1983. Verfluchte Hitze - Lukas Holliger - E-Book

1983. Verfluchte Hitze E-Book

Lukas Holliger

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Beschreibung

Der russische Hellseher Danilo Gromow liegt tot in seiner düsteren Villa und seine Butlerin Jana ist wie immer sturzbetrunken. Ausgerechnet Kriminalkommissär Heiner Glut, der tags zuvor einen Wald in Brand gesteckt hat, soll diesen Fall lösen. Den einzigen Hinweis, den er findet, ist der Eintrag »Novosti« in Gromows Agenda. Unterstützte der dubiose Prophet die Berner Filiale der sowjetischen Nachrichtenagentur Novosti, die Bundesrat Rudolf Friedrich gerade in einer Hauruckaktion schließen lassen will? 1983. Verfluchte Hitze verdichtet drei historische Ereignisse – den Skandal um die Berner Novosti¬-Agentur, den spektakulären Fall einer Basler Spionin in sowjetischen Diensten und den Mord an einem Hellseher – zu einer tragikomischen Bestandsaufnahme des Jahrs 1983. Es ist der letzte Höhepunkt des Kalten Kriegs, Europa streitet über den Nato¬-Doppelbeschluss, Nenas »99 Luftballons« laufen in Dauerschleife und die Sommertemperaturen steigen erstmals auf 40 Grad. Während Holliger seinen historischen Figuren verbriefte Zitate in den Mund legt, schreibt er für sein Ermittlerteam pointierte Dialoge, die den vielfach ausgezeichneten Theater- und Hörspielautor erkennen lassen.

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Lukas Holliger

1983Verfluchte Hitze

Roman

Edition Blau im Rotpunktverlag

Im Hitzesommer 1983 wird Danilo Gromow tot in seiner düsteren Hellseher-Villa aufgefunden, und ausgerechnet Kriminalkommissär Heiner Glut, der tags zuvor einen Wald in Brand gesteckt hat, soll diesen Fall lösen. Der einzige Hinweis, den er findet, ist der Eintrag »Novosti« in Gromows Agenda. Unterstützte der dubiose Prophet die Berner Filiale der sowjetischen Nachrichtenagentur Novosti, die Bundesrat Rudolf Friedrich gerade in einer Hauruckaktion schließen lassen will?

In 1983. Verfluchte Hitze treibt Lukas Holliger ein rasant literarisches Spiel mit drei historischen Ereignissen: dem Skandal um die Berner Novosti-Agentur, dem spektakulären Fall einer Basler Spionin in sowjetischen Diensten und dem Mord an einem Wahrsager. Es ist der letzte Höhepunkt des Kalten Kriegs, Europa streitet über den Nato-Doppelbeschluss, die Friedensbewegung bildet kilometerlange Menschenketten, in den Kinos läuft War games, in den Radios 99 Luftballons, die ersten CDs und Nintendo-Spiele sorgen für Aufregung – doch als Andy Egli im Basler St. Jakob-Stadion einen Penalty gegen Brasilien versenkt, kommt Heiner Glut der Lösung seines Falls einen entscheidenden Schritt näher.

Während Lukas Holliger seinen historischen Figuren verbriefte Zitate in den Mund legt, schreibt er für sein Ermittlerteam pointierte Dialoge, die den vielfach ausgezeichneten Theater- und Hörspielautor erkennen lassen.

Der Autor und der Verlag danken dem Fachausschuss Literatur BS/BL für die finanzielle Unterstützung.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

© 2024 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Lektorat: Anina Barandun

Korrektorat: Lydia Zeller

eISBN 978-3-03973-030-8

1. Auflage 2024

Für Janek

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Anhang

Autor

1

Als Heiner Glut erwachte, brannte der Wald. Ein Mann in Uniform riss an seinen Armen und schrie:

»Schnell, dort oben ist ein Bunker!«

»Zu steil!«, stammelte Glut, als er die hohe Böschung erblickte. Allerdings war diese Böschung der letzte Korridor, der frei von Rauch war. Links und rechts drehten sich schon Flammen durch die Baumkronen, wirbelten grauen Qualm um die Äste und machten einen Lärm, als werde das Holz nicht verbrannt, sondern gehäckselt.

»Der Wald brennt wie ein Streichholz!«, schrie der Uniformierte und riss weiter an seinen Armen. Endlich stand Glut auf und stolperte los. Erst jetzt wurde er hellwach. Die tollwütige Welt der letzten Wochen stürzte zurück in sein Bewusstsein.

Die Hitzerekorde, die Schlaflosigkeit, die Blick-Schlagzeilen. »Brandanschlag mit Molotowcocktails auf eidgenössische Münzstätte«, »41 Fässer Seveso-Dioxin in Basel eingetroffen«, »Kommt jetzt der große Krieg?«, »Moskau warnt vor Stationierung«. In ganz Europa Friedensdemonstrationen gegen Reagens Pershing-II-Raketen. Weltweit Aufruhr, Drohungen, internationale Spionagefälle, militärisches Aufrüsten in Ost und West. Überall Kampf um moralisches Recht, um Wahrheit und Macht, und alle, ob Firmenchef, Studentin oder Hundefrisör, verloren die Handlungsfreiheit, versteckten sich in ihrem Alltag vor der Weltlage, dabei waren sie schicksalhaft mit ihr verwachsen, wie eine Schnecke mit ihrem Haus. Und dieses Haus brannte.

»Verflucht, was ist passiert?«

»Ich weiß nicht. Mehrere Brandherde. Und Sie schlafen. Los, schnell, kommen Sie!«

Glut versuchte seine Erinnerungen zu bündeln. Warum bloß hatte er sich auf den Waldboden gelegt?

Der Uniformierte zog abwechselnd an seinem linken und rechten Arm, schob ihn von hinten an, zerrte ihn ungeduldig an den Händen die steile Böschung hoch. Nichts war ihm schnell genug, bis endlich zwischen unversehrten Bäumen der Bunker auftauchte. Mit moosbewachsenen Betonmauern und einer dicken Stahltür. Der Mann in Uniform stemmte sie auf.

Jetzt fiel es Glut wieder ein. Er hatte sich auf den weichen Waldboden gesetzt. Hundemüde nach einer Woche voller Pannen, voller Nervosität und Fehlentscheidungen, etwa der, sich nach seiner Trennung von Noémie den Vollbart abzurasieren. Glut dachte, es würde ihn jünger machen, doch nun fühlte er sich nackt.

Die letzte Woche war gespickt gewesen mit schlechten Omen. Nach elf Jahren musste er seinen Kater einschläfern lassen, an seinem Mofa machten sich verschlissene Stoßdämpfer bemerkbar, und seinen fünfunddreißigsten Geburtstag verbrachte er allein im Kino. Zweimal hintereinander Scarface mit Al Pacino. Das zweite Mal nicht mehr nüchtern.

Kein Wunder, war Glut nach dem ersten Arbeitstag im neuen Team erschöpft gewesen. Er hatte gehofft, der schattige Wald kühle ihn ab. Nach Tagen, die so heiß gewesen waren, dass die Behörden Bewässerungsverbote verhängten und vor explodierenden Fernsehern warnten. An Schlaf war da in Gluts Dachzimmerwohnung in der Hochstraße 59 nicht zu denken. Die ganze Nacht lag die Luft wie geschmolzener Käse überm Bett. Trotzdem behielt die Nikotinsucht ihn im Griff. Ja, er hatte sich auf dem Weg durch den Wald eine nach der anderen angesteckt, sich zuletzt an einen Schatten spendenden Baum gesetzt, und dann war er wohl einfach weggekippt.

»Gerettet«, hustete der Uniformierte, dessen kahler Kopf aussah wie mit einem einzigen Bleistiftstrich skizziert.

»Dieser Bunker ist nicht schlecht«, sagte Glut und berührte die Wände.

»Gebaut für den Atomkrieg. Waldbrände schafft er auch. Im Zivilschutz bin ich Bunkerchef.«

Glut hustete.

»Moment. Ich aktiviere die Lüftung.«

Der Mann klappte die Türverankerung herunter, als würde er die Weiche zu einem besseren Leben stellen. Irgendein Druckluftmechanismus aus dem Zweiten Weltkrieg schien anzuspringen. Es roch pilzig modrig, aber man hatte bald kein Kratzen mehr im Hals. Die beiden Männer atmeten durch. Mit dem Leben davongekommen zu sein, stimmte Glut heiter.

»Ist doch großartig. Uns rettet ein Kerker.«

»Ein Zeller. Zeller, Urs. Grenzschutz Riehen.«

Grenzschutz, natürlich, dachte Glut und musterte die Achselschlaufen an der Uniform. Weil Zeller ihn erwartungsvoll ansah, sagte er:

»Glut. Heiner. Kriminalkommissariat Basel-Stadt. Heute ist mein erster Tag als Kriminalkommissär.«

»Ein Kollege? Na, dann sagen wir doch Du!«

Brüderlich gaben sich der Grenzschutzbeamte und der Kriminalkommissär die Hand.

Angesichts dieser Freundlichkeit wurden Glut die unnötigen Feindseligkeiten der letzten Stunden erst bewusst. Der erste Tag auf dem Kriminalkommissariat. Nur knapp gut gegangen, sich knapp erfolgreich bei den neuen Kollegen vorgestellt. Niemand freundlich, am wenigsten der Vorgesetzte, dieser schweißnasse Albert Hess. Der hatte Gluts Anwesenheit eher geduldet als begrüßt. Danach im Wald, da musste er den Frust wegrauchen, und die abgerauchten Kippen, jetzt fiel es ihm wieder ein, die hatte er einfach weggeschnippt. Beim schnellen Gehen einfach mit den Fingern weggeschnippt ins knistertrockene Laub. Er hatte sich auf dem Chrischona-Rundweg wie ein selbstmörderischer Brandstifter mit Feuer eingekreist. Den ahnungslosen Grenzschützer Urs Zeller gleich mit in seinen Teufelskreis eingeschlossen. Eine Geisel seiner Gedankenabwesenheit. Aber nun waren sie in Sicherheit. In einem Bunker, der auf den Atomkrieg wartete, auf den Tag, an dem die Russen die Nerven verlieren würden.

»Was für ein Jammer. Da draußen verbrennen jetzt Tausende Waldeidechsen, Igel, Eichhörnchen, Jungvögel, Spitzmäuse, Hasen«, sagte Urs Zeller und schien jedes einzelne Tier persönlich zu kennen.

Glut nickte, obwohl er sich darüber keinerlei Gedanken machte. Seine Sorgen drehten sich vielmehr um das Thema »fahrlässige Brandstiftung«. Wenn Albert Hess davon erfuhr, war er seinen Job gleich wieder los. Er erinnerte sich an die elf Monate interkantonale Polizeischule in Hitzkirch. An den armen Buser. Der schwenkte am Besuchstag bei der Vorführung des Wasserwerfers versehentlich die Kanone über die Besuchermenge. Mehrere Kinder wurden wie Puppen über den Boden geschleudert. Ihre polizeiblauen Heliumballone verloren sich im Himmel, während am Boden die Demonstration unverzüglich gestoppt wurde und die allgemeine Empörung sich lange nicht legte. Bis zu diesem Tag hatte Buser zu den vielversprechendsten Aspiranten der Schule gehört. Nach seinem Fehltritt wurde er in Hitzkirch nie wieder gesehen. Glut fiel der zynische Kommentar von Kollege Meyerhans ein.

»Schade, hat er nicht Gummischrot genommen!«

Bei allem Idealismus fürs Polizeihandwerk war diese Art von Menschenverachtung in Hitzkirch immer wieder aufgelodert. Glut, der aus einem antiautoritären, sozialdemokratischen Elternhaus stammte, war darauf schlecht vorbereitet gewesen. Vielleicht handelte es sich um schwarzen Berufsgruppenhumor, wie ihn auch Bestatter untereinander pflegen, um eine Art riot shield für die eigenen Ängste, redete sich Glut damals ein, fragte sich dann aber immer, warum er selbst nie das Bedürfnis hatte, von diesem Schutzschild Gebrauch zu machen.

Wenn er an Hitzkirch dachte, sah er als Erstes den Sportplatz. Neben viel theoretischem Wissen ging es in den elf Monaten IPH auch um Fitness. Für Buser, Meyerhans und viele andere der Höhepunkt der Polizeiausbildung. Für Glut, der seit seiner Kindheit immer wieder an Übergewicht litt, waren dies Stunden mit Atemnot, Seitenstechen, Übelkeit.

»Gibts denn so was, ich hab auf der Flucht mein Funkgerät verloren«, fluchte der Grenzschutzbeamte und riss Glut aus seinen Erinnerungen.

»Meine Schuld«, sagte Glut.

»Hier gibts irgendwo ein Kurbelradio, so erfahren wir vielleicht aus den Nachrichten, wenn der Waldbrand gelöscht ist …«, sagte Zeller eher zu sich selbst.

Die gespenstische Stille im Bunker verstärkte Gluts Vorstellung einer gewaltigen Feuersbrunst, die den Schutzraum in diesem Moment umzingelte. Zeller fand das Radiogerät und kurbelte. Der Lautsprecher rauschte, dann erklangen Nenas 99 Luftballons. Die beiden Männer hörten der Sängerin bis zum Schluss zu. »Heute zieh ich meine Runden. Seh die Welt in Trümmern liegen. Hab ’nen Luftballon gefunden. Denk an dich und lass ihn fliegen.«

Während Glut und Zeller einem roten Luftballon folgten, der über dem zerstörten Europa mutterseelenallein durch den grauen Himmel zog, verspeiste rund einen Kilometer nordwestlich ein zweiundfünfzigjähriger Russe einen Cäsar-Salat, zerbiss Croutons, genoss das Aroma von Dijon-Senf, Eiern und Sardellen und ahnte nicht, dass in wenigen Stunden eine Pistolenkugel seine Halsschlagader durchtrennen würde.

2

Das Dach des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten in Bern glühte. In windstillen Minuten erreichten die dunklen Dachziegel hundertzwanzig Grad Celsius.

Staatssekretär Raymond Probst verließ sich auf die Unterstützung seiner drei EDA-Departementskollegen Muheim, Schenk und Reimann. Heimlich nannte er sie seine »drei Musketiere«. Zu viert galt es, den pikanten Antrag aus dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement EJPD abzuschmettern. Auf hellgrünem Papier fasste die Bundesanwaltschaft den aktuellen Ermittlungsstand der Bundespolizei in Sachen sowjetischer Presseagentur Novosti zusammen und forderte nichts weniger als deren Schließung.

Als der vierundsechzigjährige Staatssekretär Probst, dessen lebenserfahrenes Gesicht je nach Lichteinfall rindenartig zerfurcht wirkte, diese Forderung zum ersten Mal las, traute er seinen Augen kaum. Sofort telefonierte er nacheinander mit seinen drei Musketieren, um eine unmissverständliche Haltung zu dem Papier zu erarbeiten. Franz E. Muheim war Leiter der politischen Abteilung 1, Blaise Schenk dessen Stellvertreter und Heinrich Reimann Chef der Sektion Völkerrecht. Alle drei hatten sofort eine eindeutige Meinung.

Gleich sollten sie nun also zwei Vertreter des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements empfangen. Probst nannte die Männer aus dem EJPD leicht spöttisch »die Polizisten«. Polizist 1 war heute der groß gewachsene, sportliche Generalsekretär Benno Schneider, Polizist 2 der Chef der Bundespolizei höchstpersönlich. Peter Huber.

Huber war in jeder Beamtenrunde stets der unauffälligste. Ein Bürokrat mit schwarzem, seitengescheiteltem, lichtem Haar und einem treuherzigen, bübischen Hundeblick. Doch das täuschte. Seine diensteifrige Genauigkeit verärgerte unter den Musketieren insbesondere Völkerrechtler Reimann. Genau wegen solcher Gestalten wie diesem Huber kreisten Reimanns berufliche Wunschgedanken schon länger um Algerien. Sein Traum war es, Botschafter in Algier zu werden. Raus aus der militärgrünen Altstadt Berns, die lebenslänglich unter ihren dunklen Arkaden gefangen blieb, weg ans weite, wohlriechende, südliche Mittelmeer.

Vielleicht darum stand Reimann, der heute viel zu früh in Probsts Büro eingetroffen war, zuerst lange am Fenster und schaute in den Himmel, auf der Suche nach einem Flugzeug.

»Wenn ich dann gleich mal beginnen darf?«, eröffnete Raymond Probst die Sitzung.

Die Männerrunde, die teils Kaffee trank, teils rauchend in ihren Stühlen saß, nickte.

»Dieser Antrag, meine Herren, dürfte mit den Grundsätzen eines liberalen Rechtsstaates kaum vereinbar sein«, sagte Probst und klopfte mit dem Kugelschreiber auf das maschinenbeschriebene hellgrüne Papier mit dem Vermerk »Streng vertraulich«.

»Deine Bundespolizei, lieber Peter, reitet hier leichtsinnig eine Kampagne gegen die Sowjets, dabei zielt sie doch ganz offensichtlich auf die beiden Schweizer Journalisten Martin Schwander und Philippe Spillmann.«

Probst atmete zwischen seinen Sätzen ruckartig. Was wie ein asthmatisches Leiden klang, bedeutete bei Probst Entschlossenheit. Es war das effiziente Atemholen eines älteren Schwimmers, der schon manchen Wettkampf gewonnen hatte.

»Der Bericht, entschuldige die Wortwahl, Peter, dieser Bericht riecht nach Polizeistaat. Du weißt, ich kenne mich nicht ganz so schlecht aus mit den Kommunisten. Aber ich dachte immer, wir Eidgenossen sind besser.«

Keiner der Eidgenossen aus dem EJPD reagierte auf das zwiespältige Lob, und so wurde Probst deutlicher:

»Dieses Papier, meine Herren, ist ein Spiel mit Dynamit.«

Nacheinander bemühten sich die drei Musketiere, Probsts Einstiegsvotum Nachdruck zu verleihen, während Bundespolizeichef Huber schon verärgert die Lippen zusammenkniff. Als Erstes drückte Völkerrechtler Reimann die Zigarette aus und argumentierte:

»Wenn man zu einem Novosti-Büro A sagt, muss man sich nicht wundern, wenn die über den Zaun fressen. Ich meine, andere Pressebüros sind auch keine Engel. Ich hab mich beim Lesen des Antrags jedenfalls dauernd gefragt, ob man die Aktivitäten der beiden Schweizer wirklich den Russen, also diesem Novosti-Chef Alexei Dumow, anlasten kann?«

Musketier Numero 2, Franz Muheim, nickte und ergriff das Wort. Selbst wenn er entspannt redete, übertraf der bärtige Mann mit dem runden Eulengesicht und der großen Brille alle Anwesenden an stimmlicher Präsenz. Entsprechend engagiert und entschlossen klang sein Votum.

»Ich möchte die Bundesanwaltschaft hier vor allem darum gebeten haben, die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Wenn ich mir das alles so durchlese, rechtfertigen die ermittelten Tatbestände garantiert nicht die Schließung einer ausländischen Presseagentur.«

»Sicher keine Schließung, nein«, doppelte Probst leise nach und tippte mit dem Kugelschreiber erneut aufs Papier, als sei damit der Hammer über dem durch und durch verunglückten Antrag gefallen.

Trotzdem öffnete er die Hand noch in Richtung seines dritten Musketiers und ließ auch Vize-Abteilungschef Blaise Schenk sein diplomatisches Denken unter Beweis stellen. Schenk machte den Herren vom EJPD klar, dass es stets darum gehe, den globalen Diplomaten-Kontext einer Sache im Blick zu behalten.

»Ich möchte daran erinnern, dass sich die Schweiz seit langem um eine Verbesserung des Verhandlungsklimas bei den KSZE-Konferenzen bemüht. Wenn wir jetzt solche scharfen Maßnahmen ergreifen, dann setzen wir uns dem Vorwurf aus, wir würden die Helsinki-Akte verletzen.«

Staatssekretär Raymond Probst war mit seinen Musketieren zufrieden und stellte fest, dass den beiden »Polizisten« ein paar Schweißtropfen gewachsen waren, die womöglich nichts mit den Sommertemperaturen zu tun hatten.

Generalsekretär Benno Schneider ließ seinem Chef einen Moment Zeit und betrat selbst den Ring.

»Meine Herren, es geht doch hier überhaupt nicht um die Frage von Straftatbeständen. Wir bewegen uns hier im Bereich der politischen Polizei. Ich verstehe, und wir haben das erwartet, dass ihr vom Auswärtigen Amt das Ausland und insbesondere die Sowjetunion nicht erschrecken wollt, aber unsere Innenpolitik steht hier auf dem Spiel. Da ist doch wohl etwas Rückgrat gefordert. Der Bericht hier …«, und jetzt klopfte seinerseits Schneider mit dem Feuerzeug hart auf das Papier, »… weist eindeutig nach, dass diese beiden Schweizer als Angestellte des Novosti-Büros ein Drahtziehertum aufgebaut haben. Wollen wir mal nicht so naiv sein und denken, der Leiter Alexei Dumow hätte nichts davon gewusst. Solche Aktivitäten stehen absolut diametral im Widerspruch zum Pflichtenheft einer Nachrichtenagentur. Das kann von uns nicht geduldet werden.«

Jetzt öffnete Bundespolizeichef Huber die Knöpfe seiner Hemdsärmel, ohne diese hochzukrempeln, lehnte sich leicht über den Tisch, berührte je mit den Zeigefingerkuppen die Daumenkuppen und sagte:

»Die Bundespolizei verwahrt sich gegen den Vorwurf, sie reite eine Kampagne gegen die Sowjets.«

Nach einer Kunstpause, in der er seine Fingerkreise in der Luft behielt, fuhr er fort:

»Das Handeln unserer Abwehr wird durch die Aktivitäten des Gegners bestimmt. Die Bundesanwaltschaft hat ihren Auftrag wahrzunehmen und die Tatbestände aufzuzeigen, welche unsere innere Sicherheit gefährden können. Desinformation ist eine schwerwiegende Manipulation. Und nur davon, lieber Raymond, sprechen wir hier. Massive Desinformationskampagnen. Das brauche ich dir doch nicht zu erklären, dass korrekte politische Willensbildung ebenso wie Ruhe und Ordnung zu den nationalen Schutzobjekten gehört, die dem EJPD anvertraut sind.«

Probst, der mit diesen Argumenten gerechnet hatte, zündete sich eine dicke Zigarre an und legte seinen Oberkörper zurück.

»Lieber Peter, auch die westlichen Staaten betreiben Desinformation. Vor allem – das lass dir von einem Mann gesagt sein, der bis vor zwei Jahren Botschafter in Washington war – vor allem die USA. Also sollten wir hier nicht mit ungleichen Ellen messen.«

Die Musketiere Muheim, Schenk und Reimann nickten synchron, aber Bundespolizeichef Huber zeigte sich davon wenig beeindruckt.

»Diese unterschiedlichen Ellen haben gute Gründe. Die Aktivitäten der Warschauer-Pakt-Staaten sind darauf ausgerichtet, westliche Nationen und ihre Funktionsfähigkeit zu unterwandern, das ist doch nicht nur in der Schweiz aktenkundig. Sie alle kennen die Verhältnisse in den Niederlanden, und aktuell darf ich an die Ausweisung von Merkulov aus Dänemark erinnern.«

Raymond Probst schüttelte den Kopf, klopfte ein letztes Mal auf das Papier und warnte:

»Peter! Ich sag dir jetzt einfach eins. Wenn dieser Bericht in die Hände von Journalisten gerät, wird sofort der Vorwurf laut, das EJPD wolle die Presse knebeln und habe ein entsprechendes Kesseltreiben gegen Journalisten entfacht. Das ist Dynamit.«

»Einzelne Formulierungen im Bericht kann man meinetwegen diskutieren«, versuchte Generalsekretär Benno Schneider einzulenken. »Für uns steht aber die Schließung des Büros im Vordergrund. Was meinst du, Peter? Ich würde denken, über den Zeitpunkt der Schließung kann man ja noch diskutieren«, sagte er und sah seinen Vorgesetzten fragend an.

Huber wirkte nachdenklich. Das genügte Schneider, um fortzufahren.

»Allenfalls könnte auch geprüft werden, ob lediglich eine Ausweisung des betroffenen Sowjets infrage käme, das Büro selbst jedoch offen bliebe. Allerdings könnten wir dann den Aktivitäten der beiden Schweizer Journalisten nicht mehr entgegentreten.«

Da sprang Probst auf.

»Und genau darum gehts euch, nicht wahr? Danke, dass du die Katze endlich selbst aus dem Sack lässt, Benno. Ihr benutzt das Novosti-Büro der Sowjets als ideologisches Feindbild, um die beiden Schweizer für ihre freie Meinungsäußerung zu bestrafen. Ich sage es noch einmal, das ist Dynamit, antidemokratisches Dynamit«, betonte Probst, klopfte stehend die Asche seiner Zigarre in die mittlerweile übervolle Raucherschale und fixierte Bundespolizeichef Peter Huber. Der blieb stumm und erteilte Schneider, der den Finger sofort zu vehementem Einspruch erhoben hatte, dankbar das Wort.

»Meine Herren! Lassen wir die Kirche mal im Dorf. Wir erklären uns einverstanden mit einer Überarbeitung des Amtsberichts und einer Auflistung der verschiedenen Tatbestände nach Schwere des Vergehens. Und ich schlage vor, dass wir bezüglich Alexei Dumow zuerst einen bürokratischen, unverdächtigen Weg prüfen. Peter, man könnte beispielsweise abklären, wie lange Dumows fremdenpolizeiliche Aufenthaltsbewilligung noch läuft, und die gegebenenfalls einfach nicht mehr erneuern. So wären wir ihn ebenfalls los«, schloss Schneider, der mit diesem Votum um vieles kompromissfähiger wirkte als sein Chef.

Peter Huber, selbst Probst und seine Musketiere schmunzelten überrascht und fanden Schneiders Vorschlag höchst interessant. Erleichtert, dass es auch indirekte Wege zum Ziel gab, löste sich die Runde für eine kurze Pause auf und suchte im Gebäude des EDA nach einem kühlen Ort. Man landete im schattigen Innenhof, in dem ein weißer Brunnen plätscherte. Dort konnten sich die sechs Männer Hände und Schläfen nässen, unter freiem Himmel rauchen und das Treffen in ungezwungener Atmosphäre frühzeitig zu Ende bringen.

3

8 Uhr 25. Glut hatte verschlafen. Die Hitze in der Mansarde war unerträglich gewesen. Zu allem Übel hatte er in seinem Bett, auf dem Laken, einzelne Stellen gefunden, die noch nach seiner Freundin rochen. Gegen vier Uhr morgens hatte er die Bettwäsche gewechselt, Bier getrunken und war irgendwann in einen oberflächlichen Schlaf gefallen.

Weil sein Mofa fahruntüchtig war, musste er zu Fuß zur Arbeit. Der Weg von der Hochstraße 59 führte rechts an einem Strip-Klub mit Schaukästen voller vergilbter Nacktfotos, links am Abrissgelände des einstigen Autonomen Jugendzentrums AJZ vorbei, dann, Treppe hoch, über eine schmale Bahnüberführung. Noch keuchend von den Stufen, verließ er die Passerelle bald wieder, nahm irgendeinen beliebigen Abgang, Treppe runter, auf eins der Perrons des Bahnhofs SBB.

Einladend strömte der Geruch von Rost und Schmierfett unter den aufgewärmten Waggons hervor. Durch ein offenes Zugfenster roch man das Raucherabteil. Zwei Frauen machten es sich darin bequem. An den Reisegruppen mit ihren Koffern auf Gepäckkarren eilte Glut etwas neidisch vorbei. Er wäre jetzt auch lieber in einen Zug eingestiegen. Allerdings nicht an dieser Stelle, sondern dreihundert Meter weiter vorne, wo sich über die Geleise das französische Stromnetz spannte und die SNCF-Lokomotiven mit ihren rotorangen, bullig eingefalteten Gesichtern auffuhren. Wie oft hatte er dort Noémie abgeholt oder verabschiedet. Wiedersehens- und Abschiedsküsse unter dem großen blauen Bahnhofsschild mit der Aufschrift »France«. Dass die Fahrt Paris – Basel als reine Inlandstrecke galt, hatte Noémie immer begeistert. Den französischen Bahnhof bezeichnete sie lachend als ihre persönliche Enklave auf Schweizer Boden, die Schienen zur Landesgrenze als ihre stählerne Nabelschnur.

Die Bahnhofssprecherin schickte Reisende nach Mailand auf Perron 7. Auf Perron 5 standen Wagen der Deutschen Reichsbahn nach Ostberlin bereit. Glut wich einem Hund aus und musste an den protzigen, dunkelgrünen Zug nach Moskau denken, den er hier regelmäßig antraf. Mit ihren kyrillischen Beschriftungen und den großen Hammer-und-Sichel-Symbolen verschafften sich die sowjetischen Züge sofort Respekt.

Die Uhr zeigte 8 Uhr 46. Glut beschleunigte. Das schnelle Gehen passte gut hierher, und zugegeben, unter der hohen, fünfschiffigen Perronhalle fühlte er sich versöhnt mit dem Bahnhof. Nachts verfluchte er ihn. Da lauschte er ausgeliefert dem Lärm schier endloser Züge, die auf dem benachbarten Schienenfeld quietschten und über Weichen ratterten. In jedem Schlafwagenabteil wäre er zu mehr Bettruhe gekommen als in seiner Mansarde, aus deren Fenster man die Nachtzüge nach Amsterdam, Kopenhagen oder Warschau mit ihren gelb beleuchteten Fenstern vorbeiziehen sah. Als dreizehnjähriger Junge war er einmal von zu Hause abgehauen. Ohne Ticket schlich er sich in einen Schlafwagen nach Wien. Noch heute lag ihm das Wienerisch des rotgesichtigen Schaffners im Ohr, der ihm mit der Polizei drohte. Jetzt war er selbst bei der Polizei. Wer weiß, wie lange noch. Hess hatte ihn auf neun Uhr vorgeladen »betreffs Erläuterung Umstände Waldbrand«.

8 Uhr 48. Von den Perrons ging es runter in die Unterführung. Vorbei an dem großen Kiosk, an dem er sich, wäre er nicht so spät dran gewesen, gerne Zigaretten gekauft hätte und der heute gerahmt war von apokalyptischen Schlagzeilen übers Waldsterben. Der unterirdische Weg führte Glut vorbei an Wurstbuden, Bistrots und Schaufenstern mit Kinoplakaten. War games. Zwei Teenager an einem Computer, über ihnen riesige Bildschirme. Die USA und die Sowjetunion hoffnungslos verstrickt ins Netz ballistischer Raketenbahnen. Vorbei dann an einer Europaring-Filiale und dem Schaufenster des Reisebüros Cosmos, das Charterflüge nach Leningrad anbot. Foto-Impressionen von Eremitage, Mariinski-Theater und Schloss Peterhof. Von diesem unterirdischen Osten trieb es Glut in den oberirdischen Westen, wo der Erbauer der New Yorker Freiheitsstatue in einer Grünanlage das Straßburger Denkmal geschaffen hatte. Auf hohem Sockel evakuiert ein geflügelter Schutzgott Zivilisten aus dem von den Deutschen bombardierten Straßburg, geleitet sie unter den rettenden Schutzschild Helvetias. Glut musterte drei Jugendliche, die sich weiter hinten, unterm Dach des Musikpavillons, irgendwas zusteckten, aber nach einem Blick auf seine Armbanduhr setzte er den Weg fort, hinab in die Elisabethenstraße. 8 Uhr 51. Mist, er würde zu spät kommen. Sein Atem rasselte mittlerweile lauter als der Verkehr. Links tauchten endlich die vier Oberlicht-Pyramiden aus Glasbausteinen auf. Eine schmale Gasse zwischen Elisabethenkirche und Stadttheater führte ihn auf die Freitreppe, die seit wenigen Jahren als neuer Zugang in die Altstadt diente. Glut nahm die weißen Stufen Richtung Barfüßerplatz etwas zu rasant, er fürchtete zu fallen. Um sich zu konzentrieren, schnippte er seine Zigarette weg, fühlte einen Stich in der Magengegend. Weggeschnippte Zigaretten. Waldbrand. Hess. Vorladung. Bereits in einer Stunde würde er zu den Arbeitslosen dieser Stadt gehören.

Ein junger Mann, dessen Gang ihn als professionellen Balletttänzer auswies, schwebte die Stufen herauf, offenbar auf dem Weg ins Theater, auf eine der Probebühnen. Vor dem Tinguely-Brunnen las Glut »Orpheus und Eurydike, Choreografie Heinz Spoerli«. Antike plus Tanz. Nein, diese Art von Hochkultur war nichts für Heiner Glut, auf seinem Plattenteller lagen die Stones. 8 Uhr 58.