Das Kind verstehen - Silvana Quattrocchi Montanaro - E-Book

Das Kind verstehen E-Book

Silvana Quattrocchi Montanaro

4,6

Beschreibung

Die italienische Ärztin Dr. Silvana Montanaro bringt auf anschauliche und verständliche Weise die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen vor, während und nach der Geburt des Kindes nahe. Dabei zeigt sie deutlich auf, worauf es jeweils aus der Sicht der Montessori-Pädagogik besonders ankommt: Es geht es in diesem Handbuch um zentrale Themen wie Bindung und Urvertrauen, Stillen und Schnuller, die Anregung der Sprach- und Bewegungsentwicklung.

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Silvana Quattrocchi Montanaro

Das Kindverstehen

Entwicklung und Erziehungvon 0–3 Jahren nach Maria Montessori

Übersetzt vonMarkus Bennemann

Impressum

Titel der italienischen Originalausgabe: Un Essere Umano, erschienen bei der Cooperativa

Editrice IL VENTAGLIO, Rom 1987

Alle Rechte vorbehalten.

© Silvana Quattrochi Montanaro

Titel der englischen Ausgabe: Understanding the Human Being, erschienen bei Nienhuis Montessori, Mountain View (Kalifornien) 1991. Die vorliegende Übersetzung folgt der im Jahr 2000 erschienenen vierten Auflage der englischen Edition.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Berres & Stenzel, Freiburg

Umschlagfoto: © Eva Steiner Fotografie

Fotos im Innenteil: © Andrea Donath,

außer: 29, 59 (Emi Yuda); 37, 43 (Hitoe Isobe); 110, 113 (Seiichiro Takahashi)

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80122-8

ISBN (Buch) 978-3-451-32793-3

Inhalt

Geleitwort

Vorwort der Autorin

Teil I: Erziehung als »Hilfe zum Leben«

1 Vor der Geburt

Einleitung

Die Entwicklung des Nervensystems

Die vielfältigen Sinneswahrnehmungen im Mutterleib

Die Selbstwahrnehmung des Kindes

Die Mutter-Kind-Beziehung während der Schwangerschaft

Die verschiedenen Bewusstseinszustände des Embryos

Die Vorbereitung auf die Geburt

2 Die Geburt: Trennung und Bindung

Ein Erfahrungskontinuum: Ein anderer Ort, derselbe Mensch

Die Bezugspunkte des Neugeborenen

Trennung und Bindung

Das Konzept der »äußeren Schwangerschaft«

Warum das Neugeborene so hilflos ist

Die grundlegenden Bedürfnisse des Neugeborenen

3 Das symbiotische Leben der ersten sechs bis acht Wochen

Die Bedeutung des symbiotischen Lebens und seine Vorteile

Der biologische Sinn der Nahrung

Die emotionale Bedeutung der Nahrung

Die Weisheit des Lebens

Grundvertrauen

4 Die Präsenz des Vaters

Was ist ein »Vater«?

Warum zwei Elternteile besser sind als einer

Der Vater während der Schwangerschaft

Der Vater bei der Geburt

Ein »Schutzwall« für das symbiotische Leben

Wie der Vater Autonomie und Eigenständigkeit fördert

Teil II: Alles, was wir mit dem Kind tun, ist »Erziehung«

5 Die Bedeutung der mütterlichen Fürsorge

Was ist mütterliche Fürsorge?

Auf dem Arm gestillt werden und Vertrautheit erfahren

Säuglingspflege als Fürsorge und soziale Interaktion

Interne psychosomatische Geschlossenheit

6 Kommunikation mit dem Kind

Einleitung

Nonverbale Kommunikation mit dem Neugeborenen

Die besondere Kommunikation zwischen Mutter und Kind

Kommunikation und Wissen

7 Das Potenzial des Gehirns und der absorbierende Geist

Wunderwerk Gehirn

Die menschliche »Hardware«

Die beiden Gehirnhälften

Der absorbierende Geist

Die verschiedenen Komponenten des menschlichen Geistes

8 Abstillen

Nahrung und Selbstständigkeit

Eine neue Beziehung zur Umwelt

Wie man das Abstillen vorbereitet

Gemischte und künstliche Nahrung

Teil III: Die ganzheitliche Entwicklung des Menschen

9 Die motorische Entwicklung

Einleitung

Die verschiedenen Stufen der Bewegungsfähigkeit

Eine bewegungsfreundliche Umgebung

Bewegung und Wissen

Warum geeignete Kleidung für Bewegung so wichtig ist

10 Die Entwicklung des Sprachvermögens

Das Rätsel der gesprochenen Sprache

Die Stufen der sprachlichen Entwicklung

Mehrsprachige Erziehung

11 Die Entwicklungskrisen der ersten drei Jahre

Einleitung

Die Krise der Geburt

Die Krise des Abstillens

Die Krise des Ungehorsams

12 Kindererziehung und die Zukunft der Menschheit

Fazit

Literatur

Geleitwort

Hilfe zum Leben

Das Thema Frühpädagogik ist hoch aktuell. Nachdem in den letzten Jahren viele neue Kindertagesstätten-Plätze (Kita-Plätze) geschaffen worden sind, fehlt es jedoch häufig an speziell ausgebildetem Personal und an guten pädagogischen Konzepten.

Das nimmt die Deutsche Montessori-Gesellschaft (DMG) zum Anlass, um mit einem Schwerpunkt die Altersphase der Kinder von 0–3 Jahren in den Blick zu rücken. 2012 wurde in diesem Zusammenhang bereits das Buch der international bekannten amerikanischen Autorinnen Paula Polk Lillard und Lynn Lillard Jessen ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel Montessori von Anfang an im Verlag Herder herausgegeben.

Hier folgt nun ein weiteres wichtiges Buch zum Thema, das international bereits ein Standardwerk ist. Die Autorin Silvana Quattrocchi Montanaro ist Ärztin mit dem fachlichen Schwerpunkt Psychiatrie. Sie hat über Jahrzehnte in den internationalen Ausbildungskursen für ›Assistants to Infancy‹ mitgearbeitet und dort vor allem Neuropsychiatrie, Hygiene und Ernährung gelehrt. Montanaro war lange Zeit gleichsam der geistige Mittelpunkt der Frühpädagogik, wie Maria Montessori sie konzipiert und in Ansätzen für die Praxis vorbereitet hatte. Das Buch wurde erstmals 1987 in italienischer Sprache unter dem Titel Un Essere Umano publiziert, später als Comprendere i bambini. Im Jahr 1991 erschien eine englische Ausgabe des Werkes mit dem Titel Understanding the Human Being. Es geht also darum, das menschliche Sein und Wesen zu verstehen, und dafür haben nach der Kenntnis und den Erfahrungen der Autorin die ersten drei Lebensjahre eine zentrale Bedeutung. Das Verstehen des sehr jungen Kindes steht im Mittelpunkt, und zwar nicht zuletzt aus ärztlicher Sicht. Die deutsche Übersetzung erfolgte mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin auf der Grundlage der englischen Fassung des Buches. – Wie schon erwähnt, erschien dieses Buch zuerst 1987. Von daher ist es verständlich, dass im Text noch Spuren jener Zeit zu finden sind. Die Autorin hat das Buch aber mehrfach umgearbeitet, sodass in die meisten Kapitel aktuelle Erkenntnisse eingearbeitet wurden.

Der Text ist deutlich appellativ geschrieben. Es geht der Verfasserin mit großem Ernst darum, dass besonders die Eltern sowie alle, die mit jungen Kindern zu tun haben, verständnisvoll und mit dem erforderlichen Wissen mit ihnen umgehen. Damit argumentiert sie ganz im Sinne Maria Montessoris, dass die Erziehung eine »Hilfe zum Leben« sein solle.

Das Buch beginnt mit einer ausführlichen und ungewöhnlich differenzierten Darstellung der Entwicklung des vorgeburtlichen Lebens des Kindes; dabei erfährt hier wie auch später die Gehirnentwicklung besondere Aufmerksamkeit. Nach dem für alle Beteiligten ebenso großartigen wie einschneidenden Ereignis der Geburt folgt während der ersten 6–8Wochen eine Phase, die Montanaro – wie zuvor schon Montessori – sehr einleuchtend als die eines ›symbiotischen Lebens‹ zwischen Kind und Mutter bezeichnet und beschreibt. Worüber selten geredet wird, findet sich hier in einem ausführlichen Kapitel: die Rolle und die Bedeutung des Vaters in der Beziehung zu Kind und Mutter.

Besonders wichtig dürfte das Kapitel über die »Kommunikation mit dem Kind« sein und danach das über das Potenzial des Gehirns und den »absorbierenden Geist«.

Sehr aufschlussreich ist unter anderem das zweite Kapitel, in dem die Autorin die psychologisch so bedeutsamen Erfahrungen von Trennung und Bindung erörtert, wobei explizit dargestellt wird, wie in der frühkindlichen Entwicklung Trennungen und neue Bindungen einander ablösen, wodurch der Fortschritt der Entwicklung gefördert wird. Dies zu erkennen ist Montanaro ein besonders wichtiges Anliegen.

»Kinder sind wunderbare Wesen« schreibt Silvana Montanaro in der Widmung ihres Buches. Sie widmet das Buch den Eltern und allen Erwachsenen, die mit Kindern leben und bemüht sind, der Entwicklung dieser einmaligen, sensiblen jungen Menschen keine Hindernisse in den Weg zu legen.

Für den Vorstand der Deutschen Montessori-Gesellschaft e. V.

Ela Eckert

»Lasst uns an einem Strang ziehen und mit einem Lied auf den Lippen gemeinsam auf das eine große Ziel hinarbeiten: Bedingungen zu schaffen, in denen unsere Kinder zu jener Art von Menschen heranwachsen können, die sie in den Augen Gottes sein sollen.«

Mario Montessori (1898–1982)

Widmung

Ich möchte dieses Buch allen Eltern widmen, weil sie bei jedem Menschen die ersten Erzieher sind, ebenso wie allen »Assistants to Infancy« und Grundschullehrern. Je nach der Umgebung, die sie einem Kind bieten, steht es in ihrer Macht, sein Potenzial zu fördern oder dieses Potenzial in falsche Bahnen zu lenken und zu begrenzen.

Kinder sind wunderbare menschliche Wesen. Ihr Leben als Eltern oder Erzieher zu teilen bietet uns die wertvolle Chance, unser eigenes Dasein zu bereichern und zugleich das Leben dort zu fördern, wo es seinen Anfang nimmt.

Bei der Einweihung des ersten Kinderhauses, die am 6. Januar 1907 in Rom stattfand, also am Dreikönigstag, zitierte Maria Montessori den biblischen Propheten Jesaja, der im 60. Kapitel seines Buches vom Zug der Könige zum neugeborenen Heiland spricht: »Auf, werde licht, denn es kommt dein Licht …« (Jes 60,1). Sie empfand die Worte als gutes Omen für das Werk, mit dem sie gerade begonnen hatte.

S.Q.M.

Danksagung

Meinen tiefsten Dank möchte ich Karen und Edward Voorhees aussprechen, die mir bei der Bearbeitung des englischen Manuskripts mit Rat und Tat zur Seite standen. Ohne ihre Mitarbeit, Geduld und Unterstützung wäre die englische Ausgabe des Buches nicht zustande gekommen.

S.Q.M.

Rom, November 1990

Vorwort der Autorin

Warum eine genaue Kenntnis des Kindes so wichtig ist

In der 1948 erschienenen Auflage ihres Buches The Discovery of the Child (Die Entdeckung des Kindes) nannte Maria Montessori das Kind ein unbekanntes Wesen, und mit dieser Einschätzung hatte sie sicherlich nicht unrecht. Selbst heute, nach so vielen Jahren der Psychoanalyse, Psychologie, Psychiatrie und Kindermedizin, sind all diese Disziplinen noch nicht zu einer einzigen verschmolzen worden, und es ist ihnen nach wie vor nicht gelungen, auf die Erziehung des Menschen nennenswert Einfluss zu nehmen. Das Kind ist weiterhin ein Rätsel, besonders in seinen ersten drei Lebensjahren, obwohl uns nur allzu bewusst ist, dass gerade in diese Zeit die wichtigsten Phasen seiner persönlichen Entwicklung fallen. In genau dieser Zeit liegt die Erziehung des Kindes hauptsächlich in den Händen der Eltern (beziehungsweise anderer zur Familie gehöriger Erwachsener) oder wird, wenn beide Eltern berufstätig sind, von speziellen Institutionen übernommen, deren Mitarbeiter oft nur unzulänglich für ihre wichtige Aufgabe ausgebildet sind.

Die Familie eines Kindes ist gewiss derjenige Faktor, der den größten Einfluss darauf hat, ob es sich positiv entwickelt. Allen Eltern sollte deshalb bewusst sein, dass sie den Schlüssel dazu in der Hand halten, ob ihr Kind zu einem glücklichen, ausgeglichenen und widerstandsfähigen Menschen heranwächst oder nicht. Um das reiche Potenzial eines jeden Kindes auszuschöpfen, ist kompetente Hilfe nötig. Maria Montessori nannte die Aufgabe, dem Kind bei seiner Entwicklung zu helfen, eine »Mission, die das Kind zwingt, zu wachsen und ein vollständiges menschliches Wesen zu werden, sich selbst zu verwirklichen. Aus diesem Grund kann das Kind auch wahrhaftig als der Vater des Erwachsenen gelten.«

Es ist wichtig zu verstehen, dass wir bei der Geburt erst am Anfang der wichtigen Aufgabe stehen, Menschen aus uns zu formen, doch am nötigen Potenzial dafür fehlt es uns nicht. So sagt Erich Fromm: »Das gesamte Leben eines Individuums ist nichts anderes als ein Prozess des sich ständig selbst neu Gebärens: Voll und ganz geboren sind wir im Grunde erst, wenn wir sterben.« Doch wenn es auch zutreffen mag, dass wir für dieses Werk der Selbsterziehung eine ganze Lebensspanne benötigen, so ist die Erziehung im frühen Kindesalter doch besonders wichtig. Die ersten Jahre des Lebens sind im wörtlichen Sinne als das Fundament zu verstehen, auf dem die Persönlichkeit wie ein Gebäude errichtet wird. Wollen wir beim Errichten dieses Gebäudes auf sinnvolle Art helfen, sind allein Fleiß und guter Wille nicht genug; wir brauchen auch das nötige Wissen. Nur wenn wir unsere Liebe zum Kind mit den Erkenntnissen der Wissenschaft verbinden, können wir eine »neue Erziehung« erschaffen, welche die Entwicklung des Menschen zu fördern vermag und ihn angemessen auf unsere Welt vorbereitet. Diese Welt steckt voller großartiger technischer Errungenschaften, die der Menschheit zu echtem Fortschritt und wahrem Frieden verhelfen könnten, wenn sie nur auf die richtige Weise genutzt würden. Indem wir unsere Kinder auf sinnvolle Art unterstützen, können wir zu diesem Fortschritt beitragen. Für Maria Montessori bedeutete Erziehung, »Hilfe zum Leben« zu geben. Doch um darin erfolgreich zu sein, müssen sich Pädagogen sowohl über die Bedeutung als auch über die Grenzen ihrer Rolle im Klaren sein.

Ziel dieses Buches ist, ein besseres Verständnis für das Kind zu vermitteln, von der pränatalen Phase bis zum Alter von drei Jahren, damit wir ihm gleich vom Anfang seines Lebens an die richtige Unterstützung bieten können. Bei meinen Ausführungen werde ich mich sowohl auf die jüngsten Erkenntnisse der Wissenschaft als auch auf die reiche Erfahrung beziehen, die ich selbst im Umgang mit Eltern und Kindern habe. Unsere Kinder besser zu verstehen hilft uns, auch uns selbst und unsere Umwelt besser zu verstehen. Darum dürfen wir bei unseren Überlegungen den allgemeinen Bezugsrahmen nicht aus den Augen verlieren, der für unser Dasein gilt, nämlich das Projekt Leben. Das große Potenzial, das jeder Mensch in sich birgt, kann sich nur im Zusammenspiel mit seiner Umwelt entfalten und nur mithilfe dieser Umwelt. Ein wichtiger Teil unserer Umwelt besteht jedoch immer auch aus anderen Menschen, denn nur sie können diese Umwelt so gestalten, dass das Leben sich darin gut entwickelt.

Meiner tiefen Überzeugung nach beginnt jeder persönliche Veränderungsprozess damit, dass man neues Wissen in sich aufnimmt – das man dann für sich akzeptiert, seinem bisherigen Wissen hinzufügt und versteht. Dieses neue Wissen löst einen inneren Veränderungsprozess aus, der dann wiederum zu einer Änderung des Verhaltens führt. Mithilfe der Erziehung solche durch neues Wissen ausgelösten Veränderungen herbeizuführen bedeutet, einem Menschen echte Lebenshilfe zu bieten. Bei einer Vorlesung, die sie im Jahre 1931 in Rom gehalten hat, sagte Maria Montessori: »Um das Kind zu verstehen und es richtig erziehen zu können, müssen wir erst das Leben verstehen.«

Einen Menschen zu erziehen beinhaltet jedoch immer auch, eine zwischenmenschliche Beziehung zu ihm einzugehen. Unsere Beziehungen zu Kindern bieten uns die besondere Möglichkeit, uns selbst zu vervollkommnen und unsere Wahrnehmung der Realität zu erweitern. Sie bieten uns die Chance, an unsere Grenzen zu gehen und intensiver am Leben teilzuhaben.

Mit seinem enormen körperlichen und geistigen Potenzial kommt das Kind einem Wunder gleich, auch wenn wir das erst im Laufe der letzten Jahrzehnte wirklich verstanden haben. Es wäre gut, wenn wir unsere neue Sicht auf das Kind an möglichst viele Eltern, Erzieher und andere an Kindern interessierte Menschen weitergeben könnten, denn eine Erziehung, die ganz am Anfang des Lebens ansetzt, könnte für große Veränderungen in der Gesellschaft sorgen. Gleichzeitig sollten wir als Erzieher jedoch nicht vergessen, dass die Entfaltung des menschlichen Potenzials nicht ausschließlich in unserer Hand liegt. Wir können bei der Förderung dieses Potenzials nur eine »dienende« Rolle übernehmen, da seine Entfaltung sich in einer Umwelt abspielt, in der das richtige Funktionieren eines jeden Menschen von bestimmten Gesetzen abhängt und jede Entwicklung mit jener der ganzen Welt und des gesamten Universums in Einklang stehen muss.

Das Hauptziel jeder Erziehung muss sein, dem Menschen zu einem besseren Selbstverständnis zu verhelfen und ihm Wege zum inneren Wachstum und zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten aufzuzeigen, und zwar zu seinem eigenen Nutzen wie auch zu dem seiner Mitmenschen. In diesem Zusammenhang sind folgende grundsätzlichen Punkte wichtig:

Jeder Mensch kommt mit einem enormen inneren Potenzial zur Welt.

Jeder Mensch verfügt über großartige Mechanismen der Selbstregulierung, deren Arbeit wir oft behindern, indem wir unnötig in grundlegende Prozesse eingreifen.

Jeder Mensch, der mit Kindern zu tun hat, ist wichtig und kann als »Erzieher« tätig werden, da er – das richtige Wissen vorausgesetzt – die Entwicklung des Kindes zu fördern vermag.

Die Phase von 0–3 Jahren ist diejenige, in der Körper und Geist zu einer harmonischen Balance finden müssen, da das gesamte spätere Leben von dieser ersten Entwicklungsphase abhängt.

Eine Erziehung, die sich als »Hilfe zum Leben« versteht, muss immer im Einklang mit unserer Vergangenheit stehen und gleichzeitig auf die Zukunft ausgerichtet sein. Wir sind Teil eines riesigen Experiments namens Evolution, das nunmehr schon seit mehr als vier Milliarden Jahren läuft. Diese gesamte Entwicklungsgeschichte wiederholt sich in der Entwicklung jedes einzelnen Menschen; die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese.

In diesem Buch werde ich mich mit den verschiedenen Stufen der menschlichen Entwicklung beschäftigen und mithilfe von Erkenntnissen aus sämtlichen Bereichen der Humanwissenschaften versuchen, die Bedeutung dieser Stufen zu ergründen. Die Forschung hat uns gelehrt, dass der Lebensenergie eines Menschen zwar kein vollständiger Einhalt geboten werden kann, sie jedoch manchmal vom rechten Weg abgelenkt wird, wodurch es dann zu körperlichen und seelischen Erkrankungen kommt. Um solche negativen Auswirkungen zu verhindern, brauchen wir ein möglichst genaues Wissen über das von uns zu erziehende Kind und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten. Mehr über das Kind zu wissen sollte zum Hauptziel unserer Bestrebungen und zur Grundlage einer neuen Form der Erziehung werden, die dem Menschen hilft, in emotionaler, geistiger und moralischer Hinsicht eine möglichst vollständige Persönlichkeit zu werden. Durch eine große Liebe zum Leben und ein besseres Verständnis des Kindes können wir jene auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauende Form der Erziehung erreichen, die Maria Montessori am Anfang des vergangenen Jahrhunderts begründete und von der die moderne Forschung zunehmend bestätigt, dass sie sich für eine vollständige Selbstverwirklichung des Menschen am besten eignet.

1 Vor der Geburt1

Einleitung

Um ein besseres Verständnis des Menschen zu gewinnen, hat die Forschung seine Entwicklung immer weiter bis in seine frühen Lebensphasen zurückverfolgt. Dank technischer Fortschritte ist es heute möglich, sich sogar ein Bild von jener Phase des Lebens zu machen, die sich verborgen im Mutterleib abspielt, und das hat zu vielen interessanten neuen Erkenntnissen geführt. Inzwischen ist es gang und gäbe, diese Phase als eine der wichtigsten in der menschlichen Entwicklung zu betrachten: Was in ihrem Verlauf geschieht, kann sowohl kurzfristig als auch langfristig wichtige Folgen für unser Leben haben.2 Empfängnis und Schwangerschaft bilden sozusagen das erste Kapitel unserer persönlichen Lebensgeschichte, ein Kapitel, das ungefähr 280 Tage dauert und sich in einer Umwelt abspielt, die sich komplett von der Umwelt nach der Geburt unterscheidet. Doch selbst diese spezielle Umwelt bietet viele Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Interaktion, und bereits hier kann eine Pädagogik, die als »Hilfe zum Leben« verstanden wird, sinnvoll ansetzen. Menschen sind von Anfang an dynamische Wesen, die aktiv nach jeder Art von Stimulation suchen, die ihnen bei ihrem körperlichen und seelischen Wachstum helfen kann.

In ihrem Buch The World of the Unborn Child betont Leni Schwartz, wie wichtig die Erfahrungen sind, die das Kind im Mutterleib macht, und zeigt, dass sie das gesamte spätere Leben beeinflussen können. Deshalb sollten wir uns unbedingt vor dem Irrglauben hüten, dass die Zeit vor der Geburt eine ereignislose Zeit sei, in der das Kind in vollkommener Sicherheit lebe, und dass die Probleme erst nach der Geburt anfingen. Wie jede andere Lebensphase kann auch diejenige im Mutterleib von vielen positiven und negativen Faktoren beeinflusst werden. Sobald uns die Schwangerschaft auffällt, ist das neue menschliche Wesen im Bauch der Mutter bereits viele Tage alt. Diese »Person« hat bereits eine drei bis fünf Tage dauernde Reise durch den Eileiter zur Gebärmutter hinter sich. Während der Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut hat sie ein ausgeklügeltes System der aktiven Kommunikation ausgebildet, und zwar zur Mutter. Dieses neue menschliche Wesen hat bereits ein kleines Herz, das seinen Blutkreislauf in Gang hält und es so über das Blut der Mutter mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Die erste Phase der Schwangerschaft dauert mehrere Wochen und wird manchmal als »zygotische Phase« bezeichnet. Anschließend fängt die Embryonalphase an, während der innerhalb kurzer Zeit sämtliche Körperteile ausgebildet werden: Um diese beachtliche Aufgabe zu vollenden, braucht der Embryo gerade mal acht bis zehn Wochen! Dieser gewaltige Sprung in der körperlichen Entwicklung geht mit enormen Fortschritten in der geistigen Entwicklung einher. Ein besonders erstaunliches Phänomen ist dabei sicherlich die Ausbildung des Erinnerungsvermögens, welches bereits ab dem Moment der Empfängnis vorhanden ist und sich mit zunehmender Ausbildung des Nervensystems verbessert und fortentwickelt.

Dass es während der pränatalen Phase zu »geistiger Aktivität« kommt, mag uns etwas verwunderlich erscheinen. Zu sagen, was diese »geistige Aktivität« genau beinhaltet, ist auch nicht ganz leicht. Allgemein jedoch können wir »geistige Aktivität« als jedwede (egal wie komplexe) Fähigkeit definieren, Informationen aufzunehmen, Antworten zu geben, Erfahrungen zu sammeln und in angemessener Weise auf diese Erfahrungen zu reagieren. Dabei sollte uns klar sein, dass dazu alle Lebewesen in der Lage sind; allein in der Quantität und Qualität der geistigen Aktivität gibt es Unterschiede. Zum Beispiel ist weithin bekannt, dass einzellige Organismen die Fähigkeit besitzen, Informationen aus ihrer Umwelt aufzunehmen und diese an ihre Tochterzellen weiterzugeben! Pflanzen wiederum sind in der Lage, Menschen aus ihrem Umfeld zu erkennen, und haben eine besondere Vorliebe für klassische Musik (auf Rockmusik reagieren sie mit Stress!).

Schon alltägliche biologische Phänomene wie Immunabwehr und Wundheilung zeigen, wie viel intelligente psychische Aktivität jeder einzelnen Zelle innewohnt. Den Forschern fällt es immer schwerer, Körper und Psyche voneinander abzugrenzen. Zur Klärung dieses Problems ist es bei Menschen nützlich, zwischen Psyche und Bewusstsein zu unterscheiden. Nur ein sehr kleiner Teil der geistigen Arbeit wird bewusst verrichtet; der überwiegende Teil spielt sich allein auf psychischer Ebene ab und findet Ausdruck in körperlichen Phänomenen wie unwillkürlichen Muskelbewegungen, veränderter Atmung oder veränderter Herzfrequenz. Auf den folgenden Seiten, die der Entwicklung des Nervensystems gewidmet sind, werde ich diesen Unterschied noch deutlicher erklären.

Die Entwicklung des Nervensystems

Das Leben kann nicht in jeder Umgebung gedeihen. Um zu ihrer jeweiligen Umwelt sinnvoll in Beziehung zu treten, brauchen Lebewesen Wissen sowie die Fähigkeit, angemessen zu reagieren und vorausschauend zu handeln. Das Leben existiert seit mehr als vier Milliarden Jahren auf unserem Planeten, und während dieser Zeit hat es sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht kontinuierlich Fortschritte gemacht. Die Lebewesen, welche die Erde bevölkern, sind zunehmend komplexer geworden, um besser Wissen über ihre Umwelt sammeln zu können und sich erfolgreicher an sie anzupassen. Neue Zellen mit speziellen Fähigkeiten haben sich entwickelt, ebenso besondere Gewebeformen: Nerven, Knochen, Muskeln usw. Bereits bei Einzellern kann man die ersten bescheidenen Anzeichen dafür beobachten, wie Lebewesen ein Verständnis ihrer Umwelt gewinnen und sinnvoll darauf reagieren. Mit zunehmender Komplexität des Lebens wurde auch das Nervensystem komplexer. Dieser Prozess teilt sich in drei Hauptphasen (entsprechend Paul McLeans Theorie von den »drei Gehirnen«).3

Wir müssen stets in Erinnerung behalten, dass das Leben historisch gesehen mit einzelligen Organismen anfing und sich von dort zu so komplexen Lebewesen wie dem Menschen weiterentwickelt hat. Das Leben eines jeden Einzelnen von uns rekapituliert die gesamte Evolution, es entwickelt sich aus der einzelnen Zelle, die im Moment der Empfängnis befruchtet wird. Die Entwicklung unseres Nervensystems ist eine Geschichte des schrittweisen Wachstums, der Ausdehnung und Spezialisierung. Dabei lassen sich deutlich drei Bestandteile erkennen, die in Verbindung mit drei Entwicklungsstufen stehen, welche sich zeitlich überschnitten haben. Jeder dieser Bestandteile ist für besondere Merkmale unserer Persönlichkeit verantwortlich:

Der erste Bestandteil steht in Verbindung mit dem Zeitalter der Reptilien (vor 230 Millionen Jahren) und stellt den ältesten und tiefgehendsten Teil dar; von ihm haben wir unseren Selbsterhaltungstrieb, die Wahrnehmung unserer selbst als Individuum, den Drang zur Verteidigung unseres »Reviers« sowie unser Bedürfnis nach Privatsphäre.

Derjenige Bestandteil, der aus der Zeit stammt, als frühe Säugetiere die Erde beherrschten (vor 130 Millionen Jahren), steht in Verbindung mit unserem sozialen Bewusstsein, unseren Beziehungen zu anderen, unserem Geborgenheitsgefühl und der Fürsorge für unsere Kinder, unserer Fähigkeit zur Empathie und unserer Opferbereitschaft zum Wohl der Gruppe.

Durch den Bestandteil, der aus der Zeit der größeren Säugetiere stammt (vor 40Millionen Jahren), gewinnen wir eine feinere Sinneswahrnehmung, eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber unserer äußeren Umwelt, eine lange Kindheit sowie die Fähigkeit zu rationalem Denken und kreativer Problemlösung.

Gelangen wir schließlich zum Zeitalter des Menschen (das erst vor 1–2 Millionen Jahren begonnen hat), hat sich die Hirnrinde so stark weiterentwickelt, dass sie nur noch in mehrmals gefaltetem Zustand in den Schädel passt. Besonders die vordere Hirnrinde hat sich stark fortentwickelt und mit ihr unsere Fähigkeit zu rationalem Denken sowie unsere Vorstellung von Raum und Zeit, durch die wir in der Lage sind, uns sowohl an die Vergangenheit zu erinnern als auch für die Zukunft vorzusorgen. Mehr als vier Milliarden Jahre Evolutionsgeschichte sind in unserem Nervensystem zusammengefasst. Wie gewaltig unser Potenzial ist, zeigt die Tatsache, dass wir von unseren hundert Milliarden Hirnzellen gerade einmal zwei bis vier Prozent nutzen! Der Gedanke, dass wir nur einen so winzigen Bruchteil unserer Gehirnkapazität verwenden, ist ernüchternd.

Wir können nun Anatomie und Physiologie mit der Erziehung in Zusammenhang bringen, da die Umgebung, die man einem Menschen bietet, sich stark darauf auswirkt, auf welche Weise sein Nervensystem zum Wachstum angeregt wird und ob er sich als Mensch weiterentwickeln kann. Die einzelnen Teile des Gehirns müssen nicht nur stimuliert werden, damit sie funktionieren, sondern auch damit sie als harmonisches Ganzes arbeiten: Das wird als »Integration« bezeichnet. All das muss während der ersten Lebensjahre stattfinden, und deswegen ist die richtige Erziehung in dieser Zeit so wichtig. Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir unser geistiges Potenzial bei Weitem nicht ausschöpfen. Dieses Potenzial verwirklichen können wir nur, wenn wir gleich von Anfang an im richtigen pädagogischen Umfeld aufwachsen.

Aufgrund seiner großen Bedeutung ist das Nervensystem jener Teil des Embryos, der während der Schwangerschaft am schnellsten wächst. Deswegen ist der Kopf des Embryos auch so viel größer als der Rest des Körpers. Bei der Geburt misst der Kopf eines Säuglings, der die volle Zeit der Schwangerschaft hinter sich hat, ein Viertel seiner Körpergröße. Die Zahl der Nervenzellen erreicht im siebten Schwangerschaftsmonat ihr Maximum. Während der Embryonalphase wächst das Gehirn um die erstaunliche Zahl von 20.000 Zellen pro Minute. In den letzten drei Monaten der Schwangerschaft nimmt das Gewicht des Gehirns um nicht weniger als 2,2 Milligramm pro Minute zu!

Laut Marcus Johnson, Biophysiker an der Johns-Hopkins-Universität, ist das Gehirn ein »perfektes Werkzeug, das dem Menschen unbegrenzte Chancen bietet. Mit seiner Hilfe können wir ein sehr viel erfüllteres Leben führen, als wir bisher es für möglich gehalten haben.« Wir müssen es einfach nur besser kennenlernen, indem wir einen stärker an der Wissenschaft orientierten Erziehungsansatz verfolgen.

Die vielfältigen Sinneswahrnehmungen im Mutterleib

Die Vorstellung, dass das Kind im Mutterleib nichts wahrnimmt, gilt als durch und durch veraltet. Der Embryo lebt in ständigem Kontakt mit seiner Umwelt. Während sein Gehirn rasch wächst, bilden sich seine Sinne in der folgenden Reihenfolge aus: Tastsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Hörsinn, Sehsinn. Neuere Forschungen legen die Annahme nahe, dass während der Schwangerschaft bereits sämtliche Sinne aktiv sind. In dieser Zeit bereitet sich der Embryo gewissermaßen schon auf seine späteren Aktivitäten außerhalb des Mutterleibs vor. Im Laufe der langen Phase, die der Geburt vorausgeht, nimmt er nicht nur praktisch im Minutentakt an Gewicht und Größe zu, auch seine Sinne entwickeln sich mit enormer Geschwindigkeit.

An dieser Stelle ist es sinnvoll, näher auf die Entwicklung der Sinne einzugehen:

1. Die Haut ist das erste und wichtigste Sinnesorgan des Embryos und hat sich bis zur siebten oder achten Schwangerschaftswoche vollständig ausgebildet. Auch später bleibt der Tastsinn die wichtigste Quelle, über die wir Informationen über uns selbst und unsere Umwelt beziehen.

Wenn wir an das Fruchtwasser denken, von dem das Kind umgeben ist, an seine Bewegungsfähigkeit, seine Verbindung zur Nabelschnur sowie an die Tatsache, dass es seine Hände ganz nahe am Mund hält, dann ist offensichtlich, dass sein Tastsinn ständigen Reizen ausgesetzt ist und in ununterbrochener Beziehung zur Umgebung steht. Der Tastsinn funktioniert gleichsam als Kommunikationsorgan und definiert die Beziehung des Embryos zu seiner Umwelt. Er macht Kommunikation möglich, selbst wenn alle anderen Formen der Kommunikation noch nicht oder nicht mehr vorhanden sind; die Freude, die uns die Stimulation unseres Tastsinns bereitet, geht nie verloren. Es sollte beachtet werden, dass Berührung immer Berührtwerden voraussetzt; Berührung impliziert immer Gegenseitigkeit sowie die Möglichkeit einer Beziehung. Zusätzlich hat Berührung auch immer eine gewisse emotionale Dimension.

Frans Veldman, der Gründer des Instituts für haptonomische Kommunikation (Haptonomie ist die Lehre von der Berührung), empfiehlt werdenden Eltern, den Bauch der Mutter zu berühren und leichten Druck darauf auszuüben. Ab dem vierten Monat kann man merken, dass der Fötus darauf mit Bewegungen reagiert. Die tägliche Wiederholung dieser Berührungen erhöht das elterliche Einfühlungsvermögen und stärkt die »pränatale Gefühlsbindung« des Kindes zu den Eltern, die die Grundlage für die spätere emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind ist. Das Gehirn des Kindes speichert diese positiven Reize, es lernt sie zu erwarten und anzunehmen.

2. Der Geruchssinn nimmt seine Funktion ab dem zweiten Schwangerschaftsmonat auf. Zahlreiche Substanzen aus der Nahrung der Mutter gehen ins Fruchtwasser über. Die Aufnahme dieser Substanzen kann zu olfaktorischen Erinnerungen führen, die es dem Kind später erleichtern, nach dem Abstillen die gleiche Nahrung zu akzeptieren.

3. Der Geschmackssinn wird ab dem dritten Monat aktiv. Werden dem Fruchtwasser süße oder bittere Substanzen beigemischt, reagiert der Fötus mit Schluckbewegungen, Körperbewegungen und Grimassen: Er scheint also tatsächlich zu Geschmackswahrnehmungen fähig zu sein. Auch hier finden wieder viele Substanzen über die Nahrung der Mutter Eingang ins Fruchtwasser. Indische Säuglinge zum Beispiel sind in der Lage, den Geruch von Curry zu erkennen, Kinder aus Südfrankreich den von Knoblauch. Dafür sind Geschmackserinnerungen aus dem Mutterleib verantwortlich, die es dem Kind später erleichtern, sich an das Nahrungsangebot seiner Umwelt zu gewöhnen.

4. Das Ohr schließt seine strukturelle Entwicklung zwischen dem zweiten und dem fünften Schwangerschaftsmonat ab. Das Erklingen einer Stimmgabel kann die Herzfrequenz eines Embryos erhöhen. Es ist wichtig zu beachten, dass der Hörsinn während der pränatalen Phase vielen Reizen ausgesetzt ist, die sowohl von innerhalb als auch von außerhalb des Bauchs der Mutter stammen. Gewisse interne Geräusche wie Herzschlag und Atmung der Mutter nimmt der Embryo 24 Stunden am Tag wahr, während andere von den Aktivitäten der Mutter abhängen: wenn sie sich zum Beispiel mit dem Vater unterhält, Musik hört oder lauten Verkehrsgeräuschen ausgesetzt ist. Bei einer japanischen Studie hat sich gezeigt, dass Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft in der Nähe eines Flughafens lebten, von Flugzeuggeräuschen in ihrer Nachtruhe nicht gestört wurden, während andere Kinder davon regelmäßig aufwachten.

Der Embryo nimmt auch den charakteristischen Rhythmus der Sprache in sich auf, die seine Mutter spricht. In gewissem Sinne ist er bereits bei der Arbeit und hat mit dem Spracherwerb begonnen!

Auch ist es wichtig, dem Kind während der Schwangerschaft Lieder vorzusingen. Später als Säugling erinnert es sich dann an diese Lieder und fühlt sich geborgen, wenn es sie erneut hört. In dem französischen Städtchen Pithiviers bietet die Musikerin Marie Louise Aucher werdenden Müttern Kurse in »gesungener Mutterschaft« an. Ihrer Meinung nach werden Schallwellen nicht nur über die Ohren, sondern in Form von Schwingungen über den gesamten Körper wahrgenommen, wodurch sie uns Energie spenden und uns helfen, unser neurophysiologisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Tiefe Töne nehmen wir über Beine und Becken wahr, hohe hauptsächlich über Brustkorb, Arme und Kopf. Bei »psychophonischen« Experimenten hat sich gezeigt, dass Kinder, die während der Schwangerschaft solchen Schwingungen ausgesetzt sind, später eine bessere Feinmotorik entwickeln.

Es ist sehr wichtig, mit dem werdenden Kind zu sprechen, und es ist genauso wichtig, ihm regelmäßig etwas vorzusingen. Diese Reize wirken auf Gehirn und Körper wie eine wohltuende Massage. Gleichzeitig stärkt die Mutter beim Singen sowohl ihr Zwerchfell als auch sämtliche Muskeln in Brustkorb und Becken, denen dann bei der Geburt eine besondere Rolle zukommt!

5. Das Auge ist ab dem vierten Schwangerschaftsmonat funktionstüchtig, und bis zum Zeitpunkt der Geburt haben sich sämtliche Sehzellen voll entwickelt. Im Mutterleib ist es nicht so dunkel wie allgemein angenommen, und je nach Klima und Lebensgewohnheiten der Mutter können die Bedingungen dort ganz unterschiedlich sein. Bereits als Embryo ist das Kind jedenfalls gewissen visuellen Reizen ausgesetzt und bewegt sich dann später aktiv auf Lichtquellen zu.

Die Selbstwahrnehmung des Kindes

Die vielfältigen Sinneswahrnehmungen, die wir eben beschrieben haben, ermöglichen dem Kind, viel Wissen über sich selbst zu sammeln, und helfen ihm beim Anfertigen seiner »Körperkarte«. Über diese Karte nimmt der Körper sich unmittelbar im dreidimensionalen Raum wahr. Sie gibt uns nicht nur über die Gestalt unseres Körpers Auskunft, sondern auch über das Verhältnis, in dem seine einzelnen Teile zueinander stehen. Zum Anfertigen unserer Körperkarte verwenden wir unseren Tastsinn sowie unsere Selbstwahrnehmung, die uns kontinuierlich Informationen über unser Gewicht, unsere Temperatur sowie über Lage und Ausdehnung unseres Körpers vermittelt. Die Karte hilft uns, die Grenzen unserer körperlichen Ausdehnung zu erkennen und unseren eigenen Körper von der Umwelt zu unterscheiden. Diese Bestimmung unserer Grenzen im dreidimensionalen Raum bereitet uns darauf vor, uns später in diesem Raum sicher zu bewegen. Viele Faktoren haben Einfluss auf die Körperkarte, die wir als Embryo von uns anfertigen: Wie groß die Fruchtblase ist (was sehr unterschiedlich sein kann), wie lang die Nabelschnur ist und wie sie liegt, wie das Kind seine Körperglieder bewegt (besonders seine Hände), wie sich die Gebärmutterwand anfühlt und welche Lebensgewohnheiten die Mutter hat – all das führt zu unterschiedlichen Erfahrungen im Mutterleib. Es ist interessant anzumerken, dass die räumlichen Bewegungen des Menschen von der pränatalen Phase an auf den Aufbau einer persönlichen Identität ausgerichtet sind und dass seine Körperbewegungen ihm maßgeblich dabei helfen, die dafür nötigen Abgrenzungen vorzunehmen. Je besser es dem Kind gelingt, sich und seine Umwelt als etwas Unterschiedenes wahrzunehmen, umso leichter wird es sich später zu einem Individuum entwickeln können, das seine Umwelt mit anderen teilt.

Die Mutter-Kind-Beziehung während der Schwangerschaft

Wir werden nun näher auf die Schwangerschaft eingehen und dabei besonders jene spezielle Beziehung berücksichtigen, die zwischen Mutter und Kind entsteht. Je nach den biologischen und psychologischen Faktoren, von denen es bestimmt wird, kann sich ihr gemeinsames Leben sehr unterschiedlich gestalten. Die biologischen Einflussfaktoren liegen auf der Hand: Das Alter der Mutter, ihr gesundheitlicher Zustand, Umfang und Qualität ihrer Nahrung sowie die Qualität der Luft, die sie atmet – all diese Faktoren nehmen auf die Umgebung des Kindes und damit auf sein körperliches Wachstum Einfluss. Die Rolle der psychologischen Faktoren hingegen ist schwerer zu verstehen.

Während dieser besonderen Phase des menschlichen Lebens befindet sich ein Mensch (das Kind) gleichsam in einem Behältnis, das aus einem anderen Menschen besteht (der Mutter). Für eine gesunde seelische Entwicklung des Kindes ist es von großer Bedeutung, dass dieses lebende Behältnis – also die Mutter – die richtige Einstellung zu ihrem Bewohner hat und ihn akzeptiert. Der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion bezeichnet das als einen Zustand der »Geselligkeit«. Diese Beziehung setzt ein »mütterliches Grundvertrauen« in die Schwangerschaft voraus. Das Vertrauen der Mutter überträgt sich auf das Kind und wirkt sich positiv auf seine Entwicklung aus.

Wenn die Mutter jedoch ein »grundsätzliches Misstrauen« gegenüber ihrer Schwangerschaft hegt oder eine emotionale Distanz dazu aufbaut und sie zu ignorieren versucht, dann bekommt die Beziehung zwischen dem »Behältnis« und dem Kind einen ganz anderen Zug. Bion benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff »Parasitismus«. In diesem Fall kann die Fülle der sinnlichen Erfahrungen nicht richtig verarbeitet werden, was zur Folge hat, dass die gesamte Stimulation und der gesamte sensorische Input, den das Kind erfährt, sich nicht in geistige Inhalte umwandeln können. Das Kind kann diesen Input dann nicht verstehen und in seine Psyche integrieren. Wie unverdauliche Nahrung werden die Erfahrungen vom Geist nicht richtig aufgenommen und verwirren diesen nur. Die emotionalen und kognitiven Bestandteile des Lebens bleiben voneinander getrennt, und die gesamte seelische Entwicklung wird tiefgreifend gestört.

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft zeigt uns deutlich, wie wichtig der Prozess der »menschlichen Vermittlung« für die Weitergabe von physischen und psychischen Erfahrungen ist. Nur wenn man sich unmittelbar und dauerhaft von der Umwelt akzeptiert fühlt, gewinnt das Leben eine wirklich menschliche Qualität und kann wachsen und gedeihen. Die mütterliche Umgebung wird zu einem Ort, welcher der Entwicklung beider Partner förderlich ist und dem Kind ein geistiges Muster zur Mehrung seines Wissens bietet. Laut dem italienischen Psychoanalytiker Franco Fornari hilft die Mutter dem Kind und »rettet« es, indem sie jene Erfahrungen, die der Embryo noch nicht selbst verarbeiten kann, als ihre eigenen akzeptiert. In biologischer Hinsicht erfüllt die Mutter eine ähnliche Aufgabe, wenn ihr Körper Kohlendioxid und andere giftige Substanzen aus der Umgebung filtert, die der Entwicklung des Kindes schaden könnten. Während der Schwangerschaft muss alles, was das Kind aufnimmt, an der Mutter vorbei. Diese Beziehung ist für die Entwicklung des neuen menschlichen Wesens enorm wichtig. Das Innenleben des Embryos ist von sämtlichen Gefühlszuständen geprägt, die uns auch vertraut sind; er besitzt die Fähigkeit zu lernen und kennt bereits viele verschiedene Formen des Verhaltens. Uns mit den neun Monaten zu beschäftigen, die er im Mutterleib verbringt, hilft uns viele Dinge zu verstehen, die erst viel später nach der Geburt wichtig werden.