Das Lächeln der Toten - Jörg Riese - E-Book

Das Lächeln der Toten E-Book

Jörg Riese

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Beschreibung

Eine junge Studentin wird erschossen, ihre Mitbewohnerin entdeckt die Leiche in der gemeinsamen Wohnung. Bei der Besichtigung des Tatorts staunt Kommissar Hardenberg: Die Tote lächelt. Damit nicht genug, am Tag darauf findet eine Spaziergängerin die Leiche eines Rentners, ermordet auf dieselbe Art und Weise – und auch er lächelt. Eine Verbindung zwischen beiden Toten scheint es zunächst nicht zu geben und so rätselt Hardenberg, ob und wenn ja, wie die beiden Morde zusammenhängen. Die kriminaltechnische Untersuchung bestätigt: Das tödliche Projektil kam in beiden Fällen aus derselben Waffe. Doch erst der Besuch eines alten Freundes lenkt seine Blicke in die richtige Richtung. Die Hilfe der cleveren jungen Hauptzeugin und ihrer seltsamen Familie beschleunigt zwar die Aufklärung, bringt jedoch auch neue Probleme. Es geht um noch anderes als die Aufklärung eines Doppelmords, das wird ihm vage bewusst. Doch um was und wie viel mehr, erkennt er in Teilen zu spät.

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Das Lächeln der Toten

Das Lächeln der TotenImpressum: ZitatKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28EpilogZwei, drei Dinge nochTribus Buch & Kunstverlag empfiehlt

Das Lächeln der Toten

Jörg Riese

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Juni 2021

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Texte: © Copyright by Jörg Riese

Lektorat: Lisa Gausmann

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Coverdesign: Jörg Riese

Layout: Verena Ebner

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Mittelheide 23

49124 Georgsmarienhütte Deutschland

www.tribusverlag.com

Zitat

„If you want a happy ending,

that depends, of course,

on where you stop your story.“

- Orson Welles

Kapitel 1

Sie schläft noch und ist bereits wach. Die Brücke ist zur Hälfte überquert. Beide Seiten sind in Sichtweite, doch die Richtungsentscheidung ist längst gefällt. Das Bewusstsein scheint immer das Letzte zu sein, das etwas erfährt. Das hier ist die Duty-Free-Zone des Verstandes. Bilder, Ideen, Begriffe in Sondergrößen, erklärungsfrei [ohne Plausibilitätsprüfung]. Einmal durchquert, gelten nur noch Erfahrung und Tatsachen als Dinge von Bedeutung, verknüpft durch die Regeln der Logik. Und Vorstellungskraft. Fantasie. Finden, Erkennen, Bezug herstellen. Dann prüfen. Es ist nicht dasselbe wie träumen. Oder vielleicht doch? Manchmal nimmt man ja etwas mit.

Wenige Wochen zuvor hatte sie eine Entscheidung gefällt. Der Verzicht auf Hoffnung hat ihr neue Kraft gegeben. Platz geschaffen für etwas anderes. Klarheit. Sinn. Dort, wo sie jetzt ist, ist Hoffnung nichts als Ballast. Alles ist nun geregelt. Sie fühlt sich leicht.

Die undeutliche Erinnerung an den letzten Traum schwindet gerade. Da waren die Menschen gewesen, die sie liebte, nah bei ihr. Ihre Eltern, Noemi, Finn und Colin. Weiter entfernt standen andere, die Gesichter bereits undeutlich. Dieser Ort …

Sie stand, doch sie wusste nicht, worauf. Licht erfüllte, was immer das hier auch war, es musste eine Quelle geben, aber sie erkannte nicht, wo. Es war ein Raum, es musste einer sein, und doch war es keiner. Da war kein Boden. Keine Decke, keine Wände, keine Konturen, nichts, woran sie sich hätte orientieren können. Ihr Körper warf keinen Schatten. Was ihr seltsam vorkam, war, dass ihr nichts davon seltsam vorkam. Sie fühlte sich nicht unsicher, schwindelig, unwohl oder fremd. Alles war … …, ja, eswareinfach.

Doch dawarnoch etwas. Etwas wirklich Fremdartiges. Etwas Namenloses. Und dieses Namenlose war unabwendbar, gleichgültig, grausam. Dieser grenzenlose Raum barg einen Ort, der noch verlassener war als alles andere. Ein Nichts innerhalb der Leere. Dieser Ort zog sie an, Sie ging darauf zu, allein, niemand schloss sich ihr an. Sie erwacht ganz und vergisst sogleich, was sie eben erst geträumt hat.

Als sie die Augen öffnet, steht die Sonne bereits seit Stunden am Himmel. Das Zimmer ist nicht sehr groß. Das Bett steht gerade so weit vom Fenster entfernt, dass ein Ablagetisch dort Platz findet. Auf dem Tisch eine Leselampe, ein Wecker, ein Foto ihrer Eltern, eines von Finn, eine schmale Vase mit einer einsamen weißen Freesie. Daneben das Smartphone. Das Nasenspray: wichtig! In der Schublade bewahrt sie allerlei kleinere Dinge auf: Ohrstöpsel, eine Schlafmaske, eine angebrochene Tafel Schokolade, Medikamente, die Pille. Auf der Ablage darunter liegen die gerade aktuellen Bücher, ein Notizbuch, ein Stift, einige Magazine. Etwa einen Meter über dem Boden beginnt die Dachschräge, das Fenster befindet sich in einer Gaube. Am Abend zuvor, als sie zu Bett gegangen war, hat sie die Jalousie nicht ganz herabgelassen. Die Sonne dringt durch einen Spalt zwischen Jalousie und Fensterbrett und bildet eine schmale Gasse aus bernsteinfarbenem Licht auf den Dielen. Sie schlägt die Decke zurück und setzt sich auf. Dann schwingt sie die Beine über die Bettkante und landet mit den nackten Sohlen auf eben jenem schmalen Streifen, der vom einfallenden Licht bereits erwärmt worden ist. Sie glaubt an keine höhere Macht, nicht an Schicksal oder Bestimmung. Nicht einmal daran, dass alles einen Sinn hat. Doch jetzt, an diesem Morgen, in diesem Augenblick, nach all dem, was sie erfahren hat, den Dingen, die geschehen waren, und dem Beschluss, den sie gefasst hat, entdeckt sie in dieser vollkommen unbedeutenden, geradezu lächerlichen Tatsache einer Schneise aus Licht und Wärme die Spur von etwas, wofür sie kein Wort hat. Sie nimmt wahr, doch mit welchen Sinnen? Sie versteht, aber wie heißt der Begriff? Den Kopf schräg im Nacken streckt sie die Arme zur Seite, dehnt und bewegt die Muskeln um den Schultergürtel und biegt den Rücken durch. Muskeln, die nach Stunden der Untätigkeit wieder zum Leben erweckt werden. Dann ballt sie die Hände zu Fäusten, öffnet sie wieder und spreizt dabei ihre Finger. Sie schlägt die Augen auf, verengt sie gleich wieder, lächelt, spreizt die Zehen und krümmt sie, als wolle sie das warme Licht mit ihnen greifen. Aber etwas fehlt noch.

Sie pendelt zurück zur anderen Bettseite und tritt vor das Regal mit den Schallplatten. Zielsicher greift sie die Platte heraus, die sie sucht. Sie schaltet Verstärker und Plattenspieler ein und legt die Platte auf den Teller. Gleich der erste Song der A-Seite, den will sie jetzt hören. In dem Augenblick, als sie wieder im Bett liegt, Gesicht zur Decke, mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen, erklingen die ersten Töne der Musik. Der Moment scheint vollkommen.

Stille explodiert in ihrem Kopf. In ihrem Zentrum ist Schmerz, unbeschreiblicher Schmerz, nichts als Schmerz. Grell, alles andere überstrahlend, alles andere auslöschend. Da ist keine Musik mehr. Kein Licht. Kein Fenster. Kein Bett. Sie stöhnt. Sie kämpft, quält sich ein winziges Stück zurück. Zurück zu diesem Stückchen Wirklichkeit, dort, wo Linderung auf dem Tisch neben ihrem Bett steht. Blind tastet sie danach, wirft etwas um, greift mit zitternden Fingern nach der kleinen Flasche. Ein Sprühstoß in jede Nasenöffnung. Etwas löst sich von dem Schmerz, existiert losgelöst von ihm alleine weiter. Angst, die Angst davor, dass es so bleibt, dass es doch nichts anderes gibt als den Schmerz. Und dann der erste klare Gedanke. Der Gedanke, dass das Vorhandensein dieser Angst ein Argument gegen die Angst selbst ist. Wie absurd, Angst davor zu haben, nur noch Schmerz zu fühlen, wenn sie ganz offenbar auch Angst empfinden kann. Sie lacht ein bitteres, raues Lachen. Der Schmerz brandet zurück, verschwindet allmählich ganz. Ihr Atem wird ruhiger. Ihre Stirn ist schweißbedeckt. Die Platte läuft noch. Es ist schon lange nicht mehr der Song, den sie hören wollte.

Sie richtet sich auf, tritt in die Dachgaube und stellt die Lamellen der Jalousie waagerecht. Das hereinfallende Licht schneidet weitere Streifen aus Bernstein aus dem Halbdunkel. In einem Reflex neigt sie leicht den Kopf und überschattet mit der linken Hand die Augen. Ihre Finger zittern trotz der Wärme. Sie zieht die Jalousie vollständig nach oben und öffnet das Fenster. Autoreifen auf Kopfsteinpflaster. Der nörgelnde Ton eines Zweitakters quillt hervor, versickert wieder. Eine Autohupe drängt in den Vordergrund. Ganz plötzlich relative Stille, Verkehrsgeräusche dringen nur noch gedämpft, wie aus einiger Entfernung, zu ihr durch. Die Stimme eines Vogels. Dann stellt sich die übliche Geräuschkulisse wieder ein. Sie blinzelt in die Sonne. Die Spitze des Ahornbaumes mit dem ersten zarten Grün direkt unterhalb ihres Fensters. Sie ahnt sie mehr, als dass sie sie sieht, ihre Augen haben sich noch nicht vollständig an die Helligkeit gewöhnt. Für Ende April ist es sehr warm. Sie genießt das Licht, die Wärme, das, was ein Städter für frische Luft hält. Eine innere Wärme erfüllt sie, ein Gefühl von Glück. Etwas, von dem sie noch vor wenigen Augenblicken befürchtet hatte, es nie mehr empfinden zu können. Sie lächelt. Sie ist hier. Sie ist jetzt. Mehr ist nicht von Bedeutung. Der Schmerz ist weit weg. Alles ist gut.

Ein Lichtreflex. Ein Fenster, vielleicht ein Fenster, das geöffnet wird. Schräg rechts, sie dreht den Kopf in die Richtung. Das Letzte, was sie je sehen, das Letzte, was sie je tun wird.

Das Projektil dringt in einem flachen Winkel in den Schädel ein, zwei Fingerbreit oberhalb der Nasenwurzel. Beim Aufprall verformt es sich, verdoppelt seinen Querschnitt und verliert dabei einen Großteil seiner Energie. Als metallener Pilz fräst es sich durch das Großhirn. An der hinteren Schädelwand prallt es zurück, zerstört danach auf seiner Bahn noch große Teile von Kleinhirn und Hirnstamm, und verbleibt schließlich als ein toter, energieloser Fremdkörper, im oberen Rückenmark stecken.

Der Körper sinkt in sich zusammen, alle Kraft hat ihn verlassen. Ihre Knie knicken ein, die Arme, nur noch der Schwerkraft unterworfen, werden zu leblosen Pendeln. Eine Marionette. Eine Marionette mit gekappten Fäden. Ihr Gesäß stößt auf die Bettkante, der Oberkörper neigt sich zurück, fällt wie in Zeitlupe zunächst schlaff zurück aufs Bett. Dort bleibt sie liegen, mit leicht vom Körper abgespreizten Armen, nach oben weisenden Handflächen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist der der Ruhe, der Zufriedenheit. Als genieße sie noch immer die ersten Minuten eines hellen, warmen Morgens, bevor sie das Bett verlässt, um den Tag zu beginnen. Eine Maske, die Leben vortäuscht. Sie lächelt.

Doch wird sie nie wieder aufstehen. Kein neuer Tag wird so sein, wie Tage für sie gewesen sind. Nie wieder wird ein Mensch das Grün des Ahornbaums so sehen, wie sie es gesehen hat, nie wieder wird jemand die Wärme der Sonne auf dieselbe Weise spüren, wie sie. Ein winziges Stück Metall hat eine ganze Welt zerstört. In einer Zeitspanne kürzer als die eines Lidschlags.

Kapitel 2

Vierter Stock, Altbau, kein Aufzug. Oben angekommen, mühte sich Kriminalhauptkommissar Hardenberg zunächst einmal um Haltung. Vielleicht hatte er sich in letzter Zeit doch ein wenig gehen lassen. Ab morgen würde er Schokolade und Chips weglassen und wieder mit dem Laufen anfangen. Spätestens am nächsten Wochenende. Dann aber bestimmt. Er tat, als interessiere er sich für die Stahltür gleich links und verschaffte sich so einen Moment Zeit, um – wie er sich einbildete – unauffällig verschnaufen zu können. Kein Türschild, keine Klingel, offensichtlich nach außen zu öffnen. Er drückte die Türklinke herunter und zog. Verschlossen. An den vor der gegenüberliegenden Wohnungstür stehenden Schutzpolizisten gewandt, fragte er: »Wissen Sie, was sich dahinter befindet?«

»Trockenspeicher.«Pause. Der Mann war offenbar kein Freund von Nebensätzen. Oder überhaupt von Sätzen. Hardenberg zog die Augenbrauen hoch, senkte leicht den Kopf und bohrte seinen Blick in die Augen seines Gegenübers. Nicht, dass er der Tür oder dem dahinterliegenden Raum besondere Bedeutung beigemessen hätte. Aber er konnte noch ein paar Sekunden gebrauchen. Der Mann verstand die wortlose Bitte nach mehr Information – und erkannte wahrscheinlich auch das Scheinmanöver dahinter.

»Wir haben auch schon nachgefragt. Jeder Hausbewohner besitzt einen Schlüssel, aber genutzt wird der Speicher wohl hauptsächlich von den Mietern auf dieser Etage hier.«

Er wies mit dem Kopf in die Wohnung schräg hinter ihm. Hardenberg seufzte und nickte wortlos. Der Kollege in Uniform hielt ihm einen weißen und einen blauen Karton hin.

»Ich glaube, es reicht, wenn Sie die Überschuhe anziehen. Die Leute von der KT sind eigentlich schon fertig. Der Rechtsmediziner fürs Erste auch. Und nehmen Sie noch ein Paar Einmalhandschuhe mit. Für alle Fälle.«

»Vielen Dank.«

Ein kurzes Lächeln. Dann gab er dem Kollegen Zeit, sich von der ungewohnten Anstrengung zu erholen und betrat die Wohnung mit frischen, blauen Plastikpuschen.

Hardenberg blickte sich um. Der Raum war hell, warm und freundlich. Ein kippbares Fenster in der Dachschräge links vor ihm, halb verborgen durch eine Dachstütze aus dunkel gebeiztem Holz. Ein großes Dachgaubenfenster an der gegenüberliegenden Außenwand. Feine Staubpartikel modellierten Strahlenfächer ins Licht. Dunkle Landhausdielen. Mit Raufaser tapezierte Wände, sandfarben. In gut einem Meter Höhe begann die Dachschräge. Sie zog sich von der Außenwand bis zur Wand gegenüber und war weiß. Eine Theke trennte Küche und Wohnbereich. Ein Kriminaltechniker füllte irgendwelche Gegenstände in Asservatenbeutel. Hardenberg nickte dem Mann zu, versuchte ein freundliches Gesicht. Das Mobiliar stammte augenscheinlich überwiegend aus dem Sortiment eines großen schwedischen Möbelhauses. Drei schwarze Hocker vor der Küchentheke. Die Küche selbst war klein und eng, mit dem Nötigsten ausgestattet. Helles Holzfurnier, das Wandpaneel sah aus wie Beton. Im Zentrum des Wohnbereichs standen zwei schlichte Sofas, ein kleiner Couchtisch, eine flache TV-Bank. Auf dem Tisch lag eine Zeitschrift, die aufgeschlagene Seite zeigte ein vollständig ausgefülltes Kreuzworträtsel, ein Kugelschreiber quer darüber. Eine Kommode rechts an der Wand zum Nebenzimmer. Eine Vase mit Tulpen und Hyazinthen, eine Bluetooth-Aktivbox, ein Stapel großformatiger Bücher. Drei gerahmte schwarz-weiß-Fotodrucke an der Wand darüber, verschwommen-unscharfe, minimalistische Landschaften.

Hardenberg drehte sich um. Er sah die offene Eingangstür, Teile der Uniform des Polizisten, mit dem er sich gerade erst so angeregt unterhalten hatte, die Stahltür auf der anderen Seite des Treppenhauses. Links des Eingangs eine Garderobe mit Spiegel, ein Schuhregal, ein Tischchen mit einer Korbschale. In der Ecke, auffällig wie ein Weintrinker im ›Uerige‹, eine Vitrine, deutlich älter und sicher auch teurer als der Rest des Mobiliars, filigran unterteilte Glasflächen, strenge, beinahe architektonische Symmetrie.

Rechts neben dem Eingang eine zweite Tür. Darauf ein Poster mit einer schwarz-weiß-Fotografie: Ewan McGregor auf einer Edelstahl-Toilette hockend, vollständig bekleidet, Schuhe auf der Klobrille. Zu Hardenbergs Rechten und McGregors Linken, links neben und hinter der Küche, eine weitere Tür, einen Spalt weit geöffnet. Ein blasser Lichtkeil fiel auf die Dielen. Hardenberg glaubte die Stimmen einer, nein, zweier Frauen aus dem Zimmer dahinter zu hören, undeutlich und leise. An der Trennwand zur Küche hing eine kleine Pinnwand aus Kork mit Postkarten, Fotos, Eintrittskarten, Visitenkarten, Notizzetteln. Er schoss ein paar Fotos mit seinem Smartphone. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er allein im Raum war, auch der Mann vom KTI war gegangen. Keine Überraschung. Der Ort, der hauptsächlich von Interesse und Bedeutung war, befand sich links von ihm hinter der Tür zwischen Kommode und Vitrine. Zeit, dorthin zu gehen.

Zwei unförmige, weiße Gestalten unbestimmbaren Geschlechts standen zu beiden Seiten eines Bettes. Stumm und konzentriert bei der Arbeit. Sie wandten ihm den Rücken zu, keiner der beiden registrierte seine Ankunft. Hardenberg erkannte einen Frauenarm auf dem Bett, der Rest des Körpers war verdeckt. Eine der beide weißen Gestalten trug etwas in ein Klemmbrett ein, die andere stand vor dem offenen Fenster und schoss, wie es schien, Fotos von den gegenüberliegenden Gebäuden. Ein riesiges, zusammengeknülltes Papiertaschentuch hockte gleich vor Hardenberg auf dem Boden und verstaute Instrumente in einen großen Koffer. Als er nähertrat, kam Bewegung in das Knäuel und es blickte Hardenberg mit dem Gesicht von Dr. Thomsen an. Überraschung, Erkennen, Lächeln.

»Herr Hardenberg. Kriegen Sie‘s bitte nicht in den falschen Hals, aber es freut mich, Sie hier zu sehen.«

Sie kannten sich seit Jahren, hatten oft zusammengearbeitet, mochten und schätzten einander. Fast eine Art Freundschaft. Allerdings ohne peinliche Vertraulichkeiten oder gegenseitige Einladungen zum Abendessen. Bislang.

»Vielleicht sollten wir uns mal aus einem angenehmeren Grund treffen. Immer wenn ich Sie sehe, liegt irgendwo in der Nähe ein Toter. Und jedes Mal sehen Sie aus wie eine Serviette oder tragen einen türkisfarbenen Pyjama.«

Hardenberg verzog keine Miene, während er sprach. Thomsen spielte den Gekränkten.

»Bloß kein Neid. Wenn Sie nicht immer erst dann auftauchen würden, wenn die wichtigste Arbeit bereits erledigt ist, dürften Sie auch öfter dieses elegante Outfit tragen.« Er wies an sich herunter.

Die Krähenfüße um Hardenbergs Augen verästelten sich ein klein wenig mehr. Die Mundwinkelfalten verschoben sich kaum wahrnehmbar nach außen. Nur für einen Moment. Ein leichtes Zucken, mehr nicht. Es war ein Ritual, ein Spiel zwischen ihnen beiden, das die Anlässe, aus denen sie sich trafen, erträglicher machte.

»Hm, habe das bis jetzt allerdings auch noch nie als Privileg gesehen. Nun gut. Können Sie mir denn jetzt schon etwas sagen, Doktor?«

Die Spur der Andeutung eines Lächelns war noch zu sehen.

»Eine einzelne Schusswunde in der Stirn. Andere Verletzungen sind nicht erkennbar. Keine Austrittswunde. Ausgehend von der Ausbreitung der Totenstarre und der Lebertemperatur, trat der Tod vor etwa drei bis vier Stunden ein. Mehr wie immer nach der Obduktion.«

Er überlegte.

»Vermutlich war sie auf der Stelle tot.«

Hardenberg weitete die Augen und hob die Augenbrauen.»Sie stellen Vermutungen an?! Warten Sie einen Moment, ich muss mir schnell Datum und Uhrzeit notieren.«Er tat so, als wollte er etwas in sein Smartphone eintragen.Thomsen richtete sich auf. Er überragte Hardenberg um gut einen halben Kopf, war insgesamt massiger.

»Es gibt keine Spuren eines Todeskampfes, keinerlei Anzeichen dafür, dass sie noch gelebt hat, nachdem sie getroffen wurde. Keine Indizien, dass sie sich noch bewegt hat, nachdem sie rücklings auf das Bett gefallen ist. So wie sie da liegt, ist sie gestorben. Selbst ihr Gesichtsausdruck lässt vorerst keine anderen Schlüsse zu.«

Einer der beiden Spurensicherer trat an Hardenberg und Thomsen heran. Hardenberg kannte den Mann. Laffert, Laffertz oder so ähnlich. Bei einem anderen Fall hatte er mit ihm zusammengearbeitet. War eine Weile her, doch er glaubte, sich an ihn als zurückhaltend, gründlich und gewissenhaft zu erinnern.»Und es gibt im Übrigen auch keine Hinweise darauf, dass sie nach ihrem Tod noch von jemand anderem bewegt worden ist.»

Er übergab Thomsen einige kleine Gegenstände.

»Das hier stand auf dem Tischchen. Sieht nicht nach Schnupfenspray aus. Und das hier lag in der obersten Schublade. Möglicherweise ist das für Ihre Arbeit von Bedeutung, Doktor.«

Thomsen betrachtete die kleine Sprühflasche, die Tablettenpackung und das Tütchen aus transparentem Plastik. Er hob die Augenbrauen.

»Das ist in der Tat nicht gegen Schnupfen.«

Er zeigte Hardenberg das Sprühfläschchen mit dem türkisfarbenen Streifen.

»Fentanyl, ein starkes Schmerzmittel. Diese Dosierung ist meines Wissens nach sogar die Höchste auf dem Markt verfügbare. Als Nasenspray wirkt es besonders schnell. Ist noch nicht so furchtbar lange auf dem Markt.«

Er sah sich die Tablettenpackung an.

»Temolozomid. Wird vor allem bei bestimmten Hirntumoren verschrieben.«

Er hielt das transparente Tütchen hoch. Es enthielt unschwer zu identifizierende, getrocknete, grün-bräunliche Blüten. »Und das hier brauche ich ja wohl nicht zu erklären.«

»Das sind maximal zwei Gramm. Und hier riecht es nicht so, als hätte sie häufig Gebrauch davon gemacht.«»Sie muss es ja nicht inhaliert haben. Ich kenne noch andere Möglichkeiten, das Zeug zu konsumieren.«

Offenbar trieb eine alte Erinnerung an die Oberfläche. Er lächelte kurz in sich hinein. Gleich darauf wurde er wieder sehr ernst. »Auf jeden Fall hat es den Anschein, als würden wir bei der Obduktion mehr finden als nur ein Projektil.«

Thomsen schaute zum Bett hinüber. Hardenberg folgte seinem Blick. Er holte tief Luft. Es half alles nichts.Laffert (oder Laffertz) und die andere weiß gekleidete Gestalt – jetzt erkannte er, dass es eine junge, ihm unbekannte Frau war – hatten ihre jeweiligen Plätze verlassen und standen jetzt bei Thomsen. Er trat an das Bett heran, stand schließlich an der dem Zimmer zugewandten Seite des Bettes. Doch so musste er Oberkörper und Kopf verrenken, um den Körper richtig betrachten zu können. Er ging um das Bett herum und stellte sich in die Gaube. Nun hatte er zwar das Fenster und damit das Licht im Rücken, doch er sah die Tote von vorn. Er trat einen halben Schritt zur Seite und schaute über die Schulter aus dem Fenster. Das war es, was die unbekannte Kollegin von der KT fotografiert hatte! Der Schuss musste von einem der gegenüberliegenden Gebäude gekommen sein. Zunächst jedoch galt seine volle Aufmerksamkeit dem Körper auf dem Bett.

Die Frau war sehr jung, kaum zwanzig Jahre alt. Sehr schlank, mager sogar. Der Oberkörper lag auf der halb zurückgeschlagenen Decke, die Arme leicht zur Seite gestreckt. Die Handflächen zeigten nach oben. Thomsen hatte recht, sie hatte nicht versucht, sich im Fallen zu fangen. Ihre Unterschenkel waren angewinkelt, die Füße berührten den Boden. Dort hatte sie gestanden und aus dem Fenster geblickt. Nachdem sie getroffen worden war, war sie gleichzeitig zusammengesunken und nach hinten gekippt. Der leere Blick der Frau ging leicht nach rechts, über das Kopfende des Bettes, dorthin, wo ein Filmposter hing, ›2001: a space odissey‹. Hardenberg stellte sich so, dass er das Gesicht besser betrachten konnte. Sehr, sehr hübsch. Schmal, ein wenig hohlwangig. Haselnussbraune, mandelförmige Augen, dunkelbraunes Haar, glatt, etwa kinnlang. Weißes T-Shirt, dunkelblaue Shorts. Dann verstand er, was Thomsen meinte, als er sagte, dass ihr Gesichtsausdruck darauf schließen ließe, dass sie sofort tot gewesen sei.

»Sie lächelt«, sagte er, mehr zu sich selbst als für die Umstehenden bestimmt. Allgemeine Unsicherheit. War das ein Appell? Sollte jemand etwas dazu sagen? Thomsen beendete schließlich die Stille.

»Ja … … schauen Sie aus dem Fenster. Es ist Frühling. Die Bäume werden allmählich grün, der Himmel ist blau, die Luft warm. Manchmal können Sie Vogelstimmen hören. Das war das Letzte, was sie sah, das Letzte, was sie spürte. Wer würde da nicht lächeln?«

Hardenberg tat gut vernehmbar einen tiefen Atemzug durch die Nase. Er nickte, ohne den Blick von der Toten abzuwenden.

»Natürlich haben Sie recht. Ich weiß, was Sie meinen. Es ist nur … … es ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich so was sehe.«

Er drehte sich um und schaute aus dem noch immer geöffneten Fenster. Die Straße unter ihm war praktisch unsichtbar. Gleich gegenüber lag ein kleiner, dreieckiger Parkplatz. Die Straße halb rechts war in beiden Richtungen zweispurig. Aus einem der Gebäude an dieser Straße musste der Schuss gekommen sein. Er wandte sich an die unbekannte Kollegin von der KT.

»Dürfte ich mir Ihre Kamera einmal kurz ausleihen?«»Kein Problem. Sie können damit umgehen?«

»Danke. Wird schon gehen.«

Ein Lächeln, knapp aber freundlich. Bei ihm zu Hause stand eine komplette Fotoausrüstung seit Jahren fast ungenutzt im Regal. Es fehlte einfach die Zeit.

Er wandte sich wieder zum Fenster, nahm die Kappe vom Objektiv, steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes und schaltete die Kamera ein. Er hielt sie in Augenhöhe vor sich in Richtung der gegenüberliegenden Gebäude, schaute auf das Display und tippte auf den Auslöser. Augenblicklich stellte sich das Bild scharf. Er drehte am Objektivring, zoomte das Bild heran und stellte erneut scharf. Was er suchte, musste sich auf gleicher Höhe oder leicht höher als sein Standort befinden. Auch der seitliche Winkel konnte nicht beliebig sein. Hardenberg vermutete, dass die Tote nach rechts geschaut hatte, als sie getroffen wurde. Direkt vor ihm befand sich nichts, von wo aus der Schuss hätte abgegeben werden können, die Gebäude links waren zu niedrig. Der Schuss musste von schräg rechts gekommen sein. Dort befand sich eine Reihe vier-, fünf- und sechsstöckiger Mehrfamilienhäuser. Er schwenkte das Objektiv von links nach rechts über die Fassaden und hatte seinen Favoriten gefunden. Eine Wohnung im fünften Stock des vierten Gebäudes von der Straßenecke aus schien leer zu stehen. Er stellte scharf und schaute auf die Entfernungsskala des Tele-Objektivs. Nicht sehr präzise.

»Könnten Sie für mich eine genauere Entfernungsmessung vornehmen? Und zwar zu der Wohnung dort drüben in der …«

»… fünften Etage. Die leere Wohnung. Ja, haben wir bereits gemacht. Etwa 36 Meter, der Winkel könnte auch passen.« Aufmerksam und schnell. Die unbekannte Kollegin von der KT fing an, Hardenberg zu gefallen.

36 Meter. Auch für einen talentierten Sportschützen mit entsprechender Ausrüstung und Übung wahrscheinlich machbar. Die Ballistiker würden ihm mehr sagen können, sobald die Kugel sichergestellt worden war. Er drehte sich wieder um, gab die Kamera zurück und bedankte sich nochmals.

»Wer hat sie eigentlich gefunden?«

»Das war die Mitbewohnerin. Kam gerade von der Arbeit. Ihre Kollegin beruhigt und tröstet sie gerade. Drüben im Zimmer auf der anderen Seite.«

Laffert (Hardenberg hatte sich jetzt entschieden, dass er so hieß) wies mit dem Kopf in Richtung des Zimmers aus dem Hardenberg vor wenigen Minuten die Stimmen vernommen hatte.

»MeineKollegin?« Er tippte sich mit den Fingerspitzen auf die Brust.

»Ja, diese kleine Brünette mit dem komischen Nachnamen. Die, die immer mit ihrer Frisur kämpft.«

Laffert hätte ihm auch erzählen können, der BER würde morgen eröffnet, Hardenbergs Erstaunen wäre kaum größer gewesen. Er kannte Elena Sciascia als einen Menschen, der, anders als die meisten anderen, keine Maske trug. Sie verbarg nichts, hielt andere Menschen offen auf Distanz, mit Ironie und Sarkasmus. Keine Maske. Ein Schild. Dass das Sichtbare nicht das Eigentliche war, stand bei ihr stets außer Zweifel. Manchmal senkte sie ihren Schild ein wenig. Kostbare Beweise des Vertrauens. Eine seelsorgerische Seite hatte er an ihr bislang jedoch noch nicht wahrgenommen. Was keine Rechtfertigung dafür war, dass er ihr diese Fähigkeit offenbar nicht zugetraut hatte. Wie er sich selbst eingestehen musste, war sein Vorurteil für ihn mindestens ebenso überraschend wie die Erwähnung von Sciascias bislang verborgenem Talent. Für einen Moment fühlte er sich ein wenig schäbig und dumm.

»Der Name wird ganz einfach „Schahschah“ ausgesprochen, mit einem weichen „Sch“. Nicht „Skia-Skia“, „Szia-Szia“ oder „Tschatscha“. «

Die simple Feststellung einer Tatsache, beiläufig, ohne belehrenden Unterton. Es schien, als spräche er wieder zu sich selbst. Laffert murmelte halblaut etwas von „Kommissarin Schischah“, doch Hardenberg war mit den Gedanken bereits weiter. Er sah sich im Zimmer um. Was für ein Mensch lebt hier? Hatte gelebt.

»Was wissen wir über sie?«

»Leonie Büsch, geboren am 10. Februar 1997 in Düsseldorf, wohnt hier seit etwas über einem Jahr zusammen mit ihrer Freundin. Studiert Physik an der Heinrich-Heine-Uni. Master-Studiengang.«

Die Stimme kam von der Tür, David Rosinsky stand im Rahmen. »Mit gerade mal zweiundzwanzig! Ein ziemlicher Überflieger.«

»Und woher haben Sie die Informationen?«

Eine direkte Frage statt einer förmlichen Begrüßung. Später würde noch genug Zeit sein.

»Von der Mitbewohnerin. Und aus ihren diversen Ausweisunterlagen mit Foto. Die waren in der Brieftasche in der Jacke dort. Gerade haben wir die Nachbarn befragt. Sie und ihre Mitbewohnerin sind im Haus ausgesprochen beliebt, gelten als unkompliziert und freundlich. Richtige Sonnenscheine. Gehört übrigens der Mutter der Mitbewohnerin. Das Haus meine ich. Nach Aussagen der Nachbarn sind ihre Eltern …« Er wies mit dem Kinn auf das Bett. »… recht wohlhabend. Irgendein Maschinenbaubetrieb oder so was. In Krefeld.«

Rosinsky war nur unwesentlich älter als Sciascia, sie besaßen denselben Dienstgrad, Kriminaloberkommissar. Vom Temperament her konnten beide kaum unterschiedlicher sein. Wahrscheinlich verstanden sie sich gerade deshalb so gut.

Hardenberg ging um das Bett herum und schaute sich das Zimmer genauer an. Die Möbel stammten wahrscheinlich aus derselben Quelle wie die Einrichtung im Nebenzimmer, hier waren sie allerdings aus hellem Holz. Bett und Nachttisch. Ein Kleiderschrank gleich neben der Tür. Daneben, dem Bett gegenüber, eine Wäschekommode. Eine schlanke HiFi-Box in der Ecke. Zwei Bücherregale, ein Schreibtisch, ein Stuhl, die zweite HiFi-Box in der linken Ecke. Der Raum war etwa halb so groß wie der nebenan, entsprechend eng war es hier. Ein Zimmer, wie man es von einer jungen Studentin erwartete. Bis auf zwei bemerkenswerte Ausnahmen. Rechts des Eingangs stand ein kleiner Frisiertisch, ein Spiegel-Tryptichon mit Hocker davor, vom Stil her der Vitrine im Wohnzimmer sehr ähnlich. Auf und vor dem Hocker sowie auf dem Stuhl lagen Kleidungsstücke. Was Hardenberg jedoch regelrecht faszinierte, war kaum einen halben Schritt vom Bett entfernt. Der wachen jungen Kollegin von der KTU fiel sein Blick auf.

»Ja, die Dinger sind echt ein Hingucker.«

Hardenberg schaute sie an und lächelte leicht.

»Ja allerdings, das sind sie.«

»Was schätzen Sie, was so was kostet?«

»Wenn wir vier unsere Monatsnettogehälter zusammenschmeißen,«, mit einer kreisenden Geste seines Zeigefingers schloss er sie, Laffert, Rosinsky und sich selbst ein, »könnten wir uns Verstärker und Plattenspieler vielleicht leisten. Dann müssten wir nur noch klären, wovon wir in dem Monat leben sollen. Der Doktor verdient bestimmt selbst genug. Waren die Geräte noch eingeschaltet, als Sie kamen?«Sie nickte.

»Wir haben nichts verändert.«

Auf einem HiFi-Rack – allein das ein Anachronismus – standen ein Verstärker – ein Röhrenverstärker! – und ein Plattenspieler. Markenname und Typbezeichnung sowie der Zargen des Plattentellers und die Röhren des Verstärkers glommen in einem kalten Grün. Eine 22-jährige Studentin und HiFi-Komponenten von McIntosh, wie passte das zusammen? Hardenberg sah sich die Plattensammlung in den Fächern darunter genauer an. Elektro und Hip-Hop. Was jemand mit Anfang zwanzig heute halt so hört. Brit-Pop und dessen Vorläufer. Noch nachvollziehbar. Rock in den verschiedenen Spielarten der Siebziger und Achtziger, Soul, Funk. Schon etwas exotischer für jemanden, der 1997 geboren worden war. Mit wie vielen Altersgenossen mochte sie diese Vorlieben geteilt haben? Alle Platten waren in zusätzlichen Klarsichthüllen verstaut. Eine Sammlerin. Ein Cover stand auf dem Boden, lehnte am Regal. Das schwarz-weiß-Portrait eines Mannes, umringt von bunten Tierillustrationen. Die Platte lag noch auf dem Teller. Hardenberg kannte die Platte, kannte sie gut.

Was für Bücher – denn davon gab es hier ebenfalls reichlich – las sie? Hatte sie gelesen. Ihm war aufgefallen, dass auf der Ablage des Nachttischs drei Bücher vollkommen unterschiedlichen Inhalts lagen und in jedem war ein Lesezeichen. Das Regal gleich neben dem Schreibtisch war für Fachliteratur reserviert, beinahe ausnahmslos in Englisch. Das andere Regal war interessanter – und aufschlussreicher. Etliche Taschenbücher und einige in Leinen gebundene Bände. Ein bisschen Philosophie, dann hauptsächlich Romane, Klassiker der Neuzeit und Moderne, ein, zwei aktuelle Bestseller. Der Rest war eine bunte Palette, Krimis, Science-Fiction, Fantasy, der komplette Harry Potter. Keine Totholzsammlung zum Angeben, Vorurteile und Berührungsängste hatte sie offenbar nicht gekannt. Ganz unten standen Comics.

Aus der Einrichtung der Wohnung auf die Möblierung des Innenlebens zu schließen, war natürlich allenfalls ein Anfang, nicht mehr als ein flüchtiger erster Eindruck. Er würde heute noch ein paar Gespräche führen müssen. Danach, so hoffte er, ergab sich ein Bild, mit dem er schon mal arbeiten konnte. Jedenfalls, Leonie Büsch war eine ungewöhnliche Zweiundzwanzigjährige gewesen, so viel stand fest. Aber irgendetwas beunruhigte ihn.

»Brauchen Sie Schmitz und mich hier noch? Sonst würden wir nämlich schon mal ins Labor fahren.«Schmitz. So hieß die junge Kollegin von der KT also. Den Namen würde er sich merken müssen. Ein müder Scherz, den er sich da selbst erzählte, kein Lächeln wert. Nicht an diesem Ort, nicht bei diesem Anlass.»Hier nicht, Herr Laffert. Aber ich fürchte, wir müssen uns noch um den anderen Tatort kümmern.«

Er verzog das Gesicht zu einem Bedauern und wies mit dem Daumen über die Schulter Richtung Fenster.»Leffert.« Er klang nicht beleidigt. »In Ordnung. Brauchen Sie selbst hier noch lange?«

»Ich würde gerne noch mit der Zeugin sprechen, die die Tote gefunden hat. Nur kurz, dauert bestimmt nicht lange.« Er überlegte. »David, vielleicht könnten Sie mit den Kollegen von der Kriminaltechnik schon mal rüber gehen. Frau Schmitz weiß, welches Haus.«

Er blickte Schmitz fragend in die Augen. Sie erwiderte den Blick und nickte.

»Alles klar.«

Dann fiel ihm noch etwas ein.

»Was ist mit dem Laptop?«

Er ging einfach davon aus, dass da einer war.

»Schon eingepackt. Unsere Spezialisten werden Laptop und Smartphone auswerten und Ihnen die Ergebnisse schnellstmöglich zukommen lassen.«

Schmitz war offenbar zur Sprecherin der KT geworden.

»Wir beide warten dann hier, bis die Kollegen für den Abtransport eintreffen.«

Vier Augenpaare blickten überrascht in Thomsens Richtung. Er lächelte.

»Müssten jeden Moment da sein. Wir werden heute Nachmittag noch mit der Obduktion beginnen.«

Rosinsky bewunderte noch mal den Plattenspieler. »Wüsste gerne, was sie zuletzt gehört hat.«

Hardenberg schaute zuerst auf die Platte, dann auf die Tote, aus dem Fenster und wieder zurück zum Plattencover auf dem Boden. Seit er das Cover gesehen hatte, war er sich sicher, dass sie einen ganz bestimmten Song hatte hören wollen. In seinem Kopf hörte er diesen Song schon die ganze Zeit. Er nickte wortlos, wand sich um und verließ das Zimmer.

Kapitel 3

Der Form halber klopfte Hardenberg an, trat jedoch ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Sciascia saß gleich rechts der Tür auf einem Bett, blickte ihm ins Gesicht, lächelte erleichtert. Die Person neben ihr hingegen schien seine Ankunft überhaupt nicht bemerkt zu haben. Nach vorn gebeugt saß sie da, Unterarme auf den Oberschenkeln, Hände auf den Knien. Zusammengesunken und stumm starrte sie auf den Boden vor ihren Füßen.

»Guten Tag, mein Name ist Hardenberg, ich bin Kriminalhauptkommissar und leite die Ermittlungen.«

Er sprach ruhig und behutsam. Sie durchlebte gerade eine Erfahrung, die niemand machen sollte. Dabei wusste er noch nicht einmal, wie nah sie und die Tote sich gestanden hatten. Er ließ ihr Zeit, auch Sciascia hielt sich zurück, sie sah nur mit sorgenvoller Miene zu ihr herüber. Es dauerte einige Sekunden, dann bemerkte die Frau seine Anwesenheit. Sie straffte sich, als erwache sie gerade, sah auf und reichte Hardenberg eine kleine, zerbrechlich wirkende Hand.

»Noemi de Groot. Guten Tag.«

Er erschrak. Geweitete Augen, die Iris hellgrau mit dunklerem Rand, Sklera und Bindehaut gerötet. Erkennbar mühte sie sich, ausdruckslos dreinzuschauen. Was ihr eindrucksvoll misslang. Was Hardenberg sah, was ihn so unvorbereitet getroffen hatte, war Schmerz. Pures seelisches Leid. Thomsen irrte sich. Es gab eine Austrittswunde. Die gab es immer.

»Frau de Groot, ich weiß, das ist jetzt sehr belastend und Sie haben das alles bereits meiner Kollegin erzählt, aber könnten sie mir nur in ganz knappen Worten noch einmal schildern, wie Sie ihre Mitbewohnerin gefunden haben? Bitte.«

Er hätte es nicht für möglich gehalten, doch sie richtete sich noch stärker auf. Den Rücken leicht durchgedrückt, reckte sie das Kinn und atmete durch die Nase tief ein und wieder aus. Eine Langstreckenläuferin. Eine Tänzerin vielleicht. Hardenberg überlegte. Wie nannte man das im Ballett noch mal? Aplomb. Ja, das war es. Über dem Bizeps der schlanken, sehnigen Arme trat jeweils eine Vene leicht hervor. Sie sammelte alles, was ihr an Selbstdisziplin zur Verfügung stand. Und das schien nicht wenig zu sein. Das Problem der zitternden Hände löste sie, indem sie mit aneinandergelegten Fingerkuppen ein Dach formte, das sie auf den Oberschenkeln ablegte.

»Heute hatte ich die Frühschicht in der Bäckerei. Dort arbeite ich an drei Tagen die Woche. Bei solch schönem Wetter fahre ich für gewöhnlich mit dem Rad, die Bäckerei befindet sich in Oberbilk. Das Rad trage ich immer hoch, gegenüber im Trockenspeicher ist Platz.«

Sie sprach ruhig, beherrscht, doch es kostete sie Anstrengung. Als sie weitersprach und zum Eigentlichen kam, begann ihre Unterlippe zu zittern, die Stimme wurde brüchig. Mit Verwunderung und Anerkennung registrierte Hardenberg, wie Sciascia einen Arm um die Schulter der Frau legte und darüberstrich.

»Im Wohnzimmer waren noch die Jalousien heruntergezogen, das war schon ungewöhnlich. Am Wochenende steht sie zwar meist erst spät auf, so zwischen neun und zehn, aber es war bereits kurz vor eins, als ich kam. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, dort war es hell. Ich hab‘ angeklopft, gerufen und als ich keine Antwort bekam, bin ich reingegangen. Da sah ich sie. Zuerst dachte ich›Was macht sie denn da? Wieso liegt sie quer über dem Bett?‹.Sie reagierte nicht, als ich sie noch mal ansprach, deshalb bin ich näher ran. Da sah ich dann …«

Mit einer fahrigen Geste fuhr sie sich über die Stirn und senkte den Blick. Das Zittern war nun deutlich sicht- und hörbar.

»Sie sagten, am Wochenende stand sie für gewöhnlich später auf. War das eine feste Gewohnheit? Konnte man sich darauf verlassen? Also, ich meine, gab es Menschen, die davon wussten.«

Sie nickte. »Ja, das wussten alle ihre engen Freunde. Und ihre Eltern. Und beinahe immer, wenn sie aufstand, egal wann, öffnete sie als Erstes das Fenster und sah hinaus. War so eine Art Ritual, sie begrüßte den Tag. Bei solch schönem Wetter wie heute auf jeden Fall.«

»Wann haben Sie die Polizei gerufen?«

Sie sah ihn überrascht an.

»Ich weiß nicht. Sofort glaube ich. Aber jetzt, wo sie fragen … Kann sein, dass ich ein paar Augenblicke nicht ganz bei mir war. Aber bestimmt nicht länger als fünf oder vielleicht zehn Minuten.«

»Haben Sie noch jemanden angerufen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihr Kollege am Telefon hat mir eindringlich davon abgeraten. Aber es hat auch nicht lange gedauert, bis jemand hier war.« Und an Sciascia gewandt sagte sie: »Das waren Sie, glaube ich.«

Sciascia bestätigte. »Wochenendbereitschaft. Ich wohne nur ein paar Straßen weiter.« Was, wie Hardenberg wusste, eine Untertreibung an der Grenze zur Lüge war.

»Frau de Groot, wann haben Sie die Wohnung verlassen?«

»So gegen fünf Uhr dreißig. Mit dem Rad brauche ich um diese Zeit vielleicht eine Viertelstunde. Um sechs fängt die Schicht an.«

»Da hat ihre Freundin aber noch gelebt.«

Sie nickte heftig. »Ganz sicher. Meist lässt sie die Tür einen Spalt offen. Um diese Uhrzeit ist es im Haus und auf der Straße noch sehr still. Leonie macht immer solch seltsame Geräusche, wenn sie schläft. Kein Schnarchen, eher so ein Grummeln. Manchmal redet sie auch im Schlaf.«

»Wann sind sie zurückgekommen?«

»So gegen eins. Vielleicht etwas früher.«

Hardenberg überlegte. Wenn man ihre vorherige Aussage über die Aufstehgewohnheiten der Toten an Wochenenden und Thomsens erste grobe Einschätzung zum Todeszeitpunkt berücksichtigte, passte alles ganz gut zusammen. Demnach wurde Leonie Büsch etwa gegen zehn Uhr erschossen. Plusminus. De Groot war nun wieder etwas in sich zusammengesunken. Er sah sie sich etwas genauer an. Wie alt mochte sie sein? Keine zwanzig, schätzte er. Achtzehn vielleicht. Raspelkurzes, dichtes Haar. Weizenblond. Große Augen, eher rund als mandelförmig. Die Nase war klein und rund, die Lippen voll. Schön geschwungener, ausgeprägter Amorbogen, klare, weiche Gesichtszüge. Sie war ungeschminkt. Konzentriert und klar formulierte sie die Sätze, doch es kostete sie erkennbar Mühe.

»Darf ich Ihnen noch ein paar persönliche Fragen stellen, Frau de Groot?«

Sie sah ihn eindringlich an und nickte stumm.

»Sie und Leonie Büsch, kannten sie sich schon lange?«

»Seit dem Kindergarten. Wir sind beide hier im Viertel aufgewachsen. Seit damals waren wir eigentlich nie lange getrennt. Bis vor gut einem Jahr wohnte die ganze Familie auch noch hier in der Nähe. Als ihre Eltern nach Krefeld zogen, sind wir zusammen hier eingezogen. Wir waren wie …« Sie stockte und suchte nach der passenden Formulierung. »… beinahe so was wie Geschwister, sie, Colin und ich. Geschwister und beste Freunde. Jeder kannte den anderen mit all seinen Schrullen und Macken, jede noch so winzige Kleinigkeit. Colin ist in den USA und Leonie …« Sie stockte. »Was soll ich jetzt nur machen?«

Die letzten Sätze waren beinahe ein Flüstern. Die Frage galt weder Hardenberg noch Sciascia.

»War sie aktuell in einer Beziehung?«

Sie nickte. »Finn. Finn Küppers. Er ist auf einem Exkursionsseminar an diesem Wochenende.«

»Wissen Sie, wo?«

»Stuttgart. Er macht so ein duales Studium. Maschinenbau.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo er da erreichbar ist?«

Sie sah ihn an, zuckte mit den Schultern, schüttelte dann den Kopf, sprach aber nicht.

»Haben Sie eine Ahnung, wann er zurückkommt?«

»Morgen spät am Abend. Leonie sprach davon, dass sie zu ihm fahren wollte. Er wohnt in Pempelfort, die Adresse kann ich Ihnen geben.«

Unvermittelt stand sie auf, huschte an Hardenberg vorbei zum Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb. Das Ganze machte den Eindruck einer Reflexhandlung. Sie gab ihm das Blatt.

»Hat dieser Finn Küppers einen Schlüssel zu der Wohnung hier?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Hardenberg dachte an die Möglichkeit, dass jemand hierherkäme und unvorbereitet vor dem Polizeisiegel stünde.

»Sonst jemand?«

»Leonies Eltern und meine. Sonst niemand.«

Sie erschien ihm zurückhaltend, introvertiert. Schock? Trauer? Oder Teil ihrer Persönlichkeit? Zu diesem Zeitpunkt ließ sich das unmöglich sagen.

»Angenommen, dieser Finn Küppers möchte seine Freundin anrufen, erreicht sie aber nicht, an wen wendet er sich da als Nächstes?«

Auf Anhieb begriff sie, worauf er hinauswollte. Sie sah ihn entsetzt an, sprach aber nicht. War auch nicht nötig. Der Blick sagte alles.

Diese verdammte ständige Verfügbarkeit. Sicher, es hatte Vorteile. Als Ermittler konnte er das kaum bestreiten. In Fällen wie diesem jedoch wünschte Hardenberg sich gemeinsame Festnetzanschlüsse für mehrere Familienmitglieder zurück. Schlecht aufgelegte Telefonhörer und Besetztzeichen. Anrufbeantworter, die einen nicht ständig automatisch überall daran erinnerten, dass man einen Anruf verpasst hatte. Beeper waren damals was für Notärzte gewesen. Oder Kriminalkommissare. Er dachte nach. Wie würde er reagieren, wenn ein Telefongespräch verabredet gewesen wäre, er den Partner aber nicht erreichte? Er würde es natürlich wieder versuchen. Nach zwei, drei Versuchen würde er sich Sorgen machen. Spätestens. Schließlich würde er alle möglichen ihm bekannten Telefonnummern von Verwandten, Freunden und Bekannten ausprobieren. Es half nichts. Sie mussten versuchen herauszubekommen, wo Küppers in Stuttgart wohnte. Die Kollegen vor Ort mussten die Rolle der Hiobsboten übernehmen.

»Wir kümmern uns drum.«, versuchte er sie zu beruhigen. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

Überzeugt sah sie nicht aus. Er wechselte das Thema.

»Was machen Sie, wenn sie nicht gerade in der Bäckerei arbeiten?«

»Ich studiere Psychologie. An der HHU.«

»Wievieltes Semester?»

»Zehntes. Dieses Semester möchte ich gerne den Master machen.«

Hardenberg zeigte sich überrascht und beeindruckt.

»Verzeihen Sie, wenn ich das frage, aber: Wie alt sind Sie?«

»Morgen in einer Woche werde ich zweiundzwanzig.«