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- Romandebüt des preisgekrönten Basler Dramatikers Lukas Holliger - Virtuoses Spiel mit ungreifbaren Identitäten - Schillerndes Dreiecksverhältnis voller Anziehung und Abstossung Ein arbeitsloser Filmvorführer verschanzt sich in seiner Wohnung in Basel. Nur das Arbeitsamt oder die Einsamkeit treiben ihn aus dem Haus. Eines Tages fällt ihm ein Mann ins Auge, den er von nun an verfolgt: Klaus Halm. Dieser wirkt bei aller Unscheinbarkeit wie sein exaktes Gegenbild, denn mit Frau, Kind und Arbeit hat er alles, was dem Erzähler fehlt. Immer weiter versenkt er sich in das minuziös beobachtete Leben des Klaus Halm, und am Ende ist sich nicht nur der Erzähler unsicher, wer hier eigentlich wessen Leben lebt. Die Berliner Tageszeitung ‹Junge Welt› bezeichnete Lukas Holligers 2015 erschienene Erzählminiaturen ‹Glas im Bauch› als «postheroisches Prosadebüt» – und auch in seinem Romandebüt steht ein Mann im Zentrum, der mit Sicherheit kein Held ist. Aber was ist schon sicher?
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Seitenzahl: 296
Unterstützt durch den Fachausschuss Literatur Basel-Stadt/Basel-Landschaft
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© 2017 Zytglogge Verlag AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Martin Zingg
Coverfoto: © Valentyn75 | Dreamstime.com
Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel
Printed in Switzerland
ISBN: 978-3-7296-0949-5
eISBN (ePUB): 978-3-7296-2142-8
eISBN (mobi): 978-3-7296-2143-5
E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch
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Für Nika und Janek
Die Menschen in den algengrünen Trams sind meine einzigen Weggefährten. Zuhause lasse ich das Telefon klingeln oder blockiere es mit endlosem Surfen. Das schlürfende Einwahlgeräusch ins Internet ist das Erste, was ich mir jeden Morgen anhöre. Später befinde ich mich zuverlässig auf dem Küchenbalkon und sehe zu, wie sich mein Zigarettenrauch in die Geranien der Nachbarin hineinwindet. Die Nacht verbringe ich mit einem alten VHS-Recorder. Grössere Kreise als bis zur Kasse des Supermarkts in der Mülhauserstrasse oder bis zum Geldautomaten in der Elsässerstrasse ziehe ich nur, wenn ich aufs Arbeitsamt muss. Der Weg zwingt mich über die Mittlere Rheinbrücke durch die Rheingasse in ein eselgraues, trostloses Gebäude. Die Arbeitslosenquote strebt gegen vier Prozent, die Warteräume stehen leer. Ich lebe in der Schweiz. Man nimmt den Frühling 2003 zur Kenntnis.
«Ein Mann ohne Frau ist ein toter Mann», behauptet Doktor Otternschlag im Filmklassiker ‹Grand Hotel›. Falls der Doktor Recht hat, bin ich seit elf Jahren tot. Eine nervöse Leiche. Ausserdem eine, die seit einundzwanzig Monaten, seit das Kino ‹Playtime› geschlossen und seinen einzigen Filmvorführer entlassen hat, ohne jede Arbeit ist. Ich bin ein Untoter, der in einundzwanzig Monaten gelernt hat, sich zu verstecken. Es heisst, Einsamkeit sei das soziale Äquivalent zu physischem Schmerz, zu Hunger und Durst. Stimmt. Aber der Durstige schämt sich seines Durstes nicht. Der Einsame schämt sich seiner sozialen Nacktheit. Er versteckt sich in der Dämmerung hinter einem Baum und wirft einen zweiten, kürzeren Schatten.
Vor einer Woche stand ich, es war kurz nach Mitternacht, auf der Dreirosenbrücke, schaute in den Rhein und realisierte plötzlich die Einsamkeit unserer Epoche angesichts der ungeheuren Zahl von Toten. Allein die Römer, Gründer dieser Stadt. Metertief im Boden eingelagert wie ein eigenes Erdzeitalter. Die Brücke war mir zu hoch. Ich kehrte mit trockener Hose und trockenem Hemd in meine Höhle zurück, liess meinen Videorecorder neue Kassetten schlucken. Nächtelang nur Stummfilme mit Tortenschlachten. Am liebsten aber streife ich mit Jean Gabin oder Michel Piccoli durchs verschwundene Paris. Oder ich schaue mit Marcello Mastroianni von hoch oben über New York, und wir hören der alten Geraldine Fitzgerald zu, wie sie ein irisches Volkslied singt.
… the place where my heart
was you’d aisy rowl a turnip in ...
Mein Haus verlasse ich seit der Nacht auf der Brücke nur noch tagsüber, betrachte auf den Strassen die Verheirateten, Verlobten, Verliebten und ekle mich gerne vor ihnen. Sie rechnen zu sehr mit der Zukunft. Umgekehrt weigere ich mich, irgendeine Ähnlichkeit mit den Alleinstehenden zu erkennen. Die Alleinstehenden pflegen entweder Freundschaften wie Partnerschaften oder befinden sich auf der Suche nach neuem Glück, sind also kurz davor, die Gruppe der Singles zu verraten. Der hoffnungslose Rest, den jede Partnerschaftsvermittlung spielend mit mir in Verbindung brächte, bleibt mir am fernsten. Denn bisher lag mein eigener Fall immer simpler. Ich fühlte mich nur stark, wenn ich alleine war. Seit das ‹Playtime› aber Geschichte ist, meinen Tagen die Struktur und mir selbst der flüchtige Kontakt mit Kinobesuchern und einem erschöpften Vorgesetzten fehlt, investiere ich mein Arbeitslosengeld immer häufiger in öffentliche Verkehrsmittel.
Die Tramlinie 10 ist angeblich eine der längsten Europas. Für ein paar Meter durchsticht sie Frankreichs Grenze. Die 16 und 15 mag ich, weil sie sich ineinander verwandeln und steil durch ein Waldstück führen. In ein reiches Stadtquartier, in dem es immer still ist, egal ob der Zweite Weltkrieg, 1968, die neue Völkerwanderung oder nur der 1. Mai Sorgen bereiten. Die 3 und die 11 berühren an ihren nördlichen Enden um ein Haar Frankreich, auch die 6 und die 8 machen ein paar Gleismeter vor der deutschen Grenze wieder kehrt. Von Endstation zu Endstation reisend, fühle ich mich beschäftigt und übe mich wieder darin, eine freie Macht zu sein. Ich sage mir wieder, dass es der grösste Akt der Freiheit sei, keine Freunde zu brauchen. Insbesondere will ich mir niemals die Blösse geben, jemanden zu lieben. Wenn ich gut in Form bin, überlebe ich sämtliche Familienväter, Studentengruppen, Schulklassen, Cliquen und Liebespaare, die mir begegnen. Auf einen Punkt gebracht: So wie andere die Arbeit, scheue ich die Lebenslust. Fairerweise empfinde ich sie als unangreifbar, denn Menschen mit Lebenslust, Menschen, die sich an einer Party selbst vergessen, überwinden die Angst vor dem Tod. Alles, was mich jedoch antreibt, ist diese Angst vor dem Tod. Zumindest die Angst, von der Dreirosenbrücke zu springen. Die Todesfurcht ist mein letzter Trumpf. Auf Brücken stehen und spüren, wie es mich schaudert. Dagegen kommt ein Alltag in gesicherten Freundeskreisen nicht an. Freundeskreise mit Sonntagsbrunch sind nicht mein Film. Freundeskreise sind Maskenbälle. Ein billiger Vergleich, ich weiss. Aber er führt zu einer kostbaren Einsicht. Der Einsicht, dass wir unsere Masken vollständig erst ablegen, wenn wir einsam sind. Nicht aus Scham, sondern weil sich die Masken, rein technisch, nur dann von der Haut ablösen. Leere Behauptungen sind das nicht. Als Teenager habe ich meinen aufgebahrten Grossvater gesehen. Die unendliche Friedlichkeit seines Gesichts. Er hatte sich in einen Menschen verwandelt, der endlich in Ruhe gelassen wurde. Freiheit.
Es gibt nichts Unfreieres als Zeitgenossen wie mich, die tatenlos auf Brücken stehen, nur um am nächsten Tag wieder Tram zu fahren und Fahrgäste anzugaffen. Ich vermute, nach einundzwanzig Monaten Arbeitslosigkeit gaffe ich aus Notwehr. Um nicht über mich selbst nachdenken zu müssen.
Heute Morgen habe ich in einer Papeterie ein Notizbuch gekauft. Der Verkäufer sah aus wie einer, der selbst ein solches Notizbuch niemals kaufen würde, und nie würde er es im Tram umständlich auf sein Knie drücken, um rüttelfrei hineinkritzeln zu können. Aber alles ist besser als Arbeitslosigkeit, denke ich, und ich protokolliere den Anblick eines 80-Jährigen, dessen Unterkiefer bei jedem Schritt schief nach links ausschert.
Der Hitzesommer 2003, Dienstag, 5. August. In Jakarta sterben bei einem Anschlag auf das Marriott Hotel dreizehn Menschen. Nach mehreren ungeplanten Schlaufen um und durch die Stadt befinde ich mich dehydriert, verschwitzt und genervt auf dem Nachhauseweg. Ich blicke aus dem Fenster der Linie 8 und denke, vielleicht existiert da draussen in irgendeiner Seitenstrasse, in einem dunklen Zwischenhof, der beim Vorüberfahren aufgähnt, ein Indiz dafür, dass es unter meinem Leben noch ein zweites, paralleles gibt. Eine vergessene Kindheit, vergessene Wohnorte, das Gesicht des Zwillingsbruders, der mir verschwiegen wurde. Das Aufflackern eines Déjà-vu, eines Phantomschmerzes, ein erstes Puzzleteil. Ich sehe Strassen, in denen ich nie gewohnt habe. Türkische und indische Restaurants, in denen ich niemals essen werde, Internetcafés, in die ich mich nicht verirre und illegale Plakate, deren sich überlappende Einladungen zu Discos und Partys ich nie angenommen habe. «Jung sein kann man nicht allein, darum war ich nie jung», sagt Daniel Auteuil in ‹Les voleurs›. Ich sitze mit meinen 32 Lebensjahren im Tram und notiere in meinem Notizbuch Eintreffen und Ausscheiden der Fahrgäste. Keiner dieser Fahrgäste ahnt, dass ich ein Casting veranstalte. Mit nichts als ihrer Körpersprache, Garderobe und Mimik sprechen sie vor. Wenn ich mich anstrenge, finde ich in jeder Fratze ein Drehmoment, das meine Zuneigung weckt. Den entscheidenden Pupillenglanz, einen zarten Mundwinkel, das Fleckchen Haut am Handgelenk, das mich rührt. Heute ist es kompliziert. Ich bin zu erschöpft. Ich habe nachts nicht geschlafen, zu viele Maurice Pialats geguckt und gelesen. Unter anderem davon, dass Einsamkeit in etwa so schädlich sei wie Rauchen oder Fettsucht. Und Einsamkeit ist angeblich ansteckend. Die Menschen sollten mich fürchten.
Direkt vor mir der Rücken eines 17-jährigen Mädchens, das ich auf den Namen Liza taufe. Wegen der dicht am Kopf klebenden Liza-Minnelli-Frisur. Ihren sichtlich doofen Freund taufe ich Hugh Grant. Er präsentiert einen handzerwühlten Haarschopf und Schmolllippen, die meinen Neid wecken. Sein Kaugummi schickt das Menthol in alle Richtungen. Links, getrennt vom Gang, hockt ein weiterer Schüler. Ich nenne ihn Yves. Er trägt an dünnem, weissem Kabel den Apple der Stunde und geht allen auf die Nerven mit seinem Singsang. Vor ihm ein 40-jähriger Koloss. Russfarbene Wildlederjacke, kohlenschwarze Haare, aschgraue Koteletten. Ich nenne ihn Luzifer.
Hinter mir unterhalten sich zwei Frauen. Eine mit blau gefärbter Haarsträhne, ich nenne sie Susanne, die Zweite mit blauem Brillengestell, ich nenne sie Susanne II. Solche Frauen wohnen in Frenkendorf. Susanne I thematisiert ihre Angst vor Zahnärzten und schlaflosen Nächten mit Zwiebelscheiben im Mund. Sie tut mir leid. Ich möchte sie in meine Arme nehmen, aber es riecht aus ihrer Richtung wie der Urin nach einem Spargelessen.
Hinter den Frenkendorfern mache ich Juanita ausfindig. Sie drapiert sich mit unendlich liebevollen Handgriffen einen weissen Pullover über die eigenen Schultern. Ihr Mann trägt Schnauzbart. Zwei dünn rasierte Ausläufer bilden um das Kinn einen Rahmen ohne jeden Bildinhalt. Ich nenne den Mann Mário Abarca und fürchte, er wird gleich seinen eigenen Bizeps küssen.
Liza Minnelli und Hugh Grant steigen aus. Auf ihrer Bank nehmen zwei Frauen mit Kopftüchern Platz. Schneeweiss und pechschwarz. Das Weisse gehört Zahra, das Schwarze Namika. Oder umgekehrt. Die beiden Frauen sind in Begleitung eines Mannes, zu dessen Gesicht niemandem ein Name einfallen könnte.
Vorne geraten zwei Fahrgäste in heftigen Streit. Martha wirft sich Haare aus dem Gesicht. Ihre riesigen Pferdeaugen wirken verweint. George verkrallt sich ungehörig in ihren Oberarm. Ich frage mich, wie lange es dauert, bis jemand eingreift. Zu spät, sie steigen aus, werden draussen sofort lauter, das Tram fährt schon, als George in Marthas Gesicht schlägt.
Auf die kühle Schattenseite, dorthin, wo Luzifer gesessen hat, wechselt jetzt ein Doppelgänger Pierre Arditis. Er klammert sich an die Haltestange, als erwarte er enge Kurven, sieht noch französischer aus als das Original, zeigt ungewaschene Haare unter einer Schiebermütze, wie ich selbst eine besitze, versteckt eine Zigarette hinterm Ohr und trägt eine Lederjacke. Er glättet mit dem Zeigefinger unaufhörlich seine rechte Augenbraue und sieht genauso aus, wie ich mich fühle. Möglich, dass er heute mein Strohhalm ist, dass er heute das Casting gewinnt. Möglich, dass ich ihm den Rest des Tages folge.
Heike steigt ein. Heike hat erschreckend vorstehende Zähne, muss entweder auf die Toilette oder leidet an Liebeskummer. Etwas Drittes schliesse ich aus. Ich klappe mein Notizbuch zu und gebe mich meiner Müdigkeit hin. Ich stelle mir vor, wie ich mich zuhause mit einer Flasche Wein erlöse. Ein Bolivianer taucht auf. Meinetwegen heisst er Hormando Quispe. Er trägt eine goldene Rolex-Armbanduhr und isst aus einem Pappbecher Vanilleeis; mit schnell geführten, präzisen Löffelbewegungen, ohne dabei auszusehen, als wäre er in Eile. Ich will meine Augen schliessen, aber es hört nicht auf mit Menschen. Ein Bastian stellt sich jetzt mit Kinderwagen ins rollstuhlgängige Niederflurabteil. Über braunen Ärmeln trägt er ein kurzärmliges hellblaues Leibchen. Sein Kind im Wagen hat Engelshaar, rote Erdbeerlippen, blaue Augen, milchweisse Haut und hoffentlich volle Windeln. Ich nenne den Scheisser Steven und winke ihm zu. Man kann nie wissen, eines Tages operiert er meine Prostata. Ich schliesse die Augen.
Das Tram klingelt wild. Die Bremsen schlagen wie Stahlhämmer gegen den Tramboden. Ein Radfahrer torkelt und fällt auf ein geparktes Auto. Hinter der Urlaubswerbung ist eine Andrea nur unvollständig zu sehen. Ich schliesse die Augen. Ich atme tief ein, tief aus und überlege, wo ich aussteigen soll. Etwas haut gegen meinen Hinterkopf. Eine 30-Jährige mit übervollen Einkaufstüten hat sich in Stellung gebracht. Ich nenne sie Norma, die Shopping Queen. Sie trägt viel unförmiges Haar auf dem kleinen Kopf. Als sie mir in die Augen schaut, bekomme ich Angst.
Ein Mann, 42, hohe Stirnglatze, fast bis zum höchsten Punkt seines Schädels, fixiert mich vorwurfsvoll. Er trägt Bart. Brille. Ich schaue weg. Nach einer Weile überprüfe ich ihn. Er hat einen freien Platz gefunden, stützt den Ellbogen auf seinen Aktenkoffer und denkt wohl über die Nebenwirkungen von Paracetamol nach. Ich taufe ihn Carlo, den Oberarzt.
Ich kann nicht mehr.
Bastian steigt aus, Jasmila und Radu steigen ein, ebenfalls Mirjam, Diana und die fünfjährige Wanda, die später in San Francisco einen Mann ohne Beine heiraten wird. Es steigen in den nächsten Minuten ein und aus: Jonas, Esther, Jorge, Gabriel, Veronika, Patrick I und Patrick II, Janek, Matthias, Roald und Lisa Fairbridge, eine aussergewöhnlich bezaubernde Christina, Murat, die am Auge verletzte Dana, Petr und Anička, Hans-Ruedi und Karin, sowie ein Kerl, der aussieht wie Danny de Vito, nur grösser. Mein Notizbuch vermerkt ferner Olga Yegorovnam, Heiner und Denise, Laurel und Hardy, sowie den Kulturbeauftragten des Kantons Basel-Stadt. Zudem umklammert ein weiblicher Alien mit Blinddarmneid das gewölbte Tramdach, glotzt von aussen durchs Fenster und zählt die Passagiere ab. Beim Centralbahnplatz rette ich mein Notizbuch vor weiteren Blödeleien, steige aus und habe für einen Moment das heitere Gefühl, ich selbst sei nur ein Witz.
In der Schalterhalle des Bahnhofs kaufe ich mir Feldschlösschenbier, und während Lautsprecherdurchsagen Menschenmengen organisieren, sticht mir etwas Magisches ins Auge. In einem Schaufenster hängt ein zartes, dunkelblaues Sommerkleid mit weissen Punkten. In meinem Gehirn beginnt es zu schneien. Beim Bezahlen tut mir mein Hunderter zwar leid, aber auch alleinstehende Männer dürfen doch schliesslich Geschenke kaufen. Während ich das wenige Wechselgeld einstecke und die Tüte mit dem Sommerkleid zärtlich unter den Arm klemme, fürchte ich, verrückt zu werden. Mit Freiheit hat mein Alleinsein nichts mehr zu tun. Meine Freiheit scheitert an meiner Einsamkeit, und ich denke: «Chapeau, morphiumsüchtiger Doktor Otternschlag. Ein Mann ohne Frau ist wirklich ein toter Mann.» Ungeduldig warte ich auf das Tram, das mich zurück in meine Höhle, zu meinen VHS-Kassetten fährt. Und da passiert es. Am Schienbein trifft mich das Vorderrad eines leeren Kinderwagens. Ich erkenne den Lenker sofort. Der Verkäufer aus der Papeterie. Ausgerechnet. Ich vergewissere mich, dass ich das Notizbuch nicht verloren habe, und folge ihm.
Das Preisschild baumelt noch vom Rahmen. 790 Franken. Die Zahl fällt mir auf, weil ich extra lange in gebückter Haltung verharre und auf eine Entschuldigung warte. Der Papeterieverkäufer hat die Kollision nicht wahrgenommen, ist einfach nur stehengeblieben und wartet auf ein anderes Tram. Es fährt ein. Ich gewähre ihm den Vortritt in den Niederflurwagen. Er irritiert mich mit dicken Wangen, die aussehen, als wäre eine Mumpserkrankung im Gange. Sein Gesicht ist tadellos rasiert, das dunkle Haar trägt er in femininer Länge, halbherzig gescheitelt, so dass es ihm dauernd in die Stirn fällt. Die Augen glänzen wie die eines Teddys. Er strahlt keine weit entwickelte Lebenstauglichkeit aus, trotzdem scheint er gut situiert (790 Franken). Er ein werdender Vater (Kinderwagen), ich kinderlos. Er verheiratet (Ring), ich Single. Er sauber rasiert wie der junge Alain Delon in ‹Histoires extraordinaires›, ich unrasiert wie Philippe Noiret in ‹Coup de torchon›. Er blind für die Kollateralschäden seiner Umsteigemanöver, ich empfindlich wie ein angezählter Boxer.
Mit der Ausdauer eines Neiders verfolge ich ihn 25 Minuten lang. Bis zu seiner Haustür, wo er die Post sortiert. Während er sich hinter dem gerippten Milchglas der Haustür in eine schraffierte Abstraktion verwandelt, notiere ich mir beim Briefkasten Datum, Uhrzeit, Adresse und Namen.
7.8.2003, 18:06 Uhr
Gasstrasse 15
Viola Sutter & Klaus Halm
«If you meet your double, you should kill him», sagt Hitchcock. Aber dieser Halm ist nicht mein Doppelgänger, dieser Halm ist mein Gegenteil. «You should kill him, or he will kill you. Two of you is one too many. By the end of the script one of you must die.» Ich frage mich, ob das, rein physikalisch, bei Doppelgängern aus Antimaterie nicht erst recht gelten sollte. Zuhause lege ich mich ins Bett und stelle mir diesen Halm vor. Es bleibt noch fünf Stunden hell.
Die historischen Minuten, in denen sein Sohn geboren und sein Schwiegervater hundert Jahre alt wird, verbringt Halm über dem Klo. Gerade mal ein halber Arbeitstag ist vergangen, seit ihm Viola am Telefon mitgeteilt hat, sie werde nun aus dem Alters- und Pflegeheim, wo sie dabei geholfen hat, die Geburtstagsfeier für ihren Vater vorzubereiten, ins Spital gefahren. Sie wolle abklären, ob es sich bei den plötzlichen Krämpfen um Stress, Wehen oder dieselben Noroviren handle, die Halm seit vorletzter Nacht niederstrecken. Sechs Stunden nach diesem Anruf klingelt das Telefon erneut. Halm müht sich aus dem Bad ins Wohnzimmer und wundert sich beim Abnehmen des Hörers über die Hitze im Parkett.
Philip wiegt – ich sage – drei Kilogramm und hat die Strecke zwischen Gebärmutter und Tageslicht in drei Stunden geschafft. Halm legt auf und übergibt sich vermutlich mit einer Mischung aus Begeisterung und Wehmut. Kurz darauf dürfte er auf dem Sofa in neue Fieberträume versunken sein.
Als ihn die Übelkeit weckt, findet er die Wohnung abgekühlt vor. Durch das offene Fenster blendet eine Strassenlaterne. Leichter Wind aus Nordost. Aus einem Nachbarhaus dringt Gelächter. Die Pointe hat Halm verpasst. Er fragt sich, wo sein Platz ist zwischen einem Schwiegervater, den Regierungsräte feiern, und einem Sohn, der es vorzieht, ohne den Beistand seines Vaters auf die Welt zu kommen.
Um den Geschmack des Erbrochenen loszuwerden, putzt er sich zum dritten Mal die Zähne. Danach versucht er, Viola zu erreichen.
«Ihre Frau schläft.»
Halm will nicht mehr warten. Auf dem Rücksitz des Taxis versucht er, sich wie ein Vater zu fühlen, aber der Stolz, den er sich seit seiner Kindheit für diesen Tag erhofft hat, stellt sich nicht ein. Möglicherweise, weil er angestrengt versucht, sich erst im Spital zu übergeben. Mit vorgehaltener Hand rennt er an der Pforte vorbei. Danach weist man ihn darauf hin, dass er mit Noroviren nicht zu den Neugeborenen vorgelassen werden kann.
«Gibt’s keinen Mundschutz? Soll ich mich desinfizieren?»
Halm sinkt käsebleich auf einen Plastikstuhl und friert.
Kinderbett, Wickeltisch, Badewanne, sogar ein praktischer Kellerparkplatz für den Kinderwagen, alles war für Violas Heimkehr vorbereitet, auch das Preisschild entfernt. Die Gasstrasse 15 stand vor einer Feuerprobe. Halm sorgte sich, dass es im Winter in dem alten Mehrfamilienhaus nicht warm genug sein könnte. Die gusseisernen Heizkörper unter den Fenstern waren achtzig Jahre alt.
In den ersten Tagen benahm sich Viola wie eine Mechanikerin während eines nie enden wollenden Boxenstopps. In jedem Augenblick galt es zwei Dinge gleichzeitig in der Hand zu halten. Sabberlatz und Brustwarzenhütchen, Löffel und Breiteller, Puder und Wundsalbe, Windel und Wade, Köpfchen und Badeschwamm. Durch das Verhalten Violas erschien das Baby wie ein defektes Gerät, dem unentwegt Flüssigkeiten eingeträufelt oder auslaufende Materialien abgewischt werden mussten. Etwas, das Störgeräusche verursachte, die man umgehend durch Schaukeln, dargebotene Fingerkuppen, Rasseln oder Stellungswechsel zu unterdrücken hatte. Viola wirkte, als wäre ihr das Kind peinlich. Sie fummelte an Philips Hosenbeinen und Ärmeln herum wie an einer kaputten Puppe und wirkte dabei verschämt, als wäre sie es gewesen, die sie beschädigt hatte, und als versuche sie nun, das Ganze mit ihrer Brust und Liebe so gut es irgend ging wieder zu reparieren.
Halm schrumpfte zum Assistenten und übte sich erst später, heimlich, beim Einschlafen darin, für ein paar Minuten glücklich zu sein. Aber auf allen Fotos, sofern zufällig im Bild, sah Halm verzweifelt aus. Und während sich Viola neben Sandkästen keinerlei Auswege aus dem kostenlosen Erfahrungsaustausch mit anderen Müttern wünschte, lächelte er nur gequält auf, sowie ein Augenpaar versehentlich ihn statt seinen Sohn traf.
In diesen ersten Monaten verstrich die Zeit um Halm und Viola ohne jede Routine. Wie aus ihrer Umlaufbahn gehebelte Planeten torkelten die beiden durch das Raumzeitkontinuum und hofften auf den Tag, an dem sie in alter Lebensgewohnheit wieder um ihren Mutterstern kreisen würden. Im Augenblick gehörte alles einer Galaxie mit Namen Philip, und diese Galaxie wurde laut, wenn kosmische Gase ihre Gedärme dehnten.
Philip staunte über Halms Schulter zum Fenster hinaus und liess sich von den Blitzen des Sommergewitters fotografieren. Im zwischenzeitlichen Dunkel starrte Halm in die entgegengesetzte Richtung auf Violas Bücherwand. Lauter zeitgenössische Literatur. Wenn er seine Frau fragte, worum es in all diesen Büchern ginge, foppte sie ihn immer mit demselben Satz.
«Ich lese keine Bücher, die man zusammenfassen kann!»
Kein gelesenes Buch durfte weggegeben werden. Viola sammelte sie wie Jagdtrophäen der auf all diesen Seiten erlegten Lebenszeit. Möglich, dass sämtliche von Halm gelesenen Internetseiten, in Regalen aufgehoben, Violas Meterzahl übertroffen hätten, trotzdem stand er jedes Mal eingeschüchtert vor ihren Bücherbergen. Das Summen und Wippen schläferte Philip ein, bevor die Donnerschläge in voller Lautstärke über dem St. Johann-Quartier angekommen waren, und als Viola im anderen Zimmer ihren Koffer zu Ende gepackt hatte, war Halm auf dem Sofa unter dem angenehm warmen Leichtgewicht seines Sohnes eingenickt.
Morgen früh würde Viola die Sommerpause im Theater nutzen und für einen Monat zu ihrer Mutter fahren. Mit Philip. Eine Heldentat, die sie schon an Silvester angekündigt hatte. Halm sollte in der Zwischenzeit Strategien entwickeln, wie er aus den roten Zahlen käme. Vor zehn Jahren hatte er die Papeterie von seinem Vater übernommen. Seit einigen Jahren bereitete die Wirtschaftslage schlaflose Nächte. Sparsame Firmen und zurückhaltende Privatkunden brachten die gesamte Branche ins Schlingern. Die abnehmenden Kundenbestellungen liessen sich schon alleine am rückläufigen Verbrauch des Faxpapiers ablesen. Am lautesten empörte sich der Verband der Papeteristen aber über die Postfilialen, die mit Schreibwaren und Büroartikeln Kunden abwarben. Klaus Halm hatten diese Entwicklungen auf dem falschen Fuss erwischt. «Man hätte sich viel heftiger gegen die Post wehren müssen», hatte er bei der Verbandsversammlung letzten Herbst einem Kollegen nur ins Ohr geflüstert, während ihm das Haar wie ein Vorhang übers Gesicht fiel.
Viola wollte sich jetzt, da ihrem Mann das Wasser bis zum Hals stand, jedenfalls nicht dem Vorwurf aussetzen, sie würde ihm keine Luft für den Befreiungsschlag lassen.
Wenn Halm in den folgenden vier Wochen aus dem Haus trat und beim Voltaplatz auf das Tram wartete, begegneten ihm immer dieselben Gesichter. Neuerdings auch ein stets gut gelauntes. Nach wenigen Tagen konnte er die vier obligatorischen Karottenstangen in ihrer Tupperware blind abzählen. Jeden Morgen versuchte er sich von Neuem an ihren leichten Überbiss, die rötlich gefärbten Haare, den festen Körperbau und dieses unzerstörbare Lächeln mit der hässlichen Lücke zwischen den Schneidezähnen zu gewöhnen. Vergeblich. Mit dieser Zahnlücke begrüsste sie alle Tage den immerselben Arbeitskollegen, nachdem sie aus der immerselben Tür des immerselben Busses gestiegen war. Pünktlich um 6 Uhr 42. Drei Minuten später nahm sie dann die immerselbe 11. So wie Halm. Und je genervter der Papeterist sie dabei ins Visier nahm, desto ausgeprägter wurde seine Allergie. Ihre gute Laune und das selbstzufriedene Französisch schienen Halm unerträglich.
An einem Freitag war ihm aus Notwehr ein Gedankenspiel eingefallen. Als stünde das Renommee des weltberühmten Hellsehers Halm auf dem Spiel, wollte er der Karotte diesmal entgegenfiebern. Für einmal wollte er sich über ihre kuckucksuhrenhafte Zuverlässigkeit freuen. In der Ferne beobachtete er seit Sekunden das winzige Tram, das schnurgerade auf ihn zufuhr und kaum wuchs. Schon bald würde es gross genug sein. Klingelnd fuhr der mächtig gewordene Zug ein. Die Türen zischten, trotz offenkundiger Unvollzähligkeit der wartenden Passagiere. Normalerweise knabberte die Karottenfrau zu diesem Zeitpunkt längst hasenhaft am Gemüse. Ausgerechnet heute war ihr Bus aber auch um 6 Uhr 45 noch nicht zu sehen. Halm stand auf dem Trittbrett, als er entdeckte, wie die Karotte zu Fuss um die Ecke stürzte. Mit dem ganzen Gewicht falscher Höflichkeit sorgte er dafür, dass sie den Anschluss schaffte. Sie lachte ihn atemlos an, zum ersten Mal körpernah.
Das Erdbeben weckte Halm mit einem einzigen, satten Knall. Wer nichts von Tektonik wusste, hätte sich den Knall vielleicht erklärt durch eine Abbruchkugel, die im Innenhof von einem Kran aus grosser Höhe und mitten in der Nacht auf den Betonboden fallen gelassen worden war. Die gesamte Häuserzeile der Gasstrasse wäre gerne vor Schreck aufgesprungen, wurde aber von den Kellergeschossen schmerzhaft daran gehindert. Während der Knall noch im Knochenmark steckte, waren im Radio erste Fakten zu erfahren. Das Epizentrum lag 22 Kilometer tief unter der Erde, und die Erschütterungen hatten auf der Richterskala eine Stärke von 4,7 angezeigt. Halm trank ein stehengelassenes Feldschlösschen zu Ende und durchschlief den Rest der Nacht traumlos.
Am nächsten Morgen vergass er, Viola nach dem Beben zu fragen, aber da sie von sich aus nicht darauf zu sprechen kam, nahm Halm später an, dass es bei ihrer Mutter im oberen Baselbiet gar nicht zu spüren gewesen war. Statt um das Erdbeben, drehte sich das Telefonat um Violas Vater.
«Das Altersheim hat angerufen. Er weigert sich, das Hörgerät zu tragen», klagte Viola. «Er behauptet, es verstopfe den Gehörgang, und dann könne er gar nichts mehr hören.»
«Genial», lachte Halm.
«Meine Mutter meint, es sei ohnehin besser, wenn er nicht alles höre. Sie behandelt ihn jetzt mit der ganzen Arroganz ihres jüngeren Jahrgangs.»
«Reg dich nicht auf!»
«Sie hat schon wieder so einen geschmacklosen Türkei-Urlaub mit Teppichfahrten gebucht. Wenn Papa stirbt, liegt sie wahrscheinlich irgendwo am Strand und erregt sich über den neuesten Königsklatsch in ihren Magazinen. Ich fasse es nicht!»
Halm lachte schon wieder und blieb auch mit diesem Lachen alleine. Wenn es um ihren Vater ging, verstand Viola keinen Spass. Allzu nervtötend die Aufgabe, diesem protestantischen Arbeitsmenschen wenigstens die letzten Jahre seines Lebens noch zu einem bequemeren Alltag zu verhelfen.
«Warum braucht die pure Vernunft trotzdem immer meine Schützenhilfe?», fragte sie Halm, ohne eine Antwort zu erwarten. «Mama ist schlicht eifersüchtig. Logisch, jede weitere Stunde, die mein Vater nicht stirbt, imponiert ihrer Verwandtschaft mehr als ein ganzes Jahrzehnt ihres Durchschnittslebens.»
Halm wollte gerade ihre Geduld loben, als er durch den Hörer die Stimme seiner Schwiegermutter Agnes erkannte. Mit einer hastigen Entschuldigung legte Viola auf. Die ungeplante Stille verschluckte Halm. Er rettete sich auf den Balkon, ins Vogelgezwitscher des sonnigen Julitags. Im Nachbargarten, unter einer hohen Kastanie, wurde einem Familienvater von seinem vierjährigen Sohn aus einem Wassergewehr in die Beine geschossen. Der Mann beklagte sich gelangweilt, der Sohn hob seine Waffe ebenso gelangweilt über den Kopf und streckte den Bauch heraus. Schon wurden Schütze und Opfer zum Händewaschen ins Haus gerufen.
Halm hätte hier feststellen können: zwei Männer mit einer Waffe und eine Frau in der Küche – aber für Konstellationen dieser Art hatte er kein Auge. Er verliess den Balkon dumpf gelaunt und verpasste, wie leidenschaftlich die aufkommenden Windböen dem Kastanienbaum die säuberlich ausgerichteten Blätter (helle Seiten nach unten) zerwühlten, und dass die Baumkrone hinter seinem Rücken bald der Frisur einer Geliebten glich, die im Liebessturm auseinanderfloss. Er war ausserdem zu faul für soziale Kontakte und rief niemanden an, der ihm beim Essen geistreiche Gesellschaft hätte leisten können. Stattdessen holte er aus dem Briefkasten seine Computerzeitschrift und spazierte entgegen der Windrichtung bis zum ‹Mayur›. Es gab Curry-Rind mit Reis.
Die Karottenfrau begrüsste den Kollegen. Sofort wurde gelacht. Halm konnte zu wenig Französisch, um zu verstehen, worüber. Folglich hatte er Zeit, sich einmal mehr an ihrem breiten Mund und der künstlich guten Morgenlaune zu stören. Künstlich war auch die Nässe des Asphalts. Das unregelmässige Motorengeräusch des Strassenreinigungswagens nervte sogar aus der Ferne. Halm studierte die Schuhe und Waden der Karottenfrau, sah, wie sie die unvermeidliche Tupperware aufklappte und eine Gemüsestange wie eine Zigarette im Mund stecken liess. Affektiert liess sie sie von Mundwinkel zu Mundwinkel wandern und stiess fiktiven Rauch aus. Ihr paffender Arbeitskollege fühlte sich in seinen Gesten ertappt und lachte begeistert. Die Karottenfrau hob das Bein wie ein Storch, kratzte sich mit der rechten Schuhschnalle einen Mückenstich in der linken Kniekehle, verlor das Gleichgewicht, liess sich vom Kollegen auffangen und zeigte ihm einen geheimnisvollen Zettel. Aus der Ferne sah dieser Zettel aus wie das speckige Innenpapierchen eines Kaugummis. Halm ärgerte sich, dass es über dieses winzige Papierchen so viel zu tuscheln gab. Seine Blicke versuchten jetzt zu töten. Statt zu sterben, wurde die Französin aus heiterem Himmel befleckt. Eine Taube bespritzte ihr linkes Ohr so flächendeckend, dass Halm an Violas Stummfilmsammlung mit all den Tortenschlachten denken musste. Beschämt wandte er seinen Blick ab. Hinter seinem Rücken hörte er Kichern. Mit Taschentüchern und Spucke putzten die beiden wohl eine gummiweiche Ohrmuschel aus. Etwas zu lange für Halms Geschmack. Dann kam die 11. Alle drei stiegen sie nacheinander durch dieselbe Tür.
Am Abend lag Philips tintenblauer Stoffelefant plötzlich im Treppenhaus. Offensichtlich hatte es Viola nicht länger bei ihrer Mutter ausgehalten, war ohne vorher anzurufen aufgebrochen und heimgekehrt. Halm hörte durch die Tür die Sopranstimme seines Sohns, schloss die Tür auf und löste bei Viola und Philip ein synchrones «O-haaaaaa!» aus.
Halm machte: «Ja, Ha-looooooo!», wusste nicht, wen er zuerst umarmen sollte, blieb einen Moment lang stehen und zeigte seine Zähne, in der Hoffnung, dass das so freundlich aussah, wie er es meinte. Violas Mund schmeckte nach Schokolade. Ihr ganzes bisheriges Abendessen, wie sie sofort betonte. Als Halm seinen Sohn hochhob, knackte es in der väterlichen Schulter.
Die Heimkehr erklärte Viola mit Überraschungsgästen aus Hochwald, die ihre Mutter in regelrechte Geiselhaft genommen hätten. Drum sei sie unter dem Vorwand eines verschwitzten Termins Hals über Kopf getürmt. Während Viola weitere Beschreibungen der Überraschungsgäste lieferte, deren Kommentare zu Philips Wehleidigkeit zitierte oder andere Grenzüberschreitungen zusammenfasste, räumte sie hektisch ihre Tasche mit Zwischenproviant und Thermosflasche aus. Jede Minute, die verstrich, ohne dass Viola nach der Papeterie fragte, kränkte Halm. Er schaute zu, wie sie Philip ein Abendessen anrührte, und war bald zu verstimmt, um ungefragt von seinen neuen Geschäftsstrategien anzufangen (er plante, das gesamte Geschenkartikelsortiment auszubauen und mit jugendlicheren Produkten zu ergänzen. Ausserdem schwebte ihm ein Pilotprojekt vor, das es Kunden ermöglichte, Geschenke direkt aus seinem Geschäft zu verschicken. Zudem wollte er einen Kredit aufnehmen und das Erdgeschoss umbauen. Mehr Licht schaffen und die direkte Einsicht in die Warenauslage verbessern. Spektakuläre Neuigkeiten also). In Violas offener Sporttasche entdeckte Halm das Geschenk, das sie ihrer Mutter gekauft hatte. Eingepackt. Nach dem Grund wollte er nicht fragen, weil er fürchtete, eine weitere Erzählung auszulösen. Zuerst sollte sie sich jetzt nach seinen Papeterieplänen erkundigen.
Als beide gegen Mitternacht im Bett lagen, war er unfähig zu einer einzigen Zärtlichkeit, obwohl er an ihrem demonstrativen Herumwälzen erkannte, dass sie Lust hatte, dass sie wohl aber ihrerseits zu stolz war, es zuzugeben, solange er sie nicht als Erstes berührte. Halm sah zur Zimmerdecke, obwohl diese in der Dunkelheit geradeso gut hätte fehlen können, und überlegte, wie es nun zu schaffen sei, noch einmal etwas trinken zu gehen, ohne einen Wortwechsel auszulösen. So schlief er durstig ein, in seine Kränkung verstrickt, und verpasste ihren leisen Gutenachtwunsch.
Als Halm schnarchte, lagen vermutlich nicht wenige Sätze auf Violas Zunge.
«Zwischen Philip, mit dem du mich alleine lässt, und meinem Vater, den meine Mutter alleine lässt, gähnt ein Abgrund. Ich rutsche ab in diesen Abgrund.»
Halm träumte derweil von einer Treppe, in der mehrere Stufen fehlten, und stöhnte.
«Du merkst nicht, dass ich gerettet werden muss. Du rettest deinen Vater. Im Gewand dieser verfluchten Papeterie! Ich hasse dieses marode miefige alte Geschäft, das dich an die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts kettet. Es ist verloren!»
Halms rechter Arm rutschte aus dem Bett.
«Verkauf den Mist und schau mal unser Leben an! Schau mich und deinen Sohn an! Lieber Arbeitslosengeld beziehen als begraben sein in altem Familienstaub.»
Halm bewegte sich nicht mehr.
«Vor lauter roten Zahlen siehst du mich nicht. An deiner Seite bin ich genauso unsichtbar wie bei meiner Mutter. Weigern wir uns nicht, unser eigenes Leben zu sehen, Schatz! Sonst plötzlich stürzt es sich auf uns.»
Der französische Bus faltete seine Türen auf. Unter den aussteigenden Fahrgästen keine Karotte. Halm beschloss, die 11 ziehen zu lassen. Auch der nächste Bus schaffte die obligatorische Gefährtin nicht herbei. Halm begann sich über rothaarige Frauen zu ärgern, die nicht seine Karottenfrau waren. Einen weiteren Bus konnte er abwarten, danach würde die Verspätung bei seinen Angestellten Fragen aufwerfen. In Halms Magen brannte ein Pfefferkorn. Gegen seinen Willen blieb er auf dem ersten Spielfeld seines Tagesablaufs stehen, glotzte die Fassaden an, glotzte sie weit über die übliche Zeit hinaus an, so lange, bis er hoffte, sie würden alsbald eingerollt, von Wirklichkeitsbeamten, die der Überzeugung wären, Halm sei bereits weitergezogen.
Im Schaufenster eines Schuhgeschäfts beschlug ein nur dreissig Zentimeter grosser Handwerker mit steifem Arm einen Liliputanerschuh. Ein Harmonikaspieler nahm an der Haltestelle Platz, bestimmt hundert Kilogramm schwer, mit offenstehendem Mund. Wenn er schluckte, überlappte die Unterlippe die Oberlippe. Er schnitt ein Gesicht, als blende ihn eine Sonne. Schmutzige Jeans, solides Schuhwerk, schwarzer Strickpullover. Halm tippte auf einen leicht zurückgebliebenen Sozialhilfe-Empfänger, knapp fünfzig Jahre alt. Der Mann spielte in Endlosschlaufe einen einzigen Refrain. Mit dem ganzen Körper wippte er hin und her, mied jeden Blickkontakt. Niemand schien sich an der erstaunlichen Uhrzeit zu stören, die dieser Strassenmusikant für seine Kunst gewählt hatte, und nur Halm sah, wie der Mann sich plötzlich gegen das Ohr schlug, um abrupt das Musikstück zu wechseln. Ein äusserst brutaler Faustschlag gegen den eigenen Kopf.
Je länger die Karottenfrau nicht auftauchte, desto ernsthafter bildete sich Halm ein, sie habe ihm stattdessen diesen Harmonikaspieler geschickt. Dass die Wartenden sich von dem Harmonikaspieler nicht stören liessen, begann ihn zu beunruhigen. Jetzt rannten sie der viel weiter hinten als vermutet zum Stillstand gekommenen 11 entgegen. Die Angst, die Tür könnte sich vor ihnen schliessen, schien grösser als die Angst vor Zusammenstössen mit Passanten. Im Augenblick, da das rechtzeitige Erreichen der Tür Gewissheit wurde, beruhigten sich ihre Körper nicht. Halm beobachtete einen nahtlosen Übergang von der Sorge um die offene Tür in die Sorge um einen freien Sitzplatz.
Sonntag. Viola und Halm unternahmen mit Philip einen Spaziergang in der geschützten Naturlandschaft des französischen Umlands, entlang eines Planetenwegs. Sämtliche Himmelskörper des Sonnensystems waren in den Proportionen ihrer kosmischen Entfernungen in die Landschaft gepflanzt. Ausgerechnet die tischtennisballgrosse Erde fehlte. Ein Grössenwahnsinniger musste sie mit nach Hause genommen haben. Während Halm sich darüber lustig machte, beschloss Viola, schon morgen einen grünblau bemalten Pingpongball herzubringen und mit Sekundenkleber auf den Pfosten zu leimen. Dieses Engagement ging Halm zu weit, und während sie einige Minuten über die Bedeutung der Erde stritten, erkannte er dieses pragmatisch entschlossene Denken Violas wieder, das ihre einstige Verliebtheit so rasch in Heiratspläne verwandelt hatte.
An ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag war es gewesen, als Violas Vater laut feststellte, wie glücklich ihm seine Tochter an der Seite ihres neuen Freundes erscheine. Sie war überrascht gewesen, dass ihr Vater es erkannte. Ihre bisherigen vier Freunde hatte er allesamt mit demonstrativer Nichtbeachtung gestraft. Als sie später ihre Geburtstagsgeschenke aus dem Kofferraum des alten Saab holen durfte, den seit vier Jahren nur noch ihre Mutter fuhr, musste durch irgendwelche innere Gärungsprozesse aus der Überraschung Übermut geworden sein. Viola schlug den Kofferraum zu und wusste plötzlich, wohin mit ihrem Leben. Mit den Geschenken kehrte sie an den Tisch zurück, strahlte ihre Mutter und dann lange ihren Vater an und sagte aus heiterem Himmel:
«Wir werden heiraten.»
Erst als ihre Eltern klatschten, suchte sie Halms Blick. Sie lächelte, als könnte ihre Ankündigung ein Scherz sein. Halm blinzelte ihr grosszügig zu.