Das Kloster des geheimen Baumes - Die Drachenreiterin - Samantha Shannon - E-Book

Das Kloster des geheimen Baumes - Die Drachenreiterin E-Book

Samantha Shannon

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Beschreibung

Der Abschluss der großen Drachen-Saga »Das Kloster des geheimen Baumes«.

Dumai, die geheime Erbin des Throns von Seiiki, ist nun eine Drachenreiterin. Sie fliegt mit ihrem Drachen Furtia durch das Reich, um das Volk vor der Bedrohung durch die finsteren Wyrm zu warnen. Aber niemand schenkt ihr Gehör. Zur gleichen Zeit bereitet Prinzessin Glorian von Ynis ihr Volk auf den Kampf gegen die bösen Drachen vor und muss sich außerdem ihrer menschlichen Feinde erwehren. Denn nicht alle, denen sie ihr Vertrauen schenkt, haben dies auch verdient. Zwei Reiche, ein Feind. Noch gibt es Hoffnung für die Menschen – doch wie lange noch?

Das Kloster des geheimen Baumes
1. Die Thronfolgerin
2. Die Drachenreiterin

Der Orden des geheimen Baumes
1. Die Magierin
2. Die Königin

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Seitenzahl: 753

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Buch

Dumai, die geheime Erbin des Throns von Seiiki, ist nun eine Drachenreiterin. Sie fliegt mit ihrem Drachen Furtia durch das Reich, um das Volk vor der Bedrohung durch die finsteren Wyrm zu warnen. Aber niemand schenkt ihr Gehör. Zur gleichen Zeit bereitet Prinzessin Glorian von Inys ihr Volk auf den Kampf gegen die bösen Drachen vor und muss sich außerdem ihrer menschlichen Feinde erwehren. Denn nicht alle, denen sie ihr Vertrauen schenkt, haben dies auch verdient. Zwei Reiche, ein Feind. Noch gibt es Hoffnung für die Menschen – doch wie lange noch?

Autorin

Samantha Shannon ist in West-London geboren und aufgewachsen. Mit zwölf Jahren begann sie zu schreiben, mit fünfzehn beendete sie ihren ersten Roman, der bislang jedoch unveröffentlicht blieb. Sie studierte Englische Sprache und Literatur in Oxford, wo sie 2013 ihren Abschluss machte. Die Werke der New York Times- und Sunday Times-Bestsellerautorin wurden bereits in 26 Sprachen übersetzt.

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SAMANTHA SHANNON

DAS KLOSTER DES GEHEIMEN BAUMES

DIE DRACHENREITERIN

ROMAN

Deutsch von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel A Day of Fallen Night 1. A Roots of Chaos Novel (S 464 – 868) bei Bloomsbury, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by Samantha Shannon-Jones

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sigrun Zühlke

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Hamburg, nach einer Originalvorlage von Bloomsbury Publishing Plc

Umschlagdesign: David Mann

Umschlagillustration: Ivan Belikov

Karte/Illustrationen: © Emily Faccini, 2023

HK · Herstellung: mar

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30901-5V001

www.penhaligon.de

INHALT

TEIL I

TEILIIDERLANGSCHWEIFIGESTERN

EPILOG

TUNUVA

WULF

GLORIAN

NIKEYA

DIEFIGURENDERGESCHICHTE

GLOSSAR

ZEITTAFEL

DANKSAGUNGEN

TEIL I

1. KAPITEL

WESTEN

Als Wulf das letzte Mal nach Inys gesegelt war, hatte noch der Hammer des Nordens Hróth regiert. Regny war an seiner Seite gewesen, Eydag hatte Heidebier getrunken, und Gelächter war über das Deck der Langbein gebrandet. Jetzt wurde er den üblen Ruch des Weißen Schiffes nicht mehr los, den Geschmack des Todes unter seiner Zunge.

Am dritten Tag trieb eine Leiche an der Wellenreiter vorbei. Aufgequollen und verkohlt, schaukelte sie mit ausgebreiteten Armen auf den Wellen und dünstete den Gestank von fauligem Rauch aus. Sauma und Thrit sahen ihr schweigend nach, bis der Nebel sie verhüllte. Ihr Kapitän, ein alter Seebär, ließ mit Kreide das Zeichen des Schwertes auf den Mast malen.

Während der Reise sprachen sie nur wenig. Manchmal ertappte Wulf Sauma dabei, dass sie ihn beobachtete, und fragte sich, was sie wohl dachte. Du solltest tot sein, flüsterte Karlsten in seinen Gedanken. Er trank Bier, um die Stimme zum Schweigen zu bringen, hielt sich dicht beim Mast und weit weg von den Wellen.

Am sechsten Abend lag er unter der Segeltuchplane, die zum Schutz vor dem Regen über das Mittschiff gespannt war. Er war sich jeder Bewegung bewusst: des Knarrens der Taue und des Knatterns des Segels, des Plätscherns der Wellen, die an den Rumpf schlugen.

Mitten in der Nacht kroch Thrit unter die Plane und hüllte sich neben ihm in die Felle. »Hast du sie gefunden, Thrit?«, fragte Wulf.

Thrit sah ihn fragend an. In seinen dunklen Augen spiegelte sich das Licht der Laterne.

»Deine Familie.« Wulf konnte immer noch nicht ohne Schmerzen sprechen. Er hatte so viel Rauch und Salz geschluckt. »Bardholt hat dich gebeten, sie nach Elding zu bringen. Hast du das gemacht?«

»Ja. Sie sind vor der Seuche sicher. Vorerst jedenfalls.«

»Sie kam aus der Erde. Von den Wyrm.« Wulf hustete rasselnd tief aus der Brust. »Genau wie der Heilige es gesagt hat.«

»Der Fluch von Yikala.« Thrit verzog grimmig das Gesicht. »Der Heilige hat den Namenlosen Einen besiegt, aber er hatte auch ein magisches Schwert. Falls es jemals Magie gegeben hat, ist sie jedenfalls verschwunden. Und das schon seit Jahrhunderten.«

»Auch im Osten?«

»Ich glaube schon. Die Drachen – die Götter – besaßen angeblich Magie. Eine göttliche Kraft, die es ihnen ermöglichte, sich in Tiere oder sogar in Menschen zu verwandeln, und die ihnen Macht über das Wasser gegeben hat.«

»Wie sehen sie aus, diese Drachen?«

»Wie Riesenschlangen mit Fischschuppen. Sie flogen ohne Schwingen, schwammen wie Wale durch die Luft.« Er holte etwas unter seinem Hemd hervor. »Mein Großvater hat mir das zum Abschied gegeben. Es soll mich beschützen.«

Er reichte Wulf ein aus hellem Stein gemeißeltes Amulett. Es zeigte ein reptilartiges Wesen mit einer Mähne, gewunden wie eine Schlange und mit vier Zehen an jedem Fuß.

»Sieht aus wie ein Nöck, ein Wyrm des Wassers«, murmelte Wulf. »Ich dachte immer, das wären nur Fabelwesen.« Er gab Thrit das Amulett zurück. »Lass das lieber niemanden sehen, Thrit.«

»Du bist ja nicht irgendjemand.« Thrit schob das Amulett wieder unter sein Hemd. »Meine Großeltern sind nicht wirklich gläubig. Sie sagen, die Götter hätten den Krieg und die Dürre verschlafen und deshalb schuldeten ihnen die Menschen keine Ergebenheit mehr.«

»Sind sie zu den Sechs Tugenden konvertiert?«

»Natürlich. Bardholt hat es ja verlangt. Aber ich vermute, sie glauben eigentlich nur an das, was sie sehen.« Thrit schob den Unterarm unter seinen Kopf. »Ich habe sie nach Skelsturm geschickt. Auf einer Insel, dachte ich, sind sie sicherer, wenn die Seuche sich weiter nach Süden ausbreitet, was sie wohl tun wird.«

Wulf blickte auf das Segeltuch über ihm. Die Plane schützte ihn, verbarg ihn.

»Ich frage dich nicht, ob es dir gut geht«, sagte Thrit. »Sondern ob ich etwas für dich tun kann.«

»Nein.« Wulf schluckte, und seine Augen tränten vor Schmerz. »Karl hat recht. Alle, die mir nah kommen, sterben.«

»Ich bin nicht tot, soweit ich das beurteilen kann, und Sauma auch nicht. Karl ebenso wenig, leider – obwohl ich vermute, dass er am liebsten durch Hexenwerk sterben würde, nur um seinen Standpunkt zu beweisen.« Thrit hielt inne. »Du musst mich nicht fragen, Wulf. Ich werde dich nie fürchten. Regny hatte keine Angst vor dir. Ich auch nicht.«

Er streckt die Hand aus. Wulf atmete den Geruch seiner Handfläche ein: Teer und Holz, das süße Öl, das er sich ins Haar rieb, den Ring an seinem Daumen. Mit dem Daumen strich er Wulf über die Wangenknochen bis zum Kiefer.

»Schlaf jetzt«, sagte Thrit. »Der Heilige allein weiß, was uns in Inys erwartet.«

Wulf widerstand dem Drang, seine Hand zu ergreifen. Er nickte und kauerte sich tiefer unter den Pelz, weil er wusste, dass es in seinen Träumen keine Bienen geben würde. Er träumte überhaupt nicht mehr, seit der Wyrm gekommen war.

Er erwachte von einem lauten Dröhnen in den Ohren und einem eisigen Luftzug, der über das Schiff hinwegstrich. Erstickt vor Angst zückte er den Scramasax und wartete darauf, dass das Feuer ihn blendete und verschlang. Sein Herz schlug wie eine schwere Faust gegen sein Brustbein.

Allmählich spürte er den Wind und den Regen. Die Segeltuchplane war abmontiert worden. Über dem Knattern des Segels und dem Knarren der Taue hörte er schwach, wie Sauma dem Kapitän etwas zuschrie. Der Nebel hatte sich so weit gelichtet, dass das Mondlicht hindurchdrang. Da, nicht allzu weit entfernt, sah er Klippen, gegen die schwarze, monströse Wellen schlugen.

Inys.

»Wulf!«, rief Sauma, als er aufstand, »das wird ein schlimmer Sturm. Wir müssen anlanden, wo wir können.«

»Wo sind wir?« Seine Stimme war nur ein Krächzen. Sie beugte sich dichter zu ihm, um ihn zu verstehen. »Wo ist das hier?«

»Weiß nicht.« Ihre Locken klebten an ihrer Stirn. »Wir müssen dort Schutz suchen und weitersegeln, wenn der Sturm sich gelegt hat.«

In einem anderen Leben hätte Wulf die Fahrt zur Küste genossen. Er hätte die Gischt auf seinem Gesicht und das Salz auf seinen Lippen geschmeckt und über ein heraufziehendes Unwetter nur gelacht. Jetzt kauerte er sich nur neben den Mast und hoffte inständig, dass er seine letzte Mahlzeit bei sich behielt.

Als sie so nahe waren, dass sie das Land riechen konnten, toste der Wind, und die Aschensee hämmerte auf das Schiff ein. Sauma und Thrit ruderten mit den Kaufleuten, während der Kapitän an der Pinne kämpfte und Wulf tatenlos im Rumpf saß, die bandagierten und behandschuhten Hände in den Schoß gelegt, und in die Ferne starrte. Obwohl seine Fußsohlen so weit verheilt waren, dass er ohne Krücke gehen konnte, hatten die anderen sich geweigert, ihn rudern zu lassen, solange seine Finger noch bandagiert bleiben mussten.

Schon bald erreichten sie die Untiefen und zogen das Schiff an Land. Wulf ging von Bord und erbrach sich prompt auf den Sand. Er wischte sich zitternd den Mund mit den Handgelenken ab. Schweiß tropfte aus seinem Haar.

»Sieh nur!«, rief Thrit über den Wind hinweg. Er deutete auf etwas oberhalb des Strandes. »Ist das eine Höhle?«

Wulf blinzelte durch den Regen zu der Stelle, an der ein Schlund in der Klippe gähnte.

»Ja«, stimmte einer der Fellhändler zu. »Das ist eine.«

Sie suchten darin Schutz und schliefen um ein Feuer herum. Ihre nassen Kleider und Vorräte breiteten sie zum Trocknen auf den Felsen aus. Am Morgen hatte sich der Sturm verzogen und einen schimmernden grauen Himmel zurückgelassen.

Sauma fand Wulf am Strand, wo er seine Stiefel schnürte. »Wir sind bereit weiterzusegeln«, sagte sie.

»Nein.«

»Was nein?«

»Ich gehe allein nach Ascalon.« Wulf sah sie an. »Sauma, ich kann nicht auf dieses Meer zurück.«

Sie blickte nach Süden, auf den langen, nassen Strand aus Sand und Schiefer. »Ich beneide dich nicht gerade, aber wenn du darauf bestehst.« Ihr Atem bildete grauen Nebel. »Thrit kann dich begleiten. Ich fahre mit den Händlern und suche uns in der Hauptstadt eine Unterkunft. Wir treffen uns dort.«

»Ich danke dir.«

»Regny würde dir empfehlen, schleunigst deine Eier wiederzufinden.« Sie schnaubte durch die Nase. »Aber ich bin nicht Regny.«

Sie stapfte zurück zum Schiff. Thrit tauchte aus der Höhle auf, den aus Weide geflochtenen Rucksack geschultert.

Der Strand war glatt vom Regen und der Flut. Als das Licht die drohenden Wolken aufhellte, beobachtete Wulf, wie sich die Wellenreiter in die kabbelige See zurückkämpfte. Thrit und er folgten ihrem Kielwasser und machten sich langsam nach Süden auf. Thrit liebte trockene Kälte und Schnee, die feuchte Kälte von Inys konnte er gar nicht leiden. Dementsprechend trug er einen Ausdruck verkrampfter Entschlossenheit zur Schau, während er mit verkniffenem Gesicht gegen den Nieselregen anstapfte.

Sie schwiegen, zu müde, um zu reden. Als Wulf das nächste Mal aufblickte, lag die Küste wieder im Nebel. In dem Grau konnte er einen dunklen Buckel im Wasser ausmachen.

»Ich weiß, wo wir sind!«, rief er. »Das sind die Fenns.«

»Woher weißt du das?«

»Diese kleine Schäre da. Das ist Nagershavn.« Wulf blieb stehen und hustete. »Es markiert die Grenze zwischen den Auen und den Fenns. Man kann sie nur bei Ebbe erreichen. Meine Tante hat sie mal erwähnt.«

»Wohnt sie hier in der Nähe, diese Tante?«

»Ein paar Meilen entfernt. Jemand sollte uns den Weg zu ihrem Gut weisen können.«

»Falls wir jemanden finden.« Thrit stieß eine graue Atemwolke aus. »Wird sie uns helfen, Ascalon zu erreichen?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Gut. Ich brauche dringend ein heißes Bad und eine Schale fade Inysh-Brühe.« Thrit strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. »Geh voran.«

Sie marschierten weiter, während der Wind sie umpeitschte. Irgendetwas zwang Wulf, am Meer entlangzugehen, auch wenn er es nicht befahren wollte. Sie machten Rast, um frisches Wasser zu schöpfen, bevor sie weitergingen, misstrauisch beäugt von den schwarzen Möwen, die an der Küste Krabben und gestrandete Fische pickten.

Wulf hatte die Baroness Sohra mehrmals getroffen, wenn sie Langarth besuchte. Soweit er sich erinnerte, war sie laut, reich und ihm immer mit Freundlichkeit begegnet. Sie war eine Frau aus dem Süden, aufgewachsen in den Fenns, jenseits der Schatten des Schwurwaldes – also hatte sie sich als Kind vor Geisterlichtern und Sumpfhunden gefürchtet statt vor einer Hexe im Wald.

Ihre Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke im Sand. Wulf hielt den Kopf gegen den Wind gesenkt und die Fäuste auf die Brust gelegt. Stunden verstrichen, bis Thrit seine Schulter berührte und er aufblickte. Am Strand lag ein Langschiff der Hróthi. Es war auf die Seite gekippt, und der Wind peitschte sein zerfetztes Segel, das über Kreuz in vier Flächen geteilt war, zwei gegenüberliegende weiße und zwei karmesinrot.

Wulf kannte das Segel. Jeder kannte es. Der Clan Vatten gehörte zwar jetzt zum Tugendtum, aber jeder, der einigermaßen bei Verstand war, fürchtete die Farben von Blut und Knochen.

»Sieht den Seewölfen aber gar nicht ähnlich, ein Schiff einfach so auf Grund zu setzen«, stellte Thrit fest. Seine Nase unter der Lammfellkapuze war rosa. »Vom Sturm überrascht?«

»Klar.«

Fässer schaukelten im Flachwasser. Wulf beäugte die Fußabdrücke, die den Strand wie Pockennarben kreuz und quer übersäten, bis sie hinter den Klippen verschwanden. »Sie müssen vollkommen betrunken gewesen sein«, bemerkte Thrit. »Die Narren haben wohl das Ufer nicht gesehen, weil sie gebechert haben.«

Doch Wulf beschlich eine andere Ahnung. Die schwielige Haut seiner Handflächen juckte. Er kletterte durch ein Gewirr von salzverkrusteten Netzen und versuchte, seine von Frostwunden geschädigten Hände nicht zu benutzen. Er zog sich mit den Unterarmen an der Flanke des Schiffes hoch und schnitt eine Grimasse angesichts der Schmerzen in seinen Armen und zwischen den Schulterblättern.

Als er sich mit den Ellbogen über das Dollbord hievte, gefror ihm das Blut in den Adern.

Das Langschiff hatte Wolle geladen, die noch immer darin lag, zu dicken Packen gebunden. Und jetzt lagen dort auch Leichen – mit bis zum Ellbogen roten Armen, geschwollenen Zungen, die Augen in den Kopf gerollt, die Haut an den Armen von tiefen, schmutzigen Wunden zerfetzt und mit Blut unter ihren abgebrochenen Fingernägeln. Noch im Tod waren ihre Fratzen von ihren Qualen gezeichnet.

»Thrit«, krächzte Wulf, »bleib weg!«

»Was ist?« Thrit umklammerte den Griff seiner Faustaxt. »Wulf, was ist da?«

Wulf sah zu Thrit hinunter, dessen Miene sich unter seinem Blick verfinsterte.

»Heiliger!«, flüsterte Thrit. »Es ist hier.«

*

Glorian stand am Fenster ihres Schlafgemachs im Königinnenturm. Der Gestank war in ihrem Haar, in ihrem Bettzeug, in allem, was sie anfasste, und trotz der Hitze konnte sie ihr Zittern einfach nicht unterdrücken. Sie beobachtete, wie in der Dunkelheit die Flammen über der Stadt loderten.

Ser Bramel hatte sie weggebracht. Sie war im Bett aufgewacht und hatte so stark gehustet, dass sie fürchtete, ihre Rippen müssten brechen. Doktorin Forthard hatte an ihrer Seite gesessen. Sie hatte gehustet, während die Flammen den Fluss auf beiden Seiten einnahmen, und gesehen, wie das Feuer von einem Gebäude zum nächsten sprang und schließlich das Sanktuarium der Heiligen Jungfrau erreichte.

Zwölf Frauen waren hineingelaufen, um die sterblichen Überreste zu bergen, doch die Hitze hatte sie zurückgetrieben. Eine hatte einen Tropfen geschmolzenes Blei vom Dach ins Auge bekommen.

Aber Königin Cleolind war in Sicherheit. Sie war in Stein gebettet und tot.

Am zweiten Tag war Glorian in einen fiebrigen Schlaf gefallen und von lautem Geschrei geweckt worden, als Rosarians Brücke einbrach und fünfzig Menschen mit sich in die Tiefe riss. Im Heuhafen waren etliche Boote gekentert, als Hunderte Menschen versuchten, sie zu entern. Dabei waren viele ertrunken, denn der Limber war eiskalt und die Strömung sehr stark, besonders zu dieser Jahreszeit.

Am dritten Tag hatte das Feuer die Werften am Südufer erreicht und dann auch das Viertel Mistelgatt.

Am vierten Tag schaffte es Helisent in die Burg. Sie hatte vergeblich nach dem verschwundenen Schädel gesucht, war von der Menge auf der Straße mitgerissen worden und hatte Königinnental nicht erreichen können. Eingekesselt vom Feuer, dem Rauch und dem Gedränge auf den Straßen zwischen verängstigten Menschen, verlassenen Karren und panischem Vieh, hatte sie endlich den Limber erreicht. Mit dem Feuer im Rücken, hatte sie es riskiert, von einem Viertel zum anderen zu schwimmen, und sich an den Anlegeringen festgehalten. Seitdem war sie in Kell Borns Obhut, geplagt von blutigen Füßen, Schüttelfrost und heftigem Husten.

Der Schädel war verloren. Alles, was von Bardholt Hraustr noch geblieben war, war der Oberschenkelknochen, den Glorian umklammert hatte – aber Helisent war am Leben, ebenso Adela und Julain. Das war alles, was zählte.

Am sechsten Tag hatte sich das Feuer noch weiter ausgebreitet und trieb viele Menschen im Norden über die Brücke der Fürbitten. Sie mussten sich sicher gefühlt haben, bis ein starker Wind eine funkelnde Glutwolke über den Fluss wehte, wie hell leuchtende Geschosse, die alles entzündeten, was sie berührten.

Danach hatte sie die Tage und Nächte nicht mehr gezählt. Das Feuer war wie eine Mitternachtssonne, und dies hier war der Schoß des Feuers. Florell versuchte, sie auf dem Laufenden zu halten, aber Glorian konnte das Feuer auch an den flackernden Flammen und den Schreien verfolgen, an dem Gestank. Du solltest sie beschützen, rief sie sich ins Gedächtnis, wenn sie an ihrem Fenster vorbeiging. Du solltest ihr Schutzschild sein.

Der Dunst über der Stadt – tagsüber fahl vom Rauch, nachts rötlich – war bis in die Burg gedrungen. Das Feuer in ihrem eigenen Herd erschien ihr wie eine Gotteslästerung, und schließlich bat sie einen Diener, es zu löschen, weil sie sich fürchtete, es selbst zu tun. Der Junge befolgte unsicher ihren Befehl, und als er Glorian ansah, konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Als er gegangen war, verriegelte sie hinter ihm die Tür.

Seine Familie musste irgendwo dort draußen sein, während sie in einer steinernen Festung hockte. Die Burg von Ascalon stand so weit von den anderen Gebäuden entfernt, dass wahrscheinlich sogar die Gärten von dem Feuer verschont bleiben würden. Doch jenseits der hohen Mauern gab es Holz und Flechtwerk, Stroh und Heu und Wolle, eine Stadt aus Zunder.

Der Heilige hatte nie versprochen, dass nichts anderes kommen würde. Nur, dass der Namenlose Eine nicht zurückkehren würde. Das Volk von Inys hatte sich nie auf so etwas vorbereitet, weil es dachte, seine Königinnen würden die Menschen davor schützen.

Mutter, Vater, bitte, ich flehe euch an, helft mir. Heiliger, hilf mir. Jungfrau, hilf mir. Ich gebe dir alles. Glorian faltete die Hände. Meine Schwester, du hattest recht. Schick mir eine Nachricht …

Das Klopfen ließ sie aus dem Gebet aufschrecken. »Eure Hoheit?«

Glorian tastete nach dem Riegel und ließ Florell herein. »Was ist los?«, fragte sie und umarmte sie.

»Zehn Bezirke stehen schon in Flammen, und stündlich werden es mehr«, sagte Florell. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Glorian ließ los und wandte sich ab, eine geballte Faust aufs Herz gelegt. »Die Dürre hat das Stroh ausgetrocknet, und das Feuer wird sich weiter ausbreiten. Und zweifellos damit auch die Gewalt. Die Menschen kehren sich gegeneinander und beschuldigen Freund und Feind gleichermaßen als Grund für die Ankunft der Wyrm.«

»Was können wir tun?«

»Dame Gladwin will die dem Brand am nächsten gelegenen Gebäude abreißen, um dem Feuer die Nahrung zu nehmen. Ser Robart hat ihrem Vorschlag zugestimmt und wird die Eigentümer der Häuser aus seiner privaten Kasse entschädigen. Sie reiten gerade los, um den südlichen Rand des Feuers zu überholen.«

»Du hast mir gesagt, ich solle mich behaupten«, antwortete Glorian. »Stattdessen wird Ser Robart derjenige sein, der die Gewalt beendet, die meine kühnen Worte erst ausgelöst haben. Ich sollte an seiner Seite reiten.«

»Glorian, nein! Du bist die Thronfolgerin.« Florell packte sie an den Schultern. »Du hast getan, was du konntest. Du hast dich Fýredel widersetzt, so wie dein Vater es getan hätte. Ser Robart hat recht – du musst in Sicherheit bleiben und dich weiter verstecken.«

»Er hat mich so gut versteckt, dass er mich auch gleich in eine Holzkiste hätte stecken und ins Meer werfen können.«

»Es ist viel zu gefährlich für dich, in die Nähe dieses Feuers zu gehen. Wir müssen unser Vertrauen in den Heiligen setzen.«

»Warum hat er es dann nicht verhindert?« Glorians Stimme brach. »Warum hat er nichts getan?«

»Das kannst nur du wissen. Du bist sein Nachkomme.«

»Wenn du seine Nachfolgerin wärst, was würdest du denken?«

Florell blickte auf die Stadt hinaus. »Eine Prüfung«, antwortete sie. »Ich würde es für eine Prüfung des Glaubens halten.«

»Vielleicht ist es eine Warnung.« Glorian löste sich von Florell und ging unruhig auf und ab. »Wir haben ihn im Jahrhundert der Unzufriedenheit beschämt. Vielleicht war selbst Mutter nicht gut genug, um uns vor seinem Zorn zu bewahren.«

»Deine Mutter war gut genug, um die Schmach ihrer drei Vorgängerinnen zu tilgen. Und mehr noch. Sie war die große Königin deiner Blutlinie«, widersprach Florell nachdrücklich. »Sie war seine Erbin, seine Verkörperung. Du hast ihr Herz und ihr Rückgrat, Glorian. Das habe ich gesehen, als du dich dem Wyrm entgegengestellt hast.«

»Ich habe ihn verspottet, und er hat darauf mit Feuer geantwortet.«

»Hättest du dich vor ihm verbeugt, hättest du deinem Vorfahren ins Gesicht gespuckt. Er hat nicht vor dem Namenlosen Einen gekniet.«

Genau das hatte Glorian erwogen. Sie hätte ihn anflehen können, ihr Volk zu verschonen, sie hätte die Bestie um Gnade bitten können.

»Prinz Therico«, sagte sie. »Ist er auf dem Weg nach Inys?«

»Das war er. Aber jetzt, die Gefahr …«

»Schafft ihn her. Florell, ich kann nur aus einem Grund nicht dort hinausgehen, aus einem einzigen Grund. Weil ich noch kein Kind habe. Hätte ich eins, würdet ihr mich alle in die Stadt reiten lassen.«

»Glorian …«

»Sag dem Regenten, er soll Prinz Therico herschaffen, unter allen Umständen, ob mit Gewalt oder List und Tücke, ist mir egal. Sorge dafür.«

Florell schloss kurz die Augen. »Ich werde deine Wünsche Ser Robart übermitteln«, erwiderte sie. »Majestät.«

Als sie gegangen war, sank Glorian neben dem kalten Kamin auf den Boden und umklammerte eine Nackenrolle von ihrem Bett. Sie war wieder ein kleines Kind und brauchte Wärme und etwas zum Festklammern zum Trost.

Ich werde heiraten. Ich werde alles tun, was ihr befehlt. Ich werde Prinz Therico heiraten oder wer auch immer mir vorgestellt wird. Ich werde die Frucht tragen, ich werde der ewige Weinstock sein, und dann werde ich bis zum bitteren Ende kämpfen. Glorian kniff die Augen zu und griff nach dem Dazwischen, wo ein Strom wie Tränen floss. Lasst es enden. Bitte, lasst es aufhören. Heiliger, Bote, Schwester, helft mir. Schickt mir Regen.

*

Es mussten Stunden verstrichen sein, als sie auf dem Boden aufwachte, die Wange auf die Steinplatten gepresst. Sie hörte ein Rumpeln, das sie schon befürchten ließ, die Wände würden zerbersten. Sie erreichte das Fenster gerade noch rechtzeitig, um den Blitz zu sehen, mit dem sich der Himmel wie eine Hand von oben öffnete.

Dann kam er: der unverwechselbare, barmherzige Geruch von Regen.

Ich höre dich.

2. KAPITEL

OSTEN

Dumai erwachte mit einem Keuchen. Ihre Haut war durchnässt, als hätte man sie aus dem Meer gefischt und triefend nass auf ihr Bett geworfen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie war.

Ihr Herz schlug schwer und schmerzhaft in ihrer Brust. Sie setzte sich auf, legte die Stirn an die Knie, und der Schweiß tropfte aus ihrem Haar.

Das erste Licht drang durch die Fensterscheiben. Hier erwachte sie immer zur falschen Zeit, in der Ruhe und dem Schweigen des Morgengrauens. Jeden Morgen schritt sie durch die Gänge und versuchte, sich zu ermüden, damit sie vor dem Mittag schlafen konnte. Dann versank sie vielleicht in der Stunde vor Sonnenuntergang in den Schlaf, wurde jedoch die ganze Nacht von der Musik und den lauten Stimmen des lacustrinischen Hofes wach gehalten.

Lange Zeit hatte sie nichts mehr von der Stimme in ihren Träumen gehört. Sie war zu müde und unruhig, um bis in diese Mitte hinabzusinken. Doch plötzlich war eine Stimme ertönt. Lasst es enden!, hatte sie gefleht. Helft mir. Schickt mir Regen.

Irgendwie hatte Dumai gewusst, dass sie das tun konnte. Sie war durch einen Donnerschlag geweckt worden und roch den Regen, hörte aber keinen auf dem Dach. Du hast mir so viele Zeichen geschickt. Hilf mir zu verstehen, flehte sie den Großen Kwiriki an. Sag mir, wer diese Frau ist und was sie will.

Sie fand Kanifa auf einer Schaukel im Innenhof, wo er aus einer dampfenden Tasse trank. »Das solltest du auch mal probieren«, sagte er und verlangsamte den Schwung.

Dumai setzte sich neben ihn und nahm das Gefäß. Das Getränk war rot und schmeckte ein wenig bitter, wärmte aber. »Schläft Nikeya?«, fragte sie und zog ihren Pelz fester um sich.

»Soweit ich das beurteilen kann.«

»Erneut zeigt sich, dass die Dame der Gesichter sich an alles anpassen kann, nur nicht an den Himmel.« Sie gab ihm den Becher zurück. »Hast du etwas von dem Alchemisten gehört?«

»Nein. Der Rat der Nacht muss darüber beraten, was mit diesem König des Nordens passiert ist.«

»Das geht aber doch Meister Kiprun nichts an.«

»Vielleicht nicht. Aber was, wenn der König von Hróth von derselben Kreatur erschlagen wurde, die wir gesehen haben?«, fragte Kanifa. »Was, wenn es noch mehr von diesen Kreaturen gibt, weit weg von uns?«

»Wenn noch mehr kommen, sind wir alle dem Untergang geweiht.« Dumai sah ihren Freund an. »Was meinst du, wie lange sollen wir auf ihn warten?«

»So lange es dauert. Wir können uns ein wenig Geduld leisten, Mai.« Er musterte ihr Gesicht. »Du hast die Götter geweckt, um Seiiki zu schützen. Der Rat der Nacht wird erwägen, ob wir das auch hier tun sollten.«

Warum Nayimathun aus dem Tiefen Schnee aufgewacht war, konnte niemand erklären. Sie war eine uralte lacustrinische Drachin des Nordens, in der Legende verehrt als Wanderin mit einem seltsamen und verspielten Wesen.

Die Obdachlosen und Verlorenen beteten zu Nayimathun. Sie wurde von Betrügern und Dieben geliebt, von Waisen und Reisenden. Selbst die Hüran, die ihre eigenen Götter von jenseits der Berge mitgebracht hatten, respektierten die Grüne Schwester, wie sie sie nannten, denn auch ihr Volk war einst entwurzelt und heimatlos gewesen.

Sie nahmen gerade lustlos eine Mahlzeit ein, als eine Dienerin in den Hof stürmte. Sie war ein wenig außer Atem. »Prinzessin Dumai«, sagte sie, »ich bringe eine Nachricht von Meister Kiprun. Er ist bereit, Euch zu empfangen – jetzt, wenn Ihr wollt.«

Dumai stand auf. »Danke.«

Der Schwarzsee-Palast war wie eine Truhe mit vielen Geheimfächern. Obwohl Kanifa und sie die vielen Höfe und Gärten erkundet hatten, blieb sein Grundriss bei Tag genauso verwirrend wie bei Nacht. Offene Pfade verbanden die Hauptgebäude, deren Wände so hoch waren, dass man nur den Himmel über dem Kopf sehen konnte. Ohne Aussichtspunkt oder Wegweiser war es schwer, den richtigen Weg zu finden.

Die Dienerin führte sie zu einem der kolossalen Torbögen, die jene Pfade überbrückten, und stieg die steinerne Treppe hinauf. Sie gelangten zum Torturm, der die Basis der Sternwarte bildete, einem Meisterwerk aus schwarzem Marmor. Hoch oben fing der Himmelsglobus das Licht des Sonnenaufgangs ein, wenn er sich drehte, angetrieben von einem Wasserrad.

Drinnen stiegen sie Hunderte weiterer Stufen hinauf, und ein süßlich-muffiger Geruch drang ihnen in die Nase. Schließlich blieb die Dienerin vor einer Tür stehen. »Das ist die Kammer des Lebens«, sagte sie. »Bitte, tretet ein.«

Kerzen beleuchteten den Raum bis auf die Ecken. Eine steinerne Bank nahm eine Seite des Raumes ein, beleuchtet von offenen Öfen. Ihr Licht tanzte über einen Schrank mit glasierten Steingutgefäßen, die in Lacustrin beschriftet waren.

Eine kleine Gestalt in einem purpurnen Gewand stand mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln vor der Bank und murmelte etwas vor sich hin. Dumai räusperte sich.

»Meister Kiprun?«

Der Alchemist wirbelte herum. Vor den Augen trug er runde, sehr große bernsteinfarbene Gläser, die auf seiner Nase festgeklemmt und von Dampf beschlagen waren. »Ich habe um Entendaunen gebeten«, erwiderte er hörbar gereizt.

Dumai blinzelte. Seine Wangen waren gerötet, Haarsträhnen klebten an seiner Stirn, und er schwang eine graue Feder.

»Du hast mir Gänsefedern mitgebracht. Gans!«, bellte er so laut, dass sie zusammenzuckte. »Du kennst doch den Unterschied zwischen einer Ente und einer Gans, oder? Die eine quakt, und die andere honkt, ganz zu schweigen vom Hals. Der Hals allein …«

»Meister Kiprun!«, warf Kanifa ein. »Dies ist Noziken pa Dumai, Kronprinzessin von Seiiki.«

Der Alchemist wischte den Beschlag von seiner Brille.

»Ah. Ja!« Er verschränkte die Finger. Auf jedem trug er einen Ring aus einem anderen Metall: Gold, Silber, Eisen, Kupfer. »Prinzessin Dumai. Ich bin Meister Kiprun, der für die Großzügige Kaiserin glänzt – na ja, eigentlich flackert. Und Ihr?«, wandte er sich an Kanifa. »Wer seid Ihr? Der Prinz von Seiiki?«

»Nein.« Kanifa räusperte sich. »Ich bin nur ein Leibwächter, ein Freund von Prinzessin Dumai. Kein Adeliger.«

»Ist es nicht edel, ein Wächter zu sein?« Meister Kiprun wedelte mit einer braunen Hand, die von Brandnarben übersät war. »Na, macht nichts. Ich habe solche Dinge noch nie verstanden. Ja, Eure Nachricht hat mein Interesse geweckt, Prinzessin Dumai von dieser fernen Insel. Ihr seht aber nicht wie eine Prinzessin aus.« Er legte den Kopf schief. »Solltet Ihr nicht eine Krone oder so etwas tragen?«

Dumai fand ihre Sprache wieder. »Nun«, sagte sie und deutete auf ihre Kopfbedeckung, »das ist …«

»Madame, das ist ein Fisch.«

Nach einem kurzen Moment des Überlegens beschloss Dumai, nicht gegen den Strom zu schwimmen. »Es ist ein Fisch«, stimmte sie zu und trat einen Schritt auf ihn zu. »Mein Fisch und ich sind hierhergeflogen, um Eure Hilfe zu erbitten, Meister Kiprun.«

»Ja, das habe ich befürchtet. Das letzte Mal war es ein König, der mich bei der Arbeit gestört hat. Er hat mich in den Bergen aufgespürt, nur um mich zu ärgern.« Der Alchemist schnaubte verärgert. »Einst waren es die Armen, die meine Dienste in Anspruch nahmen und mich baten, Gras in Gold zu verwandeln. Sie waren zumindest höflich, wenn auch übermäßig optimistisch. Jetzt werde ich hin und her geschickt und von allen Monarchen zwischen Golümtan und Ginura gestört.«

Er untersuchte ein Gefäß, schnupperte an seinem Inhalt und schüttete ihn sofort über seine Schulter in einen Kessel mit einer undefinierbaren Flüssigkeit darin. Dumai wechselte einen verblüfften Blick mit Kanifa.

»Mein Schweigen war eine Einladung an Euch, Euch zu erklären, Prinzessin«, sagte Meister Kiprun zerstreut. »Die Zeit ist lang, aber auch kurz.«

»Natürlich.« Dumai folgte ihm, als er weiterging. »König Padar muss Euch gesagt haben, was wir im Zerborstenen Tal gesehen haben.«

»Ihr werdet jetzt doch nicht dieselben Fragen stellen wie er, oder?«, murrte Meister Kiprun. »Ich ertrage es nicht, mich zu wiederholen.«

»Darf ich Euch stattdessen etwas zeigen?«

Meister Kiprun schürzte die Lippen und nahm seine verschmierte Brille ab. Er hatte eine von Sommersprossen übersäte Nase, und die Falten um seine Augen ließen ihn sofort ein Jahrzehnt älter aussehen. Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab, bevor er nahm, was Dumai ihm hinhielt.

»Die sind ziemlich alt«, bemerkte er und entrollte die Seiten, die Unora gefunden hatte. »Ah, ja, der Namenlose Eine. Ich hörte die Geschichte von einem ersyrischen Zimmermädchen. Sie sagte, das sei ein Märchen, um Kinder zu erschrecken.«

»Offensichtlich nicht«, gab Dumai ungeduldig zurück. »Wir haben einen Wyrm gesehen, genau wie diesen hier. König Padar muss ihn Euch beschrieben haben. Ich möchte wissen, woher die Wyrm kommen und warum sie ausgerechnet jetzt auftauchen.«

»Nein, das wollt Ihr nicht.«

»Ich versichere Euch …«

»Ihr wollt nicht wissen, warum sie jetzt gekommen sind, Prinzessin Dumai. Ich kann mir vorstellen, dass Euch solche komplexen Zusammenhänge eher langweilen oder verwirren«, fuhr Meister Kiprun ihr über den Mund. »Stattdessen wollt Ihr wissen, wie man sie besiegen kann.«

»Ja.«

»Der Sage nach ist das erste dieser Wesen aus einem Feuerberg entsprungen. Kein Feuerberg kann versiegelt werden. Und selbst wenn, wäre es, als schlösse man einen Käfig, nachdem der Vogel längst ausgeflogen ist.« Er gab ihr die Pergamente zurück. »Wie ich schon dem König von Sepul sagte, bleibt da wenig zu tun, außer zu hoffen, dass unsere Drachen uns verteidigen können.«

»Es muss einen anderen Weg geben. Der Namenlose Eine wurde schon einmal von einem Menschen besiegt.«

»Ja, mit einem magischen Schwert, wie es scheint. Habt Ihr zufällig eins dabei?«

»Nein, aber …«

»Ich handle mit Wahrheit, Prinzessin, nicht mit Magie.«

»Was ist, wenn Magie nur ein Wort für eine Macht ist, die unser Verständnis übersteigt, wie die Magie, über welche die Götter verfügen?«, setzte Dumai nach. »Ich habe kein Schwert, aber ich habe Anhaltspunkte, Meister Kiprun. Ich vertraue darauf, dass Ihr sie entschlüsseln könnt. Ihr habt die Schichten und die Bestandteile der Erde untersucht. Helft mir zu verstehen, was ich gesehen habe und was Furtia Sturmbeschwörer mir erzählt hat.«

Meister Kiprun kratzte sich den rasierten Kopf. »Ihr meint die schwarze Drachin?«

»Sie unterhält sich mit mir.«

»Wie?«

»In meinem Kopf. Sie sagt, es gibt ein Gleichgewicht in der Welt, ein Gleichgewicht, das gestört wurde, weil das Feuer unter der Erde zu schnell zu heiß geworden ist – und der Stern nicht zurückgekehrt ist, um es zu kühlen.«

Bis zu diesem Zeitpunkt schien der Alchemist ihre Gegenwart einfach nur zu tolerieren. Doch jetzt starrte er sie an.

»Der Stern«, sagte er und griff nach ihrem Ärmel. »Wartet. Die Drachin sagte, ein Stern sei noch nicht zurückgekehrt?«

Dumai nickte. »Sie sagt, dass nur das, was kommen wird, die Gefallene Nacht aufhalten kann.« Der Alchemist presste eine Hand auf seinen Mund und ließ sie dann zu seinem glattrasierten Kinn hinabgleiten, den Blick ins Leere gerichtet. »Was ist denn, Meister Kiprun?«

»Der Nachthimmel.« Er lachte scharf. »Daran hätte ich denken sollen. Bleibt stehen, wo ihr seid, beide, und rührt nichts an!«

Er stürmte aus dem Raum und rannte eine weitere Treppe hinauf. Dumai blieb verblüfft stehen und umklammerte die Pergamente. Genau in diesem Augenblick betrat Nikeya die Kammer des Lebens und besah sich interessiert die wissenschaftlichen Instrumente.

»Prinzessin«, sagte sie, als Dumai ihr einen vernichtenden Blick zuwarf. »Ich sehe, Ihr habt den Alchemisten getroffen.«

»Und ich sehe, Ihr seid mir gefolgt.« Dumai steckte die Pergamente weg. »Wie lange habt Ihr dort schon gestanden?«

»Nicht sehr lange. Und ich würde es wirklich hassen, den Rest eines so faszinierenden Gesprächs zu verpassen.«

»Und ich würde es unerträglich finden, wenn der Flussherr auch nur einen Moment meiner privaten Gespräche verpassen würde.«

Bevor Nikeya antworten konnte, kehrte Meister Kiprun zurück und stürmte mit einem Arm voller Schriftrollen an ihr vorbei. Einen Moment später drehte er sich um, hob einen Finger und verengte seine Augen. »Ihr wart vorhin noch nicht hier.«

»Das stimmt.« Nikeya lächelte. »Bitte, lasst Euch nicht von Eurer Arbeit abhalten, gelehrter Alchemist. Ignoriert mich einfach.«

»Liebend gern«, erwiderte er und legte die Schriftrollen auf einer Bank ab. »Prinzessin Dumai, Ihr habt das seltene Privileg, meine Gedanken inspiriert zu haben. Was Ihr sagtet, hat mich an etwas erinnert.«

»Woran, Meister Kiprun?«

»Dies ist eine Welt mit vielen Kontrasten. Nacht und Tag. Feuer und Wasser. Himmel und Erde – das heißt, das, was oben ist, und das, was unten ist. Unten ist Stein und geschmolzenes Feuer. Wir Alchemisten kannten schon immer die Macht, die unter den Füßen brennt. Dort werden Metalle und Edelsteine geformt, im Schmelzofen der Welt.« Er ließ seine Ringe aufblitzen, um das zu demonstrieren. »Wir versuchen in der Alchemie, diesen Prozess nachzuahmen. Wir kochen die Metalle auf kleineren Feuern, in der Hoffnung, sie zu verändern – Eisen in Gold zu verwandeln und so weiter – oder ihre Natur zu verstehen. Zum Beispiel, warum Stein länger hält als Fleisch.«

»Was hat das mit dem zu tun, was Furtia gesagt hat?«

»Alchemisten studieren die Erde. Astronomen schauen in den Himmel. Um jede Wissenschaft zu meistern, braucht man ein ganzes Leben, deshalb haben nur wenige versucht, die Kunst von Gold und Silber zu vermählen.« Er entrollte ein großes Blatt Pergament. »Ich habe diese Theorie schon vor langer Zeit gelesen. Die Theorie der Waage.«

Er trat zur Seite, damit alle die Zeichnung sehen konnten. Sie zeigte tatsächlich eine Waage, wie man sie zum Beispiel zum Abmessen von Kräutern verwendete. Dann deutete er auf die beiden Schalen, auf denen jeweils ein Wort eingraviert war.

»Zwei Seiten«, erklärte er, »in perfektem Gleichgewicht. Oben herrscht die Schale der Kälte, des Wassers und der Nacht. Unten herrschen Feuer, Wärme und Tag. In jedem Moment befinden wir uns in einem dieser beiden Zeitalter. Zum Beispiel in der Zeit, in der die himmlischen Kräfte regieren, sind die Tage vielleicht kälter, und Wasser fließt in Hülle und Fülle. Das Grundprinzip ist, dass die ganze Welt nach diesem Prinzip der Dualität funktioniert. Nimmt eine der beiden Seiten zu, nimmt die andere ab – ein ewiges Gleichgewicht. Ich habe es auch schon als Rad oder Sanduhr dargestellt gesehen, und zwar von Leuten, die sich für diese Vorstellung interessieren.«

»Es heißt, dass die ersten Drachen von den Sternen kamen«, sagte Dumai, die verstand, worauf er hinauswollte. »Also von oben.«

»In der Tat, und jetzt ist nicht ihre Zeit. Deshalb liegen sie auch im Tiefen Schlummer. Es liegt auf der Hand, dass auch etwas von unten gekommen sein muss. Gleich, und doch entgegengesetzt in seiner Natur. Etwas aus den Feuerbergen, vielleicht.«

»Aber Feuerberge brechen oft aus – oder taten es früher jedenfalls, bevor sich die Götter in unserem Land niederließen«, wandte Kanifa ein. »Normalerweise speien sie dabei keine gefährlichen Kreaturen aus.«

»Nein«, stimmte Meister Kiprun zu, der sich dichter zu der Karte hinunterbeugte. »Ich habe mich gefragt, ob diese Eruptionen einfach nur das Feuer kontrollieren, so wie Dampf, wenn ein Topf kocht. Wenn aber etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist und zu viel Feuer … vielleicht sammelt sich der Überschuss in diesem Furchtberg.«

»Wisst Ihr, wo er liegt?«

»Jenseits des Schwarzen Spiegels, des Meeres, das selbst unsere besten Schiffe nicht so einfach bezwingen können. Aber auch Dinge, die weit weg sind, können uns beeinflussen. Ein Blatt könnte in Brakwa fallen und in Jarhat ein Beben auslösen.«

»Kann das sein?«

»Wahrscheinlich. Ich stelle immer wieder fest, dass die meisten Dinge, die ich sage, sich letztlich als wahr herausstellen.«

Nikeya trat nachdenklich zu ihnen. Sie stellte sich neben Dumai und betrachtete die Karte.

»Was könnte dieses große Ungleichgewicht der Kräfte verursacht haben, was denkt Ihr, Meister Kiprun?« Ihr Haar fiel auf ihre Schulter, als sie ihn mit geneigtem Kopf ansah. »Es muss ein bemerkenswertes Ereignis gewesen sein, das die Welt aus dem Gleichgewicht gebracht hat.«

Ihr üblicher hochmütiger Tonfall war verschwunden.

»Keine Ahnung. Es liegt jedenfalls nahe, dass wir uns in einem Zeitalter des Feuers befinden«, antwortete Meister Kiprun, »aber eines, in dem das Feuer zu stark brennt. Der Boden war trocken, von Dürre ausgezehrt, die Flüsse führten kaum Wasser. Sogar das Eis im Norden ist geschmolzen. Ob dieses Extrem nun die Ursache oder das Ergebnis ist …«

Er verfiel in ein unverständliches, hastiges Murmeln.

»Wenn diese Wyrm tatsächlich aus einem Ungleichgewicht geboren sind«, sagte Dumai langsam, »bedeutet das, dass sie kein Motiv, keinen Grund für ihr Tun haben?«

»Vermutlich nicht. Sie mögen ein gewisses Maß an Intelligenz besitzen, aber nicht genug, um ihre Natur zu überwinden.«

»Welche vom Wesen her … böse wäre?«

»Nein, nein. Auch ein Lauffeuer zerstört blindlings, aber würdet Ihr es als böse bezeichnen?«

»Aber Drachen sind gut«, sagte Kanifa. Es war gleichzeitig eine Feststellung und eine Frage.

»Nochmals, nein. Gemahlin Jekhen würde mich zweifellos auf der Stelle hinrichten, wenn ich das sage, aber es ist eine zu starke Vereinfachung, Drachen als gut zu bezeichnen. Sie befinden sich in Harmonie mit der Natur. Ist das dasselbe wie Güte?«

Dumai beobachtete den Alchemisten und wartete auf sein Urteil. Meister Kiprun starrte auf die Karte.

»Ein Zeitalter des Feuers würde durch etwas von oben beendet werden.« Er schlug mit den flachen Händen auf den Tisch. »Ein Astronom. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber wir brauchen einen.«

»Wartet.« Nikeya schaute zum Fenster. »Hört Ihr das?«

Sie verstummten. Auf der Mauer unter ihnen schrien sich die Wachen etwas zu, aber der Wind riss ihnen die Worte von den Lippen. Dumai ging zum Fenster und blickte hinaus. Sie sah schwarze Rauchsäulen, die immer höher stiegen.

Ohne auch nur Luft zu holen, rannte sie aus der Kammer, stürmte die Treppe hinunter und raste durch die Türen hinaus auf die Mauer. Aus der Stadt ertönten immer lautere Schreie, noch während Rauch emporquoll. Dieser Gestank. Kanifa war bereits an ihrer Seite. Es war genauso wie in Sepul.

»Bleib mit Nikeya drinnen«, sagte Dumai zu ihm. »Diese Wände sind aus Stein. Ihr solltet hier sicher sein.«

»Dumai, wohin wollt Ihr?«, rief Nikeya ihr nach, aber Dumai rannte bereits weiter.

*

Der Verborgene See lag in der Mitte des Palastes. Dumai ging zügig durch den erwachten Hof, dem Inneren Shim folgend, bis sie eine Marmorterrasse mit Blick auf ein tiefblaues Gewässer erreichte. Furtia und Nayimathun waren beide im See und blickten mit gereckten Hälsen auf die Stadt.

Nayimathun war älter und sehr viel größer. Sie hätte Furtia ganz verschlucken können. In einem weniger dramatischen Moment hätte Dumai sich Zeit genommen, ihre Schuppen zu bewundern, die wie mattes Glas aussahen, und ihre Mähne, die einen scharfen Kontrast dazu bildete. Sie sah aus wie zu Seide gesponnene Bronze. Ihre Hörner waren lang und weiß.

Dumai zog ihre Schuhe aus, sprang in das flache Wasser und watete auf die beiden Drachinnen zu. »Furtia!«, rief sie.

Der Schädel der Drachin fuhr zu ihr herum. »Erdenkind.« Sie blähte ihre Nüstern. »Sie sind gekommen.«

»Ich weiß, Erhabene. Wir müssen herausfinden, womit wir es zu tun haben.«

»Nur die Gefallene Nacht kann ihnen Einhalt gebieten.«

»Aber wir könnten sie aufhalten.« Dumai untermalte ihre Worte mit den Händen. »Bitte. Wir müssen versuchen, sie zu vertreiben.«

Mit einem zustimmenden Rasseln senkte Furtia den Kopf, und Dumai kletterte über ihren Hals wie auf einer Leiter. Es war keine Zeit für den Sattel oder um ihre Reitstiefel zu holen. Aber sie war jetzt sicherer und an die Instabilität des Drachenrückens gewöhnt. Sie spürte, wo genau sie ihre Füße platzieren musste. Kaum hatte sie sich sicher hingesetzt, schrak sie zusammen, als sie feststellte, dass Nayimathun aus dem Tiefen Schnee sie von oben betrachtete.

»Wer bist du, Inselkind?«

Das war eine neue Stimme in ihrem Kopf. Nayimathun senkte ihren riesigen Schädel dichter zu ihr herab, und Dumai streckte eine Hand aus, um ihre Schnauze zu berühren.

»Mein Name ist Dumai«, sagte sie deutlich auf Lacustrin. »Noziken pa Dumai.«

»Ich sehe die Wasser deines Geistes.« Nayimathun roch nach grünen Flüssen und Moos. »Wie kommt es, dass du das Licht in dir trägst?«

Bevor Dumai antworten konnte, hatte Furtia ihre Krone entzündet und erhob sich in den Himmel, flog über die Mauern des Palastes hinweg.

Furtia nahm Kurs dorthin, wo der Rauch am dichtesten war. Dumai hustete, bis ihre Kehle brannte. Der Rauch schmeckte faulig, beißend. Sie vertraute der Kraft ihrer Knie, ließ Furtias Mähne los und riss einen Streifen von ihrer Tunika ab. Sie tauchte ihn in das Mähnenhaar vor sich, und das Tuch sog die dicke Salzlake auf. Als es damit getränkt war, band sie es sich über Nase und Mund.

Die Stadt der Tausend Blumen brannte lichterloh.

Boote verließen hastig die Häfen. Unter ihnen war eine Straße mit Geschäften und Wohnhäusern in Flammen aufgegangen. Das Feuer brannte leuchtend rot, wie die Strahlen eines Sonnenuntergangs. Zehntausende von Menschen liefen panisch in Richtung des Shim, einige mit kleinen Kindern oder Habseligkeiten auf dem Arm.

Furtia knurrte. Tröpfchen bildeten sich wie Edelsteine auf ihrem Schuppenpanzer und durchtränkten Dumai bis auf die Knochen. Ihre Zähne klapperten. Sie spürte, wie sich eiskalte Muskeln unter ihr bewegten, roch die Süße eines Sturms, als die Drachin anschwoll, während sie sich an den nächstgelegenen Wolkenfetzen vollsaugte. Sie flog tief über die Dächer, schüttelte sich und durchnässte die Straßen. In ihrem Kielwasser erloschen die Brände.

Dumai blickte gerade noch rechtzeitig auf, um ein geflügeltes Wesen zu sehen, das auf sie zuschoss. In dem Sekundenbruchteil, den sie hatte, um ihren Eindruck zu verarbeiten, machte sie kühl und distanziert drei Beobachtungen:

Es ist wie die Kreatur, die ich im Tal gesehen habe, nur kleiner.

Es hat nur zwei Beine, nicht vier.

Aber es ist nicht weniger tödlich, wenn es Feuer speien kann.

Der Aufprall hätte sie fast vom Rücken der Drachin geworfen. Ihr Schrei ging in einer Explosion aus Lärm unter – Furtia brüllte, Krallen schabten über Schuppen, das Heulen des Windes. Der Gewittergeruch war wie weggebrannt, ersetzt durch etwas Heißes und Erstickendes. Ihr Kopf schien plötzlich doppelt so schwer zu sein. Ihr Magen verkrampfte sich in ihrem Bauch, während Furtia nach links abschwenkte. Durch die dunklen Strähnen ihres eigenen Haares sah Dumai Zähne wie eiserne Klingen, die mit einem scharfen Klirren zuschnappten, dann war die Bestie verschwunden.

»Erhabene, bist du verletzt?«

Furtia schüttelte sich. »Das ist eine niedere Kreatur …«

Dumai bereute bereits ihre Entscheidung, die Drachin ohne Sattel zu reiten.

Ihre Hände schmerzten, weil sie sich so fest in die Mähnenhaare klammerte, ihre Oberschenkel zitterten, als sie krampfhaft versuchte, sich auf den glatten Schuppen zu halten. Sie erblickte die geflügelte Kreatur, die durch die Luft wirbelte. Sah ihre angesengten braunen Schuppen, die kupfernen Stacheln auf ihrem Rückenkamm. Dann breitete sie die ledernen Flügel aus, um sich erneut herabzustürzen.

Nayimathun rammte sie mit vorgestreckter Stirn. Als die Kreatur davonwirbelte, krachte sie mit einem ihrer Flügel in einen Tempel, zerbrach drei Säulen und kappte eine Dachtraufe. Als sie sich für einen weiteren Angriff drehte, biss die Lacustrin-Drachin zu, zermalmte den Flügel und schleuderte die Kreatur in den Fluss.

»Da!«

Dumai blickte zurück in den heulenden Wind und hielt den Atem an.

Zuerst war sie sicher, dass es der Wyrm aus dem Zerborstenen Tal war. Er hatte zwei Hörner und vier Beine, dazu zwei weite Schwingen. Dann sah sie die Art, wie das Licht von seinen Schuppen reflektiert wurde – nicht glitzernd, wie die Sonne auf Honig. Der Glanz war klar, wie von einer polierten Oberfläche. Der Wyrm war von der Schnauze bis zum Schwanz mit Schuppen aus glänzendem Gold überzogen. Sie waren so hell, dass sie die Feuer unter ihnen reflektieren. Es war Gold, das aus dem Herzen der Welt gestohlen worden war. Er wäre herrlich gewesen, wenn der Blick seiner Augen nicht durch und durch erbarmungslos gewesen wäre.

Allein seine Masse war erschreckend. Wie auch der Lärm von unten, als die Menschen die Kreatur sahen. Dumai hatte noch nie ein so großes Lebewesen gesehen – seine ausgebreiteten Schwingen hätten die gegenüberliegenden Ufer des Flusses berühren können. Nicht einmal Nayimathun reichte an diesen Wyrm heran, und Furtia, die viel jünger war, wirkte im Vergleich dazu fast spindeldürr. Wie alle seiikinesischen Drachen war sie lang und schlank, perfekt geformt für das Eintauchen ins Meer.

Doch ohne eine Spur von Angst flog sie auf die Kreatur zu. Dumai war steif vor Kälte. Sie konnte das Ungeheuer riechen, seine Falschheit, und je näher es kam, desto heftiger pochte ihr Herz.

Seine Augen waren auf sie gerichtet.

»Erhabene, halt!« Ihre Fersen rutschten aus, als mehr salziges Wasser unter ihr aus den Schuppen sprudelte. »Furtia …«

»Halt ein, er ist zu stark!«

Furtia öffnete ihre Kiefer zu einem Brüllen. Dann schlug ihr eine Welle heißer Luft entgegen, und ein schreckliches Eisenhorn schabte an ihrer Seite entlang.

Das weiße Licht in ihrer Krone erlosch zischend.

Das Geräusch, das darauf folgte, hatte Dumai noch nie gehört. Das Kreischen des Windes drohte ihr Trommelfell zu zerreißen. Furtia schien zusammenzubrechen, sie ging in den freien Fall über, und ihr silbernes Blut spritzte wie Regen aus ihrer Flanke.

Die Welt wirbelte um Dumai herum, die sich mit blitzenden Augen und gefletschten Zähnen an der Drachin festklammerte. Furtia bebte unter ihr. Ihre Krone erwachte wieder zum Leben, und sie wirbelte herum, weg von den auf sie zusausenden Dächern – aber der Ruck nach oben kam zu hart und zu plötzlich. Dumai verlor den Halt.

In all den Jahren, in denen sie auf den mittleren Gipfel des Ipyeda geklettert war, war sie noch nie länger abgestürzt, als sie brauchte, um erschreckt Luft zu holen. Weil Kanifa sie stets abgefangen hatte. Dieses Mal jedoch hatte sie kein Seil um die Taille geschlungen.

Sie wusste, wie sie landen musste: auf den Füßen, mit lockeren Knien, damit sie sich die Beine brach und nicht den Schädel. Aber dafür war keine Zeit mehr.

Etwas prallte gegen ihre Schulter. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie, dann landete sie in einer weichen Schneewehe am Fuße des Uhrenturms. Sie federte den Sturz zwar ab, aber ihre Schulter und ihre Hüfte schmerzten.

Zuerst scheute sie davor zurück, sich zu bewegen, um herauszufinden, wie schwer sie verletzt war. Menschen rannten in alle Richtungen um sie herum – einige von ihnen quollen aus dem Uhrenturm, andere drängten in ihn hinein. Sie erblickte Kaufleute und Soldaten, Eltern und Kinder. Irgendwo in dem Chaos und dem schwarzen Rauch hörte sie Hunde bellen, hörte Schreie und Hufschlag.

Bleib ruhig. Ihre Mutter sprach aus ihrer fernen Erinnerung. Wenn du fällst, bleib vor allem ruhig.

Dumai krümmte zuerst ihre Zehen. Sie spürte beide Beine. Vorsichtig setzte sie sich auf und stöhnte angesichts des pochenden Schmerzes in ihrer Schulter. Ihr Mantel war aufgerissen, wo sie die Dachkante gestreift hatte. Das Blut durchnässte bereits ihren Ärmel.

Ein Schatten flog über sie hinweg. Der goldene Wyrm. Er stieß ein dröhnendes Brüllen aus, einen Schrei, der Angst einflößen sollte. Im nächsten Moment schoss rotes Feuer aus seinem Rachen, eine Flammenwand, so breit wie der Weiße-Blüten-Weg.

Dumai schützte ihre Augen vor der Hitze. Hustend drängte sie sich durch den schmelzenden Schnee, unter einem Leichentuch aus Dunkelheit. Furtia würde sie jetzt nie finden, in dem Gedränge von Menschen und Pferden, die durch die Gassen hasteten. Ihre beste Chance bestand darin, zurück zum Palast zu gelangen.

Sie blieb geduckt, weil sie die beißenden Dämpfe nicht einatmen wollte. Ihre Rippen brannten bei jeder Bewegung. Sie presste sich eine Hand auf die Seite und kroch weiter, durch nasse Fußspuren, Ruß und Blut, bis ihre Finger über eine verkohlte Hülle streiften. Sieh nicht hin, befahl sie sich und unterdrückte einen Würgereiz. Sieh nicht hin. Sie erhob sich und stolperte aus der Gasse heraus auf eine Straße, die der Wyrm zerstört hatte. Ein Gebäude neigte sich und stürzte vor ihren Augen ein, und der Staub und die Asche verdichteten den grauen Nebel um sie herum.

Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Sie blickte nach rechts und dachte zuerst, sie sähe ein Pferd. Benommen fragte sie sich, ob es angeschirrt war und deshalb so merkwürdig aussah – bis ein Windstoß die Glut und den Rauch kurz lüftete.

Es musste einmal ein Hirsch gewesen sein. Jetzt war er mit Schuppen bedeckt. Sie panzerten den Kopf, den Hals und die Flanken, überall, außer an den Hinterbeinen, die gestreckt waren und ein zweites Knie hatten, was ihn größer machte, als er sein sollte. Blut sickerte aus offenen Wunden, wo die Flügel durch seine Flanken brachen. Die Zähne waren geschärft und aus Eisen, ebenso sein Geweih. Es waren Knochenspitzen aus Eisen. Hinter ihm lag ein toter Mann mit von Hufen zertrümmertem Schädel.

Dumai zitterte. Als sein Blick auf sie fiel, gab er einen halb wiehernden, halb brüllenden Laut von sich.

Sie vergaß, dass sie barfuß und verwundet war. Die Schmerzen in ihrer Seite lösten sich auf, vertrieben von der Notwendigkeit zu überleben. Sie rang nach Luft und rannte auf einen niedrigen Zaun zu, kletterte darunter durch und bog scharf um eine Ecke.

Sie rutschte auf dem Eis aus, verdrehte sich den Knöchel, prallte gegen eine Wand, lief jedoch weiter, ignorierte den Schmerz.

In all den Jahren, die sie auf dem Berg verbracht hatte, hatte sie die Gefahren der Kälte kennengelernt. In ihrer Zeit am Hof hatte sie die Gefahren der Intrigen und der Manipulation erlebt. Doch all das verblasste im Vergleich dazu, als Mensch unter Kreaturen zu leben, die das Unbekannte in der Tiefe der Erde hervorgebracht hatte.

Eine weitere Monstrosität rumpelte über ihren Weg, fast doppelt so groß wie sie selbst, sowohl mit Fell als auch mit Schuppen. Der riesige Bär verfolgte eine Menschenmenge. Seine Augen loderten in seinem Schädel, und er blies Funken durch seine Nasenlöcher. Dumai änderte erneut die Richtung, nur um auf einen schrecklichen Wolf zu stoßen. Sein Unterkiefer war aus dem Gelenk gehakt. Als er sie anbrüllte, bog sie hastig in eine andere Straße ein. Ruß brannte in ihrer Kehle.

Doch diesmal traf es sie noch schlimmer – sie war nicht in eine Traumwelt gestolpert, sondern in einen Albtraum.

Etwas warf sie zu Boden. Sie rollte sich ab und schützte ihren Kopf mit beiden Armen, bis sie in das eisige, flache Wasser eines Kanals rollte. Völlig durchnässt zog sie sich auf die Brücke über sich, und die Angst verlieh ihr Kräfte.

Durch den Kanal fand sie die Orientierung wieder. Seinem Lauf folgend, rutschte sie unter einen Karren mit zerstörtem Tuch, stieß mit einer anderen Frau zusammen und stolperte weiter zum Weiße-Blüten-Weg, wo Wagen und Geschäfte brannten, so weit das Auge reichte. Dumais Knie gaben nach, als die Erschöpfung ihren Körper überwältigte.

»Inselkind.«

Ihr Kopf ruckte hoch. Nayimathun kam auf sie zu. Sie nahm alle Kraft zusammen und rannte auf die Drachin zu. Der Schmerz brannte wie eine erhitzte Klinge in ihrer Schulter.

Nayimathun flog so tief, dass ihr Bauch über die Straße streifte. Menschen klammerten sich an ihre Schuppen, griffen nach den Haaren an ihrem Schweif. Sie packte Dumai und hielt sie behutsam zwischen ihren scharfen Krallen, als sie sich aus dem Rauch erhob.

Dumai erschlaffte, als Nayimathun mit ihr über die angegriffene Stadt flog und sie schließlich im Schnee ablegte. Unkontrolliert hustend, beobachtete Dumai, wie die grüne Drachin das Eis auf dem See der Langen Tage zerbrach und sich in die Fluten stürzte.

Als Nayimathun wieder auftauchte, war sie nicht mehr allein.

3. KAPITEL

WESTEN

Der Wolkenbruch hielt drei volle Tage an. Sobald er die letzten Brandherde in Ascalon gelöscht hatte, schickte Ser Robart Reiter in die Provinzen. Sie berichteten, dass ein ganzer Schwarm von Wyrm zahllose Felder und Obstgärten in den Auen – der Kornkammer von Inys – zerstört und die Weiden mit Blut getränkt hatten, bevor sie nach Süden geflogen waren, über die Meerenge des Heiligen nach Yscalin.

Glorian beobachtete, wie ihre Untertanen sich vor den Burgtoren drängten und schrien. Ein weiterer Aufstand innerhalb von zwei Tagen. Dabei wollte sie am liebsten nur in die Stadt reiten und die Menschen trösten. Stattdessen war sie im Königinnenturm eingesperrt wie eine edle Stute, die auf Prinz Therico wartete.

Florell besuchte sie am Mittag. »Hoheit«, sagte sie, »der Regent bittet um deine Anwesenheit. Ein königlicher Bote ist eingetroffen.«

Glorian stand sofort auf. »Von meinem Verlobten?«

»Das weiß ich nicht.«

»Er muss bald hier eintreffen«, meinte Glorian, mehr zu sich selbst als zu Florell. Sie ging unruhig in ihrem Schlafgemach auf und ab. »Ich muss so schnell wie möglich auf das Schlachtfeld.«

»Glorian, dein Leben ist nicht weniger wert, wenn du ein Kind geboren hast. Willst du dein Neugeborenes als Waise zurücklassen?«, protestierte Florell. »Denk an die Besonnenheit. Du hast Hróthi-Blut in dir, aber auch das von Inysh. Nicht alles lässt sich mit einem Schwert lösen.«

Das muss ich aber glauben, dachte Glorian, sonst verliere ich den Verstand.

Ihre Kammerfrauen kleideten sie in eine Tunika und Röcke in gedecktem Grau. Julain flocht ihr Haar, während Adela und Helisent ihren Mantel und die Ärmel ausbürsteten. Helisent litt immer noch unter einem hartnäckigen Husten.

»Florell«, bat Glorian, »holst du mir ein wattiertes Wams?«

Florell hielt inne. »Als Rüstung?«

»Ja.«

Man brachte ihr einen ärmellosen Gambeson in ihrer Größe. Er bestand aus gesteppter dunkler Wolle und hatte einen hohen Kragen, in dessen Futter Eisen eingenäht war. Er war schwerer, als Glorian erwartet hatte, aber sie empfand das Gewicht als angenehm. Florell schloss die Schnallen, bevor sie ihr die Krone zurechtrückte.

Dennoch fühlte sich Glorian wie eine Hochstaplerin, die nur Königin spielte. Alles, was sie trug, war nur Täuschung, hinter der keine echte Macht stand.

Ser Robart wartete am Fuße des Königinnenturms, ein Schwert an der Hüfte. »Majestät«, begrüßte er sie und betrachtete ihre Kleidung, während er sich verbeugte. »Danke, dass Ihr meinem Wunsch so schnell entsprechen konntet, mich zu begleiten.«

»Ich wäre Euch sehr verpflichtet, Durchlaucht, wenn ich Euch öfter begleiten könnte, damit ich über die Ereignisse in Inys auf dem Laufenden bleibe.« Glorian ging mit ihm in die Gärten. »Im Königinnenturm bin ich nur von geringem Nutzen.«

Sie sprach mit einer Entschlossenheit, die sie selbst überraschte. Seit ihrer Begegnung mit Fýredel hatte sich etwas in ihr verändert. Nachdem sie dem Bösen ins Angesicht geblickt hatte, empfand sie weniger Angst.

»Majestät, Ihr werdet über alles informiert, was Ihr wissen müsst«, erwiderte er ruhig. »Natürlich könnt Ihr den Königinnenturm verlassen, wann immer Ihr das wünscht, aber es ist der sicherste Ort für Euch. Wir wollen den Angriff auf Schloss Glowan nicht vergessen.«

Sie kamen an einer Gruppe von Höflingen vorbei, die ihnen den Vortritt ließen. Sie trugen das gleiche Grau wie der Himmel.

»Und Eurer Behauptung, Ihr wäret dort kaum von Nutzen«, fuhr Ser Robart fort, »muss ich widersprechen.« Er ging an der Statue seines Vorfahren vorbei, des Ritters der Großzügigkeit, der eine Weizengarbe hielt. »Ihr seid dort in Sicherheit und bereitet Euch auf Euren größten Dienst für unser Königinnenreich vor. Mehr als je zuvor sehnt sich Euer Volk jetzt nach der Gewissheit, dass seine Königin einen Erben hat.«

»Wo wir gerade davon sprechen: Kommt dieser Bote von Prinz Therico?«

»Ich weiß nicht mehr als Ihr, Eure Majestät. Ich kann einen königlichen Boten nicht ohne die Königin von Inys empfangen.«

Sie betraten den riesigen, aus hellem Stein gemauerten Thronsaal, der eine Vorstellung des Eingangs nach Halgalant beschwören sollte. Glorian betrachtete die Gewölbedecke, die hohen Fenster und den glänzenden Boden.

»Was passiert in der Stadt?«, fragte sie.

»Wir kümmern uns um die dringendsten Bedürfnisse der Menschen. Lebensmittel werden aus den Marschen und den Anhöhen geliefert. Die Heimatlosen werden Zuflucht in den Sanktuarien finden, bis wir die Häuser wieder aufbauen können.«

Wann auch immer das sein mag, dachte Glorian. Welchen Sinn hatte ein Wiederaufbau, wenn der Wyrm angedroht hatte zurückzukehren?

»Ihr seid der Herzog der Großzügigkeit«, sagte sie. »Was ist mit den Armenhäusern?«

Mit dieser Frage verstieß sie zwar gegen die Regel ihrer Mutter, niemals Fragen zu stellen, konnte jedoch für sich nichts Nachteiliges darin erkennen. Sie besaß keinerlei Macht. Wissen konnte ihr möglicherweise welche verleihen.

»Sie sind überlaufen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie so viel Unterstützung wie möglich erhalten«, antwortete Ser Robart, als sie sich der Treppe näherten. »Während wir unsere Möglichkeiten überdenken.«

»Was ist mit unseren Verteidigungsanlagen?«

»Wir haben keine, außer Bogenschützen und Kriegsschiffen. Ich habe den Zustand der Stadt gesehen, Eure Majestät. Ich bin überzeugt, dass es keinen Schild und keine Waffe gibt, die die Wyrm daran hindern könnten, noch einmal dieselbe Verheerung anzurichten.«

»Ich weiß. Ich stand neben Euch auf dem Uferweg.«

»Gewiss.«

Glorian wünschte, sie würde aus diesem Mann schlau. »Wie sieht Euer Plan aus, Ser Robart?«, fragte sie. »Selbst wenn wir es nicht schaffen, Fýredel zu besiegen, könnten die kleineren Wyrm vielleicht auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Sicherlich müssten wir das Volk zu den Waffen rufen.«

Offenbar war ihre Frustration ihr nur allzu deutlich anzumerken, denn Ser Robart blieb stehen und drehte sich zu ihr um.

»Königin Glorian, ich bin kein Mann großer Leidenschaften. Oft denke ich, dass ich eigentlich vom Ritter der Besonnenheit abstammen müsste«, sagte er mit einem Anflug von Sarkasmus. »Ich ziehe es vor, jede Situation distanziert und genau zu prüfen, ohne mir zu erlauben, dabei der Trauer oder Angst nachzugeben. Das erlaubt mir, klar und rational zu denken – aber verwechselt meine Leidenschaftslosigkeit nicht mit mangelnder Sorge. Mir liegt sehr viel an diesem Königinnenreich, und ich werde alles tun, um es zu bewahren.«

Glorian nickte befriedigt. »Ich verstehe.« Sie gingen weiter. »Meine Mutter neigte ebenfalls nicht zu leidenschaftlichen Ausbrüchen.«

»Aber Ihr tut das. Genau wie Euer Vater«, erwiderte Ser Robart mit einem seltenen Lächeln. »Ihr seid ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich.«

»Ich danke Euch.«

»Eure Nachrede auf ihn nach der Beerdigung war großartig.«

»In Hróth ist das eine alte Tradition bei Beerdigungen. Sie nennen es sithamál – die letzte Erzählung. Es wurde bereits vor der Konvertierung zum Heiligen gesungen«, fuhr Glorian fort, »nur dass man damals die Toten verbrannte.«

»Es wurde gesungen, damit das Land selbst sich an die Verstorbenen erinnert«, sagte Ser Robart. Glorian warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Ich hege ein gewisses Interesse für solche Dinge, Eure Majestät. Ganz gleich, wie tief wir die Vergangenheit vergraben, sie kommt immer wieder hoch. Es ist besser, sie zu verstehen, als sie zu fürchten.«

Auf der obersten der sechs sich verjüngenden Stufen, die für eine Dynastie von hochgewachsenen Königinnen steil in den Stein gehauen waren, blieb Glorian stehen. Vor ihr stand der hohe Thron des Königinnenreiches von Inys, aus cremefarbenem morgischem Marmor gehauen und elegant in seiner Schlichtheit. Daneben befand sich ein Faltschemel. Ein weinroter Baldachin, auf dem ein Abbild des Wahren Schwertes prangte, überspannte den Thron.

Glorian drehte sich um und nahm auf dem Thron Platz. Trotz des Kissens war der Marmor hart und kalt.

»Eure Majestät.«