das ist alles Wahnsinn, Carina. Und das weißt du auch. Ich frag mich nur, was das alles mit mir zu tun hat?«

»Simon besitzt einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn und will unbedingt zur Polizei gehen.«

»Genau.«

Robert und Carina drehten sich abrupt zu dem Jungen um, der während ihrer hitzigen Auseinandersetzung unbemerkt zu ihnen herübergekommen war. Der Wind wehte ihm seine lockigen Haare in die Stirn, und Stern fragte sich, warum er überhaupt noch welche besaß. Sicherlich hatte er doch eine Chemotherapie durchleiden müssen.

»Ich bin ein Mörder. Und das ist Unrecht. Ich will mich stellen. Aber ich sage nichts mehr ohne meinen Anwalt!«

Carina lächelte schwermütig. »Diesen Satz hat er aus dem Fernsehen aufgeschnappt. Und du bist leider der einzige Strafverteidiger, den ich kenne.«

Stern vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte er nach unten auf den schlammigen Boden, als könnten ihm seine handgenähten Lederschuhe verraten, wie er am besten auf diesen Irrsinn reagieren sollte.

»Und?«, hörte er Simon fragen.

»Und was?« Er sah auf, dem Jungen direkt ins Gesicht, und wunderte sich, dass der Kleine wieder lächelte.

»Sind Sie jetzt mein Anwalt? Ich kann Sie auch bezahlen.« Simon fingerte etwas umständlich ein kleines Portemonnaie aus seiner Hosentasche hervor.

»Ich hab nämlich Geld.«

Stern schüttelte den Kopf. Erst unmerklich, dann immer heftiger.

»Doch, doch. Hab ich«, protestierte Simon. »Echt.«

»Nein«, sagte Stern, wobei er allerdings nicht den Jungen, sondern Carina wütend ansah. »Darum geht es doch gar nicht, hab ich recht? Du hast mich nicht als Anwalt hierherbestellt, oder?«

Jetzt war sie es, die zu Boden starrte.

»Nein. Hab ich nicht«, gestand sie leise.

Stern atmete tief aus und schmiss den unbenutzten Regenschirm zurück in den Kofferraum. Dann schob er eine Aktentasche beiseite, die darin lag, öffnete die Plastikabdeckung in der Seite und zog neben dem Verbandskasten eine Stabtaschenlampe hervor. Er prüfte den Lichtkegel, indem er ihn auf den windschiefen Geräteschuppen richtete, auf den Simon vorhin gezeigt hatte.

»Also gut, bringen wir es hinter uns.«

Er strich Simon mit der freien Hand über den Kopf und glaubte selbst nicht, dass er diese Worte wirklich zu einem Zehnjährigen sagte:

»Zeig mir doch mal genau, wo du den Mann erschlagen haben willst.«

3.

Simon führte sie um den Schuppen herum. Vor vielen Jahren musste sich hier einmal ein zweistöckiges Arbeitsgebäude befunden haben. Doch dann hatte es gebrannt, und jetzt ragten nur noch einzelne, verkohlte Wandteile wie verkrüppelte Handflächen in den bewölkten Abendhimmel.

»Siehst du, hier ist nichts.«

Sterns Taschenlampe wanderte langsam über die Ruine.

»Er muss hier aber irgendwo liegen«, antwortete Simon, als ginge es um einen verlorenen Handschuh und nicht um eine Leiche. Auch er war mit einem winzigen Leuchtstift ausgestattet. Einer Plastikstange, die im Dunkeln fluoreszierte, sobald man sie einmal umknickte.

»Aus seinem Zauberkasten«, war Stern von Carina aufgeklärt worden. Offenbar hatte das Kind neben der Rückführung auch noch normale Geburtstagsgeschenke erhalten.

»Ich glaube, da unten war es«, sagte Simon aufgeregt und ging einen Schritt nach vorne.

Stern folgte seinem ausgestreckten Arm und leuchtete in Richtung des ehemaligen Treppenhauses, von dem jetzt nur noch der Kellerzugang zu sehen war.

»Da können wir aber nicht runter. Das ist lebensgefährlich.«

»Wieso?«, fragte der Junge und stakste mit seinen Turnschuhen über eine lose Ansammlung von Ziegelsteinen.

»Bleib hier. Das kann alles einstürzen, Schatz.« Carina klang ungewöhnlich besorgt. Früher war sie in Roberts Gegenwart immer ein Ausbund an Fröhlichkeit gewesen. Fast so, als ob sie die permanent in ihm schwelende Melancholie durch ein Übermaß an Lebenslust wieder ausgleichen wollte. Doch gerade jetzt schien es ihr große Angst zu machen, dass sich Simon wie ein unerzogener Hund benahm, den man von der Leine gelassen hatte. Er lief einfach weiter.

»Schaut mal, da geht’s rein!«, rief er plötzlich. Und noch während die beiden protestierten, verschwand sein Lockenkopf hinter einem Stahlbetonträger.

»Simon!«, brüllte Carina. Stern beeilte sich ebenfalls mit unbeholfenen Schritten, über den Schutt zu den beiden aufzuschließen. In der Dunkelheit knickte er mehrfach um und riss sich an einem rostigen Draht seine Anzughose auf. Als er endlich den Eingang zum Keller mit der dahinterliegenden, rußschwarzen Holztreppe erreichte, bog der Junge gerade zwanzig Stufen tiefer um die Ecke.

»Komm da sofort wieder raus!«, rief Stern in den Schacht hinein und verfluchte augenblicklich seine unbedachte Wortwahl. Er wusste in derselben Sekunde, dass die Erinnerung, die dieser Satz bei ihm auslöste, schlimmer war als alles, was ihm hier widerfahren konnte.

Komm da raus. Schatz, bitte. Ich kann dir helfen …

Es war nicht die einzige Lüge geblieben, die er Sophie damals durch die verschlossene Toilettentür zugerufen hatte. Ohne Erfolg. Vier Jahre lang hatten sie beide alles versucht. Jede Technik und Behandlungsmethode ausprobiert, bis sie endlich den ersehnten Anruf aus der Fertilitätsklinik erhielten. Positiv. Schwanger. Damals, vor fast genau zehn Jahren, kam es ihm vor, als ob eine höhere Macht die Kompassnadel seines Lebens völlig neu justiert hätte. Der Zeiger stand plötzlich auf Glück, und zwar in seiner reinsten Form. Leider verweilte er dort nur für die kurze Zeit, die Stern benötigte, um mit Leuchtaufklebern einen Sternenhimmel an die Decke des neuen Kinderzimmers zu basteln und gemeinsam mit Sophie die Babywäsche auszusuchen. Felix trug sie nicht ein einziges Mal. Er wurde noch in dem Strampler beerdigt, den die Schwestern ihm auf der Säuglingsstation angezogen hatten.

»Simon?«, rief der Anwalt so laut, dass er sich damit selbst aus seinen düsteren Gedanken riss. Er zuckte zusammen, als Carina neben ihm das Gleiche tat.

»Ich glaub, hier ist was!«, drang die Kinderstimme dumpf zu ihnen hoch.

Stern fluchte und prüfte mit seinem Fuß die erste Stufe. »Es hilft nichts, wir müssen da rein.«

Auch diese Worte erinnerten ihn wieder an den grausamsten Moment seines Lebens. Als Sophie mit ihrem toten Baby in ihren Armen auf die Krankenhaustoilette geflüchtet war und es nicht mehr hergeben wollte. »Plötzlicher Kindstod« lautete damals die Diagnose, die sie nicht akzeptieren wollte. Zwei Tage nach der Entbindung.

»Ich komm mit«, erklärte Carina.

»Blödsinn.« Stern zog vorsichtig sein anderes Bein nach. Die Treppe hatte fünfunddreißig Kilo ausgehalten, mal sehen, was sie zu der mehr als doppelten Belastung sagte.

»Wir haben nur eine Lampe, und irgendjemand muss Hilfe holen, wenn wir in zwei Minuten nicht wieder oben sind.«

Das morsche Holz knackte bei jedem Schritt wie die Takelage eines Segelbootes bei leichtem Wellengang. Stern war sich nicht sicher, ob sein Gleichgewichtssinn ihm einen Streich spielte oder ob das Geländer wirklich immer mehr schwankte, je weiter er hinabstieg.

»Simon?«, rief er bestimmt zum fünften Mal, doch als Antwort hörte er es nur in einiger Entfernung metallisch klirren. So, als würde der Junge mit einem Schraubenzieher gegen ein Heizungsrohr schlagen.

Wenig später stand er mit pochendem Herzen am Fuße der Treppe und schaute sich um. Die Dunkelheit draußen war jetzt so tief, dass er oben von Carina nicht einmal mehr die Umrisse ausmachen konnte. Er leuchtete nach rechts in den Kellervorraum, der sich in zwei Gänge aufteilte. In beiden stand brackiges Schlammwasser etwa fünf Zentimeter hoch.

Kaum zu glauben, dass der Junge sich freiwillig in diesen Industriesumpf hineintraut. Stern wählte den linken Gang, da bei dem anderen schon nach wenigen Metern ein umgekippter Sicherungskasten den Weg versperrte.

»Wo bist du?«, fragte er, während das kalte Wasser mit eisiger Hand seine Knöchel umschloss.

Simon antwortete wieder nicht, gab aber wenigstens ein Lebenszeichen von sich. Er hustete. Nur wenige Schritte von Stern entfernt. Trotzdem konnte Robert ihn nicht mit seiner Lampe erfassen.

Ich werde mir noch den Tod holen, dachte er, während er spürte, wie seine Hosenbeine die Nässe löschblattartig nach oben sogen. Sein Handy klingelte, als er etwa zehn Meter vor sich eine Holzwand ausmachte.

»Wo ist er?«, fragte Carina mit jetzt schon fast hysterischer Stimme.

»Keine Ahnung. Ich glaube, im Nebengang.«

»Was sagt er denn?«

»Nichts. Er hustet.«

»O mein Gott, hol ihn da raus!« Carinas Stimme überschlug sich vor Aufregung.

»Was glaubst du, was ich gerade vorhabe?«, raunzte er sie an.

»Du verstehst nicht. Der Tumor. Das passiert, wenn es wieder so weit ist.«

»Was meinst du damit? Was passiert?«

Stern hörte erneut Simon husten. Dieses Mal noch näher als zuvor.

»Bronchialkrämpfe gehen der Ohnmacht voraus. Er wird bald bewusstlos«, schrie Carina so laut, dass er sie gleichzeitig von draußen und über das Handy hören konnte.

Und er wird mit dem Kopf ins Wasser fallen. Und ersticken. So wie …

Stern rannte los und übersah in der anschwellenden Panik den schwarzen Holzbalken, der völlig verkohlt und dadurch wie unsichtbar von der Decke hing. Sein Kopf schlug mit voller Wucht dagegen. Weitaus größer als der Schmerz war jedoch der Schreck. Stern dachte, er würde angegriffen, und riss zur Verteidigung beide Arme nach oben. Als er seinen Irrtum bemerkte, war es schon zu spät. Die Taschenlampe flackerte noch zwei Sekunden unter Wasser, dann erstarb das Licht an der Stelle, wo er sie fallen gelassen hatte.

»Verdammt!« Er streckte seine Finger nach rechts, um die Kellerwand zu berühren. Dann tastete er sich Schritt für Schritt vorwärts, immer darauf bedacht, hier unten in der Dunkelheit die Orientierung nicht zu verlieren. Aber momentan stellte das seine kleinste Sorge dar, schließlich war er bislang ja nur geradeaus gegangen. Viel mehr machte ihm zu schaffen, dass Simon jetzt noch nicht einmal mehr hustete.

»Hey, bist du noch da?«, brüllte er, und plötzlich knackte es in seinem Ohr. Wie ein Flugzeugpassagier beim Landeanflug musste er mehrfach schlucken, um den Druck von seinem Trommelfell zu nehmen. Dann hörte er es wieder leise röcheln. Vorne. Hinter der Holzwand, etwa zehn Meter, und dann um die Ecke. Er musste dorthin. In den Nebengang. Zu Simon. Seine Schritte wurden durch das Wasser gebremst, doch er besaß leider genug Tempo, um die unheilvolle Kettenreaktion auszulösen.

»Simon, kannst du mich … Hilfeeeee!«

Mit seinem letzten Wort riss es ihn in die Tiefe. Sein Fuß hatte sich in einem alten Telefonkabel verheddert, das wie eine Wildschweinfalle in dem stinkenden Brackwasser eine Schlinge gezogen hatte. Stern versuchte noch, mit seinen Fingern in dem feuchten Mörtel der Wand irgendeinen Halt zu finden, doch er brach sich dabei nur zwei Nägel ab, bevor er nach vorne schlug.

Beim Aufprall registrierte er, dass er offenbar am Ende des Kellerganges angelangt sein musste, denn er fiel nicht ins Wasser, sondern seine Hände stemmten sich gegen eine nachgiebige Holzwand. Es knackte, so wie bei seinem ersten Schritt vorhin auf der Treppe, nur viel lauter, und dann brach er durch etwas hindurch, das dem Geräusch nach eine Sperrholzplatte sein musste. Oder eine Tür. In seiner Urangst sah er sich einen unbefestigten Bergbauschacht oder einen unendlichen Brunnen hinunterfallen, doch sein Sturz wurde schon nach wenigen Zentimetern brutal vom festgetretenen Erdboden abgefangen. Das einzig Positive an der neuen Lage war, dass das Wasser offenbar noch nicht in diese Ecke des Kellers eingedrungen war. Stattdessen lösten sich undefinierbare Gegenstände von Decke und Wänden und fielen unsanft auf ihn herab.

O mein Gott. Stern traute sich nicht, das mittelgroße, rundliche Etwas zu berühren, das gerade unsanft in seinem Schoß gelandet war. Zu sicher war er sich in einem ersten alptraumhaften Gedanken, er würde über bläuliche Lippen und ein aufgedunsenes Gesicht tasten: über das tote Gesicht von Felix.

Doch dann wurde es langsam heller um ihn herum. Er blinzelte, und es brauchte etwas länger, bis Stern registrierte, woher die unerwartete Lichtquelle kam. Erst als sie direkt vor ihm stand, erkannte er Carina, die mit ihrem grünlich schimmernden Handydisplay mehr schlecht als recht den Verschlag ausleuchtete, in den er gefallen war.

Stern sah ihre Schreie, noch bevor er sie hörte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Carina ihren Mund lautlos geöffnet, bevor ihre gellende Stimme von den Betonwänden widerhallte. Stern schloss die Augen.

Schließlich nahm er doch allen Mut zusammen und sah an sich herunter.

Dann wollte er sich übergeben.

Der Kopf in seinem Schoß steckte wie der Knauf einer Gardinenstange an dem Rest einer teilweise skelettierten Leiche. Mit einer Mischung aus Unglauben, Ekel und fassungslosem Entsetzen registrierte Stern den klaffenden Spalt, den die Axt in dem geschundenen Schädel hinterlassen hatte.

4.

Die Tränen schossen dem Polizisten schneller in die Augen, als er blinzeln konnte. Martin Engler stöhnte mit geschlossenem Mund, warf seinen Kopf in den Nacken und tastete blind mit einer Hand auf dem Verhörtisch umher, bis er endlich gefunden hatte, wonach er suchte. In letzter Sekunde riss er die Packung auf, fingerte ein Taschentuch heraus und hielt es sich vor die Nase.

Haaaaaatsschioooch …

»Entschuldigung.« Der Ermittler der Mordkommission schneuzte sich, und Stern überlegte, ob Engler gerade mit seinem gewaltigen Nieser auch ein kaum vernehmliches »Arschloch« ausgestoßen hatte.

Gepasst hätte es. Nachdem Stern für mehrere von Englers persönlichen Verhaftungen Freisprüche erwirkt hatte, zählte der Anwalt nicht gerade zu den engsten Freunden des Kommissars.

»Hhhmmm.«

Der übergewichtige Mann, der direkt neben Engler saß, hatte sich geräuspert. Stern wandte sich kurz dem Beamten zu, unter dessen Doppelkinn ein gewaltiger Adamsapfel herausstach. Beim Betreten des fensterlosen Verhandlungszimmers hatte er sich ihm als Thomas Brandmann vorgestellt. Ohne Dienstgrad, ohne Funktionsbezeichnung. Und bis auf die gutturalen Grunzgeräusche, die er seitdem alle fünf Minuten aus seinem Kehlkopf presste, hatte er noch kein einziges Wort von sich gegeben. Stern wusste nicht, was er davon halten sollte. Anders als Engler, der seit über zwanzig Dienstjahren fast schon zum Inventar der Kripo zählte, hatte er diesen Hünen noch nie zuvor gesehen. Seine mangelnde Kommunikationsbereitschaft mochte bedeuten, dass er die Ermittlungen leitete. Oder das genaue Gegenteil.

»Wollen Sie auch?« Engler hielt eine Packung Aspirin in die Luft. »Sie sehen so aus, als ob Sie eine gebrauchen könnten.«

»Nein, danke.« Stern schüttelte den Kopf und griff sich an die schmerzende Beule, die auf seiner Stirn pochte. Nach dem Sturz im Keller dröhnte sein Schädel, und er ärgerte sich über die Tatsache, dass der Kommissar sogar jetzt, wo er mit geröteten Augen und laufender Nase vor ihm saß, einen vitaleren Gesamteindruck machte als er selbst. Sonnenbank und morgendliche Waldläufe erzielten eben eine andere Wirkung als lange Nächte vor dem Computer in der Kanzlei.

»Gut, dann fasse ich mal zusammen.«

Der Ermittler griff nach seinem Notizblock, und Stern konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als Brandmann sich schon wieder räusperte, obwohl er immer noch nichts zu sagen hatte.

»Sie fanden die Leiche heute Nachmittag, etwa gegen 17.30 Uhr. Ein Junge, Simon Sachs, hat Sie in Begleitung einer Krankenschwester, Carina Freitag, zu dem Fundort geführt. Besagter Simon ist zehn Jahre alt, an einem Hirntumor erkrankt und wird derzeit …«

Engler blätterte eine Seite um.

»… in der neurologischen Abteilung der Seehausklinik in Westend behandelt. Er behauptet, er selbst habe den Mann ermordet, und zwar in einem früheren Leben.«

»Vor fünfzehn Jahren, ja«, bestätigte Stern. »Wenn ich richtig mitzähle, habe ich Ihnen das jetzt schon zum achten Mal gesagt.«

»Ja, das haben Sie, aber …«

Engler unterbrach sich mitten im Satz und legte zu Sterns Verwunderung erneut den Kopf in den Nacken. Dann presste er beide Nasenflügel mit Daumen und Zeigefinger gegen die Scheidewand.

»Gar nicht beachten«, sprach er mit nasaler Stimme und klang jetzt wie eine Comicfigur. »Verdammtes Nasenbluten. Das bekomme ich immer, wenn ich erkältet bin.«

»Dann sollten Sie besser kein Aspirin mehr schlucken.«

»Macht das Blut flüssiger, ich weiß. Aber wo waren wir stehengeblieben?« Engler redete immer noch zur grauen Zimmerdecke hin. »Ach ja. Achtmal. Stimmt. So oft haben Sie mir diese wirre Geschichte jetzt aufgetischt. Und jedes Mal habe ich mich gefragt, ob ich bei Ihnen nicht einen Drogentest veranlassen sollte.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an. Wenn Sie noch mehr meiner Rechte verletzen wollen, gerne.« Stern drehte seine Handflächen einladend nach außen, als trüge er ein Tablett. »Ich hab zwar nicht mehr viel Spaß im Leben, aber Sie und Ihre gesamte Einrichtung zu verklagen wäre sicher eine amüsante Abwechslung.«

»Bitte regen Sie sich nicht auf, Herr Stern.«

Robert schrak zusammen.

Ein Wunder, dachte er. Der Zwei-Meter-Klops neben Engler kann ja doch sprechen.

»Sie stehen nicht unter Verdacht«, erklärte Brandmann.

Stern war sich nicht sicher, ob er da ein »noch« zwischen den Zeilen heraushörte.

»Nur damit hier keine Zweifel aufkommen.« Robert widerstand der Versuchung, sich ebenfalls zu räuspern. »Ich bin Anwalt, aber nicht bekloppt. Ich glaube nicht an Seelenwanderung, Reinkarnation und den ganzen Esoterikmist, und ich verplempere meine Freizeit auch nicht damit, Skelette auszubuddeln. Reden Sie mit dem Jungen, nicht mit mir.«

»Das werden wir, sobald er wieder aufgewacht ist«, nickte Brandmann.

Sie hatten Simon bewusstlos im Nebengang gefunden. Zum Glück war die Ohnmacht nicht so plötzlich gekommen wie der erste Anfall vor zwei Jahren. Damals, als der Tumor im Frontalhirn sich zum ersten Mal bemerkbar machte. Simon hatte sich am Lehrerpult die Stirn blutig geschlagen, als er auf seinem Weg zur Tafel mitten im Klassenzimmer zusammenbrach. Diesmal hatte er sich noch abstützen können, bevor er mit dem Rücken zur Wand in dem überschwemmten Kellergang sitzen blieb. Abgesehen davon, dass er in einen tiefen Schlaf versunken war, schien es ihm gutzugehen.

Carina hatte ihn so schnell wie möglich im Krankenwagen zur Klinik zurückgebracht, und daher war Stern der Einzige am Tatort gewesen, als Engler persönlich mit seinen Männern und dem Team der Spurensicherung erschien.

»Noch besser, Sie halten sich an den Therapeuten«, empfahl Stern weiter. »Wer weiß, was dieser Tiefensee Simon unter Hypnose alles eingeredet hat?«

»Hey, das ist eine gute Idee. Der Psychologe! Mann, da wär ich im Leben nie draufgekommen.«

Engler grinste zynisch. Sein Nasenbluten hatte aufgehört, und er sah Stern wieder direkt in die Augen.

»Sie sagen also, der Ermordete liegt dort jetzt schon seit fünfzehn Jahren?«

Stern stöhnte auf. »Nein. Nicht ich sage das, sondern Simon. Aber wahrscheinlich hat er damit sogar recht.«

»Warum?«

»Nun, ich bin zwar kein Pathologe, aber der Keller war feucht, und die Leiche befand sich in einem dunklen Holzverschlag, wo sie, wie in einem stabilen Sarg, keiner direkten Sauerstoffzufuhr ausgesetzt war. Trotzdem zeigte sie an einigen Körperstellen nahezu vollständige Verwesungserscheinungen. Leider auch an dem Kopf, den ich in meinen Händen halten durfte. Und das bedeutet …«

»… dass der Tote dort nicht erst gestern entsorgt wurde. Korrekt.«

Stern drehte sich erstaunt nach hinten um. Er hatte den Mann gar nicht eintreten hören, der jetzt gewollt lässig im Türrahmen lehnte. Mit seinen grau-schwarzen Haaren und der getönten Goldrandbrille sah Christian Hertzlich eher wie ein alternder Tennistrainer aus, und nicht wie der Kommissariatsleiter beim Landeskriminalamt. Stern fragte sich, wie lange Englers direkter Vorgesetzter schon ihrer hitzigen Auseinandersetzung gelauscht hatte.

»Dank unserer modernen Gerichtsmedizin werden wir sehr bald den genauen Todeszeitpunkt erfahren«, sagte Hertzlich. »Doch egal ob der fünf, fünfzehn oder vielleicht fünfzig Jahre zurückliegt …«, er kam einen Schritt näher, »… eines steht in jedem Falle fest: Simon kann’s nicht gewesen sein.«

»Das sehe ich genauso. War’s das?« Stern stand auf, schob entnervt den Ärmel seines Manschettenhemdes zurück und sah demonstrativ auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es war kurz vor halb elf.

»Selbstverständlich, Sie können gehen. Ich hab mit den beiden Herren ohnehin etwas viel Dringenderes zu besprechen.«

Hertzlich nahm einen zusammengerollten Papphefter in die Hand, der ihm bislang unter dem Arm geklemmt hatte, und präsentierte ihn seinen Beamten wie eine Trophäe.

»Es gibt eine neue, ganz erstaunliche Entwicklung.«

5.

Martin Engler wartete ab, bis der Anwalt die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann konnte er seine Wut nicht mehr zügeln und sprang so abrupt auf, dass sein Holzstuhl nach hinten umkippte.

»Was war das denn für eine Scheiße?«

Brandmann räusperte sich und schien tatsächlich etwas sagen zu wollen. Doch diesmal kam ihm Hertzlich zuvor, der den Hefter mit der Rückseite nach oben auf den Tisch legte.

»Wieso? Das lief doch ganz phantastisch.«

»Quatsch, so kann man kein Verhör führen«, schleuderte Engler seinem Vorgesetzten entgegen. »So einen Mist mache ich nie wieder.«

»Was regen Sie sich denn so auf?«

»Weil ich mich eben lächerlich gemacht habe. Auf diese ›Guter Cop – Böser Cop‹-Nummer fällt doch keine Sau mehr rein. Erst recht nicht einer vom Kaliber eines Robert Stern.«

Hertzlich sah nach unten auf seine ungeputzten Glattlederschuhe, deren Schnürsenkel hoffnungslos verknotet waren. Dann schüttelte er verwundert den Kopf.

»Ich dachte eigentlich, Sie hätten die Methodik kapiert, Engler.«

Die Methodik. Was für ein Schwachsinn. Engler schäumte vor Wut.

Seitdem Brandmann zu ihnen gestoßen war, verging keine Woche, in der er nicht mindestens an einem Seminar in psychologischer Verhandlungsführung teilnehmen musste. Das Riesenbaby war vor drei Wochen im Rahmen eines Schulungsprogramms vom BKA ausgeborgt worden, wo der Kommissar als psychologisch versierter Profiler arbeitete. Offiziell war er Englers Team nur als Berater zugeteilt, doch es sah ganz danach aus, als ob sein Status soeben zu dem eines Sonderermittlers aufgewertet worden war. Immerhin musste Engler ihn sogar während des Verhörs an seiner Seite dulden.

»Ich muss Hauptkommissar Hertzlich recht geben«, warf der Kriminalpsychologe freundlich in die angespannte Runde. »Eigentlich funktionierte alles wie im Lehrbuch.« Er räusperte sich. »Erst wurde Stern durch die lange Wartezeit nervös. Dann konnte er mich durch mein Schweigen keinem konkreten Lager zuordnen. Hier liegt übrigens der Unterschied zu der veralteten Verhörtaktik, wie Sie sie eben beschrieben haben, Herr Engler.«

Brandmann machte eine Kunstpause, und Martin fragte sich, warum der Typ ihn auch noch dämlich angrinsen musste, wenn er ihm schon diesen Vortrag hielt.

»Gerade weil ich nicht den ›guten Cop‹ spielte, schlug Sterns Nervosität in Verwirrung um, und er suchte einen Zugang zu Ihnen. Als er den nicht fand, wurde er schließlich wütend.«

»Okay, vielleicht hätte ich ihn ja am Ende auch noch zum Bellen gebracht, wenn wir es darauf angelegt hätten. Ich frag mich nur, wozu das Theater gut sein sollte?«

»Wer wütend ist, macht Fehler«, tönte Hertzlich, und Engler dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, wie unpassend manche Namen doch sein konnten. Auf dem gesamten Revier kannte er keinen, der vom Chef das »Du« auf der Weihnachtsfeier akzeptiert hätte.

»Außerdem brauchten wir die verschiedenen Emotionsschwankungen von Stern für die Auswertung seiner optischen Reflexanalyse.«

Optische Reflexanalyse. Eye-Tracking. Pupillometrie. Alles so ein neumodischer Mist. Seit einer Woche war der triste Verhörraum, in dem sie sich gerade angifteten, zu Testzwecken verkabelt worden. Eine von drei versteckten Kameras war auf die Augen der Verhörperson ausgerichtet. In der Theorie verriet sich ein Täter durch verstärktes Blinzeln, Kontraktionen der Iris und Veränderungen des Blickwinkels bei der Befragung. In der Praxis stimmte Engler dem zu, vertrat aber den Standpunkt, dass ein erfahrener Ermittler keinen technischen Firlefanz brauchte, um eine Lüge zu erkennen.

»Wir können nur beten, dass Stern nicht herausbekommt, dass wir ihn heimlich gefilmt haben.« Er deutete auf die Wand hinter sich. »Der Typ ist einer der fähigsten Anwälte der Stadt.«

»Und womöglich ein Mörder«, sagte Hertzlich.

»Das glauben Sie doch selbst nicht!« Engler schluckte und überlegte kurz, welche Notapotheke auf seinem Nachhauseweg lag. Er brauchte dringend ein örtliches Betäubungsmittel, das er sich in den Rachen sprühen konnte.

»Der Mann hat einen IQ höher als der Mount Everest. Der ist doch nicht so dämlich und führt uns zur Leiche eines Mannes, den er selbst erschlagen hat.«

»Könnte doch gerade deshalb ein cleverer Schachzug sein.« Der Kommissariatsleiter hob seine schwere Brille etwas an, um sich die Druckstellen zu reiben, die sie auf seinen glänzenden Nasenflügeln hinterlassen hatte. Engler konnte sich nicht erinnern, seinem Chef jemals direkt in die Augen gesehen zu haben. Im Revier liefen Wetten, dass er mit dem Ungetüm sogar ins Bett stieg.

»Möglicherweise ist er auch durchgedreht«, überlegte Hertzlich laut in Brandmanns Richtung. »Die Geschichte mit dem wiedergeborenen Jungen hört sich für mich jedenfalls nicht sehr gesund an.«

»Er wirkt seelisch labil«, stimmte der Psychologe zu.

Engler verdrehte die Augen. »Ich sag’s noch mal: Wir verschwenden unsere Zeit an den falschen Mann.«

Hertzlich drehte sich überrascht zu ihm um. »Ich dachte, Sie können ihn nicht leiden?«

»Ja, Stern ist ein Arschloch. Aber kein Mörder.«

»Und was sagt Ihnen das?«

»Dreiundzwanzig Jahre Erfahrung. Für so etwas habe ich eine Nase.«

»Nun, wir hören ja alle, wie gut sie heute funktioniert.«

Hertzlich lachte als Einziger über seinen Witz, und Engler musste Brandmann zugutehalten, dass er offenbar doch noch nicht völlig im Hintern des Kommissariatsleiters verschwunden war. Leider kam er nicht mehr dazu, zu begründen, warum er Robert Stern für unfähig hielt, einen Menschen mit der Axt zu erschlagen. Seine Nase lief plötzlich in Sturzbächen. Als der Zellstoff seines Taschentuches sich dunkelrot verfärbte, musste er den Kopf wieder in den Nacken legen.

»Ah, nicht schon wieder …«

Hertzlich musterte ihn argwöhnisch. »Ich dachte vorhin, das Nasenbluten gehört zur Show. Sind Sie überhaupt dazu in der Lage, die Ermittlung in diesem Fall zu leiten?«

»Ja, ist nur ein leichter Schnupfen. Kein Problem.«

Er riss zwei saubere Fetzen vom Taschentuch ab, rollte sie zusammen und verstöpselte sich mit ihnen beide Nasenlöcher.

»Geht schon wieder.«

»Gut, sehr gut. Dann trommeln Sie mal das Team zusammen und kommen Sie in zehn Minuten in mein Büro.«

Engler stöhnte innerlich und sah auf die Uhr. Es war Viertel vor elf. Abgesehen von seinem Gesundheitszustand, musste er dringend Charlie rauslassen. Die arme Hundeseele wartete jetzt schon seit über zehn Stunden alleine auf ihn in seiner kleinen Wohnung.

»Ziehen Sie nicht so eine Fresse, Engler. Es dauert nicht lange. Lesen Sie die Akte. Danach werden Sie verstehen, warum ich will, dass Sie an Stern dranbleiben und ihm die Hölle heißmachen.«

Engler nahm den Hefter von der Tischplatte.

»Wieso? Was steht denn drin?«, rief er Hertzlich hinterher, der gerade das Verhörzimmer verlassen wollte.

»Der Name eines alten Bekannten.«

Hertzlich drehte sich um.

»Wir wissen jetzt, wer der Tote ist.«

6.

Stern war durch die traurige Stimme auf seiner Mailbox abgelenkt, als er einen Tag später, kurz nach elf Uhr abends, den Flur seiner Villa betrat. Carina hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden mehrmals versucht, ihn zu erreichen, aber nur eine einzige Nachricht hinterlassen. In der Zwischenzeit war sie ebenfalls verhört und heute Morgen vom Klinikleiter bis auf weiteres beurlaubt worden.

»Simon geht es gut. Er fragt nach dir. Aber ich fürchte, jetzt hast du schon zwei Mandanten, die einen Anwalt brauchen«, versuchte sie müde zu scherzen. »Können die mich wirklich wegen Kindesentführung drankriegen, weil ich Simon aus dem Krankenhaus gebracht habe?« Carina lachte nervös, bevor sie auflegte.

Stern drückte zweimal die Sieben und löschte so die Nachricht. Er würde sie morgen, am Samstag, zurückrufen. Wenn überhaupt, denn eigentlich wollte er mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben. Er hatte schon genug eigene Probleme am Hals.

Ohne sich seinen Mantel auszuziehen, ging er mit der Post unterm Arm ins Wohnzimmer. Als er hier für einen kurzen Moment das Deckenlicht anknipste, blickte er in einen Raum, der so aussah, als wäre eine organisierte Diebesbande mit einem Laster vorgefahren und hätte alle kostbaren Möbel und Wertgegenstände abtransportiert. Stern verharrte einen Augenblick bewegungslos, dann löschte er das unbequeme Licht, das ihn an das karge Zimmer erinnerte, in dem er gestern von Engler und Brandmann verhört worden war. Der Anblick seines verwahrlosten Zuhauses war etwas, das er nach all den Ereignissen der Woche nun besser im Halbdunkel ertragen konnte.

Sterns Schritte auf dem Kirschholzparkett hallten von den bilderlosen Wänden wider. Auf seinem Weg zur Couch kam er an einem umgekippten Gartenstuhl und einer vertrockneten Zimmerpflanze vorbei. Weder Regale noch Vorhänge, Schränke oder Teppiche waren vorhanden. Nur eine schirmlose silbergraue Stehlampe stand schief neben dem Sofa. Selbst angeschaltet hätte sie die hallenartigen Ausmaße des Wohnzimmers nicht ausleuchten können, da ihr drei von vier Glühbirnen fehlten. Als eigentliche Lichtquelle fungierte daher meistens der altersschwache Röhrenfernseher, der zwei Meter entfernt vor dem leeren Kamin direkt auf dem Boden stand.

Stern setzte sich auf die Couch, griff zur Fernbedienung und schloss die Augen, als weißes Rauschen den Bildschirm ausfüllte.

Zehn Jahre, dachte er und ließ seine Hand über die leere Fläche neben sich gleiten. Er streichelte das aufgerauhte Leder, tastete nach dem Brandfleck, den die Wunderkerze hinterlassen hatte, die Sophie bei einer Silvesterfeier vor Lachen aus der Hand gefallen war. Vor zehn Jahren. Damals waren ihre Tage seit zwei Wochen überfällig gewesen.

Im Gegensatz zu ihm hatte Sophie es nach dem Tod von Felix geschafft, vor sich selbst zu fliehen. Als Versteck hatte sie sich eine zweite Ehe ausgesucht. Immerhin waren bislang zwei Kinder aus ihr hervorgegangen – Zwillinge. Die Mädchen waren sicherlich der einzige Grund, warum Sophie nicht in ihren Depressionen ertrunken war.

So wie ich.

Stern zerschnitt das Band der Erinnerung, indem er die Augen wieder öffnete. Dann zog er den Korken aus dem Hals der halbleeren Weinflasche, die schon seit Tagen auf dem Boden stand. Der Geschmack war scheußlich, aber das Getränk erfüllte seinen Zweck. Da er nie Gäste erwartete, gab es sowieso nichts anderes im Kühlschrank – und selbst wenn einer seiner Kollegen sich unangemeldet hier zu ihm verirren sollte, was bislang noch nie vorgekommen war, würde er ihn nicht hereinlassen.

Nicht ohne Grund beauftragte er jedes Jahr eine Sicherheitsfirma damit, alle Fenster und Türen mit den neuesten Entwicklungen im Einbruchsschutz auszurüsten. Dabei war er sich sehr wohl bewusst, dass die Mechaniker ihn für einen Spinner halten mussten. Denn im gesamten Gebäude befand sich nichts von Wert.

Doch Stern hatte keine Angst vor Einbrechern. Er hatte Angst vor Entdeckern. Menschen, die hinter seine sorgfältig aufgebaute Fassade aus teuren Anzügen, hochglanzpolierten Dienstwagen und aufgeräumten Eckbüros mit Aussicht auf das Brandenburger Tor blickten, um dort die leeren Seelenräume des Robert Stern zu erkennen.

Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und verschüttete dabei ungeschickt etwas Rotwein, der sich auf seinem weißen Oberhemd ausbreitete. Als er müde an sich heruntersah, schoss ihm dabei unwillkürlich wieder die Erinnerung an das Feuermal durch den Kopf: Sophie hatte es als Erste entdeckt, als sie Felix in den Armen hielt, frisch gebadet und ohne die wärmende Decke, in die der Säugling unmittelbar nach der Geburt gewickelt worden war. Zuerst waren sie besorgt gewesen, es könnte sich um eine bösartige Hautveränderung auf seiner Schulter handeln, doch die Ärzte hatten sie beruhigt. »Es sieht aus wie die Karte von Italien«, hatte Sophie noch gelacht, als sie ihn mit Babyöl einrieben. Danach beschlossen sie feierlich, ihren ersten Familienurlaub in Venedig zu erleben. Am Ende waren sie nur bis zum Waldfriedhof gekommen.

Stern stellte die Weinflasche ab und ging seine Post durch. Zwei Werbebriefe, ein Strafzettel und der wöchentliche Kontoauszug seiner Bank. Das Persönlichste darunter war die neueste DVD seines Internetverleihs. Seitdem man sich Filme per Post zuschicken lassen konnte, ging er am Wochenende noch nicht einmal mehr in die Videothek. Er öffnete den kleinen Pappumschlag, ohne dabei auf den Titel des Filmes zu achten. Vermutlich kannte er den Streifen bereits. Stern bestellte sich grundsätzlich nur Filme, in denen möglichst keine Kinder und wenig Liebesszenen vorkamen, und da war die Auswahl nicht besonders groß.

Nachdem er die DVD eingelegt hatte, zog er sich sein Jackett aus und warf es achtlos zu Boden, bevor er sich wieder in die Polster zurückfallen ließ. Er war hundemüde und würde sowieso nur die ersten Minuten überstehen, bevor er, wie so oft am Wochenende, auf dem Sofa einschlief. Glücklicherweise gab es niemanden, der ihn am nächsten Morgen hier finden würde. Keine Familie. Keine Freunde. Nicht mal eine Haushälterin.

Der Anwalt drückte auf »Play« und erwartete einen dieser lächerlichen Warnfilme, die man nicht vorspulen konnte und in denen mit Gefängnis gedroht wurde, falls man den nachfolgenden Film illegal kopierte.

Stattdessen ruckelte das Bild mehrmals wie bei einem schlecht ausgeleuchteten Urlaubsvideo. Stern runzelte die Stirn und setzte sich auf. Plötzlich erkannte er die gefilmte Umgebung, und diese Tatsache riss ihn vollends aus seinem Halbschlaf. Von einer Sekunde auf die andere verschwand alles um ihn herum aus seinem Wahrnehmungsfeld. Er spürte weder die Weinflasche, die ihm aus den Händen glitt, noch ihren blutroten Inhalt, der sich nun vollends über sein weißes Hemd ergoss. Alle äußeren Reize waren mit einem Schlag ausgeblendet, und es gab nur noch ihn und den Fernseher. Und selbst der hatte sich verwandelt. Stern glaubte nicht mehr auf eine Mattscheibe zu sehen, sondern durch ein staubiges Fenster, hinter dem sich ein Raum erstreckte, den er in seinem Leben niemals wieder hatte betreten wollen. Als die Kamera näher heranzoomte, befürchtete er, seinen Verstand verloren zu haben. Nur einen Wimpernschlag später war er sich dessen sicher.

7.

Das grünstichige Bild der Säuglingsstation fror ein, als die verzerrte Stimme ihren ersten Satz sagte:

»Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Herr Stern?«

Die Worte kamen metallisch verändert aus den Lautsprechern und waren dennoch von einer derart unheimlichen Präsenz, dass Robert kurz versucht war, sich umzudrehen, um herauszufinden, ob ihre Quelle in Fleisch und Blut direkt hinter ihm stand.

Nach einer Schrecksekunde rutschte er vom Sofa und kroch auf den Knien langsam zum Fernseher. Ungläubig berührte er die elektrostatisch aufgeladene Glasoberfläche und tastete den digitalen Schriftzug der Datumsanzeige ab, als handelte es sich um Blindenschrift.

Aber selbst ohne diesen Hinweis gab es für ihn keinen Zweifel, wann und wo das Band aufgenommen worden war: vor zehn Jahren, in dem Krankenhaus, in dem Felix die Welt mit roten Wangen begrüßt und nur achtundvierzig Stunden später mit erkalteten blauen Lippen wieder verlassen hatte. Tot.

Sterns Finger tasteten sich zur Bildschirmmitte, wo sein neugeborener kleiner Junge in einer Plexiglaswanne lag, die zwischen zahlreichen anderen Babybetten stand. Und Felix lebte! Er bewegte die zerbrechlichen Ärmchen, als wolle er das Wolkenmobile berühren, das Sophie und Robert schon lange vor der Geburt aus Wattebällchen für ihn gebastelt und an das Metallgestell des Bettes gehängt hatten.

»Glauben Sie an Seelenwanderung? An Reinkarnation?«

Robert zuckte vor dem Fernseher zurück, als hätte der Geist seines Sohnes persönlich zu ihm gesprochen. Das unscharfe Bild des Kindes in dem lichtblauen Babyschlafsack nahm seine Sinne so sehr in Anspruch, dass er darüber die blechern hallende Stimme fast vergessen hatte.