Das Labyrinth von London - Benedict Jacka - E-Book
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Das Labyrinth von London E-Book

Benedict Jacka

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Beschreibung

Ein Magier mit dunkler Vergangenheit, der die Zukunft sehen kann – Der Auftakt der Serie um den Londoner Magier Alex Verus!

Willkommen in London! Wenn Sie diese großartige Stadt bereisen, versäumen Sie auf keinen Fall einen Besuch im Emporium Arcana. Hier verkauft der Besitzer Alex Verus keine raffinierten Zaubertricks, sondern echte Magie. Doch bleiben Sie wachsam. Diese Welt ist ebenso wunderbar wie gefährlich. Alex zum Beispiel ist kürzlich ins Visier mächtiger Magier geraten und muss sich alles abverlangen, um die Angelegenheit zu überleben. Also halten Sie sich bedeckt, sehen Sie für die nächsten Wochen von einem Besuch im Britischen Museum ab und vergessen Sie niemals: Einhörner sind nicht nett!


Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:
1. Das Labyrinth von London
2. Das Ritual von London
3. Der Magier von London
4. Der Wächter von London
5. Der Meister von London
6. Das Rätsel von London
7. Die Mörder von London
8. Der Gefangene von London
9. Der Geist von London
Weitere Bände in Vorbereitung.

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Seitenzahl: 518

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Buch

Versteckt zwischen den Straßen und Gassen von Camden, Nordlondon – nicht weit vom Britischen Museum – befindet sich der kleine Laden von Alex Verus. Er verkauft keine Zauberstäbe und mixt keine Liebestränke. Doch wenn man wirklich über Magie Bescheid weiß, wird man hier vielleicht fündig. Alex Verus versteckt sich eigentlich nicht, aber er gibt sich sehr viel Mühe, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch da wird ein magisches Relikt im Britischen Museum gefunden, und plötzlich ist Alex nicht länger nur damit beschäftigt, Möchtegernmagier von Dummheiten abzuhalten und eine hoffnungsvolle Azubi-Anwärterin abzuwehren. Nun muss er irgendwie den Schwarzmagiern entkommen und die Weißmagier austricksen – und natürlich herausfinden, was hinter alledem steckt.

Autor

Benedict Jacka (geboren 1981) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war achtzehn Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.

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Aus dem Englischenvon Michelle Gyo

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Fated« bei Orbit, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2012 by Benedict Jacka

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung und -illustration: Max Meinzold, München

Karte: © Andreas Hancock

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22315-1V004

www.blanvalet.de

1

Es war ein ruhiger Tag, also saß ich am Tresen, las in einem Buch und blickte in die Zukunft.

Nur zwei Kunden waren im Laden. Einer war ein Student mit wirren Haaren, der sich immer wieder nervös umsah. Er stand am Regal mit den Kräutern und Pulvern und hatte die Entscheidung, was er kaufen wollte, bereits vor zehn Minuten getroffen. Allerdings musste er noch den Mut aufbringen, mich danach zu fragen. Der andere Kunde war ein Junge in einem Linkin-Park-Shirt, der sich eine Kristallkugel ausgesucht hatte, die er erst dann zur Kasse tragen wollte, wenn der andere Typ gegangen war.

Der Junge war mit dem Fahrrad da, und in fünfzehn Minuten würde ein Verkehrspolizist vorbeikommen und ihm einen Strafzettel verpassen, weil er das Rad am Zaun festgemacht hatte. Danach würde ich einen Anruf erhalten, bei dem ich ungestört sein wollte, also legte ich das Taschenbuch auf den Tresen und blickte den Studenten an.

»Kann ich dir helfen?«

Er zuckte zusammen, kam zu mir, wobei er sich kurz nach dem Jungen umblickte, und sagte leise: »Äh, hallo. Hast du …«

»Nein. Ich verkaufe keine Zauberbücher.«

»Nicht einmal …?«

»Nein.«

»Gibt’s eine Möglichkeit, wo ich nachsehen könnte?«

»Der Zauberspruch, den du im Sinn hast, wird nichts Schlimmes anrichten. Probier ihn einfach aus, dann rede mit dem Mädchen und schau, was passiert.«

Der Student starrte mich an. »Das wusstest du wegen denen hier?«

Die Kräuter in seiner Hand hatte ich nicht einmal angesehen, aber die Erklärung war genauso gut wie jede andere auch. »Willst du eine Tüte?«

Er steckte Verbene, Myrrhe und Weihrauch in die Tüte, die ich ihm gab, und bezahlte, während er mich immer noch voller Ehrfurcht anstarrte, dann ging er. Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, kam der andere Junge zu mir und fragte betont lässig nach dem Preis für die zweitgrößte Kristallkugel. Ich machte mir nicht die Mühe nachzusehen, wofür er sie haben wollte – mit einer Kristallkugel kann man wohl nur Schaden anrichten, indem man sie sich gegen den Kopf haut, und das ist immerhin mehr, als man von anderen Dingen behaupten kann, die ich in meinem Laden verkaufe. Sobald auch der Junge mit der Papiertüte in der Hand gegangen war, stand ich auf, trat zur Tür und drehte das Schild um, von »Geöffnet« zu »Geschlossen«. Durch das Fenster sah ich, wie der Junge auf das Fahrrad stieg und davonfuhr. Etwa dreißig Sekunden später lief der Verkehrspolizist vorbei.

Mein Laden befindet sich in Camden Town, einem Stadtteil Londons, der nördlich des Zentrums liegt. Es gibt da einen Ort, an dem der Kanal, drei Brücken und zwei Bahnlinien aufeinandertreffen und eine Art urbanen Kreuzknoten bilden, und meine Straße liegt genau in der Mitte. Die Brücken und der Kanal zäunen das Gebiet gut ein, und so ist es fast eine Oase mitten in der Stadt. Von den Zügen abgesehen ist es hier überraschend ruhig. Ab und an gehe ich auf das Dach und blicke über den Kanal und die merkwürdig geformten Dachfirste. Manchmal, am Abend und am frühen Morgen, wenn der Verkehrslärm und das Licht gedämpft sind, fühlt es sich fast wie das Tor zu einer anderen Welt an.

Auf dem Schild über der Ladentür steht Arcana Emporium. Darunter hängt ein kleineres Schild, auf dem einige der Dinge abgebildet sind, die ich verkaufe – Werkzeuge, Reagenzien und Fokusgegenstände, solche Dinge eben. Man sollte meinen, »Zauberladen« wäre einfacher, aber ich hatte die Schnauze voll von all den Leuten, die nach Zauberringen und gezinkten Karten fragten. Also schloss ich einen Deal mit einem Laden für Bühnenzauberbedarf, der etwa einen halben Kilometer entfernt ist, und jetzt steht auf meinem Ladentisch ein Kästchen mit seinen Visitenkarten, die ich jedem in die Hand drücke, der nach dem neuesten Buch von David Blaine oder anderen Zauberkünstlern fragt. So sind die Kids glücklich, und ich habe meine Ruhe.

Ich bin Alex Verus. Das ist nicht mein Geburtsname, aber dies ist eine andere Geschichte. Ich bin ein Magier, ein Wahrsager. Manche Menschen nennen Magier wie mich Orakel oder Seher, oder Magier für Wahrscheinlichkeit, wenn sie richtig langatmig unterwegs sind, und das ist auch in Ordnung, solange sie mich nicht Jahrmarktsbudenzauberer nennen. Ich bin nicht der einzige Magier im Land, aber soweit ich weiß, bin ich der einzige mit einem eigenen Laden.

Magier wie mich gibt es nicht so häufig, aber auch nicht so selten, wie man meint. Wir sehen aus wie jeder andere auch; falls man also auf der Straße an einem wie mir vorbeiläuft, hat man es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Nur wenn man wirklich sehr aufmerksam war, könnte einem etwas aufgefallen sein, etwas, das seltsam war, das nicht ganz passte, aber sobald man dann genauer hingesehen hätte, wären wir schon längst verschwunden. Es ist eine andere Welt, die in eurer verborgen ist, und die meisten, die darin leben, mögen keine Besucher.

Diejenigen von uns, die Besucher haben wollen, müssen für sich Reklame machen, doch es ist wirklich schwer, dabei nicht verrückt zu wirken. Die meisten sind auf Mundpropaganda angewiesen, und jüngere Magier nutzen das Internet. Ich habe sogar mal von einem Typen in Chicago gehört, der im Telefonbuch unter »Hexenmeister« inseriert, aber das ist wahrscheinlich eine von diesen modernen Legenden. Ich führe meinen Laden. Wiccas, Heiden und New-Age-Anhänger sind heutzutage so weit verbreitet, dass Menschen den Gedanken an einen Zauberladen tolerieren können – oder zumindest begreifen sie, dass die Spinner ihren Kram irgendwo kaufen müssen. Natürlich gehen sie davon aus, dass das alles nur Tricks sind und das Zeug in meinem Laden genauso viel Magie innehat wie ein altes Paar Socken, und größtenteils haben sie damit auch recht. Aber der Kram in meinem Laden, der nicht magisch ist, ist eine gute Tarnung für das Zeug, das es wirklich in sich hat, wie zum Beispiel das Ding im Obergeschoss in der kleinen blau lackierten Flasche, das dir fünf Wünsche erfüllt, und zwar egal welche. Würde es jemals aus der Flasche ausbrechen, hätte ich bedeutend größere Schwierigkeiten als Leute, die mich gelegentlich verhöhnen.

Die Stränge der Zukunft hatten sich sortiert, und ich sah, dass das Telefon in ungefähr dreißig Sekunden klingeln würde. Ich machte es mir gemütlich und ließ es zweimal klingeln, bevor ich dranging. »Hey.«

»Hi, Alex«, sagte Lunas Stimme. »Bist du sehr beschäftigt?«

»Kein bisschen. Wie läuft’s?«

»Kann ich dich um einen Gefallen bitten? Ich habe in Clapham etwas gefunden. Kann ich es bei dir vorbeibringen?«

»Jetzt gleich?«

»Das ist kein Problem, oder?«

»Nicht wirklich. Ist es so eilig?«

»Nein. Na ja …« Luna zögerte. »Das Ding macht mich etwas nervös. Ich würde mich besser fühlen, wenn es bei dir wäre.«

Ich musste nicht einmal darüber nachdenken. Es war ein ruhiger Tag. »Erinnerst du dich an den Weg zum Park?«

»Der, der in der Nähe von deinem Laden ist?«

»Ich seh dich dort. Wo bist du?«

»Noch in Clapham. Ich steige jetzt aufs Fahrrad.«

»Also eineinhalb Stunden. Das schaffst du vor Sonnenuntergang, wenn du dich beeilst.«

»Ich glaube, ich möchte mich beeilen. Ich bin nicht sicher …« Lunas Stimme verklang, dann wurde sie wieder bestimmter. »Okay, bis gleich.«

Sie legte auf. Ich hielt das Telefon in der Hand und sah auf das Display. Luna arbeitet nebenher für mich, sie sucht Gegenstände, die ich verkaufen kann, auch wenn ich nicht glaube, dass sie es wegen des Geldes tut. Auf jeden Fall konnte ich mich nicht daran erinnern, dass sie jemals wegen eines dieser Fundstücke so nervös gewesen wäre. Und jetzt fragte ich mich, was genau sie da mit sich herumtrug.

Magisches Talent kann man sich als eine Art Pyramide vorstellen. Die Normalos bilden die niedrigste und größte Schicht. Wäre Magie eine Farbe, so wären diese Leute farbenblind geboren: Sie wissen nichts über Magie und wollen auch nicht wirklich etwas darüber erfahren. Sie müssen bereits mit einer Menge Kram klarkommen, und falls ihnen mal irgendetwas in die Quere kommt, was ihre Sicht auf die Dinge erschüttern könnte, überzeugen sie sich selbst ganz flott davon, dass da absolut nichts war. So sind etwa neunzig Prozent der Erwachsenen in der zivilisierten Welt.

Die nächste Schicht der Pyramide bilden die Empfindsamen, diejenigen, die nicht farbenblind sind. Sie sind im Vergleich zu den Normalos mit einem erweiterten Spektrum des Sehens gesegnet (oder verflucht, das kommt ganz auf die Einstellung an). Sie können die Anwesenheit der Magie spüren, die ferne Macht der Sonne und der Erde und der Sterne, die Wärme und Stabilität eines alten Familiensitzes, den nachklingenden Hauch des Todes und des Grauens an einer Stätte, an der dunkle Rituale durchgeführt wurden. Meistens fehlen ihnen die Worte, um zu beschreiben, was sie spüren, aber zwei Empfindsame erkennen einander per Empathie, und dies kann ein mächtiges Band zwischen ihnen knüpfen. Habt ihr jemals eine Verbindung zu jemandem gespürt, obwohl ihr gar nicht so genau wusstet, woran das lag? Genau so ist das.

Über den Empfindsamen stehen in der magischen Hackordnung die Adepten. Diese Leute machen nur etwa ein Prozent oder so aus, aber anders als Empfindsame können sie Magie fast unmerklich lenken. Häufig geschieht es so unmerklich, dass sie nicht einmal wissen, dass sie es tun. Sie haben dann zum Beispiel »Glück« im Kartenspiel, oder sie sind sehr gut darin zu »raten«, was anderen durch den Kopf geht. Das alles ist aber so schwach ausgeprägt, dass sie glauben, sie wurden unter einem guten Stern geboren oder wären eben besonders einfühlsam. Manchmal jedoch erkennen sie, was genau sie da machen, und dann beginnen sie, ihre Sinne zu schärfen und zu entwickeln, und einige von diesen Typen erlangen in ihrem jeweiligen Betätigungsfeld ziemlich beeindruckende Ergebnisse.

Dann sind da die Magier.

Luna bewegt sich irgendwo zwischen Empfindsamer und Adeptin. Selbst für mich ist es schwer einzuschätzen, was sie genau ist, denn sie hat ein paar … einzigartige Merkmale, die ihre Einstufung schwer machen, von gefährlich ganz zu schweigen. Außerdem ist sie einer meiner wenigen Freunde, deshalb freute ich mich darauf, sie zu sehen. Ihr Tonfall hatte mich beunruhigt, also blickte ich in die Zukunft und war froh zu sehen, dass sie pünktlich in eineinhalb Stunden hier ankommen würde.

Dabei sah ich allerdings noch etwas, und das ärgerte mich: Jemand anderes würde in ein paar Minuten durch die Tür treten, obwohl ich das Schild umgedreht hatte, auf dem jetzt »Geschlossen« stand. In Camden gibt es jede Menge Touristen, und es ist immer wieder einer dabei, der davon ausgeht, dass die Öffnungszeiten nicht für ihn gelten. Ich wollte nicht zur Tür laufen und sie verschließen müssen, also saß ich einfach da und blickte missmutig auf die Straße, bis eine Gestalt vor der Tür erschien und sie aufschob. Es war ein Mann, mit glatt gebügelter Hose und Hemd mit Krawatte. Die Glocke über der Tür klingelte melodisch, als er eintrat. »Hallo, Alex«, sagte er und hob dabei die Augenbraue.

Ich erkannte ihn an seiner Stimme. Adrenalin jagte durch meinen Körper, während ich meine Sinne ausstreckte und den Laden und die Straße davor abtastete. Die rechte Hand ließ ich dabei ein paar Zentimeter sinken, damit ich sie auf das Brett unter dem Ladentisch legen konnte. Ich spürte keinen Angriff kommen, aber das bedeutete in diesem Fall nicht unbedingt etwas.

Lyle stand da und sah mich an. »Na?«, fragte er. »Möchtest du mich nicht hereinbitten?«

Ich hatte Lyle zuletzt vor mehr als vier Jahren gesehen, aber er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war in etwa so alt wie ich, schlanke Figur, kurze schwarze Haare, und seine Haut hatte diesen leichten Olivton, der auf einen Vorfahren aus dem Mittelmeerraum schließen ließ. Seine Kleidung sah teuer aus, und er trug sie mit einer lässigen Eleganz, von der ich wusste, dass ich sie niemals haben würde. Lyle hatte schon immer gewusst, wie man gut aussah.

»Wer ist sonst noch hier?«, fragte ich.

Lyle seufzte. »Niemand. Himmel, Alex, bist du wirklich so paranoid geworden?«

Ich prüfte, was er sagte, prüfte es noch mal und fand es bestätigt. Soweit ich das beurteilen konnte, war Lyle der einzige andere Magier in der Nähe. Und als mein Herzschlag sich wieder beruhigte, begriff ich, dass Lyle der Letzte wäre, den der Rat zu mir schickte, falls er einen Angriff plante. Plötzlich hatte ich wirklich das Gefühl, paranoid zu sein.

Klar, das hieß trotzdem nicht, dass ich mich freute, ihn zu sehen. Lyle ging langsam auf mich zu, und ich blaffte: »Bleib stehen!«

Lyle hielt inne und sah mich fragend an. »Und?«, meinte er dann, als ich nicht reagierte. Er stand mitten in meinem Laden zwischen den Regalen voller Kerzen und Glocken. »Sollen wir so stehen bleiben und uns anstarren?«

»Wie wär’s, wenn du mir erzählst, warum du hier bist?«

»Ich hatte gehofft, wir reden an einem etwas gemütlicheren Ort miteinander.« Lyle legte den Kopf schief. »Wie wäre es mit oben?«

»Nein.«

»Wolltest du gerade essen?«

Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. »Lass uns eine Runde spazieren gehen.«

Als wir draußen waren, atmete ich etwas leichter. Ein Bereich meines Ladens ist vom Rest mit einem Seil abgetrennt, und dort stehen die Gegenstände, denen echte Magie innewohnt: Fokusse, Residuale und Einwegwerkzeuge. Lyle hatte sie nicht entdeckt, aber ein paar Schritte weiter, und er hätte sie gar nicht übersehen können. Keiner der Gegenstände war mächtig genug, dass er ihnen einen zweiten Blick geschenkt hätte, aber er hätte begriffen, dass ich auch einige besondere Stücke besitzen musste, wenn ich über so viele kleinere verfügte. Und mir war es lieber, wenn diese Information nicht beim Rat landete.

Es war spät im Frühling und das Londoner Wetter mild genug, dass ein Spaziergang ein Vergnügen und keine lästige Pflicht darstellte. In Camden ist immer etwas los, selbst wenn der Markt geschlossen hat, aber die Gebäude und Brücken dämpfen die Geräusche. Ich führte Lyle durch eine kleine Straße zum Pfad am Kanal, blieb dort stehen und lehnte mich gegen das Geländer. Die Gegend um uns herum prüfte ich gründlich, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft, aber ich fand nichts Ungewöhnliches. Soweit ich das beurteilen konnte, war Lyle allein.

Ich kannte Lyle seit mehr als zehn Jahren. Er war ein Lehrling gewesen, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, tollpatschig und wissbegierig, immer beflissen, seinem Meister auf dem Fuße zu folgen. Damals war schon abzusehen, dass er sich für den Rat bewerben würde, aber wir waren Freunde, standen uns sogar nahe. Wenigstens für eine Weile. Dann zerstritt ich mich mit Richard Drakh.

Ich denke nicht gern daran, was im Jahr danach geschah. Es gibt Dinge, die so entsetzlich sind, dass man sie niemals richtig verarbeitet, ein wüstes Brachland im Gedächtnis, und man kann nur versuchen, trotzdem weiterzumachen. Lyle war nicht direkt verantwortlich für die Dinge, die mir und den anderen in Richards Villa widerfahren waren, aber er hatte zum Teil Bescheid gewusst, genau wie der Rest des Rats. Zumindest hätten sie Bescheid gewusst, hätten sie sich gestattet, darüber nachzudenken. Doch sie mieden das Thema und warteten auf die bequeme Lösung, nämlich dass ich einfach verschwand.

Lyle und ich sind nicht mehr befreundet.

Jetzt stand er neben mir und wischte das Geländer ab, bevor er sich darauf stützte, damit seine Jacke nicht schmutzig wurde. Der Fußweg verlief neben dem Kanal, folgte seiner Biegung und verschwand aus unserem Sichtfeld. Das Wasser war heute dunkel, und kabbelige Wellen brachen seine Oberfläche. Es war ein trüber Tag, die Sonne schien nur schwach durch die grauen Wolken.

»Nun«, sagte Lyle schließlich, »wenn du nicht plaudern möchtest, sollen wir dann zur Sache kommen?«

»Ich glaube nicht, dass es viel gibt, worüber wir plaudern wollen, meinst du nicht?«

»Der Rat möchte deine Dienste in Anspruch nehmen.«

Ich blinzelte kurz. »Du bist in offiziellem Auftrag hier?«

»Nicht direkt. Es gab … Unstimmigkeiten darüber, wie man am besten vorgehen sollte. Der Rat konnte sich nicht einigen …«

»Der Rat kann sich nicht einmal darauf einigen, wann seine Mitglieder zu Abend essen wollen.«

»… wie man weitermachen sollte«, beendete Lyle den Satz glatt. »Und so wurde es als Übergangsmaßnahme angesehen, einen Wahrsager zu konsultieren.«

»Einen Wahrsager zu konsultieren?«, fragte ich plötzlich misstrauisch. Der Rat und ich stehen nicht gerade auf gutem Fuße miteinander. »Mich im Besonderen?«

»Wie du weißt, fordert der Rat selten …«

»Was ist mit Alaundo? Ich dachte, wenn sie einen Seher wollen, ist er ihr Mann?«

»Ich fürchte, ich kann geschlossene Verfahren des Rats nicht erörtern.«

»Hast du erst einmal angefangen, damit hausieren zu gehen, ist das kein geschlossenes Verfahren mehr, oder? Komm schon, Lyle. Ich lasse mich so sicher wie die Hölle auf nichts ein, solange ich nicht weiß, warum du hier bist.«

Lyle stieß genervt die Luft aus. »Meister Alaundo ist momentan auf ausgedehnter Recherchereise.«

»Also hat er dich abgewiesen? Was ist mit Helikaon?«

»Er ist anderweitig beschäftigt.«

»Und dieser Kerl aus den Niederlanden? Holländer-Jake oder wie auch immer er genannt wurde? Ich bin ziemlich sicher, dass er Prophezeiungen für …«

»Alex«, sagte Lyle. »Hör auf, jeden Wahrsager der Britischen Inseln und des Kontinents aufzuzählen. Ich kenne die Liste genauso gut wie du.«

Nun musste ich grinsen. »Ich bin der Einzige, den du auftreiben konntest, habe ich recht? Deshalb kommst du zu mir?« Ich kniff die Augen ein wenig zusammen. »Und der Rat weiß es nicht einmal. Sie hätten niemals zugestimmt, mir offizielle Angelegenheiten anzuvertrauen.«

»Ich mag Drohungen nicht sonderlich«, sagte Lyle steif. »Und ich würde es zu schätzen wissen, wenn du deine Fähigkeiten nicht dafür nutzen würdest.«

»Du glaubst, ich habe meine Magie gebraucht, um das herauszufinden?« Lyle zu verärgern war befriedigend, ich wusste aber auch, dass es riskant war, es zu weit mit ihm zu treiben. »In Ordnung. Was ist für den Rat so wichtig, dass du das Risiko eingehst, damit zu mir zu kommen?«

Lyle nahm sich einen Moment Zeit, um seine Krawatte zu richten. »Ich nehme an, du kennst den Arrancar-Beschluss?«

Ich sah ihn fragend an.

»Das ist seit Monaten allgemein bekannt.«

»Wem allgemein bekannt?«

Lyle stieß erneut entnervt die Luft aus. »Als Folge des Arrancar-Beschlusses müssen Magier alle signifikanten archäologischen Entdeckungen des Arkanen dem Rat melden. Kürzlich wurde eine neue Entdeckung gemeldet …«

»Gemeldet?«

»… und einer vorläufigen Untersuchung unterzogen. Das Ermittlungsteam ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich ziemlich sicher um ein Artefakt der Vorboten handelt.«

Ich sah auf. »Funktionstüchtig?«

»Ja.«

»Welcher Art?«

»Sie waren nicht in der Lage, das zu ermitteln.«

»Es ist versiegelt? Ich bin überrascht, dass sie es nicht einfach mit Gewalt versucht haben.«

Lyle zögerte.

»Oh«, sagte ich, als ich verstand. »Sie haben es mit Gewalt versucht. Was ist passiert?«

»Ich fürchte, das ist vertraulich.«

»Ein Bann? Ein Wächter?«

»Jedenfalls wird ein neues Ermittlungsteam zusammengestellt. Es wird als … notwendig erachtet, dass es Zugriff auf die Fähigkeiten eines Wahrsagers hat.«

»Und du willst mich in dem Team?«

»Nicht direkt.« Lyle schwieg kurz. »Du wärest ein unabhängiger Agent, der an mich berichtet. Ich leite deine Empfehlungen und Vorschläge an die Ermittler weiter.«

Ich runzelte die Stirn. »Was?«

Lyle räusperte sich.

»Unglücklicherweise wäre es nicht zulässig, wenn du dem Team direkt beitreten würdest. Der Rat könnte dich nicht freigeben. Aber wenn du einwilligst, verspreche ich dir, dass ich dir alles erzähle, was du wissen musst.«

Ich wandte mich von Lyle ab und blickte auf den Kanal. Das Grollen eines Motors hallte von den Ziegelmauern ein Stück weiter flussabwärts herauf, und ein rot und gelb gestrichener Lastkahn schob sich in Sicht, um dann langsam an uns vorbeizutuckern. Der Mann an der Ruderpinne beachtete uns nicht. Lyle schwieg, während der Kahn uns passierte und schließlich hinter der Biegung des Kanals verschwand. Eine Brise kam auf und fuhr über den Pfad, zerzauste mir das Haar.

Ich schwieg weiterhin. Lyle hustete. Zwei Möwen flogen über uns hinweg, dem Kahn hinterher, und kreischten mit lauten, misstönenden Stimmen.

»Alex?«, fragte Lyle.

»Entschuldige«, antwortete ich. »Bin nicht interessiert.«

»Wenn es ums Geld geht …«

»Nein, ich mag diesen Deal nicht.«

»Warum?«

»Weil er stinkt.«

»Sieh mal, du musst realistisch bleiben. Der Rat würde dir in keinem Fall eine Freigabe erteilen, damit …«

»Wenn der Rat mir keine Freigabe erteilen will, hättest du überhaupt gar nicht erst zu mir kommen sollen.« Ich wandte mich um und sah Lyle an. »Was denkst du dir dabei? Brauchen sie die Information so dringend, dass es ihnen egal ist, woher du sie kriegst? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie früher oder später Fragen stellen werden, und dann wirst du mich abservieren, um nicht in die Schusslinie zu geraten. Und ich habe keine Lust, dein Sündenbock zu sein.«

Lyle stieß die Luft aus. »Warum bist du nur so unvernünftig? Ich biete dir eine Chance, dich mit dem Rat wieder gut zu stellen. Wenn man die Alternative bedenkt …«

»Da du es ansprichst … Zufällig bin ich nicht besonders interessiert daran, die Gunst des Rats wiederzuerlangen.«

»Das ist lächerlich. Der Rat vertritt jeden Magier im ganzen Land.«

»Ja, alle Magier. Genau das ist das Problem.«

»Dir geht es um diese Sache mit Drakh, nicht wahr?«, fragte Lyle. Er verdrehte die Augen. »Jesus, Alex, das ist zehn Jahre her. Komm drüber hinweg.«

»Mir egal, wie lange das her ist«, sagte ich verbissen. »Der Rat hat sich nicht gebessert. Er ist eher schlimmer geworden.«

»Wir hatten zehn Jahre lang Frieden. Das ist deine Vorstellung von schlimmer?«

»Ihr hattet Frieden, weil du und der Rat die Schwarzmagier habt tun lassen, was sie wollten.« Ich starrte Lyle finster an. »Du weißt, was sie den Menschen antun, die in ihrer Macht sind. Warum fragst du die nicht, wie gut dieses Abkommen ihrer Meinung nach wohl ist?«

»Wir fangen keinen weiteren Krieg an, Alex. Der Rat geht nirgendwohin, und diejenigen, die ein Teil davon sind, ebenso wenig, ob Weiß- oder Schwarzmagier. Das wirst du einfach akzeptieren müssen.«

Ich holte Luft und blickte über den Kanal, lauschte auf die fernen Schreie der Möwen. Als ich weitersprach, klang meine Stimme fest. »Die Antwort lautet Nein. Such dir einen anderen.«

Lyle stieß angewidert die Luft aus. »Ich hätte es wissen sollen.« Er machte einen Schritt von mir weg und blickte mich dabei an. »Du lebst in der Vergangenheit. Werd erwachsen.«

Ich sah zu, wie Lyle verschwand, dann wandte ich mich wieder dem Kanal zu.

Schon seit es Magie gibt, besteht eine Kluft zwischen den beiden Pfaden, zwischen den Weißmagiern und den Schwarzmagiern. Manchmal existieren sie in wackligem Waffenstillstand nebeneinander; manchmal kommt es zu Konflikten. Die letzte dieser Auseinandersetzungen fand vierzig Jahre vor meiner Geburt statt und wird Portalrunenkrieg genannt. Eine Fraktion der Schwarzmagier stellte sich gegen fast alle Weißmagier, und der Sieger hätte die totale Herrschaft über die Welt davongetragen. Die Seite der Weißen gewann – mehr oder weniger. Sie hielten die Schwarzmagier auf und töteten deren Anführer, aber am Ende waren auch fast alle Kampfmagier der Weißen tot. Die Überlebenden der Weißen wollten keine weiteren Kriege austragen, also gestattete man den übrig gebliebenen Schwarzmagiern nicht, sich neu zu formieren. Die Jahre vergingen. Die alten Krieger wurden von einer neuen Generation Magier abgelöst, die den Frieden für den Normalzustand hielten.

Als ich auftauchte, verfolgte der Rat die Strategie »Leben und leben lassen«. Schwarzmagier wurden geduldet, solange sie keine Weißmagier verfolgten, und umgekehrt. Es gab ein Regelwerk, genannt Konkordia, das steuerte, was Magiern erlaubt war und was nicht. Die Konkordia unterschied nicht zwischen Weiß und Schwarz, und so wuchs der Eindruck, dass eine Trennung zwischen den beiden Fraktionen veraltet sei. Zu jener Zeit glaubte ich, das würde durchaus Sinn machen. Mein eigener Meister, Richard Drakh, war ein Schwarzmagier, und ich verstand nicht, warum Weiß- und Schwarzmagier nicht miteinander auskommen sollten.

Nach meinem Zerwürfnis mit Richard änderte ich meine Meinung, aber da war es bereits zu spät. Ich stellte nämlich fest, dass die Konkordia zwar alle möglichen Regeln enthielt, wie Magier sich untereinander verhalten durften, dass es jedoch überhaupt keine Regeln dafür gab, wie sie mit ihren Lehrlingen umzugehen hatten. Nach meiner Flucht ging ich zu Lyle und dem Rat. Es interessierte sie nicht. Man ließ mich allein mit einem wütenden Schwarzmagier, der es auf mich abgesehen hatte.

Sogar jetzt kann ich mich noch an jene Zeit erinnern, an diese schreckliche, lähmende Angst. Man kann es unmöglich verstehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat – das Grauen, von etwas gejagt zu werden, das grausamer und mächtiger ist als man selbst. Ich war fast noch ein Teenager, kaum in der Lage, für mich selbst zu sorgen, ganz zu schweigen davon, mich mit jemandem wie Richard auseinanderzusetzen. Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, begreife ich, dass der Rat nur darauf gewartet hatte, dass Richard mich beseitigte und die ganze peinliche Schweinerei aufräumte. Stattdessen habe ich überlebt.

Jetzt wisst ihr, warum ich nicht gerade der Lieblingsmagier des Rats bin. Und warum ich auch nicht den Wunsch habe, mich bei ihnen lieb Kind zu machen.

Ich wusste, dass Lyle weg war und auch nicht wiederkommen würde, aber ich blieb noch weitere zwanzig Minuten dort stehen und sah auf die Spiegelbilder im dunklen Wasser, während ich darauf wartete, dass die hässlichen Erinnerungen verblassten. Als ich mich beruhigt hatte, schob ich Lyle und all das, wofür er stand, aus meinen Gedanken und ging erst mal nach Hause. Mir war an diesem Tag nicht mehr nach Arbeiten zumute, also schloss ich den Laden hinter mir zu und machte mich auf den Weg zum Park.

London ist eine alte Stadt. Selbst die Besucher spüren das – die Geschichtsträchtigkeit des Ortes, die Last von Tausenden von Jahren. Für einen Empfindsamen ist dieses Gefühl noch stärker wahrnehmbar, fast wie eine physische Präsenz, die in die Erde und die Steine eingeschlossen ist. Über die Jahrhunderte hinweg haben sich Inseln gebildet, kleine Enklaven im Gebäudedschungel, und der Ort, an den ich ging, war so einer.

Von meinem Laden aus läuft man etwa zehn Minuten bis zu dem Park, der versteckt am Ende einer gewundenen Seitengasse liegt, die keiner je nutzt. Er ist so überwuchert, dass er hinter einem Zaun und Bäumen fast schon unsichtbar ist. Baustellenfahrzeuge parken vor dem Zaun – offiziell ist der Park wegen einer Neugestaltung geschlossen, aber irgendwie scheint die Arbeit nie erledigt zu werden. Der Park liegt umzingelt von Gebäuden, und dennoch schützen einen Blätter und Äste vor neugierigen Blicken.

Ich saß mit dem Rücken an eine Buche gelehnt auf einer Decke, als ich das leise Rattern eines Fahrrads auf der Straße draußen hörte. Einen Moment später tauchte ein Mädchen zwischen den Bäumen auf und duckte sich unter den Ästen hindurch. Ich winkte ihr zu, und sie änderte die Richtung, kam über den Rasen auf mich zu.

Ein flüchtiger Blick auf Luna zeigt einem eine junge Frau Anfang zwanzig, mit blauen Augen, heller Haut und gewelltem hellbraunem Haar, das sie meist zu zwei Knoten geschlungen trägt. Sie bewegt sich sehr vorsichtig und schaut immer, wo sie Hände und Füße hinsetzt, und oft wirkt sie, als wäre ihr Körper anwesend, während ihr Geist irgendwo weit weg ist. Sie lächelt fast nie, und ich habe sie noch nie lachen sehen, aber man kann sich gut mit ihr unterhalten, ohne etwas Merkwürdiges an ihr wahrzunehmen … wenigstens nicht am Anfang.

Luna ist einer dieser Menschen, der in die Welt der Magie hineingeboren wurde, ohne jemals eine Wahl gehabt zu haben. Adepten und selbst Magier können wählen, ihre Macht aufzugeben, sie können ihre Begabungen im Sande begraben und einfach hinter sich zurücklassen, aber bei Luna ist das anders. Einer von Lunas Vorfahren machte vor ein paar Hundert Jahren in Sizilien den Fehler, eine mächtige strega zu verärgern. Hexen aus der tiefsten Provinz haben den Ruf, boshaft zu sein, aber diese war sogar nach Hexenstandard äußerst fies. Statt den Mann einfach umzubringen, belegte sie ihn mit einem Fluch, der seine jüngste Tochter treffen sollte und die Tochter seiner Tochter, dann deren Tochter und so weiter, ein Fluch, der seine Kinder Generation um Generation verfolgen würde, bis es keine Nachkommen mehr gäbe oder die Welt endete – was auch immer zuerst der Fall sein würde.

Ich weiß nicht, wie es diese längst verstorbene Hexe schaffte, den Fluch so nachhaltig an seinen Familienzweig zu binden, aber sie hat einen teuflisch gründlichen Job gemacht. Seit Jahrhunderten ist sie nun Staub und Knochen, doch der Fluch ist immer noch stark wie eh und je, und Luna ist in ihrer Generation diejenige, die ihn geerbt hat. Der Fluch ist unter anderem so gemein, weil er fast unmöglich festzustellen ist. Selbst ein Magier bemerkt ihn nicht, wenn er nicht ganz genau weiß, wonach er Ausschau halten muss. Wenn ich mich konzentriere, nehme ich ihn um Luna herum als eine Art silbrig-grauen Nebel wahr, aber ich habe nur den Hauch einer Ahnung, wie er bewirkt, was er bewirkt.

»Hey«, sagte Luna, als sie bei mir ankam, und ließ ihren Rucksack von der Schulter gleiten. Statt sich auf die Decke zu setzen, suchte sie sich einen Platz auf der Wiese, ein paar Meter von mir entfernt. »Geht es dir gut?«

»Sicher. Warum?«

»Du siehst aus, als würde dich etwas belasten.«

Ich schüttelte missmutig den Kopf. Ich hatte geglaubt, ich hätte es besser verborgen, aber ich hatte schon immer Probleme gehabt, etwas vor Luna zu verheimlichen. »Unwillkommener Besucher. Wie sieht es aus?«

Luna zögerte. »Kannst du …?«

»Lass uns einen Blick daraufwerfen.«

Luna hatte offenbar nur darauf gewartet, dass ich fragte. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks und nahm etwas heraus, das in einen Baumwollschal gewickelt war. Sie beugte sich vor, legte es auf den Rand der Decke und wickelte es dann aus, wobei sie sich von mir möglichst fernhielt. Der Schal löste sich, und Luna rutschte eilig weg, während ich mich neugierig vorbeugte. In den Falten des Schals lag etwas, das wie ein Würfel aus rotem Kristall aussah.

Das Ding maß knapp acht Zentimeter im Quadrat und war tiefrot, es sah aus wie Buntglas. Als ich jedoch genauer hinsah, bemerkte ich, dass es dafür nicht transparent genug war. Ich hätte hindurchsehen können müssen, aber das ging nicht. Stattdessen erkannte ich winzige weiße Funken, die in den Tiefen des Quadrats glommen.

»Hm«, sagte ich und richtete mich wieder auf. »Wo hast du das gefunden?«

»Auf dem Dachboden eines Hauses in Westclapham. Aber …« Luna hielt inne. »Es ist seltsam. Vor drei Wochen war ich im selben Haus, und da habe ich nichts gespürt. Aber diesmal lag es auf einem Regalbrett, einfach so. Und als ich zu dem Besitzer ging, konnte er sich nicht daran erinnern, dass es ihm gehörte. Er hat es mir umsonst gegeben.« Luna runzelte die Stirn. »Ich frage mich, ob ich es vielleicht einfach übersehen habe, aber ich weiß nicht, wie das möglich sein sollte. Du kannst es spüren, oder nicht?«

Ich nickte. Der Würfel strahlte eindeutig die Andersartigkeit aus, die allen magischen Gegenständen zu eigen ist. Er war nicht sonderlich auffällig, aber stark. Jemand Sensibles wie Luna hätte nicht daran vorbeilaufen können, ohne das zu bemerken. »Hast du den Würfel berührt?«

Luna nickte.

»Was ist passiert?«

»Er hat geleuchtet«, sagte Luna. »Nur eine Sekunde lang, und …« Sie zögerte. »Ich habe ihn wieder hingelegt, und es hörte auf. Dann habe ich ihn eingepackt und hierhergebracht.«

Der Würfel glühte jetzt nicht, also fokussierte ich ihn und konzentrierte mich darauf. Alle Magier können bis zu einem gewissen Grad magische Spektren wahrnehmen, aber als Wahrsager bin ich darin deutlich besser als die meisten. Die Sicht eines Magiers hat nicht wirklich etwas mit herkömmlichem Sehen zu tun, es ist vielmehr ein sechster Sinn, der jedoch am einfachsten optisch zu deuten ist. Auf diese Weise bekommt man ein Gefühl dafür, wie die Magie beschaffen ist, die man vor sich hat, wo sie herkommt und was sie bewirkt. Beherrscht man die Sicht gut genug, kann man die Gedanken erfassen, mit denen die Magie geformt wurde, und die Art der Persönlichkeit, die sie geschaffen hat. An einem guten Tag kann ich die gesamte Geschichte eines Gegenstands lesen, einfach indem ich ihn betrachte.

Heute war keiner dieser Tage. Ich konnte die Aura des Würfels nicht lesen, genauer gesagt nahm ich überhaupt keine Aura an ihm wahr. Was keinen Sinn ergab, weil wenigstens eine Aura daran hätte haften müssen, nämlich Lunas. Für mich erglühte Luna in klarem Silber, Nebelfetzen schwebten immerzu von ihr fort und bildeten sich neu. Allem, was sie berührte, haftete ein Rückstand davon an: Ihr Rucksack glühte silbern, der Schal leuchtete silbern, selbst das Gras, auf dem sie saß, glomm silbern. Der Würfel jedoch strahlte absolut nichts ab. Das Ding war wie ein schwarzes Loch.

Magische Werkzeuge, die sich selbst überlassen sind, verströmen eine Aura, und je mächtiger der Gegenstand, desto mächtiger ist die Aura. Aus diesem Grund hatte ich Luna gebeten, das Ding hier rauszubringen. Hätte ich versucht, den Würfel in meinem Laden zu untersuchen, hätten mich dabei hundert andere Auren abgelenkt. Der Park ist eine natürliche Oase, eine Art erdender Zirkel, der vor anderen Energien abschirmt, sodass ich mich hier ganz auf diese eine Sache konzentrieren konnte. Es ist möglich, ein Werkzeug so zu erschaffen, dass seine Signatur ziemlich gering ausfällt, aber egal wie sorgfältig man einen solchen Gegenstand oder einen Fokus herstellt, es bleibt immer etwas zurück, das sichtbar ist. Eine magische Aura völlig zu tarnen ist nur aktiv möglich, und das bedeutete, dass das Ding vor mir nur eine einzige Sache sein konnte. Ich sah Luna an. »Da hast du wirklich etwas Besonderes gefunden.«

»Weißt du, was es ist?«, fragte Luna.

Ich schüttelte den Kopf und dachte einen Moment nach. »Was ist geschehen, als du es berührt hast?«

»Die Punkte darin haben angefangen zu glühen, und es hat geleuchtet. Nur eine Sekunde lang. Dann ist es wieder dunkel geworden.« Luna schien noch etwas sagen zu wollen, hielt dann aber inne.

»Und danach? War da noch etwas?«

»Na ja …« Luna zögerte wieder. »Vielleicht war es ja gar nichts.«

»Erzähl es mir.«

»Es hat sich angefühlt, als würde es mich ansehen. Selbst noch, als ich es eingesteckt hatte. Ich weiß, das klingt seltsam.«

Ich lehnte mich wieder gegen den Baum und sah auf den Würfel hinab. Das gefiel mir überhaupt nicht.

»Alex?«, fragte Luna. »Was ist los?«

»Das Ding hier wird Ärger machen.«

»Warum?«

Ich zögerte. Seit ein paar Monaten unterwies ich Luna in Magie, hatte es bisher aber vermieden, ihr allzu viel über die Menschen zu erzählen, die sie nutzten. Ich weiß, dass Luna von der magischen Welt angenommen werden will, und ich weiß auch, dass dafür fast keine Chance besteht. Die Gesellschaft der Magier beruht auf einer Hierarchie der Macht: Je mächtiger deine Magie, desto höher ist dein Status. Empfindsame wie Luna sind da im besten Fall Leute zweiter Klasse.

»Sieh mal, es gibt einen Grund dafür, dass nicht viele Magier einen Laden betreiben«, sagte ich schließlich. »Sie haben nie an diese ganze Vorstellung von ›dein‹ und ›mein‹ geglaubt. Sieht ein Magier einen magischen Gegenstand, will er ihn haben. Ein kleineres Werkzeug kann man verbergen, aber die wirklich mächtigen … mit denen ist es anders. Jeder Magier, der von diesem Ding hier erfährt, wird dich aufspüren wollen, um es an sich zu bringen. Und dabei geht er ziemlich sicher nicht besonders vorsichtig vor. Es ist schon gefährlich, ein so mächtiges Objekt nur in seinem Besitz zu haben.«

Luna schwieg einen Moment. »Aber du tust das nicht«, sagte sie endlich.

Ich seufzte. »Nein.«

Luna sah mich an, dann wandte sie sich ab, und wir saßen eine Weile schweigend da.

Lunas Fluch beruht auf einem Glückszauber. Er nimmt Einfluss auf das Glück und beugt die Wahrscheinlichkeit, sodass etwas, das normalerweise ein Mal von tausend oder einer Million Malen geschieht, genau zur rechten Zeit passiert – oder zur falschen. Der Zauber um Luna bewirkt beides. Er hält Unglück von ihr fern – und lenkt es auf jeden in ihrer Nähe um.

Wirklich gemein ist daran, dass der Spruch ursprünglich von einem Schwarzmagier als Schutz entwickelt wurde, zumindest schließe ich das aus dem, was ich bisher über ihn in Erfahrung bringen konnte. Eigentlich ist es also gar kein Fluch, sondern sorgt dafür, dass jemand so gut vor Unfällen und Ähnlichem geschützt ist wie nur möglich. Mithilfe dieses Banns kann man zur Rushhour über die Autobahn schlendern, während eines Gewitters auf einen Baum klettern oder über ein Schlachtfeld stiefeln, während Bomben um einen herum einschlagen, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen.

Diese Unglücksfälle verschwinden aber nicht, sie werden umgelenkt auf jeden, der sich in der Nähe der betreffenden Person aufhält. Und weil dieser Spruch dauerhaft verankert wurde, ist das Ergebnis entsetzlich. Je näher Luna einem anderen Menschen kommt, desto schlimmer trifft ihn der Fluch. Sie kann nicht mit jemandem im selben Haus leben, weil innerhalb eines Monats etwas Furchtbares geschehen würde. Sie kann keine Haustiere halten, denn sie würden frühzeitig sterben. Selbst Freunde zu haben ist für sie gefährlich. Je näher ihr Menschen stehen und je länger sie sich in ihrer Nähe aufhalten, desto schlimmer wird es. Jedes Mal, wenn Luna sich für einen anderen Menschen interessiert, ist ihr klar, dass er umso schlimmer verletzt werden wird, je mehr Zeit sie mit ihm verbringt. Sie erzählte mir einmal, dass der erste Junge, den sie küsste, ins Koma fiel.

Ich habe einige Zeit damit verbracht, Lunas Fluch zu erforschen, habe einen Weg gesucht, ihn zu brechen, aber bisher kam nichts dabei heraus. Ich könnte vielleicht eine Möglichkeit finden, wenn ich sie eingehend genug studierte, aber Lunas Leben ist schon schwer genug, ohne dass jemand sie wie ein Wissenschaftsprojekt behandelt. Und doch … »Luna?«

»Hm?«

»Es gibt da etwas, das ich …«

Etwas streifte meine Sinne, und ich hielt inne. Ich blickte in die Zukunft. Mein Magen rumorte, und mir wurde kalt.

Luna sah mich verwirrt an. Sie merkte mir an, dass etwas los war, aber sie wusste nicht, was. »Alex?«

Ich sprang auf. »Geh!«

Luna kam langsam auf die Füße. »Was ist los?«

»Keine Zeit!« Ich klang verzweifelt, uns blieben nur Sekunden. »Hinter den Baum, versteck dich. Los!«

Luna zögerte noch einen Moment, dann ging sie rasch hinter der Buche in Deckung.

»Bleib dort«, sagte ich leise und eindringlich. »Sei ganz still.« Ich drehte mich um, als ein Mann zwischen den Bäumen vor mir auftauchte. Er war kräftig gebaut, hatte einen Stiernacken und große Hände, und seine Muskeln zeichneten sich unter dem schwarzen Mantel ab. Er hätte wie ein Türsteher oder Bodyguard gewirkt, vielleicht sogar wie einer von der netten Sorte, solange man ihm nicht in die Augen blickte.

»Verus, stimmt’s?«, fragte der Schwarzmagier und sah mich ruhig an. »Glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind.«

2

Wir standen uns gegenüber und musterten einander. Der Wind war abgeflaut, und die Vögel um uns herum verstummten, weil sie die Gefahr spürten. Ich gab mir Mühe, mir das abscheuliche Gefühl nicht ansehen zu lassen, das man bekommt, wenn man einen wirklich schweren Fehler begangen hat. Ich war ohne Waffen oder irgendeinen Schutz aus dem Haus gegangen. Früher einmal hätte ich nicht im Traum daran gedacht, so rauszugehen, aber Monate der Sicherheit hatten mich eingelullt, und ich war unvorsichtig geworden.

Und jetzt bezahlte ich dafür. Ich stand einem Schwarzmagier gegenüber, der sich jederzeit auf mich stürzen konnte, und dann wäre ich erledigt. Die Stille dehnte sich aus, während ich angespannt versuchte, in die Zukunft zu blicken, um zu sehen, was geschehen würde. »Ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt«, sagte ich endlich und bemühte mich um einen ruhigen, bestimmten Tonfall.

»Kannst mich Cinder nennen.«

Ich hob die Augenbrauen. »Cinder? Also ›Asche‹? Wie subtil.«

»Versuchst du, lustig zu sein?«

»Ich weiß nicht, lachst du?«

Da grinste er. »Freches Mundwerk.«

Ich antwortete nicht, doch als ich erneut in die Zukunft blickte und die unterschiedlichen Stränge prüfte, rieselte ein eisiger Schauer durch mich hindurch. Diese Unterhaltung konnte sich in tausend Richtungen entwickeln, und die meisten führten dazu, dass Cinder mich angriff, brutal und ohne Vorwarnung. Und der Grund für den Kampf wäre …

Ich bemühte mich, die Verwirrung nicht zu zeigen, die sich in mir ausbreitete. Es ging um den roten Würfel, der noch immer auf der Decke lag, keinen halben Meter hinter mir. Sobald Cinder ihn wahrnahm, würde er sich auf mich stürzen und versuchen, mich zu töten, und ich hatte absolut keine Ahnung, warum.

Im Moment konzentrierte Cinder sich noch auf mich, aber in wenigen Sekunden würde sich das ändern, und er würde den Würfel sehen. Ich traf eine Entscheidung und wandte Cinder mit voller Absicht den Rücken zu, ging in die Hocke und faltete die Decke zusammen.

»Ich nehme an …«, begann Cinder, dann hielt er inne. »Hey.«

Ich drehte mich nicht um. »Was?«

»Ich rede mit dir.«

Ich rollte die Decke um den Würfel herum und stellte dabei sicher, dass der schwere Stoff ihn gut einhüllte. »Was?« Ich stopfte die Decke in meine Tasche und konnte dabei Cinders Verwirrung spüren. Niemand wandte einem Schwarzmagier den Rücken zu, außer man war verrückt oder hatte einen Plan. Ich merkte, wie Magie hinter mir aufwallte, und blickte kurz über die Schulter, als ich das Kribbeln auf meinem Rücken spürte. »Hör auf«, sagte ich betont lässig.

Ärger huschte über Cinders Miene. »Ich nehme an, du weißt nicht, wer ich bin.«

Ich warf mir die Tasche über den Rücken und wandte mich endlich wieder zu Cinder um. Ich hatte in jungen Jahren gelernt, meine Angst zu verbergen, und das kam mir jetzt zugute. Statt mich zu lähmen, schärfte die Angst meine Sinne, half mir, sie zu fokussieren. Ich konnte die leichte Anspannung in Cinders Körper spüren, als er mich mit zusammengekniffenen Augen musterte, wütend und verwirrt. Ihm den Rücken zuzuwenden war eine Beleidigung gewesen, und jetzt konzentrierte er sich ganz auf mich, versuchte herauszufinden, ob ich sehr mächtig oder einfach nur dumm war. Hinter mir spürte ich Luna, die sich eng an den Stamm der Buche drückte, wie eine Maus, die von einem Falken bedroht wird. »Das ist mir ziemlich egal«, sagte ich. »Du bist hier, weil du etwas willst. Komm zur Sache.«

Cinder blickte mich mit zu Schlitzen verengten Augen an, seine Wut kochte fast über, bevor er sich wieder in den Griff bekam. »Du hast dich mit Lyle getroffen«, sagte er schließlich.

»Und?«

»Hat er versucht, dich anzuheuern?« Cinders Tonfall machte deutlich, dass er die Antwort bereits kannte.

»Was wäre, wenn?«

»Hilfst du ihm?«

Ich zögerte. Ein Blick in die Zukunft würde mir jetzt nicht helfen – zu viele Stränge. Ich wollte ihm keine Antwort geben, doch wenn ich schwieg, würde Cinder das als Ja auffassen. Und das konnte schlecht für mich sein. »Ich arbeite nicht für Lyle«, sagte ich schließlich.

Cinder grunzte, und mit einem Mal wirkte er weniger bedrohlich. »Schlau.« Er schwieg kurz. »Wir bezahlen besser.«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er meinte. Dann blinzelte ich. »Du bietest mir einen Job an?«

»Brauchen einen Seher. Könnten andere bekommen. Ist besser, wenn wir dich kriegen.«

»Was ist für mich dabei drin?«

»Das Gleiche wie für den Rest. Einen Anteil am Preis.«

»Was ist es?«

»Hä?«

»Was ist der Preis? Wie wollt ihr ihn aufteilen?«

Cinder grinste süffisant. »Du bist der Seher. Finde es heraus.«

»Witzig.«

Cinders Grinsen verschwand. Er blickte mich ruhig an. »Das war kein Witz.«

Willigte ich ein, erwartete Cinder, dass ich mit ihm ging, und hielt ich ihn hin, würde er das als Schwäche auffassen. »Nein, danke. Ich arbeite nicht auf Pump.«

»Es wird einen Anteil geben.«

»Du glaubst, dass es einen Anteil geben wird.« Ich schüttelte den Kopf. »Komm wieder, wenn du etwas in der Hand hast.«

Cinders Miene verdunkelte sich, und ich spürte, wie die Stränge der Zukunft in Bewegung gerieten. Plötzlich standen die Optionen deutlich schlechter. »Ist das dein letztes Wort?«

»Versuch nicht, mir zu drohen, Cinder«, sagte ich betont ruhig.

Cinder musterte mich eingehend, langsam und mit kühler Überlegung im Blick. Er beschwor keine Magie herauf, aber ich spürte, dass er jederzeit bereit war. »Scheint mir, als könnte ich es mit dir aufnehmen.«

»Du könntest es versuchen«, sagte ich leichthin. Innerlich geriet ich in Panik. Ich hatte keine Waffen, der Würfel war in der Tasche, die ich mir über die Schulter geworfen hatte, und Luna versteckte sich keine fünf Meter von mir entfernt hinter einem Baum. Gerieten wir jetzt in einen Kampf, wäre das katastrophal. Ich sah, wie die Zukunftsstränge sich teilten, je nachdem, ob Cinder glaubte, dass ich bluffte oder nicht.

Einen Moment lang zögerte er, dann grinste er wieder, und die Stränge verschoben sich erneut, diesmal deutlicher. »Ich glaube, du hast nichts.«

Scheiße, scheiße, scheiße. Jede Zukunft, die ich jetzt erkennen konnte, endete in einem Kampf. Voller Verzweiflung ging ich sie durch und versuchte gleichzeitig, mir das nicht anmerken zu lassen. »Miese Idee.«

»O ja?« Er breitete einladend die Arme aus. »Na komm, zeig, was du draufhast.«

Zwanzig Sekunden. Plötzlich erkannte ich eine Ansammlung von Zukunftssträngen, die sich frei von Gefahr vor mir ausbreiteten. Ich ging sie hektisch durch. Was machte den Unterschied, was musste ich tun? Zehn Sekunden. Die Luft um Cinder herum verdunkelte sich, und das gelbe Sonnenlicht wurde blutrot.

Ein Name. Ich probierte es, sprach ihn aus. »Morden.«

Cinder hielt jäh inne. Seine Magie zerfloss, und das abendliche Sonnenlicht kehrte zurück. »Was?«

Ich stand da und schwieg.

»Du arbeitest für ihn?«, fragte Cinder.

Ich hob die Augenbrauen. »Was glaubst du?«

Cinder zögerte, und die Sekunden dehnten sich in die Länge. Es sah fast aus, als hätte er Angst. »Warum hast du nicht …?«

»Du hast nicht gefragt.«

Cinders Miene wurde wieder bestimmt. »Sag dem alten Mann, wir haben es so gemeint. Er ist nicht unser Meister.« Er versuchte immer noch, bedrohlich zu klingen, aber er würde nicht angreifen, nicht mehr, das sah ich. »Er ist gerissen, er sollte sich besser raushalten. Du auch.«

»Was bin ich? Dein Postbote? Sag’s ihm selbst.«

Cinder starrte mich an, machte einen Schritt zurück und verschwand zwischen den Bäumen. Ich spürte eine Welle der Magie, dann war er weg.

Ich blieb weitere zehn Sekunden stehen, blickte in die Zukunft, um zu sehen, ob er wiederkehrte. Als ich endlich vollkommen und hundertprozentig sicher war, dass er nicht zurückkam, gaben meine Beine nach, und ich klappte zusammen. Mein Herz hämmerte. »Mein Gott«, murmelte ich.

»Alex?«, fragte Luna nach einer Weile, sie stand noch immer hinter dem Baum.

»Er ist weg«, brachte ich hervor. Ich versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Meine Hände zitterten, und ich konnte einfach nur dasitzen. Luna kam hinter dem Baum hervor und blickte sich um. Die Vögel, die bei Cinders Auftauchen verstummt waren, sangen wieder, und es gab kein Anzeichen dafür, dass er jemals da gewesen war. Luna ging in die Hocke und kam mir dabei näher als sonst. »Alles klar?«

»Mir geht’s gut.« Ich strich mir die Haare zurück, griff dann fester zu, damit meine Hände aufhörten zu zittern.

Luna machte eine Bewegung, als wolle sie nach mir greifen, dann hielt sie inne und zog sich zurück. Sorge stand in ihren blauen Augen, und merkwürdigerweise fühlte ich mich dadurch besser. »Was ist passiert?«

Ich holte tief Luft, erinnerte mich daran, dass Luna nicht in die Zukunft sehen konnte. Ich hatte jede einzelne Möglichkeit erkannt, auf die dieses Treffen hätte enden können, inklusive des schwarz verbrannten Grases um uns herum, aber Luna hatte nur unsere Stimmen gehört. »Das da war gerade dein erster Schwarzmagier.«

»Sind sie gefährlich?«

»Die Untertreibung des Jahres.« Mein Atem beruhigte sich wieder. Ich rappelte mich auf und klopfte auf die Tasche, um sicherzugehen, dass der Würfel noch darin war.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Luna. »Wer ist Morden?«

»Südliche Endstation auf der Linie nach Norden.«

Luna blickte mich verständnislos an.

Ich seufzte. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass dieser Name das Einzige war, das mir Cinder vom Hals schaffen konnte.«

»Aber warum?«

»Weil es Cinder hat glauben lassen, dass ich für diesen Morden arbeite, und er hatte wohl keine Lust, einen Streit mit dem Typen anzufangen. Cinder wird jetzt allerdings einige Leute ausfindig machen, um sie dazu zu befragen, und wenn er herausfindet, dass ich geblufft habe, kommt er zurück. Ich habe mir gerade jede Menge Ärger eingebrockt.«

»Du hast geblufft?«

Ich ging los, auf den Ausgang des Parks zu. »Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen, bevor er es merkt.«

Meine Wohnung liegt direkt über dem Laden, im ersten Stock. Dort steht das, was man als meine Küche bezeichnen könnte, außerdem ein Sofa, ein Tisch und ein paar Stühle für meine seltenen bis überhaupt nie vorbeikommenden Besucher. Es gibt drei Aquarelle an den Wänden, die ich vom früheren Besitzer übernommen habe, und die Fenster gehen auf ein sanft abfallendes Dach hinaus. Von dort hat man einen Ausblick auf die Londoner Skyline. Die Sonne stand bereits niedrig am Himmel, und die Lichter der Stadt gingen langsam an, sodass die Umrisse der Gebäude gelb und orange hervortraten. Auf der anderen Seite des Kanals kann man über den Brücken Wohnblöcke erkennen, und abends liege ich manchmal auf dem Sofa und sehe dabei zu, wie die Lichter in den Fenstern abwechselnd an und aus gehen und ein Muster ergeben, und dann frage ich mich, was es wohl bedeutet.

Luna hatte sich auf einer Ecke des Sofas niedergelassen, und ich streckte mich in meinem Lieblingssessel aus.

»Also«, seufzte ich und stellte das Glas ab. »Jetzt hast du einen der Gründe kennengelernt, aus dem ich nicht mit anderen Magiern abhänge.«

Luna blickte mich fragend an, und ich schüttelte den Kopf, mehr um mich zu beruhigen als sie. »Es ist vorbei, und wir sind sicher da rausgekommen. Hätte sehr viel schlimmer laufen können. Du warst ein braves Mädchen, hast dich versteckt, als ich es dir gesagt habe.«

»Nenn mich nicht ›braves Mädchen‹. Du bist kaum älter als ich.«

»Streite dich nicht mit mir. Sei ein braves Mädchen.«

Luna schenkte mir ein seltenes Lächeln. »Alex … du warst furchterregend. Deine Stimme war so kalt. Ich dachte, du würdest …«

»Ich würde was?«

Luna schwieg. »Du hast wirklich nur geblufft?«, fragte sie dann.

»Er hat nach einer Schwachstelle gesucht.«

»Ich dachte, du kanntest ihn nicht?«

»Ich kenne Leute wie ihn.« Ich schwieg, verlor mich in alten Erinnerungen.

»Er hat sich angehört, als würde er dich kennen«, sagte Luna nach einer Weile.

Ich antwortete nicht.

»Woher kennst du Leute wie ihn?« Als ich immer noch keine Antwort gab, sprach Luna weiter. »Geht es um das, was du getan hast, bevor du diesen Laden aufgemacht hast?«

»Luna …« In meiner Stimme schwang eine Warnung mit.

Sie schwieg. Aber als ich aufsah, blickte sie mich auffordernd an. »Es ist besser für dich, wenn du dich da raushältst«, sagte ich endlich. »Schon dass du etwas über diese Leute weißt, kann dich in Schwierigkeiten bringen.«

Luna legte den Kopf schief. »Ich dachte, du bist der Ansicht, dass ich schon in Schwierigkeiten stecke?«

Ich zögerte. Wir Magier folgen dem Grundsatz, dass wir unsere Geschäfte nicht mit Außenstehenden diskutieren. Und es würde den Rat sicher nicht glücklich machen, wenn er herausfände, dass ich Luna so etwas erzähle. Andererseits kann mich der Rat sowieso nicht leiden.

Und außerdem hielt ich die Idee, Leute zu ihrem eigenen Schutz im Ungewissen zu lassen, für Blödsinn. Wissen kann einem schaden, aber Unwissen kann es noch viel mehr. »In Ordnung«, sagte ich. »Was weißt du also über Schwarzmagier?«

Luna zog die Füße auf das Sofa. Ihre Hände umklammerten eine Tasse Tee, aus der eine kleine Dampfwolke aufstieg. »Ich dachte, das sind böse Magier.«

»Nein.« Ich überlegte, wie ich es erklären sollte. »Nun … vielleicht. Schwarzmagier folgen einer Philosophie, die sich der Wahre Pfad nennt. Der Wahre Pfad besagt, dass Gut und Böse, wie wir es sehen, lediglich Gepflogenheiten sind. Unsere Auffassung von Gut und Böse entspringt Gewohnheiten und Religionen, die ausgelegt wurden, um den Menschen, die an der Macht sind, zugutezukommen. Schwarzmagier glauben, dass man ein Schaf ist, wenn man ihren Befehlen gehorcht. Denk zum Beispiel daran, wie du den Mann heute um den Würfel gebeten hast. Ein Schwarzmagier geht davon aus, dass du ihn dir einfach hättest nehmen sollen.«

»Du meinst, ich hätte ihn stehlen sollen?«

»Ein Schwarzmagier würde dazu sagen, dass du nur glaubst, Diebstahl sei falsch, weil deine Eltern dich so erzogen haben. Richtig und falsch sind bloß Konventionen, wie zum Beispiel auf welcher Seite der Straße man Auto fährt.«

Luna dachte ein paar Sekunden lang darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Aber er hätte die Polizei gerufen.«

Ich nickte. »Und genau das ist der Teil, auf den es für sie ankommt. Die Angst vor Bestrafung hält Menschen davon ab, das Gesetz zu brechen. Diese Angst gibt es nur, wenn es eine Macht gibt, die eine Strafe vollstrecken kann. Für einen Schwarzmagier ist die Macht aber eine Gegebenheit. Je mehr Macht man hat, desto besser kann man die Realität um sich herum formen. Macht, Gerissenheit, Einfluss, man kann es nennen, wie man will; nur eine Sache dulden sie nicht, und zwar Schwäche. Schwarzmagier glauben, dass Schwäche eine Sünde ist, eine Schande. Bist du nicht stark genug, dir zu nehmen, was du willst, dann ist es deine eigene Schuld.«

Luna runzelte die Stirn. »Oh.«

»Verstehst du das?«

»Ich schätze, ja.« Sie dachte einen Moment nach. »Ich habe gehört, wie Leute solche Sachen sagen. Dann haben sie damit wohl nicht ganz unrecht.«

Ich schüttelte den Kopf. »Es geht nicht darum, nicht ganz unrecht zu haben. Schwarzmagier sagen diese Dinge nicht. Sie leben danach.«

Luna sah mich an, und ich wusste, dass sie es nicht begriff.

»Dieser Mann, Cinder«, sagte ich. »Was glaubst du, hätte er getan, wenn er dich entdeckt hätte?«

Luna wirkte plötzlich verunsichert. »Ich weiß nicht.«

»Was auch immer er gewollt hätte«, sagte ich. »Er hätte dich ignorieren können. Er hätte lachen und einfach davongehen können. Er hätte dich vergewaltigen und blutend am Boden liegend zurücklassen können. Er hätte dich mit in seine Villa nehmen können, um dich dort als Sklavin zu halten. Und er hätte bei keiner dieser Möglichkeiten lange gefackelt.«

Luna starrte mich an.

»Und da ist noch etwas. Kein anderer Schwarzmagier würde lange über das nachdenken, was er da getan hat. Wenn du ihn nicht daran hindern kannst, dann ist es deine Schuld. Jetzt verstanden?«

Luna riss die Augen auf, und ich sah, dass sie es endlich begriffen hatte. »Du kennst solche Leute?«

»Ja.« Luna wollte noch etwas sagen, aber ich schüttelte den Kopf. »Frag mich nichts darüber. Nicht jetzt.«

Luna schwieg. Die Pause zog sich in die Länge, und es wurde ungemütlich.

»Ich sollte nach Hause gehen«, sagte sie schließlich.

Ich nickte und stand auf.

Ich brachte Luna nach draußen. Sie hielt eine Armlänge Abstand wie immer, aber da war noch eine spürbare Distanz, die vorher nicht da gewesen war. Während der letzten Monate hatte Luna begonnen, sich mir gegenüber ein wenig zu öffnen. Und nun zog sie sich plötzlich wieder zurück.

Als sie gegangen war, schloss ich die Tür mit einem Seufzen ab. Ich hatte versucht, ihr Angst zu machen, und ich hatte es geschafft. Diese Seite von mir hatte ich Luna nicht gern gezeigt, aber ich wusste, dass es sicherer war, wenn sie ein paar Tage von mir fernblieb, wenigstens bis ich diese Angelegenheit mit Cinder geklärt hatte. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass es deutlich länger als ein paar Tage dauern würde, bis Luna mich wieder um Rat bat.

Irgendwie deprimierte mich das, aber ich schüttelte das Gefühl ab. Niemand mag sentimentale Typen.

Ich nahm den roten Kristallwürfel und verstaute ihn an einem Ort, der sehr schwer zu finden sein würde. Dann ging ich in mein Zimmer. Ich hatte vorgehabt, Erkundigungen über den Würfel einzuziehen, aber Cinders Reaktion hatte mich meine Meinung ändern lassen. Er hätte in dem Moment versucht, mich zu töten, in dem er den Würfel zu Gesicht bekommen hätte; da wollte ich nun nicht verbreiten, dass ich dieses Ding überhaupt besaß. Ich würde es geheim halten, bis die Aufregung sich gelegt hatte, und in der Zwischenzeit würde ich ihn gründlich von einem Experten für magische Werkzeuge untersuchen lassen … nämlich von mir.

Aber zuerst musste ich mehr über dieses Artefakt unserer Vorboten herausfinden, für das Lyle und Cinder sich so sehr interessierten. Und diesmal würde ich nicht mit leeren Händen hinausgehen.

Ist man ein Wahrsager, geht es vor allem darum, vorbereitet zu sein, und genau deshalb hatte ich solche Angst bekommen, als Cinder mich überrascht hatte. Wahrsager bewirken nicht so auffällige Dinge wie Elementarmagier. Wir können nicht fliegen oder Feuerbälle werfen oder etwas zersetzen. Wir sind nicht härter oder stärker als andere Menschen, und unsere Magie gibt uns keine Macht über die materielle Welt. Doch wir verfügen über Wissen, und wendet man das auf die richtige Art an, kann das einen ziemlich beeindruckenden Einfluss haben.

Ich sah also zu, dass ich etwas dabeihatte, worauf ich diesen Einfluss nehmen konnte. Ich zog ein warmes Hemd und Jeans an, dazu ein Paar schwarze Laufschuhe, und wandte mich dann den Gegenständen zu, die auf meinem Schreibtisch lagen. Als Erstes wählte ich eine Kristallkugel von der Größe einer Murmel, in der Nebelschwaden kreisten – ich schob sie in die rechte Manteltasche und probierte aus, ob ich schnell genug an sie herankam, anschließend machte ich das Gleiche mit einem kleinen Glasstab und der linken Tasche. Als Nächstes kam ein Päckchen Pfadpulver dran – mein letztes, ich würde neues besorgen müssen. Ich schob noch einen spitz zulaufenden Kristallstab von etwa zwanzig Zentimetern Länge in den Mantel und füllte den Rest der Taschen mit lauter Krimskrams: ein Glas mit Heilsalbe, eine Handvoll winziger Stücke Silberschmucks und zwei Fläschchen, die eine blassblaue Flüssigkeit enthielten.

Danach kamen die banaleren Dinge an die Reihe. Die meisten Magier sind nicht gerade angetan von Technologie, aber ich nutze gerne jeden Vorteil, den ich kriegen kann. Eine kleine, leistungsstarke Taschenlampe befestigte ich an meinem Gürtel, zusammen mit ein paar Dietrichen und einem Messer mit schlanker Klinge, die sicher in einer Scheide verstaut war. Ich griff in die Schublade, in der meine Waffe lag, zögerte kurz, beschloss dann aber, sie dort zu lassen. Sie würde mir wahrscheinlich mehr Ärger einbringen, als es letztendlich wert war.